Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas - Hauke Ritz - E-Book

Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas E-Book

Hauke Ritz

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Beschreibung

Die Welt steht vor einem dramatischen Umbruch. Der Westen hat seine Strahlkraft verloren, die globale Vorherrschaft der USA zerfällt und eine neue multipolare Welt nimmt zügig Gestalt an. Im Interesse seiner eigenen Zukunft muss Europa auf diese Entwicklung reagieren. Europa kann aber nur entsprechend handeln, wenn es weiß, wie es in die derzeitige Lage gelangt ist. Dazu muss sich die Politik mit den tieferen Ursachen des Ukrainekrieges beschäftigen. Schließlich handelt es sich um den größten europäischen Waffengang seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein Krieg, der zudem das Potenzial hat, Europa erneut zu teilen und für Jahrzehnte sowohl von sibirischen Rohstoffen als auch vom chinesischen Markt abzuschneiden. Nach 1945 gelang zunächst eine Einigung Westeuropas, um den Krieg zu überwinden und Wohlstand zu erlangen. Doch heute führt dieser Westen erneut Krieg und verspielt seinen Wohlstand. Hauke Ritz fragt, welche Rolle der Nord-Süd-Konflikt im großen Umbruchszenario spielt und wieso die Friedenschance von 1989 so leichtfertig verspielt worden ist. Oft wird geographisch argumentiert. Russland sei aufgrund seiner Stellung inmitten der eurasischen Landmasse der natürliche Feind der Seemacht USA. Doch zu den geographischen Faktoren treten insbesondere kulturelle hinzu. Die notwendige Neuerfindung Europas, davon ist Hauke Ritz überzeugt, setzt im Kulturellen an, um letztlich auch eine politische und ökonomische Souveränität erlangen zu können.

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Seitenzahl: 425

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Hauke RitzVom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas

  

© 2024 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Umschlaggestaltung: Gisela Scheubmayr

ISBN: 978-3-85371-914-5(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-526-0)

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Über den Autor

Hauke Ritz, geboren 1975 in Kiel. Studium der Philosophie mit Schwerpunkt Geschichtsphilosophie. Lehrtätigkeit an der Universität Gießen, der Lomonossow-Universität und der Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau. 2022 veröffentlichte er mit Co-Autorin Ulrike Guérot »Endspiel Europa« und leitet seither gemeinsam mit ihr das European Democracy Lab e.V.

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Der Niedergang des Westens und Europas
1.1 Eine Kinderfrage
1.2 Europa und der Westen
1.3 Der Niedergang des Westens
1.4 Der Niedergang Europas
1.5 Die europäische Tragödie
1.6 Das Jahr 1989: ein symbolisches Datum
1.7 Das Rätsel, um das es geht
2. Die amerikanische Tragödie
2.1 Der Weg in die unipolare Welt
2.2 Die neokonservative Bewegung in den USA
2.3 Grundannahmen der neokonservativen Bewegung
2.4 Das europäische Weltordnungskonzept
2.5 Der nationale Mythos der USA
2.6 Die kurze Phase des europäischen Widerstands
2.7 Die amerikanische Tragödie
2.8 Eroberungsagenda: Washington Mitte der 2000er Jahre – Exkurs auf Basis eines Gesprächs mit Ulrike Guérot
3. Die machtpolitischen Implikationen einer unipolaren Weltordnung
3.1 Washington im Mahlstrom der Machtlogik
1. Das Streben der EU nach Souveränität
2. Das Fehlen eines globalen Gewaltmonopols
3. Das diplomatische Erbe der Sowjetunion
4. Wirtschaftswachstum und Rohstoffkontrolle
5. Die Kontrolle über die Geographie
3.2 Abgleisung der Europäischen Union
3.3 Herstellung eines globalen Gewaltmonopols
3.4 Die diplomatische Stärke Russlands
3.5 Der Aufstieg der USA zur globalen Rohstoffmacht
3.6 Abhängigkeit vom Status der globalen Rohstoffmacht
3.7 Interpretation der globalen Geographie
3.8 Warum die bisherigen Erklärungsansätze viele Fragen offenlassen
4. Das Erbe der Russischen Revolution
4.1 Der neue Kalte Krieg und die Unabgeschlossenheit der Vergangenheit
4.2 Die vernachlässigte Frage nach der Fernwirkung der Russischen Revolution
4.3 Der geopolitische Kontext der Russischen Revolution
4.4 Die sowjetische Atombombe und die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt
4.5 Das Ende der Sowjetunion und dessen Implikationen
5. Die kulturelle Dimension des Kalten Krieges
5.1 Die Sowjetunion als Hindernis
5.2 Die Sowjetunion und der nationale Mythos der USA
5.3 Die Schwäche des Liberalismus am Beginn des Kalten Krieges
5.4 Der Kalte Krieg als Kulturkampf
5.5 Wie der »Sieg« im Kalten Krieg in eine Niederlage umschlug
6. Die konkreten Maßnahmen im kulturellen Kalten Krieg
6.1 Eine deklassifizierte Studie der CIA
6.2 Die praktische Durchführung des kulturellen Kalten Krieges
6.3 Der Aufbau einer nicht-kommunistischen Linken
6.4 Von der Geschichtsphilosophie Hegels zur Ideenpolitik Nietzsches
6.5 Vom Jahrhundert der Kultur zum Jahrhundert der Kulturindustrie
6.6 Propaganda unterhalb der Wahrnehmungsschwelle
6.7 Der geisteswissenschaftliche Wissensstand zu Beginn des Kalten Krieges
6.8 Die Institutionalisierung von Nietzsches Programm
6.9 Noch einmal Nietzsche
7. Warum der Westen Russland so sehr hasst
7.1 Der Universalismus der europäischen Kultur
7.2 Die Entstehung einer europäischen Weltkultur
7.3 Der europäische Universalismus und der Kalte Krieg
7.4 Der Sieg der Oligarchie
7.5 Die Zukunft der Weltkultur und die Rolle Europas
7.6 Der Westen – eine Anomalie der Geschichte
7.7 Ausblicke auf ein neues Europa

1. Einleitung: Der Niedergang des Westens und Europas

1.1 Eine Kinderfrage

»Warum hasst der Westen Russland so sehr?« Diese zunächst einfach klingende Frage ist doch außergewöhnlich komplex. In normalen Zeiten hätten sich wahrscheinlich Universitäten mit ihr befasst und die Entwicklungsgeschichte der Feindbilder erforscht. Heute jedoch, da sich auch die Universitäten an Sprachregelungen halten, war es der polnischen Youtuberin Ania K. vorbehalten, diese Frage im Frühjahr 2024 in einem Interview mit dem ehemaligen Soldaten und UN-Waffeninspektor Scott Ritter zu stellen.1

Was wie eine Kinderfrage anmutet, öffnet doch die Tür zu den tiefsten Geheimnissen unserer gegenwärtigen Epoche. Wer oder was ist die westliche Welt, dass sie sich nach zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg erneut in einem kriegerischen Konflikt mit Russland befindet. Wäre es unter Umständen möglich, gerade mittels dieser Frage einige Rätsel der Gegenwart zu lüften? Und vielleicht verhilft uns gerade diese Frage zu einer neuen Orientierung in dieser schwer verständlichen Zeit. Warum also hasst der Westen Russland so sehr? Auf den folgenden Seiten soll ein Versuch unternommen werden, diese Frage einer polnischen Youtuberin zu beantworten.

Der Zweite Weltkrieg wurde vom faschistischen Deutschland als Vernichtungskrieg geführt. Das Kriegsziel bestand in einer Ausdünnung der russischen Bevölkerung sowie der Versklavung der Überlebenden. Praktisch bedeutete dies, dass während des Russlandfeldzugs Tausende von Dörfern samt ihren Bewohnern ausgelöscht wurden, dass Millionen von Kriegsgefangenen erschossen oder dem Tod durch Hunger und Zwangsarbeit preisgegeben wurden. Während der Genozid an den europäischen Juden mittlerweile aufgearbeitet und zum Teil einer Erinnerungskultur geworden ist, ist das Verbrechen der Nazis an den slawischen Völkern und insbesondere den Russen bis heute kaum in die kollektive Erinnerung eingegangen. Wie real dieser Vernichtungskrieg gegen die sowjetische Bevölkerung erfolgte, ist schon an den Zahlen ersichtlich. Die Sowjetunion verlor im Zweiten Weltkrieg ca. 15 Prozent ihrer Bevölkerung, nämlich 27 Millionen Menschen, von denen ungefähr 16 Millionen Zivilisten waren.

Doch diesem ungeheuren Verbrechen waren Jahrhunderte intensiver Beziehungen zwischen Deutschland und Russland vorangegangen. Zwischen der Zeit Peter des Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Amtszeit Bismarcks am Ende des 19. Jahrhunderts bestand sogar eine Deutsch-Russische Allianz, die sich durch einen engen Handels- und Kulturaustausch, militärische Allianzen sowie die Auswanderung von Hunderttausenden von Deutschen nach Russland manifestierte.2 In dieser Zeit hat Russland einen großen Teil seiner Modernisierung in Kooperation mit deutschen Wissenschaftlern, Kaufleuten, Handwerkern und Diplomaten erfahren. In vielen russischen Regierungskabinetten arbeiteten Deutsche als Minister, dreimal waren Deutsche in Russland Kanzler und in Gestalt Katharina der Großen sogar einmal Zarin.

Es war diese Vergangenheit, die schließlich die Erfahrung des von Deutschland initiierten Vernichtungskrieges überwog und dazu führte, dass sich die Sowjetunion nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges allmählich wieder Deutschland zuwandte. Zunächst der DDR, dann ab den 1970er Jahren auch Westdeutschland, dessen Entspannungspolitik neues Vertrauen schuf und schließlich im Gas-Röhrengeschäft sogar zu einer wirtschaftlichen Kooperation führte. Ab den späten 1980er Jahren ging die Sowjetunion sogar so weit, gegenüber Deutschland die Möglichkeit einer Wiedervereinigung anzusprechen und voranzutreiben. Denn so sehr der deutsche Vernichtungskrieg in Vergessenheit geraten ist, so sehr ist auch vergessen worden, dass Deutschland seine Wiedervereinigung im Wesentlichen der Sowjetunion zu verdanken hat. Frankreich und Großbritannien lehnten die Idee einer deutschen Vereinigung zunächst ab und die USA war nur unter der Bedingung fortgesetzter NATO-Mitgliedschaft und amerikanischer Truppenpräsenz (einschließlich der Atomwaffen) dazu bereit. Letztlich war es die Sowjetunion, die durch Erfüllung der amerikanischen Bedingungen den Weg zur deutschen Einheit frei machte und zudem noch seine Truppen aus dem gesamten sowjetischen Einflussbereich Osteuropas abzog. Hinter dieser großen Geste stand letztlich der Wunsch der russischen Gesellschaft, wieder ein Teil Europas zu sein und erneut intensive Beziehungen zu Deutschland zu entwickeln, das man trotz des Zweiten Weltkrieges achtete. Nie zuvor hat ein Imperium so viel Macht so schnell – lediglich für das Versprechen der Freundschaft – aufgegeben. Und doch quellen unsere Zeitungen, Fernseh- und Radiosender heute nur so über vor Ablehnung von allem Russischen. Die Frage »Warum hasst der Westen Russland so sehr?« ist von höchster Aktualität. Und man muss ergänzend fragen: »Warum beteiligt sich Deutschland daran?«

Sicherlich spielen die Geographie Russlands und die gewaltigen Rohstoffe des Landes hierbei eine Rolle. Wer so viel besitzt, der weckt Begehrlichkeiten. Sicherlich geht es wie so oft in der Weltgeschichte um Macht- und Geopolitik. Aber Ania K. hätte die Frage dennoch nicht gestellt, wenn es nur darum gehen würde. Denn man kann förmlich spüren, dass in dem Hass, den Hunderte von Artikeln und Fernsehbeiträgen jeden Tag über Russland ausschütten, Kräfte am Werk sind, die mit Macht- und Interessenpolitik alleine nicht mehr erklärt werden können. Wenn der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter in der Talkshow bei Markus Lanz die Bombardierung russischer Regierungsgebäude fordert,3 wenn russischen Bürgern bei der Einreise in die EU ihre Autos, Handys und Reisekoffer entwendet werden, weil diese angeblich gegen die Sanktionen verstoßen,4 wenn russische Kunst, Literatur aus den Lehrplänen der Universitäten gestrichen wird,5 wenn russische Athleten gezwungen sind, ohne Fahne und ohne Hymne an den Olympischen Spielen teilzunehmen,6 wenn ein fast hundertjähriger Angehöriger der Waffen-SS, der im Verdacht steht, an Massenhinrichtungen beteiligt gewesen zu sein, im kanadischen Parlament dafür beklatscht wird, gegen Russland gekämpft zu haben,7 dann geht es um mehr als nur geopolitische Konkurrenz.

Nun lässt sich die Gegnerschaft zu Russland schon Jahrhunderte zurückverfolgen. Sie strukturierte nicht nur den Kalten Krieg, den Vernichtungskrieg der Nazis und den Krim-Krieg im 19. Jahrhundert. Die ersten Zuschreibungen, die Russland als asiatische Macht beschrieben und somit orientalisierten, finden sich im 16. Jahrhundert, lange bevor Russland die Grenze zu Asien überschritten hatte.8 War es anfänglich die orthodoxe Identität, die als Triebfeder der Feindschaft fungierte, so wurde es im 19. Jahrhundert Russlands Rolle in der Heiligen Allianz, das Bündnis der fünf großen europäischen Mächte und deren Bekenntnis zur Monarchie, durch die Russland als Gegenpol aller liberalen Kräfte wahrgenommen wurde. Im 20. Jahrhundert kehrt sich dies jedoch um, nun ist Russland zu revolutionär und zu fortschrittlich und wird aus diesem Grund aus Europa ausgeschlossen. Die Zurückweisung Russlands scheint so alt zu sein wie Russland selbst, wobei die konkreten Anlässe wechseln. Russland wird augenscheinlich für das gehasst, was es ist. Doch was verbindet das Zarenreich, die Sowjetunion und das heutige Russland, außer dass sie alle an der Tiefe und Vieldeutigkeit der russischen Identität partizipiert haben? Und was ist der Westen, dass er dieses so schwer auf den Begriff zu bringende Russland hassen muss?

1.2 Europa und der Westen

Dieses Buch stellt die Frage nach dem Wesen dieser Gegnerschaft. Es soll der Versuch gemacht werden, herauszufinden, wie das Fundament des heutigen Westens mit der Frontstellung gegenüber Russland verflochten ist, ja ob nicht vielleicht sogar der unsere Gegenwart bestimmende Niedergang des Westens darin seine Ursache hat? Doch wer nach dem Wesen des Westens fragt, der kommt nicht umhin, auch die Frage nach Europa aufzuwerfen. Denn Europa und der Westen werden heute oft in eins gesetzt, sind aber – und das zeigt sich gerade in dieser Krise – sowohl geographisch, historisch und erst recht zivilisatorisch zu unterscheiden.

Hier eine sich über zwei Kontinente erstreckende internationale Staatengemeinschaft, die ihr politisches Entscheidungszentrum in den USA hat und dessen verbindendes Element von einer gemeinsamen Außen-, Sicherheitspolitik sowie einer gemeinsamen ideologischen Orientierung im Rahmen der NATO bestimmt ist. Und dort ein alter Kontinent, der mindestens 2500 Jahre Geschichte verkörpert, der eine Vielzahl an Epochen und politischer Systeme durchlaufen hat, dessen Identität aber trotz allem ein paar Kernelemente enthält. Zu diesen gehören etwa das antike Erbe, die Prägung durch das Christentum, der Humanismus, die europäische Kunst, Musik, Literatur und Philosophie, die Ansprüche der Aufklärung und schließlich die Erinnerung an zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg, die als Mahnung vor jeder Debatte über die Zukunft Europas stehen.

Der Westen hingegen ist über weite Strecken der europäischen Geschichte kaum mehr als eine geographische Bezeichnung für den westlichen Teil Europas gewesen. Erst zu Beginn der Neuzeit wird Westeuropa als ein besonderer Teil Europas erkennbar. Hier bildeten sich die ersten modernen Nationalstaaten, während Mittel- und Osteuropa noch lange in kleinteilige Herrschaftsgebiete eingeteilt blieb, die sich selten an Sprachgrenzen hielten. Im Zentrum Europas, also in Deutschland, existiert zwar eine lange Geschichte von Staatlichkeit, allerdings in einer strikt föderalen Form, durch die über Jahrhunderte hinweg alle Energie auf die Innenpolitik gerichtet und die Kraft für die außenpolitische Expansion gebunden wurde. Lediglich im äußersten Osten Europas entsteht mit Beginn der Neuzeit ebenfalls ein starker Staat, Russland.

Portugal und Spanien begannen bereits im 15. Jahrhundert ihren kolonialen Ausgriff auf die übrige Welt, der bald von Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich nachgeahmt wurde. Mit dem Kolonialismus entwickelte sich der Handel, dessen wirtschaftliche Logik bald in einen Konflikt mit den Ansprüchen des Adels geriet, was wiederum zu bürgerlichen Revolutionen führte, erst in den Vereinigten Niederlande, in Großbritannien, dann in den britischen Kolonien Nordamerikas und schließlich in Frankreich. Trotz dieser politischen Gemeinsamkeiten einiger westeuropäischer Seemächte konnte von einem vereinten Westen lange Zeit nicht die Rede sein. Vielmehr war Konkurrenz und Krieg zwischen den Kolonialmächten die Norm. Dass sich das erste Mal ein Bündnis zwischen den imperialen Mächten Europas herausschälte, das man als die Keimzelle des heutigen Westens bezeichnen könnte, geschah erst mit der Entente cordiale im Vorlauf zum Ersten Weltkrieg, ein von Großbritannien und Frankreich 1904 begründetes Militärbündnis zur Eindämmung des deutschen Kaiserreichs, dem sich 1907 Russland anschloss. Bereits während des Ersten Weltkrieges wurde der Begriff der Demokratie zumindest für die westeuropäischen Mitglieder dieser Allianz zum Leitstern erhoben, mit dem sie sich von den Monarchien Deutschlands und Österreich-Ungarns abgrenzten. Die Spuren dieser ideologischen Auseinandersetzung finden sich heute noch im Briefwechsel zwischen Thomas und Heinrich Mann,9 die während des Ersten Weltkrieges auf unterschiedlichen Seiten standen.

Der heutige Westen konstituierte sich allerdings erst infolge des Zweiten Weltkrieges. Nun umfasste er mit Ausnahme Spaniens alle Länder Westeuropas, einschließlich Norwegen und Italien. Ab 1952 sind auch Griechenland und die Türkei dabei und ab 1955 ist auch Westdeutschland Mitglied der NATO. Die Allianz begründet sich erneut auf dem Narrativ, die Demokratie müsse gegen ihre Feinde verteidigt werden. Gemäß seiner eigenen Erzählung sind zwar die bürgerlichen Revolutionen der Vereinigten Niederlande, Englands, der Vereinigten Staaten (1776) und Frankreichs (1789) der Ursprung des Westens. Doch haben just drei dieser Länder den europäischen Imperialismus mitbegründet, während das vierte, die Vereinigten Staaten, erst Teile des spanischen Imperiums übernahmen und später auch zum inoffiziellen Nachfolger des britischen Kolonialreichs wurden, weshalb die USA heute das letzte Glied in der langen Abfolge europäischer Imperien sind.

Was also ist der Wesenskern des Westens? Ist es die Demokratie oder der Imperialismus? Nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages werden schließlich neben Ostdeutschland auch der größte Teil Osteuropas in den westlichen Einflussbereich integriert. Plötzlich gehören auch slawische Länder wie Polen zum sogenannten Westen. Ja, mitunter werden sogar Japan, Südkorea, Taiwan sowie Australien, Neuseeland und Israel hinzugerechnet, wodurch sich der Westen als ein disparates Gebilde zu erkennen gibt, dem sich nur schwerlich kulturelle und politische Gemeinsamkeiten zuordnen lassen. Der heutige Westen ist in erster Linie das zufällige Produkt von Frontverläufen und Kriegsausgängen, die vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg bis zum Kalten Krieg reichen. Der Westen ist somit ein junges Gebilde, das weniger durch politische, geographische oder kulturelle Ähnlichkeit, als vielmehr durch eine strategische Logik und Machtanwendung geformt worden ist. Dafür spricht auch, dass der heutige Westen von seinen demokratischen Grundlagen nur noch wenig wissen will, diese abbaut und alles der geopolitischen Konkurrenz unterordnet, weshalb er im Ukrainekrieg auch bewusst das Risiko eines Atomkrieges zugelassen hat.

1.3 Der Niedergang des Westens

Vielleicht ist es dieser nicht-revolutionären, sondern vielmehr imperialen Entstehungsgeschichte der westlichen Allianz geschuldet, dass sie die historische Chance von 1989 nicht zu nutzen verstand. Selten in der bisherigen Geschichte wurde eine Zivilisation so sehr von den Umständen begünstigt wie die westliche Welt nach dem Mauerfall 1989 und erneut nach dem Zerfall der Sowjetunion im Dezember 1991. Soeben hatte dieser Westen noch mit einem zweiten Weltsystem konkurriert. Die Konkurrenz durchzog alle Bereiche der modernen Zivilisation, das Militär, die Wirtschaft, die Ideologie und sogar die Kultur. Doch mit einem Mal trat die Gegenseite von ihren Ansprüchen zurück und begann sich stattdessen selbst auf den Westen auszurichten.

Damit war der von den USA angeführte Westen für alle übrigen Kulturkreise zum einzigen Modell von Modernität geworden. Es gab zwar noch andere Zivilisationen, aber nur die westliche Welt war voll entwickelt und verband globalen Einfluss mit Fortschritt. Dem Westen schien daher die Zukunft zu gehören, weshalb auch Osteuropa einschließlich Russland selbst all seine Bemühungen auf eine Integration in den Westen setzte. Entsprechend hoch war die Anziehungskraft, die vom westlichen Lebensstil ausging. Von westlichen Moden, Trends bis zu Filmen, von westlichen Kunstrichtungen bis zu Konsumprodukten wurde nahezu alles aus dem Westen als Symbol einer besseren Zukunft angesehen und entsprechend nachgeahmt. Die geistige und kulturelle Ausstrahlungskraft der USA und Westeuropas war enorm und ließ sich leicht in politischen Einfluss übersetzen.

Doch heute, nur 32 Jahre später, hat derselbe Westen diese Strahlkraft nahezu eingebüßt. An die Stelle des globalen politischen Einflusses ist eine weltweite Ungeduld und Müdigkeit mit der westlichen Politik getreten. Sowohl die USA als Westeuropa stehen heute nicht mehr wie 1989 für Freiheit, Reichtum, Konsum und kulturelle Kreativität. Außenpolitisch steht der Westen heute eher für Sanktionen, Einmischung, ideologische Bevormundung sowie von Irak, Libyen bis Gaza für Krieg. Und innenpolitisch für mehr und mehr sichtbare Armut, hohe Lebenshaltungskosten, kulturellen Verfall und eine zunehmend harte und irrationale Ideologie, die Zustimmung verlangt und Widerspruch ahndet. Bestimmte Aspekte der westlichen Ideologie, wie z. B. die von der LGBT-Bewegung hervorgebrachten Werte, die intime Fragen öffentlich verhandeln, ruft sowohl in und erst recht außerhalb der westlichen Welt Unverständnis hervor. Gerade in traditionellen Gesellschaften zeigt man sich oft verwundert über die dort wahrgenommene Künstlichkeit der postmodernen Werte und Themen, insbesondere dann, wenn diese Werte auch noch als Vorwand für Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder dienen.

An die Stelle der einstigen Modernität und Strahlkraft sind somit Konfliktbeziehungen zu gleich mehreren Kulturkreisen der Welt getreten. Die Beziehungen zu Russland haben bereits ihren Endpunkt erreicht und sind in den offenen Krieg übergegangen. Die Beziehungen zu China und Iran sind äußerst angespannt und befinden sich kurz vor diesem Punkt. Das Verhältnis zur arabischen Welt, Lateinamerika und Afrika ist von zunehmender Distanz, Entfremdung und wechselseitigem Desinteresse geprägt. Man fragt sich, mit wem der Westen überhaupt noch verbündet ist? Denn die Tagesnachrichten zeugen unmissverständlich davon, dass der heutige Westen einen Konflikt mit allen Regionen der Welt unterhält, die außerhalb seiner direkten Einflusszone liegen.

Diese rasante Verwandlung des Westens vom Hort der Zivilisation in ein Beispiel ihres dramatischen Zerfalls wirft viele Fragen auf. Wie konnten die USA und Westeuropa in nicht einmal drei Jahrzehnten von der einst vorbildhaften Position derart ins Abseits geraten? Wieso hat die westliche Welt das Vertrauen nicht genutzt, das ihr in den 1990er- und auch noch in den 2000er Jahren von vielen Schwellenländern entgegengebracht wurde? Wie kam es zu der Kette von westlichen Kriegen, die von Afghanistan, Irak, Libyen bis Gaza zusammen mit diesen Ländern auch die Aura westlicher Werte zerstörte? Und wieso sucht der Westen in dieser problematischen Situation auch noch den Konflikt mit Russland? Einen Konflikt wohlgemerkt, den der Westen nur führen kann, in dem er die Ukraine und ihre Menschen selbstsüchtig vor den Augen der Welt als Werkzeug seiner eigenen geopolitischen Einflussnahme benutzt und verbraucht. Ist diese Entwicklung mit dem Kern der westlichen Identität verbunden und wenn ja, worin besteht sie?

1.4 Der Niedergang Europas

Um den Niedergang des Westens zu verstehen, ist es ratsam, einen anderen damit verflochtenen Prozess zu betrachten, nämlich die jüngere Geschichte Europas, das sowohl geographisch als auch historisch mit dem Westen verflochten ist, ohne in ihm aufzugehen.

In der jüngeren Geschichte Europas sticht ein Datum besonders ins Auge, nämlich der 28. Juli 1914, der Tag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges. Der Erste Weltkrieg wird häufig als die Urkatastrophe der jüngeren europäischen Geschichte bezeichnet, weshalb es durchaus möglich ist, an diesem Datum den Beginn einer Geschichte des Niedergangs festzumachen. Wie dramatisch der Einschnitt des Ersten Weltkrieges für Europa gewesen ist, wird nicht nur anhand der 10 Millionen Soldaten deutlich, die in diesem Krieg ums Leben kamen, was auf die Kriegstage verteilt mehr als 6000 Soldaten pro Tag bedeutete. Sondern auch, weil dieser Krieg das erste Glied in einer langen Kette von europäischen Kriegen gewesen ist, die bis heute fortdauern. Wie dramatisch der Einschnitt des Ersten Weltkrieges tatsächlich gewesen ist, wird auch daran deutlich, dass es durch diese Katastrophe zu einer nachhaltigen Veränderung der europäischen Kultur gekommen ist. Die geistigen Erschütterungen, die von diesem Krieg ausgingen, waren derart gewaltig, dass sogar die Kunst sich veränderte und abstrakt wurde. Der Erste Weltkrieg bildet die Wasserscheide zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert.

Die Kriegsschuldfrage ist im Falle des Ersten Weltkrieges außerordentlich komplex und bis heute heiß umkämpft. Es war sicherlich ein Krieg zwischen dem absteigenden britischen Kolonialreich und der aufsteigenden Macht Deutschland, das schon ökonomisch kurz davorstand, zum Hegemon Europas zu werden. Durch die Reichseinigung 1871 unter Bismarck war aus der Perspektive der westeuropäischen Staaten das Mächtegleichgewicht in Europa gestört worden. Es funktionierte dennoch leidlich, solange das bismarcksche Bündnissystem in Takt blieb, das Deutschland im Osten verankerte, nämlich sowohl an Österreich-Ungarn als auch an Russland band, obgleich beide Bündnispartner auf dem Balkan miteinander konkurrierten. Als nach Bismarcks Abgang 1891 der Rückversicherungsvertrag mit Russland aufgelöst wurde, vertraute die deutsche Diplomatie darauf, dass sowohl die Spannungen zwischen Frankreich und Großbritannien als auch die zwischen Großbritannien und Russland groß genug sein würden, um eine Einkreisung des Kaiserreichs zu verhindern. Sie täuschten sich, und so ermöglichte die Abkehr von den Grundsätzen der bismarckschen Außenpolitik die Entstehung gänzlich neuer Bündnisbeziehungen, die letztlich den Ersten Weltkrieg ermöglichten.

Konkurrenzsituationen zwischen einer auf- und einer absteigenden Weltmacht kehren in der Geschichte immer wieder und werden seit einigen Jahren in Anlehnung an den griechischen Historiker Thukydides auch als Thukydides-Falle bezeichnet.10 Nach ihr ist ein Krieg sehr wahrscheinlich, wenn ein etablierter Hegemon allmählich durch eine aufsteigende Macht überflügelt wird. Weder konnte im frühen 20. Jahrhundert die damalige Supermacht Großbritannien die wachsende Macht Deutschlands akzeptieren, das sich anschickte, über die Bagdad-Bahn Zugriff ins Herz des Nahen Ostens zu erlangen und dessen wachsende Flotte von Großbritannien zumindest als Gefahr wahrgenommen wurde, wenngleich sie es aufgrund fehlender Stützpunkte nicht war. Für Deutschland wiederum war es sehr schwierig, auf seinen Aufstieg zu verzichten. In wirtschaftlicher Hinsicht ließ sich dieser ohnehin kaum beeinflussen. Lediglich in politischer Hinsicht hätte es Spielräume gegeben. Doch hatte das bismarcksche Verständnis von Deutschland als einer saturierten Macht zunehmend an politischem Einfluss verloren und war – ganz ähnlich wie in der Gegenwart – durch das auftrumpfende Verhalten einer jüngeren Generation ersetzt worden, die den Ernst der Lage nicht erfasste und vor allem die Denkweise der britischen Elite nicht zu antizipieren vermochte. Doch neben den Interessen der damaligen britischen Weltmacht, spielten auch die imperialen Interessen Frankreichs, Russlands, der USA, Österreich-Ungarns und Italiens eine Rolle und bildeten das Zünglein an der Waage. Erschwerend hinzu kam, dass die deutsche Kriegsplanung in Gestalt des Schliefen-Plans eine Mobilisierung vorbereitet hatte, die an sehr enge Fristen gebunden war. Diese engen Fristen übertrugen sich auf die Diplomatie, deren Möglichkeiten entsprechend eingeengt wurden und letztlich einen Automatismus in Gang setzten, der nur noch zum Krieg führen konnte.

Doch der Friedensvertrag von Versailles 1919 reflektierte weder die Paradoxie einer Thukydides-Falle, noch unternahm er einen Versuch nach dem Vorbild des Wiener Kongresses, ein neues Machtgleichgewicht in Europa zu etablieren, das allen Parteien gerecht geworden wäre. Hatte der Wiener Kongress den Verlierer Frankreich ausdrücklich in die neue Ordnung einbezogen und so diese stabilisiert, so tat man in Versailles das Gegenteil und strebte die nachhaltige Schwächung Deutschlands an. So übertrug man die Kriegsschuld auf jenen Akteur, der durch sein Wirtschaftswachstum das Mächtegleichgewicht verändert hatte. Indem die Kriegsschuld auf den Verlierer Deutschland übertragen wurde, wurde sie zur Rechtfertigung für Reparationszahlungen, Gebietsabtretungen und Rüstungsbeschränkungen, die letztlich den Krieg als Wirtschaftskrieg fortsetzten. Der Ökonom John Maynard Keynes hatte für die britische Delegation an den Verhandlungen teilgenommen und versuchte vergeblich die Durchsetzung eines einseitig von den Siegern diktierten Friedens zu verhindern. Hellsichtig schrieb er ein Jahr nach Abschluss der Friedensverhandlungen in einem eigens dazu verfassten Buch: »Wenn wir bewusst auf die Verarmung Mitteleuropas [Deutschlands] abzielen, wird die Rache, so wage ich vorauszusagen, nicht auf sich warten lassen. Nichts kann dann den endgültigen Krieg zwischen den Kräften der Reaktion und den verzweifelten Zuckungen der Revolution noch lange hinauszögern, vor dem die Schrecken des späten deutschen Krieges zu einem Nichts verblassen werden.«11

Tatsächlich war es diese Verarmung, die eine stabile bürgerliche Ordnung im Nachkriegsdeutschland unmöglich machte und die junge Weimarer Republik so letztlich vor die fatale Wahl zwischen Revolution und Reaktion, bzw. Sozialismus oder Nationalismus stellte. Der Erste Weltkrieg und der Versailler Vertrag legten die Saatkörner für den Aufstieg des Faschismus, eine Saat, die dann infolge der Inflation von 1922/23 und der Weltwirtschaftskrise von 1929, die Deutschland besonders hart traf, tatsächlich auch aufging. Der vom nationalsozialistischen Deutschland ausgelöste Zweite Weltkrieg führte sogar zu noch mehr Opfern als der Erste Weltkrieg. Doch zu einem wirklich stabilen Frieden sollte es auch dieses Mal nicht kommen. Durch die Teilung Deutschlands und Europas ging der Zweite Weltkrieg fast umstandslos in den Kalten Krieg über. Das europäische Mächtegleichgewicht konnte angesichts der nun vorhandenen amerikanischen Präsenz in Europa nicht wiederhergestellt werden. An die Stelle eines Gleichgewichts zwischen vier bis sechs europäischen Mächten trat die Bipolarität zwischen den USA und der Sowjetunion, die nun beide ihre Ideologien auf ihren Machtbereich übertrugen.

Der Kalte Krieg endete abermals in einem problematischen Friedensschluss, insofern dieser keine Synthese zwischen dem sozialistischen und kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell anvisierte (was z. B. ein sozialdemokratischer Kompromiss hätte sein können), sondern stattdessen das neoklassische und liberale Wirtschaftsmodell amerikanischer Prägung zum verbindlichen Modell für die Zeit nach dem Mauerfall machte. Durch die Wahl dieses Wirtschaftsmodells wurde das Ende des Kalten Krieges von den USA als Sieg interpretiert, was mit dem Anspruch einherging, dem Verlierer Bedingungen aufzuerlegen. Und so dauerte es nicht lange, bis die einstmals sozialistischen Länder mittels der neoliberalen Schocktherapie praktisch deindustrialisiert wurden, während die USA und Westeuropa sich im Rahmen der Globalisierung dem Freihandel verschrieben. Für das einst sozialistische Lager des Kalten Krieges war weder Souveränität noch Partnerschaft, sondern eher eine neokoloniale Abhängigkeit als Lieferant von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften vorgesehen. Die Fehler des Versailler Friedensschlusses wurden in gewisser Weise wiederholt. Statt einen Ausweg aus dem europäischen Jahrhundert des Krieges anzustreben, suchte man das eigene Lager durch Schwächung der Gegenseite zu stabilisieren, ein Umstand, der für Russland aus einer ganzen Reihe an Gründen unannehmbar war, weshalb es zu einem neuen Kalten Krieg in Europa und schließlich sogar einem heißen Krieg in und um die Ukraine gekommen ist.

1.5 Die europäische Tragödie

Aus all dem folgt, dass sich der europäische Kontinent seit 1914 in einer nicht enden wollenden Schuldverstrickung befindet, in der ein Krieg den nächsten gebiert. Ja, man fühlt sich fast an die Schuldenketten griechischer Tragödien erinnert, in der ganze Familien über Generationen hinweg von einem Fluch belastet sind. Man kann deshalb die europäische Schuldverstrickung mit einem Sinnbild beschreiben: Der Periode von 1914 haften alle Merkmale eines europäischen Bürgerkrieges an. Gemessen an diesem Bild ist 1914 die kulturelle Einheit Europas zerbrochen und der Kontinent befindet sich seitdem in einem nicht enden wollenden Bürgerkrieg. Jeder einzelne Abschnitt dieses europäischen Bürgerkrieges hat Europa weiter geschwächt. Nach jedem einzelnen Abschnitt dehnte sich der Westen aus und wurde Europa weiter verwestlicht. Mit jeder neuen Phase in diesem Bürgerkrieg begann die einstige Einheit »Europa« weiter zurückzutreten und wurde schleichend durch eine neue Einheit ersetzt, der Einheit des »Westens«, die im Unterschied zur ersten nicht mehr auf den Kontinent Europa beschränkt war, sondern sein Zentrum sogar in Nordamerika, einem ganz anderen Kontinent, hatte.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg war Europa das Zentrum der globalen Weltwirtschaft mit dem höchsten Entwicklungsgrad im Bereich der Wissenschaft und Technik. Sowohl die USA als auch Russland bildeten damals eher die Peripherie der Weltwirtschaft. Hinzu kam Europas Rolle als Kulturzentrum mit globaler Ausstrahlungskraft. Trotz der Unterteilung in verschiedene Nationalstaaten standen die Philosophen, Schriftsteller und Künstler Europas im ständigen Austausch untereinander. Diese kulturelle Einheit Europas, an der seit dem 19. Jahrhundert auch russische Schriftsteller und Intellektuelle mitwirkten, war spürbar im zeitlichen Takt der Kunstepochen, die wie Wellen durch Europa gingen und sie als kulturellen Resonanzraum erfahrbar machten. Thomas Mann hat in seinem berühmten Roman »Der Zauberberg« diese kulturelle Einheit am Beispiel eines Schweizer Sanatoriums beschrieben. Allerdings beschreibt sein Roman auch, wie bereits der Zerfall dieser Einheit durch die Unversöhnlichkeit zwischen einer liberalen Weltsicht (vertreten durch Settembrini) und der kommunistischen Weltsicht (vertreten durch Naphta) innewohnt.

Nach dem Ersten Weltkrieg war der Kontinent immer noch die am höchsten entwickelte Region der Welt, allerdings bereits hoch verschuldet und politisch instabil. Eigentlich hätte das 20. Jahrhundert dennoch ein europäisches Jahrhundert werden können und sollen. Doch der Zweite Weltkrieg zerstörte diese Möglichkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa bereits in amerikanische und sowjetische Abhängigkeit geraten. Europa wurde von den beiden Flügelmächten besetzt und zum Schlachtfeld in einem potenziellen Dritten Weltkrieg auserkoren. Die Einheit des Kontinents wurde durch die Teilung in Ost und West endgültig aufgehoben.

Ende der 1980er Jahre stand es um dieses besetzte und geteilte Europa nicht besonders gut. Die einzelnen Staaten hatten fast alle ihre Souveränität in Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik an eine der beiden Supermächte abgetreten. Wie selbstmörderisch das war, zeigte bereits der Herbst des Jahres 1983, als ein äußerst provokativ und verantwortungslos durchgeführtes NATO-Manöver mit dem Namen »Abel Archer« beinahe den Dritten Weltkrieg ausgelöst hatte.12 Diese Situation war vor allem deshalb gefährlich, weil damals die Idee eines begrenzten Atomkrieges, der sich lediglich auf Mitteleuropa beschränken würde, von den Supermächten in Erwägung gezogen wurde. Auch wenn es dieses Mal noch einmal gut gegangen war, schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Krieg einmal ausbrechen würde.

Doch dann kam 1985 ganz überraschend der Machtwechsel in Moskau. Ein Entspannungspolitiker zog in den Kreml ein, der das Feindbild der NATO durch bis dahin nicht für möglich gehaltene Zugeständnisse und vertrauensbildende Maßnahmen ad absurdum führte. Die Teilung Europas und Deutschlands, die fast alle Zeitgenossen als dauerhaft eingeschätzt hatten, kam so überraschend mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 an ihr Ende.

1.6 Das Jahr 1989: ein symbolisches Datum

Das Jahr 1989 wäre im Grunde genommen der Zeitpunkt gewesen, an dem Europa den europäischen Bürgerkrieg hätte beenden können. Denn einerseits wurde mit dem Mauerfall die Spaltung Deutschlands und Europas aufgehoben, womit die latente Drohung des Atomkrieges endete, die wie ein Damoklesschwert 40 Jahre über Europa geschwebt hatte. Andererseits war 1989 aber auch das Jahr, in dem die Französische Revolution sich zum zweihundertsten Mal jährte. Hinzu kam noch der 75. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914.

Diese einzigartige Kombination an Jubiläen im Jahr des Epochenbruchs verlieh dem Jahr 1989 eine hohe symbolische Bedeutung. Es wurde buchstäblich zu dem historischen Moment, an dem sich für Europa ungeahnte Möglichkeiten auftaten. Einerseits war im Mauerfall und im Jahrestag des Ersten Weltkrieges die Aufforderung beschlossen, nun endlich die Kette von Kriegen und Konfrontationen zu unterbrechen, die den Kontinent seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 nie mehr losgelassen hatte. Und andererseits bot der Jahrestag der Französischen Revolution den Anlass, sich erneut an das Zivilisationsversprechen Europas zu erinnern, das mit dem Gedanken einer aufs Allgemeinwohl orientierten Republik aufs Engste verbunden ist. In gewisser Weise hätte 1989 das beenden können, was 1914 begonnen hatte, die Epoche des europäischen Bürgerkrieges. Europa hatte nach 1989 die einmalige Chance, das Gründungsversprechen eines geeinten Europas, Frieden und Demokratie dauerhaft zu verwirklichen.

Knapp zwei Jahre nach dem Mauerfall erneuerte sich diese Möglichkeit ein weiteres Mal. Am 25. Dezember 1991 war mit dem Rücktritt Michail Gorbatschows die Sowjetunion zerfallen und die Russische Föderation als eigenständiges völkerrechtliches Subjekt begründet. Nur sechs Wochen und zwei Tage später, am 7. Februar 1992, wurde die Europäische Union gegründet. Die Tatsache, dass die Russische Föderation und die Europäische Union fast zeitgleich entstanden, wirkt im Rückblick wie ein Wink des Schicksals. Darin schien die Aufforderung beschlossen zu sein, doch gemeinsam die Zukunft zu gestalten.

Nachdem sich Russland als Rechtsnachfolger der UdSSR selbst vom Sozialismus verabschiedet hatte, bestand die Möglichkeit, das Land in den Westen zu integrieren. An entsprechenden Angeboten von russischer Seite hatte es nicht gefehlt. Russland war sogar bereit, der NATO beizutreten.13 Mit Gorbatschow, Jelzin und Putin (in seiner ersten Amtszeit) hatten ein sowjetischer Generalsekretär und zwei russische Präsidenten auf dieses Ziel einer Integration in den Westen hingearbeitet. Diese Periode, in der die russische Außenpolitik von einer ausgestreckten Hand in Richtung Westen bestimmt gewesen ist, deckte einen Zeitraum von mindestens 19 Jahren ab. Und selbst danach bestanden viele der damals verhandelten Möglichkeiten weiter und wurden erneut Angebote unterbreitet.

Wäre es dazu gekommen, hätten die beiden Flügelmächte Europas, nämlich die USA und Russland, sich auf europäischem Boden die Hände gereicht. Das Ende des Kalten Krieges wäre nicht als Sieg einer Seite über die andere, sondern als Einigung beider interpretiert worden. Damit wären die schmerzhaften Spuren des Kalten Krieges aber auch zweier Weltkriege endgültig aufgehoben worden. Auch das Europa der EU hätte in dieser Dreierkonstellation wirkliche Souveränität erlangen können. An die Stelle des einstigen Vasallenstatus gegenüber den USA und der Sowjetunion wäre eine partnerschaftliche Beziehung getreten. Dies wiederum hätte die Tür geöffnet für die Entstehung einer nördlichen Zivilisation, die ihrerseits aus drei souveränen Polen, nämlich den USA, dem Europa der EU und Russland, bestanden hätte und die sich auf gemeinsame Wurzeln in der europäischen Kultur und Geistesgeschichte hätte berufen können. Der Bezug auf die gemeinsame historische und kulturelle Identität hätte die Machtbeziehungen eingehegt und beherrschbar gemacht. Die Entspannungspolitik eines Henry Kissingers und Willy Brandts hätten zudem die Methoden und Werkzeuge für einen dauerhaften Frieden von Wladiwostok bis Vancouver bereitgestellt. Vor allem dann, wenn in ökonomischer Hinsicht eine neue Periode der Sozialdemokratie die Synthese zwischen den kapitalistischen und sozialistischen Ansprüchen gebildet hätte. Der Westen hätte also seine eigenen Konzepte (Entspannungspolitik und Sozialdemokratie) verwenden können, um nach dem Kalten Krieg eine stabile und integrative Friedensordnung errichten zu können.

Wie sähe die Welt heute aus, wäre ein solches Bündnis zustande gekommen? Mit hoher Sicherheit gäbe es heute keinen Krieg in Europa. Und auch der Aufstieg der Bevölkerungsgiganten China und Indien hätte in dieser Konstellation sicher nicht die Probleme verursacht, mit denen die USA heute konfrontiert sind. Statt mit einer Gegenkoalition der BRICS+-Staaten konfrontiert zu sein, hätten die USA zusammen mit der EU und Russland selbst den Weg in eine multipolare Welt ebnen können. Unter solchen Bedingungen wäre eine gewisse Führungsfunktion des Westens auch noch innerhalb einer multipolaren Welt anerkannt worden.

Warum ist dieser vernünftige Weg, von dem ja letztlich auch die Vereinigten Staaten selbst profitiert hätten, nicht eingeschlagen worden? Warum wurde stattdessen ein Entwicklungspfad gewählt, der Russland, China und Iran konstant unter Druck setzt, sie auf diese Weise zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschmiedet und so letztlich die Entstehung eines antiwestlichen Blocks provoziert hat, dem sich derzeit sogar noch große Teile der arabischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Welt anschließen?

1.7 Das Rätsel, um das es geht

In gewisser Weise handelt es sich bei dem gerade beschriebenen Widerspruch um ein Rätsel, das im Laufe dieses Buches näher beantwortet werden soll. Die Gründe, aus denen heraus sowohl Europa als auch die USA Russland nur als Konkurrenten, als Gegner und nicht als europäischen Nachbarn, verwandte Kultur und stärkende Kraft wahrnehmen konnten, mögen unterschiedlich sein. Im Falle Europas ist dies vielleicht wirklich die Folge eines Selbstverlustes, das Verstummen eines Grundgefühls von sich selbst, was vielleicht die späten Folgen des Traumas zweier Weltkriege darstellt. Also das Resultat von etwas, das sich geistig in Europa ereignet hat, lange bevor es sich schließlich in einer bestimmten Politik materialisierte. In seinem tiefsten Inneren ist Europa von den beiden Weltkriegen immer noch derart erschüttert und geschockt, dass es aus ihnen die Angst zurückbehalten hat, erneut europäisch zu sein. Und so konnte in der Nachkriegszeit schleichend die westliche Identität die europäische überdecken. Die Ansprüche der alten europäischen Zivilisation wurden im Schatten des Wirtschaftswunders, des Konsums und des beruflichen Aufstiegs einer ganzen Generation schleichend durch eine westliche Identität überlagert. Während alles Europäische mit dem Ballast der Geschichte beladen war, Ernsthaftigkeit und Studienzeit voraussetzte, präsentierte sich der Westen vor allem über das Versprechen, das von seinen Produkten ausging. Diese versprachen schnelle Lusterfüllung, boten Unterhaltung, vermittelten Freude am Besitz und traten mit einer geradezu jugendlichen Einfachheit auf. Und so wurde ein europäisches Bewusstsein bald durch ein westliches Lebensgefühl überschrieben. Dass dieses zunächst von Leichtigkeit geprägte Lebensgefühl auch einen Preis hatte, nämlich mit dem Verzicht auf die eigene Geschichte und Identität einhergeht, wurde für viele erst seit der Jahrtausendwende fühlbar.

Im Falle der USA scheinen die Gründe, die zur Russlandfeindlichkeit führten, deutlich komplizierter zu sein. Um die amerikanischen Motive zu verstehen, muss man fragen, von welchem Selbstverständnis die amerikanische Außenpolitik ausgeht, von welchen machtpolitischen Erwägungen sie bestimmt ist. Auch muss man verstehen, welche Merkmale Russland besitzt, dass selbst sein größtes Entgegenkommen, der einseitige Rückzug Russlands aus Osteuropa, die Preisgabe seiner sozialistischen Ideologie, das Geschenk der deutschen Wiedervereinigung nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges stets aufs Neue wieder die Aggression nach sich zieht. Denn auch für die USA gab es immer die Option einer Bündnisbeziehung mit Russland, die zudem die amerikanische Macht enorm gestärkt hätte. Und man muss deshalb fragen, warum diese Option so leichtfertig verspielt wurde?

War es lediglich Inkompetenz, Größenwahn, schlechte Staatsführung, die dies bewirkt haben? Stand dahinter eine Art »westlicher Nationalismus«? War es Gewohnheit und institutionelle Trägheit, die hier die Oberhand gewannen? War das Feindbild Russland nach Jahrzehnten des Kalten Krieges einfach zu gut etabliert, um einfach so aufgegeben zu werden? Oder war es die imperiale Vergangenheit vieler westeuropäischer Mächte selbst, die sich hier nur erneut in moderner Form manifestierte? Man darf nicht vergessen, dass die wichtigsten Länder der westlichen Welt, allen voran Großbritannien und Frankreich, auf eine Geschichte als Kolonialmacht zurückblicken. Auch die USA sind im Laufe des 19. Jahrhunderts von einem zunächst antiimperialistisch verfassten Staat zu einer Kolonialmacht geworden, die hinsichtlich ihres Sendungsbewusstseins sogar alle ihre europäischen Vorgänger übertrifft. Der naive Glaube, im Dienst der Menschheit zu handeln, macht viele US-Amerikaner bis heute blind für den Gewaltindex der US-amerikanischen Außenpolitik. Doch auch eine Kolonialmacht ist auf einen Realitätssinn angewiesen. Und dass dieser verletzt worden ist, ist schon alleine daran erkennbar, dass während der Niederschrift dieses Buches ein antiwestlicher Block entsteht, der die größte Nuklearmacht (Russland), die größte Rohstoffmacht (Russland), die größte Wirtschaftsmacht (China), die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt (Indien, China) und die zwei wichtigsten Ölproduzenten des Nahen Ostens (Saudi-Arabien und Iran), die beiden kulturell einflussreichsten Staaten der islamischen Welt (Ägypten und Iran) und die stärkste Macht Lateinamerikas (Brasilien) vereint.

Warum haben die USA und mit ihr die gesamte westliche Welt letztlich zum eigenen Nachteil die Konfliktbeziehung zu Russland aufrechterhalten und zugleich andere aufsteigende Mächte von sich entfremdet? Was ist an Russland, dass der Westen es nur als Feind und Gegenpol wahrnehmen konnte und nicht als Partner und stärkende Kraft? Handelt es sich bei dem von den USA angeführten Westen und Russland um antithetische Zivilisationen, vergleichbar dem Verhältnis von Rom und Karthago? Und wenn ja, wie weit geht diese Unversöhnlichkeit? Könnte sie so weit gehen wie im Fall der beiden antiken Großmächte, deren Konkurrenz bekanntlich damit endete, dass Rom im Jahr 146 v. Chr. schließlich dazu überging, die Stadt Karthago und mit ihr die phönizisch-punische Zivilisation und Kultur förmlich auszulöschen? Der Legende nach soll sogar die Ackerfläche in der Region durch Salz unfruchtbar gemacht worden sein.

Eines der furchterregendsten Phänomene, die man nach dem Beginn des amerikanisch-russischen Krieges um die Ukraine beobachten konnte, war die Verleugnung der russischen Kultur, wobei sogar musikalische und literarische Werke aus dem 19. Jahrhundert sowohl von Lehrplänen als auch von Bühnen verschwanden. Auch in der Ukraine wird mit Billigung des Westens ein Krieg gegen die russische Sprache und Kultur geführt, im Zuge dessen – sollten die Ankündigungen wahr gemacht worden sein – bislang Millionen von russischen Büchern aus den Bibliotheken entfernt wurden.14 Begegnet einem in dieser Missbilligung allen Russischen ein Vorbote einer künftigen Zerstörung der gesamten Kultur, wie sie Rom an Karthago exerzierte? Im Falle des antiken Vorbilds sind die Worte von Cato des Älteren berühmt geworden, der jede Senatssitzung mit den Worten beendete: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.« (»Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.«) Auch heute existieren in den USA zahlreiche Politiker, die Russland sogar für die innenpolitischen Probleme der USA verantwortlich machen, wie z. B. den Wahlsieg Donald Trumps im Jahr 2016. Nehmen also die heutigen USA eine ähnliche Haltung gegenüber Russland ein wie einst Rom gegenüber Karthago?

Diese hypothetische Überlegung macht eine zweite noch dringlicher. Denn warum beteiligt sich Europa an einer Politik, die auf die Schwächung Russlands abzielt, zumal Deutschland tatsächlich schon einmal einen Krieg gegen Russland geführt hat, der an den Roms gegen Karthago erinnert. Und warum hat sich auch das übrige Europa an der Ablehnung der russischen Kultur beteiligt? Sofern sich tatsächlich herausstellen sollte, dass die westliche Welt und Russland antithetische Zivilisationen sind, deren Prinzipien sich gegenseitig ausschließen, würde dies dann auch für die europäische Zivilisation gelten? Vieles spricht dagegen. Denn ein Europa, das sich von Russland abtrennt, wäre sowohl hinsichtlich seiner historischen, kulturellen als auch geographischen Gestalt verstümmelt.

Wie man es auch dreht und wendet, in kultureller Hinsicht ist Russland ein Mitglied der europäischen Familie. Die russische Geschichte ist aufs Engste mit der Zentraleuropas verflochten. Wie das übrige Europa ist auch Russland vom Christentum geprägt worden, wenn auch vom orthodoxen Christentum. Wie das übrige Europa bezieht sich auch Russland seit über tausend Jahren auf das antike Erbe. Seit Russland sich unter Peter dem Großen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert nach Europa öffnete, ist es einbegriffen in den Rhythmus der europäischen Kunst- und Kulturepochen. Seither haben alle Neuerungen und künstlerischen, philosophischen und politischen Debatten, alle revolutionären Unruhen und Bewegungen stets auch Russland einbezogen. Zudem war Russland seit über dreihundert Jahren ein unverzichtbarer Faktor im europäischen Mächtegleichgewicht. Kam es in Europa zu einer gefährlichen Monopolisierung von Macht, etwa unter Napoleon oder Hitler, so war es Russland, das durch seine Verteidigung letztlich an der erneuten Herstellung einer neuen Machtbalance mitwirkte. Das Ziel Russlands war nie die dauerhafte Kontrolle über Europa, sondern vielmehr die Herstellung einer langfristigen, für beide Seiten vorteilhaften Partnerschaft im Rahmen eines Mächtegleichgewichts, weshalb die UdSSR selbst unter Stalin die Wiedervereinigung Deutschlands unter der Bedingung der Neutralität anbot. Auch die Übertragung einer sozialistischen Staatsform auf Ostdeutschland, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien stand für Moskau nach dem Zweiten Weltkrieg nicht absolut fest und wäre durchaus verhandelbar gewesen.15

Doch neben all dem, was Russland letztlich zu einem Bestandteil Europas macht, existieren auch mehrere Merkmale, die Russland von vielen europäischen und vor allem westeuropäischen Staaten unterscheidet. Im kulturellen Bereich ist dies einerseits die orthodoxe und andererseits die sozialistische Prägung des Landes, die insbesondere für Westeuropäer eine Irritation darstellt. Der russische Bezug auf das antike Erbe bezieht sich eher auf Byzanz denn auf Rom. Russland ist europäisch, ohne westlich zu sein. Damit verbunden ist eine weitere Tendenz der russischen Identität. Blicken nämlich die Russen nach Europa, so identifizieren sie sich oft nicht mit dem herrschenden Trend, sondern mit der Opposition. So war es jedenfalls im Mittelalter, als viele der Kritikpunkte an der Katholischen Kirche von der Orthodoxie geteilt wurden. So war es auch im 20. Jahrhundert, als Russland das erste sozialistische Land der Welt wurde und so ist es auch heute, insofern Russland die postmodernen Werte des heutigen Westens sehr kritisch betrachtet.

Hinzu kommt die geopolitische Ausnahmestellung Russlands. So ist Russland das mit Abstand größte Land der Welt im Zentrum der eurasischen Landmasse. Damit verbunden ist ein enormer Rohstoffreichtum, der ebenfalls von keinem anderen Land der Welt übertroffen wird. Ein weiterer Faktor ist seine militärische Bedeutung als einzige den USA ebenbürtige Nuklearmacht. Auch die außenpolitische Erfahrung, über die die russische Diplomatie verfügt, ist enorm und kann hinsichtlich ihrer Professionalität und Reflexionstiefe nur mit wenigen Ländern verglichen werden. Und schließlich ist auch die Vergangenheit Russlands von besonderer Bedeutung, sowohl in Hinblick auf das Zarenreich als auch auf die Sowjetunion. Das Zarenreich verstand sich als Nachfolger des oströmischen Reiches. Die Sowjetunion wiederum vertrat die erste jemals erfolgreiche sozialistische Revolution und stellte somit ein zweites modernes Zivilisationsmodell neben dem des Westens dar. Auch wenn der sozialistische Charakter der Sowjetunion später von einzelnen westlichen Politikern und Historikern immer wieder gerne in Frage gestellt wurde, blieb die Revolution von 1917 doch für sieben Jahrzehnte ein Faktor in der internationalen Politik. Hat die Unfähigkeit des Westens, Russland zu integrieren, etwas mit diesen Merkmalen zu tun?

Hier soll versucht werden, die geistigen Konzepte genauer zu verstehen, die den doppelten Niedergang Europas und des Westens herbeigeführt haben. Dies geschieht in der Hoffnung, dass die genaue Darstellung dessen, was falsch gelaufen ist, als Spiegelschrift einer positiven Vision eines neuen, anderen Europas gelesen werden könnte. Wäre ein Europa denkbar, das die notwendigen Schlüsse aus seiner historischen Vergangenheit zöge, das den Untergang des Westen überlebte und sich als Zivilisation zugleich neu erfände? Eines steht aber schon fest. Im Zentrum dieser Neuerfindung Europas müsste der Ausweg aus dem seit 1914 andauernden europäischen Bürgerkrieg stehen. Ein Europa, das den Frieden gewinnt, könnte fast alles schaffen.

1 Ania K., Scott Ritter, »Why the West hates Russia so much?«, 2. März 2024 https://www.youtube.com/watch?vQx6Cm_l94F0 (zuletzt abgerufen am 9. Juni 2024)

2Алексей Валериевич Фененко, Взлет и падение русско-германской системы, 12. Mai 2022, https://russiancouncil.ru/analytics-and-comments/analytics/vzlet-i-padenie-russko-germanskoy-sistemy/ (zuletzt abgerufen am 9. Juni 2024)

3 Alexander Schmalz, Kiesewetter: Der Krieg muss nach Russland getragen werden, Berliner Zeitung, 11. 02. 2024

4 Lietuvos Respublikos muitinė (Zollbehörden der Republik Litauen) Muitinės pareigūnai sulaikė pirmąjį automobilį su rusiškais registracijos numeriais (Zollbeamte halten das erste Auto mit russischen Kennzeichen fest), 12. März 2024

5 Rupert Koppold, Auf geht’s! Tschaikowsky, Tolstoi und Co. ausmerzen!, Nachdenkseiten, 4. Juli 2023

6 Tokio 2021 –, 15. Juli 2021,

7 Werner J. Marti, Eklat wegen Ehrung für einen Waffen-SS-Veteranen in Kanadas Parlament, in: NZZ, 26. 9. 2023

8 Hannes Hofbauer, Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung, Promedia, Wien 2022, S. 14f.

9 Heinrich Mann, Briefwechsel Thomas Mann, Frankfurt am Main 2021

10 Der griechische Historiker Thukydides hatte eine Machtkonstellation zwischen dem absteigenden Sparta und dem aufsteigenden Athen beschrieben.

11 John Maynard Keynes, The economic consequences of the peace, London 1920, S. 251

12 Georg Schild, 1983 – Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges, Paderborn 2013, S. 161−190

13 Jacques Baud, Putin Herr des Geschehens? Frankfurt am Main 2023, S. 39ff.

14 »Russische Literatur ins Altpapier« – Bücherentsorgung in der Ukraine, taz, 23. 11. 2022

15 Hätten nämlich die Sowjetunion auf ihre eigene Präsenz in Osteuropa verzichtet, während sich die Amerikaner in Westeuropa festsetzten, so wäre damals bereits geschehen, was nach 1989 passiert ist, nämlich die Ostausdehnung des amerikanischen Einflussbereichs. Vor diesem Hintergrund wird sichtbar, dass die russische Präsenz in Osteuropa nach 1945 eher eine Verteidigungsmaßnahme darstellte, als die Verwirklichung eines erklärten außenpolitischen Ziels.

2. Die amerikanische Tragödie

2.1 Der Weg in die unipolare Welt

Liest man heute die verschiedenen Wahl- und Grundsatzprogramme der CDU, SPD, FDP und Grünen, die zwischen 1990 und 1994 – also in den ersten Jahren nach dem Epochenbruch von 1989 – verfasst wurden, so fällt einem als erstes die nach Innen gerichtete Perspektive auf. Alle deutschen Parteien dieser Periode betreiben im Grunde Nabelschau. Ihre Wahlprogramme und Grundsatzpapiere sind zu über 90 bis 95 Prozent der Innenpolitik gewidmet. Es geht um Umweltschutz, Sozialstaat, Emanzipation der Frau, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und viele ähnliche Themen. Im SPD-Wahlprogramm des Jahres 1990 kommen die Wörter Sowjetunion bzw. Russland nicht einmal vor, stattdessen finden sich formelhafte Bekenntnisse zur transatlantischen Partnerschaft. Lediglich die Grünen fallen etwas aus dem Rahmen, insofern sich bei ihnen vereinzelt ein Problembewusstsein bezüglich des Fortbestands der NATO finden lässt. Sie sprechen von einer Überwindung der Blockordnung und beziehen damit die absolut gegenteilige Position zu ihrem heutigen Kurs. Doch letztlich ging es auch bei den Grünen vorrangig um Innenpolitik.

Die Dominanz der Innenpolitik in allen Wahlprogrammen zeugt von einer Gesellschaft, die die Verantwortung über die Weltordnung an eine andere Macht abgetreten hat. Da helfen auch ein paar idealistische Bekundungen zum Kampf gegen den Hunger in der Welt nicht, solange solche Äußerungen ohne Kenntnis und Thematisierung der globalen ökonomischen Strukturen abgegeben werden. Deutschland besaß zur Zeit des Mauerfalls kein öffentliches Bewusstsein von der Gestaltbarkeit der Welt. Die damals existierende Weltordnung wurde als etwas an sich Gegebenes wahrgenommen und wie eine natürliche Ordnung verstanden. Dass diese Weltordnung von der damals dominanten Supermacht USA gestaltet worden war und daher auch anders geformt werden könnte, wurde in der Öffentlichkeit ausgeblendet. Dies waren denkbar schlechte Voraussetzungen, um der Sternstunde der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert – dem Fall der Berliner Mauer – mit einer eigenen Willensbekundung zu begegnen.

Ganz anders in den USA. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, begriff man dort sehr schnell, dass mit dem Wegfall des geopolitischen Konkurrenten sich eine einmalige Möglichkeit für eine amerikanische Expansion bot. Dies löste an amerikanischen Universitäten Euphorie, aber auch hitzige Diskussionen aus. Bald schon tauchte der Begriff einer unipolaren Welt auf. Die Welt des Kalten Krieges besaß eine bipolare Struktur. In ihr musste die internationale Ordnung stets mühsam ausgehandelt werden. In den amerikanischen Diskussionen begann nun der Gedanke Gestalt anzunehmen, die Welt nach dem Kalten Krieg könne eine unipolare Struktur annehmen. Darin wiederum war eine Vielzahl an Implikationen beschlossen, die fast jeden Bereich der modernen Zivilisation berührten und die schnell von einzelnen Wissenschaftlern ausbuchstabiert wurden.

Was während des Mauerfalls als Diskussionen an Universitäten begonnen hatte, war sehr folgenreich. Es begann mit rein akademischen Debatten, in denen man verschiedene Begriffe zur Beschreibung einer noch unerhört wirkenden Vision bemühte. Man sprach abwechselnd vom »Ende der Geschichte«, von einer »neue Weltordnung«, von einem »unipolaren Moment«, schließlich vom »neuen amerikanischen Jahrhundert«.

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gewann man allmählich Sicherheit, trat zunehmend forsch und auch gut organisiert auf. Nach und nach trat das Ziel einer unipolaren Weltordnung in den Vordergrund, verdrängte alternative Konzepte und wurde zum strategischen Ziel der US-amerikanischen Außenpolitik.

Die Europäer haben anfänglich gar nicht verstanden, dass die USA den Weg hin zu einer unipolaren Weltordnung eingeschlagen hatten. Sie machten sich nicht klar, was dies letztendlich beinhaltete. Nämlich, dass es fortan nur noch ein einziges modernes Zivilisationsmodell geben würde. Und dass dieses über wirtschaftliche, militärische oder ideologische Abhängigkeit und Verflechtungen für alle übrigen Kulturen der Welt Verbindlichkeit erlangen sollte. Das bedeutete zwar nicht, dass gänzlich andere Kulturen wie die chinesische und die indische sofort ihre Charakteristika verloren hätten. Aber es bedeutete schon, dass eine liberale internationale Kultur amerikanischer Prägung die globalen Entwicklungen so tief greifend prägen würde, dass die übrigen lediglich regional verankerten Kulturen die Möglichkeit verlieren würden, selbst eine Interpretation der modernen Welt zu entwickeln. Die USA strebten danach, über eine Kombination aus wirtschaftlicher, technologischer, kultureller und ideologischer Macht eine Weltordnung vorzugeben, deren strukturelle Macht letztlich eine Verwestlichung der gesamten Welt einleiten würde.

Die unipolare Weltordnung beruhte somit auf einem unglaublich ehrgeizig gedachten Machtanspruch, dessen negative Konsequenzen entweder hingenommen oder nicht mitgedacht wurden. Die Architekten und Planer einer unipolaren Welt glaubten, dass es den USA sowohl als Staat als auch als Kultur vorbehalten sei, im Alleingang darüber zu befinden, in welche Richtung sich die moderne Welt im 21. Jahrhundert entwickeln sollte. Vor dem Hintergrund ihrer Geschichte hätten die Europäer einem solchen Machtanspruch niemals zustimmen können. Denn durch diesen werden einzelne Kulturen vor die Wahl zwischen massiver Schwächung oder Selbstbehauptung gestellt; eine fatale Alternative, die schon einmal im Europa des 17. Jahrhunderts zahlreiche Bürgerkriege in Gang gesetzt hatte. Zur Vermeidung der Wiederholung derartiger Konflikte waren seinerzeit die Grundsätze des Westfälischen Friedens aufgerichtet worden, die bis heute das Fundament des Völkerrechts bilden.

Doch die Europäer blieben hinsichtlich der Grundprinzipien der neuen Ära erstaunlich unbewusst. Sie merkten nicht einmal, dass alle strategischen Grundsatzentscheidungen der 1990er- und 2000er Jahre ohne sie vollzogen wurden. Die Europäer waren nicht beteiligt bei der Ausgestaltung der Globalisierung, bei der Wahl der ihr zugrunde liegenden Wirtschaftsphilosophie, bei der Architektur des modernen Finanzmarktes.16 Die Europäer waren auch nicht beteiligt an der Entwicklung neuer Technologien, etwa des Internets. Sie entwickelten infolgedessen auch keine internetbasierten digitalen Konzerne, hatte keine Stimme bei der Frage, ob diese Konzerne eine Monopolstellung erwerben dürften und waren daher auch nicht in der Lage, europäische Werte im Bereich der Datensicherheit und Privatsphäre mit diesen neuen Technologien zu versöhnen. All diese Entwicklungen nahmen die Europäer wie Naturphänomene wahr, ohne die gestaltende amerikanische Macht dahinter zu erkennen, geschweige denn öffentlich zu thematisieren.

2.2 Die neokonservative Bewegung in den USA

Wie sicher sich die Amerikaner von Anfang an hinsichtlich der neuen Rolle in der nun anbrechenden Welt waren, kann anhand zweier Veröffentlichungen exemplarisch beschrieben werden. 1990 – also noch vor dem Zerfall der Sowjetunion – veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Charles Krauthammer in der Zeitschrift Foreign Affairs