Vom Verstummen der Welt - Marcel Robischon - E-Book

Vom Verstummen der Welt E-Book

Marcel Robischon

4,8

Beschreibung

Das Tal der Bären und der Berg der Geier – Reminiszenzen an eine Zeit, als die großen Wildtiere auch bei uns noch zahlreich waren. Heute sind sie weitgehend verschwunden – zurückgedrängt, verschollen oder für immer ausgestorben. Mit ihrem endgültigen Verschwinden aber verarmt nicht nur unser natürlicher Reichtum; verloren geht auch ein geistiges Reservoir, aus dem menschliche Kultur seit Jahrtausenden schöpft. Wir leben in einer Zeit der Vereinheitlichung; aus Vielfalt wird Einfalt. Doch was wir in unseren Städten tagtäglich beobachten, macht auch vor Wald und Flur nicht halt – mit den bekannten Folgen für unsere Ökosysteme. Welche Auswirkungen hat diese 'biologische Globalisierung' auf den Menschen als kulturelles Wesen? Was bedeutet es für unser Denken, wenn immer weniger Pflanzen und Tiere die Natur bereichern oder der Reichtum der Arten als Muster für unsere Vorstellungen und Ideen verschwindet? Marcel Robischon lädt den Leser zu einer ganz ungewöhnlichen, poetischen Reise ein und zeigt mit verblüffenden Einsichten, was es heißt, wenn alles auf der Welt 'immer gleicher' wird. Eine literarische Entdeckung in der Tradition großer amerikanischer Schriftsteller von Henry D. Thoreau über Rachel Carson bis Michael Pollan.

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Marcel Robischon

Vom

Verstummen

der Welt

Wie uns der Verlust der Artenvielfalt

kulturell verarmen lässt

Diese Publikation wurde durch die Unterstützung der Andrea von Braun Stiftung ermöglicht.

Die Andrea von Braun Stiftung hat sich dem Abbau von Grenzen zwischen Disziplinen verschrieben und fördert insbesondere die Zusammenarbeit von Gebieten, die sonst nur wenig oder gar keinen Kontakt mit einander haben. Grundgedanke ist, dass sich die Disziplinen gegenseitig befruchten und bereichern und dabei auch Unerwartetes und Überraschungen zu Tage treten lassen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 oekom, München

oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,

Waltherstraße 29, 80337 München

Satz + Layout: Sarah Schneider, oekom verlag

Umschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.de

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-86581-330-5

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

Meinen Eltern

Ich möchte allen Wissenschaftlern, Dichtern, Wanderern, Seefahrern, Forschern, Reisenden, Buchschreibern und Geschichtenerzählern danken, die mit Rat und Wissen und der Bereitschaft mir von Abenteuern in der weiten Welt zu erzählen, zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.

Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern sowie Frau Eva Rosenkranz, Herrn Dr. Christoph Freiherr v. Braun, Herrn Dr. Christoph Hirsch und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des oekom verlags München.

INHALT

__________KAPITEL 1_____

Im Tal in den grünen Bergen

Wälder wurzeln in Vergangenem und weisen in die Zukunft.

Sie lehren Vorsicht, Rücksicht und Weitsicht,

wenn wir nur richtig hinschauen, richtig fragen.

__________KAPITEL 2_____

Den Strom hinauf

Jedes Lebewesen, ob bekannt oder unbekannt, birgt einen

gewaltigen Schatz an Informationen, Bildern und

Geschichten. Diese Vielfalt ist Ursprung unserer Geisteswelt.

__________KAPITEL 3_____

Mammut im Nebel

Stirbt ein Tier aus, ohne dass wir es gekannt haben,

oder streift uns nur mehr eine Ahnung aus Urzeiten wie

das Licht eines erloschenen Sterns, sind auch Begriffe und

Erkenntnismöglichkeiten verloren.

__________KAPITEL 4_____

Auf der Schildkröteninsel

Inseln sind Modelle für die ganze Erde; dort zeichnet die Natur

einfachere Bilder bei stärkerer Vergrößerung und höherer

Auflösung. Sie erzählen von den Geheimnissen des Lebens.

__________KAPITEL 5_____

Auf grünen Straßen

Eine von Menschen globalisierte Pflanzenwelt lässt über alle

Landschaften das gleiche Gras wachsen und mindert für alle

Zukunft das Abenteuer der Begegnung mit dem Unbekannten.

__________KAPITEL 6_____

Auf grünen Flügeln

Das weltumspannende Honigbienen-Experiment mit seinen

katastrophalen Folgen für heimische Insekten und Vögel

verdeutlicht die riskante Balance zwischen Alteingesessenen

und Neubürgern.

__________KAPITEL 7_____

Shanghait und deportiert

Die Verschleppung der Tiere über Kontinente hinweg

ist eine Geschichte von Grausamkeit und leisem Sterben

Zurück bleibt die abgeweidete, ausgeweidete,

immer gleiche Landschaft.

__________KAPITEL 8_____

Weltbürgerin im feinen Zwirn

Die Schönheit der Felsentaube ist wie eine Symphonie in Grau

und den Farben des Regenbogens. Während viele andere

Taubenarten ausgestorben sind, wurde sie zum Allerweltsvogel.

__________KAPITEL 9_____

Unter Seefahrern und Seevögeln

Den Zeichen der Natur folgend entdeckten die Seefahrer im

Pazifik immer neue Inseln.

Diese ungeheure Navigationsleistung

wäre ohne die eigentlichen Wegweiser, die lebenden Geschöpfe,

nicht möglich gewesen.

__________KAPITEL 10____

Wanderer in der Wüste

Die Menschheit verliert die lebenden Richtungsweiser

und mit ihnen wesentliche Orientierung. Überfahrene Igel oder

Kröten sind ein deutliches Zeichen für die Missachtung

von Verkehrsregeln der Natur.

__________KAPITEL 11____

Grenzformen des Lebens

Die Sprachen der Menschen sind von der Natur inspiriert.

Mit dem Verschwinden der Arten geht auch die sprachliche und

kulturelle Vielfalt verloren. Wir werden an

Ausdrucksmöglichkeiten ärmer.

__________KAPITEL 12____

Geisterstimmen am Eisenweg

Kalifornien, einst eine biologische und kulturelle Schatzinsel,

ist heute allseitig »globalisiert«.

Eine neue, nur scheinbare Vielfalt

überdeckt die Verluste an Ursprünglichem und Einzigartigem.

__________KAPITEL 13____

Humboldts Anekdote oder

die Klippe über dem Wasserfall

Die Erinnerung an verlorene Schönheit

hält über lange Zeiträume

Wünsche und Hoffnung wach.

Daraus erwächst der eigensinnige

Versuch, Verlorenes und Zerstörtes wiederzubeleben.

Denn die Natur ist immer für eine Überraschung gut.

Nachbemerkung

Anmerkungen

Bildquellen

»Die Berge selbst scheinen zu atmen,

als ob ein Riesentier im Pelz der Wälder schläft.«

Lange Zeit bin ich früh aufgestanden, von den Amseln am Fenster geweckt, und in der Morgendämmerung durch mein Tal gefahren, mein Tal in den grünen Bergen. Wie ein Handabdruck ist es ins Urgestein modelliert. Wie von fünf Fingern gezogen, spreizen sich die Seitentäler ins Gebirge, und wie eine Hand voller Getreide ist der Talgrund im Sommer mit Weizen und Welschkorn bedeckt. Auf den Hängen und Höhen wachsen duftende Bestände aus Fichten und Douglasien, gepflegte Forste wie ein dunkler Pelz, der sich mit dem Atem eines gewaltigen Tieres bewegt. Manchmal rollen und poltern Gewitter durch mein Tal, wie ein Magenknurren tief im Bauch der Berge. Und nach dem Regen dampfen die Hügel wie nasses Vieh, das auf der Weide wartet.

Wenn man lange an einem Ort lebt, erscheint einem dieser Ort wie ein lebendes Wesen1, ein Wesen mit und auf dem man lebt, als wären die Berge riesenhafte Tiere. Einer von ihnen sieht an einem dunstigen Morgen aus wie ein blauer Riesenelefant. Natürlich lebt in solch einem vertrauten Wesen, so zahm und gepflegt es auch sein mag, etwas Wildes, wie jedes Haustier noch ein paar wilde Züge in sich birgt. Selbst wenn man glaubt, alle Launen, Stimmungen und Stimmen zu kennen, kann man doch Spuren der Wildnis entdecken.

An den Wiesenrainen des grünen Tals findet sich allerhand wildes Leben: Orchideen und Morcheln, goldäugige Kröten und Ameisenlöwen, dazwischen manchmal ein silbergrauer Reiher, der, aufrecht und ernsthaft – en garde –, still steht, dann plötzlich wie ein Fechter zustößt, hinabstößt auf irgendetwas Unsichtbares im tiefen Gras. Und hoch über dem Talgrund »fing mein Auge früh der Frühe Liebling, Erbprinzen im Reich des Taglichts,«2 ein: den Regenschüttler, Kunstflieger, Jagdflieger, der in der Luft stillsteht, rüttelt und plötzlich hinabschießt, hinab auf etwas Unsichtbares in Weizen und Welschkorn. An den Böschungen wachsen Ameisenburgen, Millionenstädte, zwischen Wurzeln und Humus gegraben, aus Fichtennadeln aufgetürmt. Und manchmal sitzt hoch in einem hohlen Stamm ein Bienennest, das wie mit kaum merklichem Vibrieren eine lebendige Spannung ausstrahlt und sein fliegendes Leben ein- und ausatmet.

Zwischen den »Brotbäumen« der Forstwirtschaft stehen auch noch einheimische Baumarten. Weil sie schon lange, für Menschenverstand schon immer, hier waren und hier schon immer wichtig waren, haben sie vielen Seitentälern, Dobeln, Gipfeln und Weilern ihre Namen hinterlassen. Da gibt es ein Tal der Weiden und ein Tal der Eschen, an dessen Eingang das Dorf der Birken liegt. Da gibt es das Tal der Buchen, den Hügel der Eichen oder den Pass der Bergkiefern und – zu Füßen des Lindenbergs – das Tal der Eiben, wo Eiben heute aber selten sind, weil man den giftigen Baum mit den roten Fruchthüllen in alten Zeiten beinahe ausgerottet hat. In den Namen ist eine Erinnerung erhalten, die weiter als eine Lebenszeit zurückreicht. Manchmal sind die Bäume hinter diesen Namen nach Jahrhunderten der Verschiebungen und Verschleifungen fast unkenntlich geworden – so wie der Wall der Keltenfestung, die mitten im Tal lag und, vor Jahrtausenden noch weltberühmt, heute, längst geschliffen, abgeschliffen, nur bei genauem Hinsehen zu erkennen ist; fast unsichtbar im Gras, versteckt unter Weizen und Welschkorn. Bis heute lebt ihr Name in einigen Dorfnamen fort.3 Der Hügel der Stiere soll er in einer ausgestorbenen Sprache bedeutet haben, eine Erinnerung, vielleicht, an die Wildrinder der Urwälder, die Waldrinder der Urwildnis, die Urrinder der Waldwildnis, heute ersetzt durch zahme Milchkühe, wie sie beinahe überall grasen könnten, und denen man schon als Kälbchen die Hörner ausgebrannt und ihre Wildheit nahezu ausgetrieben hat.

Auch anderes Wild hat im grünen Tal toponymische Trittsiegel hinterlassen. Ein Berg heißt Rosskopf, vielleicht seit jener Zeit, in der man noch den Hufschlag wilder Waldtarpane hören konnte? Da gibt es ein Tal der Bären, einen Wolfsgrund und einen Berg der Geier, Erinnerungen an die lange Verschwundenen, die großen Wildtiere. Im Tal der Buchen gibt es einen Falkenstein und an der Talmündung des Weidentals einen Falkenbühl, in alten Zeiten Festungshügel und heute ebenso abgeschliffen, beinahe eingeebnet wie der Hügel der Stiere. Doch die Falken sind noch da. Der »Regenschüttler«, der Turmfalke, der in der Kirche nistete und dessen Junge den Gesang der Patres mit Vogelkindergeschrei untermalten, und – seltener, ungewohnter, abenteuerlicher – die Wanderfalken, die in ihrer Jugend in den Süden gezogen waren und sich nun, da ihr Wandertrieb ausgelebt schien, hier im Tal niedergelassen hatten. Rund um die Uhr von einer Leibwache geschützt, nistete ein einziges Fürstenpaar der aussterbenden Art am Abgrund über der Schlucht der Hirsche, und ich war stolz, das große Geheimnis wissen zu dürfen.

Sie waren nicht die einzigen Weltwanderer, die durch den Luftozean bis in unser Tal geschwommen kamen. Als untrügliches Zeichen des Sommers kreuzten vom Süden, von den Tropen Afrikas her, die Alpensegler auf, um hier, am Fuß der grünen Berge, das »Nordkap« ihres Wanderlebens zu umrunden. Ihre kleineren Begleiter, die Mauersegler, nisteten unter unserem Dach. Wie geflügelte Pfeile sausten die Insektenabfangjäger durch die Luft, beschrieben Schussparabeln am Mittagshimmel und erzählten in scharfen Pfiffen Geschichten vom Nil und Sambesi.

Wenn im November die Winterschafe wie eine Wollflocke in der Hand des Schäfers durch den Talgrund wehten, kamen, wie ein alle Jahre wieder aufgeblättertes Kalenderbild der Wintermonate, vom fernen Osten, aus Sibirien, die Saatkrähen, die »Winterchrabbe«, in Riesenherden durch den Eishimmel herangeschwommen und erklärten in rauem Kanon ihre Lufthoheit über dem Tal.

Wenn die Dezemberlämmer geboren wurden, kamen manchmal als seltener Besuch die Seidenschwänze aus dem hohen Norden. Sie erinnerten mich, wenn sie sich auf Birkenästen aufreihten, an die Glasvögel unseres Weihnachtsbaums. Glasklirrend schrill klang auch ihr Ruf – und sie brachten mir in ihrem Gefieder die Herbstfarben der Arktis mit.

So wie die alten Namen der Orte im Tal ein Nachhall der geheimnisvoll versunkenen Vergangenheit, der Urzeiten, der Geheimniszeiten voller Bären und Wölfe, Geier und Giftbäume waren, so brachte der Ruf der Zugvögel einen Klang von weither, eine Botschaft von jenseits der grünen Berge, wo es noch ungeheuer viel zu sehen und zu entdecken geben musste. Doch es gab noch andere Botschafter aus der weiten Welt, die lautlos Geschichten erzählten und in meinem Tal den Status des Besonderen, des Exotischen genossen und grenzenlose Neugier weckten: die patagonische Südbuche – aus Feuerland, vom Ende der Welt! – auf dem Schulhof und der amerikanische Riesenlebensbaum im Park, der hier tatsächlich zu einem grünen Giganten hatte heranwachsen dürfen und in seinen Schuppenblättchen einen Duft wie von Ananas und Äpfeln barg. Oder die Riesentannen aus dem pazifischen Nordwesten, die ein Förster einmal versuchshalber am Hang der Falken, nahe der Schlucht der Hirsche, hatte anpflanzen lassen. Oder das Wäldchen eleganter Japanlärchen im Buchental, vor Generationen einmal von einem japanischen Forstprofessor auf dem Land eines Nachbarn gesetzt. Sie erzählten von Abenteuern jenseits der grünen Berge, denn irgendwer musste sie einmal in fremden, unerforschten Wäldern entdeckt und über den Ozean hierhergebracht haben.

Satzzeichen in der Syntax der Natur

Da mein Traum vom Fliegen nicht zu verwirklichen war, lernte ich, um viel im Wald zu sein, den Beruf des Försters. Lange Zeit bin ich früh aufgestanden und jeden Morgen durch mein Tal gefahren, lernte, mit dem »Fichtenmoped« Holz zu machen und über den Daumen peilend, mit Zuwachstabellen und Massentafeln nachrechnend, Grundfläche, Höhe und Masse eines Baumbestandes zu bestimmen und mithilfe der Schriften der Vorgänger den Zuwachs an Holz in Festmetern pro Hektar zu berechnen. Ich konnte die Hieroglyphen der Borkenkäfer und die Trittsiegel des Wildes im Schlamm oder Schnee lesen, konnte anhand der Zeigerpflanzen der Krautschicht sagen, wie gut ein Standort mit Wasser und Mineralsalzen versorgt war und welche Bäume, welche Waldgesellschaften hierher gehörten.

Ich wusste die Bäume am Duft ihres Holzes und ihrer Knospen zu unterscheiden, konnte die Bodentypen anhand des Knirschens der Partikel zwischen Fingerspitzen oder Zähnen benennen und erklären, wie die mit Erdfarben gemalten Bilder eines Bodenprofils wohl entstanden waren und wie sie sich weiterentwickeln mochten, irgendwann in endloser Zukunft.

Es galt, ungeheuer viele, ungeheuer feine Details zu beachten, wollte man irgendetwas vom großen Gesamtbild des Waldes verstehen.

Ich lernte im Wald, das Seltene und Besondere zu suchen, zu finden und zu fördern. Die einzelne Mehlbeere zwischen den Ahornen am Waldrand, den einen Ahorn zwischen den Buchen, die eine Buche in einem Douglasienbestand, den einzelnen Wildkirschbaum, der einem Bergmischwald einen zusätzlichen Farbton verlieh, die eine Esche unter hunderttausenden, die kein gefiedertes, sondern ein ganzes, ungeteiltes Blatt hatte, den einen Seidelbast, der im Frühjahr unter den Buchen seinen aufregenden Duft in die Luft streute ...

Natürlich fasziniert das Bunte, das Ungewöhnliche. Und das, was vielfältig und reichhaltig ist, ist stabil, sicher; eine Erkenntnis, die sich auch außerhalb der Forstwirtschaft durchgesetzt hat – doch die Sache ist viel komplizierter: Das, was am richtigen Ort ist, ist stabil4, und manchmal trägt gerade das, was auf den ersten Blick artenarm erscheint, als schlichtes, einzigartiges Bild zur Vielfalt und zum Reichtum bei. Manchmal wirkt das wirklich Besondere auf den ersten Blick gar nicht so aufregend und gibt sein Geheimnis nur langsam und nur dem, der genau hinschaut, preis. Schützenswert und geheimnisvoll war deshalb der Bestand von Eiben, den es, als seltene, wahrscheinlich weit und breit einzigartige Erscheinung, in der Klamm der Hirsche, am Hang der Falken, noch gab. Ganz in der Nähe kroch eine Flut von Gneisblöcken bergab. Das einzige Gehölz, das sich hier halten konnte, war der Bergahorn, der doch sonst nie reine Bestände bildete und im Herbst seine Flügelfrüchte wie Schwarmwellen karamellgelber Libellen in den Wind schüttete und Wolken von Lichtgold ins Tal goss.

Um den Wald zu verstehen, muss man dauernd auf winzige Elemente achten, auf die unauffälligen, die Satzzeichen in der Syntax der Natur. Ein dauerndes Spurenlesen und Zusammenlesen von Informationen ist nötig, um überhaupt eine Fährte zu finden, und ob man es schafft, diese zu verfolgen, unter Myriaden anderer Fährten, ist ungewiss. So ein Waldökosystem ist nicht nur komplizierter, als wir denken, sondern komplizierter als wir überhaupt denken können5, denn schließlich arbeitet die Forstwirtschaft ja nicht mit den Teilchen, Kräften und Energien eines unbelebten Systems, sondern mit lebendigen Wesen.

Wenn man mit etwas derartig Kompliziertem umgeht, sich sogar anmaßt, einzugreifen, ist es natürlich angebracht, ständig in Sorge zu sein, es könne irgendetwas in diesem Organismus aus der Balance geraten. Es könnte eines der Elemente verloren gehen, die den Wald so aufregend, so reich und stabil machen und ihn von den Holzplantagen unterscheiden, in denen wenig mehr wächst als Geld.

Als Förster arbeitet man mit etwas, das in der Vergangenheit wurzelt, und muss gleichzeitig versuchen, in die Zukunft zu schauen, muss im Geist die noch winzigen Bäume zu Riesen wachsen lassen, ein in die Zukunft projiziertes Bild erzeugen. »Modellieren« ist eine Aufgabe, die heute von Computern übernommen wird, sodass die persönliche Handschrift des Försters verschwindet.

Man muss das neu Beobachtete dauernd mit den Erinnerungsbildern vergleichen, muss versuchen, Richtungen der Entwicklung und Veränderung zu erkennen. »Zukunftsbäume« nennen Förster besonders zu fördernde Bäume im Bestand. Die Vorhersage beruht, natürlich, auf Erfahrung, auf dem, was man selbst beobachtet, was von anderen mitgeteilt oder was in Büchern zusammengelesen wurde. Man muss mit Vorsicht und Rücksicht und Weitsicht arbeiten. Niemals war das zukunftsweisende Moment so wichtig wie heute; in einer Zeit, da wir vermuten, dass die große Zukunftsentscheidung der Förster, die Baumartenwahl, auf ein künftiges, stark verändertes Klima abgestimmt werden muss6, und da wir davon ausgehen, dass wir auch in Zukunft Sauerstoff und Holz, Vogelstimmen und Harzduft und den Schatten der Bäume an einem sonnigen Nachmittag zum Leben brauchen.

Betonschleier über dem Glühwürmchenwald

Vielleicht ist mir wegen der Notwendigkeit, überall auf Entwicklungen zu achten, all das aufgefallen, was sich außerhalb der Wälder im Tal veränderte, was verschwand und verloren ging. Der pittoresk ausgestreckte Ast eines alten Baumes, der wohl zur Gefahr geworden und der Verkehrswegesicherung wegen abgesägt worden war, die Wunde grau zugestrichen; Kastanien, die einst so mächtig waren, als hätten sie sich für die Ewigkeit gen Himmel gestreckt, und von denen nichts blieb als ein Stumpf, der sich kaum mehr über den Boden erhob. Oder auch das Unbelebte: eine Straße, die sich schon immer wie eine Blindschleiche in der Sonne durch das Tal geschlängelt hatte und nun geradegestreckt worden war, so gerade, dass eine kleine, jahrhundertealte Kapelle, die vorher am Weg, nun aber im Weg gestanden hatte, abgerissen und durch eine andere, an anderem, beliebigerem Ort ersetzt wurde. Ein altes Haus, das plötzlich verschwunden war, verdrängt durch einen Betonklotz, einen Fremdkörper, der nicht aus den Hängen und Rainen der Berge herausgewachsen zu sein schien, sondern eher wie eine zufällig hier in der Landschaft abgestellte Maschine wirkte. »Wohnmaschinen« machten sich breit anstelle der einheimischen Wohnorganismen, wie es die alten aus dem Holz der Rotfichte gezimmerten Bauten im Tal mit ihren holzschindelgeschuppten Flanken, Wand und Dach zugleich, waren; jedes wie ein großes Urzeittier, das sich, halb in den Hang gegraben, gegen Wind und Wetter stemmt und unter seinem Rückenschild Menschen und Vieh beschützt.

Die Wohnmaschinen und überhaupt alle Neubauten sind aus Beton. Beton ist grau – nicht schimmernd grau wie das Gefieder des silbergrauen Reihers, nicht in tausend Abstufungen grau wie die Flechten auf dem Stamm der Buchen oder die Schindeln der Bergbauernhäuser. Beton ist nur grau. Beton ist glatt und homogen, an allen Wänden gleich – nicht ölig glatt wie eine Schiefertafel, nicht samtig glatt wie Travertin, nicht seifig glatt wie Blaubasalt. Nicht kühl wie Marmor, nicht warm wie Sandstein. Er fühlt sich nach gar nichts an. Beton hat auch keinen Duft, riecht nicht schweflig wie Feuerstein, nicht kalkig wie der Dolomit, nicht kreidig, nicht seifig. Beton riecht nach nichts – und doch roch es überall da, wo die Maschinenhäuser hingepflanzt wurden, an die Wachstumsränder der Dörfer, die sich immer weiter aneinander heranfraßen, entlang der Straßen, die in die Erde gerissen wurden, nach Beton.

So auch die gewaltige Schneise, die klaffende Wunde, die in die offene Handfläche des Tals gehauen wurde. Um Platz für den Bau der Straße zu schaffen, erschienen eines Tages Holzfäller in dem prächtigen Park, ganz in der Nähe unseres Hauses. Er trug übrigens den Namen eines der großen Pioniere des Naturschutzes und bot eine Heimstatt für allerhand Vögel und andere Wilde – und in Sommernächten eine geheimnisvolle Bühne für die magischen Lichtspiele der Glühwürmchen. Einige Menschen hatten die Bäume noch vor dem Angriff schützen wollen, doch eine ganze Armee fremder Polizisten war aufgeboten worden, sie zu verjagen.

Wenige Stunden später waren entlang der Schneise alle gefällt. Große Maschinen fuhren heran, rissen den Boden auf und gossen Beton hinein, so wie beim Tätowieren Farbe in eine Wunde injiziert wird, um für immer zu bleiben. Quer durch das Tal wurde eine Betonbahn ausgelegt, auf der mehr Autos fahren sollten, immer mehr und immer mehr ... Mit jedem weiteren Betonbau, mit jeder weiteren Asphaltfläche verdichtete sich der Grauschleier über dem grünen Tal.

Dieser Grauschleier liegt nicht nur über meinem grünen Tal. Mir scheint, er ziehe sich langsam über die ganze Welt. Überall auf der Erde baut man am globalen Dorf, vielmehr an der globalen Stadt, denn der in den sechziger Jahren gebräuchliche Begriff »globales Dorf«7, bezogen auf die weltweite menschliche Kommunikation über alle Grenzen hinweg, hat sich längst in anderen Bereichen konkretisiert.

Concrete so nennt man in der Sprache der Globalisierung auch den Baustoff, in dem diese Konkretisierung stattfindet: Beton. Das globale Dorf ist angewachsen zur globalen Stadt, zur Globalopolis8 – doch immer noch nicht ausgewachsen. Immer noch wird weitergebaut. Mit Beton. Immer noch verwandelt sich, als wäre ein moderner Midasfluch ausgesprochen worden, alles, was der Mensch berührt, in Beton.

Da ich das Tal und die Berge schon lange Zeit kenne, kommt es mir vor, als würde ein lebendes Tier einbetoniert; ähnlich wie Bienen einen Eindringling in ihr Nest, zum Beispiel einen Totenkopfschwärmer, lebend in Wachs und Propolis einbalsamieren. Der große Unterschied ist, dass die Menschenstaaten keinen Eindringling bekämpfen, sondern im Gegenteil »ausschwärmen«, sich über die Wildnis ausbreiten wie ein fremder Schwarm, um dann das Wilde einzuschließen, das Leben mit Beton zu übergießen – und dabei auch sich selbst.

Tatsächlich liegt der graue Schleier nicht nur über der Landschaft, sondern auch über den Menschen. Natürlich, denn sie teilen ja dieselbe Lebensumwelt, dieselbe Erfahrungsumwelt »aus Stahlbeton, Asphalt, Glas und Ziegelsteinen«9 und sind vernetzt über dieselben Rechner und Maschinen, gefangen und gefesselt im selben Netz der Datenautobahnen, der »Datenaustauschbahnen«. Doch nicht nur das – denn zur selben, eng vernetzten Lebensumwelt gehört auch dieselbe lebende Umwelt.

Natürlich wissen selbst wir Betonzeitmenschen, dass man zum Leben und Wohlfühlen auch anderes Leben um sich braucht. Aber es gibt nur vergleichsweise wenige Lebewesen, die sich in der Betonwelt wohlfühlen. Wir selbst ertragen sie ja kaum. So ist es meistens eine bestimmte Flora, die an den Asphaltseen, dieser schwarzen Flut eingeschmolzenen Lebens, und an den Betonbergen wächst: chinesischer Cotoneaster mit glänzenden Blättern und Früchten oder rote Berberitzen, Pflanzen, denen ihre Allgegenwärtigkeit den Reiz des Exotischen nimmt. Sie können von überall herkommen und überall zu neuen Ökosystemen zusammengesetzt werden, die es nirgendwo sonst in der Natur gibt, aber überall am Rand der Betonwelt. Im grünen Tal, auf der Regeninsel und auch im Goldland habe ich diese Betonflora gesehen. Sie greift schon lange in Form künstlicher Wälder und Felder über die Zentren der Menschensiedlungen hinaus.

Vielleicht ist das alles ja nur leichtes Oszillieren, eine Synkope im Rhythmus der Natur – so wie die Blüte der Haselbüsche in einem Jahr ein paar Tage früher aufbricht, dies aber noch nicht bedeutet, dass sie irgendwann das ganze Jahr blühen werden. Vielleicht ist es ein Phänomen von kurzer Dauer – so wie in einem Jahr besonders viele Maikäfer zu sehen waren und dann jahrelang kein einziger mehr, oder mal ein besonders reger Funkverkehr der Glühwürmchen unter den Jahrhunderteichen beobachtet werden konnte, und dann wieder kein einziges seine Lichtsignale verstrahlte. Vielleicht ist das alles Teil eines Zyklus, den wir nicht ganz erfassen können. Vielleicht ist es nur ein Zeichen der Dynamik in Natur und Kultur, die wie eine langfristige Entwicklung erscheint, weil wir ja nur durch ein kleines Zeitfenster einen Blick darauf werfen können und nur eine Momentaufnahme erleben. Ich warte immer noch auf die Rückkehr der Glühwürmchen.

Vielleicht waren diese Bewegungen in den lebenden Bildern aber auch Teil eines großen Prozesses, einer dieser ungemein langsamen Vorgänge, die wir selbst nicht erfassen können, sondern auf die man nur aus vielen kleinen Hinweisen schließen kann: Spuren, Berichte, Zeugenaussagen, die irgendwo in einem Buch, vielleicht vor Generationen von einem noch nichts ahnenden Beobachter, niedergeschrieben wurden, oder vor langer Zeit festgehaltene Bilder, die erahnen lassen, wie etwas aberodiert und gleichgemacht wird. Bilder, die darauf hinweisen, dass ein Prozess im Gang ist, der unterschiedslos ist in dem, was wir für Natur halten, und dem, was wir für Kultur halten, und was doch fließend ineinander übergeht und überhaupt nur ein Teil eines einzigen Ganzen ist, so wie im Wald all die vielen Einflussfaktoren ein einziges Ökosystem bilden.

Dieses Bild ist all dem, was sich anderswo entrollte und entfaltete, sehr ähnlich, ganz so, als gäbe es keinen Wall grüner Berge um mein Tal, als sei das Regenland keine Insel und das Goldland nicht durch einen Ozean und anderthalb Kontinente von meinem Tal getrennt, als sei es nicht ein eigenes Land, eine eigene »Bioregion«, ein eigener Lebensraum voller neuer, einzigartiger Bilder und Abenteuer, in dem es einzigartiges Leben und Einzigartiges zu erleben gibt.

Das Wort von der »Globalisierung« gibt es erst seit einigen Jahrzehnten.10 Der Vorgang, den es beschreibt, hat jedoch schon vor langer Zeit begonnen, vielleicht schon damals, als wir die Hand nach Verbotenem ausstreckten und das ureigene Paradies verließen. Doch erst jetzt, da sich die Richtung deutlich, ja eindeutig abzeichnet, beginnen wir zu begreifen, was geschieht, vielmehr: was wir der Welt und uns selbst antun.

Wir zerstören unseren kulturellen Reichtum um des Einheitlichen, leicht zu Fassenden willen. Wir zerstören gleichzeitig den biologischen Reichtum, und tatsächlich könnte beides jeweils ein Aspekt ein und desselben Vorgangs sein. Wir tauschen das Einzigartige gegen das Beliebige. Ein Prozess, der, wenn man auf die Details schaut, wenn man genau beobachtet, überall zu erkennen ist. Ich habe sie in meinem grünen Tal genauso gesehen wie an anderen Orten in der weiteren Welt. Es ist ein Vorgang, den man inzwischen aber auch im Großen sehen kann, den man nur dann nicht sieht, wenn man nicht sehen will, also wegschaut.

Dieser Umbau der Welt führt dazu, dass wir auf der Suche nach dem Unbekannten, auf der Fahrt ins Abenteuer, immer öfter auf das Bekannte stoßen, Grenzen entdecken, die wir selbst gezogen haben. Dabei entsteht das Gegenbild eines Labyrinths, in dem man zwar neue Wege finden möchte, aber dabei tatsächlich Neues zerstört, bis immer weniger Tore und immer weniger Wege übrig bleiben.

Ich glaube, man muss mit der Welt umgehen wie ein guter Förster mit seinem Wald, der manchmal in Frieden gelassen werden muss. »Nachhaltig«, das Wort, das heute für alle erdenklichen Bereiche angewendet wird, stammt jedenfalls aus der Forstwirtschaft. Ich glaube, dass man, um nachhaltig zu wirtschaften, genau erkennen muss, was gerade vor sich geht, in welche Richtung sich das »Ökosystem« Welt entwickelt. Ich glaube, man muss dazu durch die Welt wandern wie ein Förster durch seinen Wald, muss beobachten, muss auf die kleinsten Details achten: Welche Pflanze hier und welche dort wächst, welche Vogelstimmen hier und welche dort zu hören sind, und man muss vergleichen, vergleichen mit dem, was man von Anfang an kennt, und sich vorstellen, was wachsen wird und wie, und in welche Richtung. Man muss um die Bedeutung des Standorts wissen und den Wert des Kleinen, auf den ersten Blick Unauffälligen kennen. Überhaupt, auch das glaube ich, gehört dazu die Suche, wo noch Echtes, Authentisches, Ursprüngliches zu entdecken ist, wo überhaupt noch Entdeckungen und Abenteuer möglich sind.

Wir Abenteurer und Wandervögel

Abenteuer zu erleben ist ein Urbedürfnis des Menschen. »Wir sind Abenteurer, neugierig – das Bekannte scheint uns müde zu machen«, schreibt Nietzsche11, und das bestätigen auch Entwicklungspsychologen, als hätten wir um unser Bedürfnis nach Abenteuer nicht schon immer gewusst. Wir brauchen Abenteuer »wie ein Fisch Wasser braucht, wie ein Vogel Luft«, schrieb ein Theatermann namens Jakob Elias Poritzky Anfang des 20. Jahrhunderts. Und er ergänzt: »Die unerklärliche Abenteurerlust lebt in jedem Menschen. Sie äußert sich meist nur in den zahmen Formen des Wandertriebes.« Ein Abenteuer ist verbunden mit Fahrt und Reise, mit »Fährnissen« eben.

»Inmitten des Ozeans des Werdens wachen wir auf einem Inselchen, das nicht größer als ein Nachen ist, auf, wir Abenteurer und Wandervögel, und sehen uns hier eine kleine Weile um: so eilig und so neugierig wie möglich, denn wie schnell kann uns ein Wind verwehen oder eine Welle über das Inselchen hinwegspülen, sodass nichts mehr von uns da ist!«12

Wie die Zugvögel zieht es uns in die Ferne, zu Abenteuern und wieder zurück ins eigene Tal. Wayfarers all – jeder ist ein Vagabund, fasst Kenneth Grahame diese Ur-Eigenschaft des Menschen zusammen.

So ein Lebensabenteuer ist etwas, auf das man zufährt, zu dem man hinfährt, in das man hineinfährt – oder etwas, das einem zustößt, eine Entdeckungsreise zum Beispiel, auf der man etwas entdeckt oder für sich neu entdeckt.

Nun bedeutet »Abenteuer«, wenn man lange genug in der Frühgeschichte, in frühen Bedeutungsschichten des Wortes nachgräbt, nicht nur ein »unterhaltsames Geschehen«, nicht nur die Begegnung mit dem Wunderbaren und Sonderbaren – und meistens ist das, natürlich, etwas Lebendiges –, sondern eben auch diese Erscheinung oder das Wesen selbst. Das, was einem begegnet, was daherkommt, auch wenn man es eigentlich selbst ist, der daherkommt, das Abenteuer suchend, aufsuchend, provozierend. Das Grimmsche Wörterbuch der Ausgabe von 1966, das nicht weniger als zwölf Seiten benötigt, um den Begriff Abenteuer zu klären und in sich durchaus abenteuerlich zu lesen ist, führt »Monstrum, Fabelwesen, Wundertier« als Synonyme an. In einer anderen von den Märchensammlern zitierten Verwendung des Wortes sind »selltzame wunder«, die man am Gewitterhimmel sehen kann, gemeint, oder sogar »eine seltsame vogelähnliche Gestalt«. Natürlich, denn welch besseres Bild für das Abenteuer kann es geben als die Vögel, als Wandervögel, Zugvögel wie die Mauersegler oder die Saatkrähen im grünen Tal, überhaupt Lebewesen, die fliegen können? Mit denen man im Geist, im Traum mitfliegen kann, wie Nils Holgersson13 mit den Wildgänsen?

Natürlich sind solche Abenteuer, die ganz großen Wildniserfahrungen, selten in den Rahmen eines modernen Erwerbslebens einzufügen und werden daher in Abenteuerurlauben oder virtuellen Abenteuerspielen ersetzt oder simuliert – obwohl doch Abenteuer immer die Begegnung mit dem »Echten« ist, oder zumindest der Versuch. Manchmal können vielleicht Berufe, die mit der Erforschung der freien Natur zu tun haben, dies liefern. Forscherdrang schreibt jedenfalls Herr Poritzky14 dem Abenteurer zu: »Er wird die Wissenschaft fördern, so gut er kann; wird den Nordpol entdecken, wenn man ihn gerade sucht; wird, wenn das Leben auf dem Mars diskutiert wird, Pflanzen beschaffen, die auf dem Mars blühen, und wird Eier vorzeigen, die irgendein vorsintflutlicher Saurier in der Sahara gelegt haben soll« – und vorrangig scheint es, geht es um die Entdeckung und Erforschung des Lebenden.

Es muss auch nicht einmal mit weiten Reisen verbunden sein. Die Begegnung mit dem Wald und der Wildnis ist ein Abenteuer. Die wilde, weite Welt kann ganz nahe liegen. Das Abenteuer kann sich unter der Lupe oder dem Mikroskop abspielen, und so auch am Rande des Alltags stattfinden, so wie auch die Wildnis noch am Rande der Betonwelt lebt.

Und noch etwas gehört zu einem Abenteuer: Man muss davon erzählen. Der »heimliche Abenteurer und Zugvogel, der heimliche Dichter, der in jedem steckt«15, möchte von den Abenteuern und der Begegnung mit dem Leben erzählen. Doch dazu können die Brüder Grimm noch mehr sagen, als in ihrem Wörterbuch steht.

»Seit Jahrhunderten haben die Vögel des Himmels

in Geschichten und Begegnungen den Menschen

als Lehrmeister und Orientierungshilfe gedient.«

Es waren einmal drei Brüder, die gingen aus ihrem Dorf im Tal auf Abenteuer in die weite Welt und gerieten in ein wildes Leben. Als sie eines Tages im Wald an einem Ameisenhaufen vorbeikamen, wollten die zwei Ältesten ihn aufwühlen und sehen, wie die kleinen Ameisen in der Angst herumkröchen und ihre Eier forttrügen. Doch der Jüngste, den sie den Dummling nannten, sagte: »Lasst die Tiere in Frieden, ich leid’s nicht, dass ihr sie stört!« Hernach wollten sie am See Enten fangen, doch auch diesmal quengelte er: »Lasst die Tiere in Frieden, ich leid’s nicht, dass ihr sie tötet!« Endlich kamen sie an einen alten hohlen Baum, darin war ein Bienennest, das hatte so viel Honig, dass er am Stamm herunterlief. Die zwei wollten Feuer unter den Baum legen und die Bienen ersticken, damit sie den Honig wegnehmen könnten. Der Dummling hielt sie aber wieder ab und sprach: »Lasst die Tiere in Frieden, ich leid’s nicht, dass ihr sie verbrennt!«

Darauf kamen sie in ein graues Schloss, wo in den Ställen lauter graue steinerne Rösser standen, und kein Mensch war zu sehen. Sie gingen durch alle grauen steinernen Säle, bis sie, ganz am Ende, vor eine steinerne Tür kamen, vor der drei Schlösser hingen. – »Steinern«, schrieben die Brüder Grimm. Sie kannten ja noch kein Wort für Beton.

Es war aber in der Tür ein Lädlein, wodurch man ins Gemach schauen konnte. Und sie sahen dadurch ein alt Graumännchen sitzen und riefen es an. Es hörte aber nicht, und sie riefen noch einmal, und es hörte nicht. Da sie zum Dritten riefen, hörte es und kam heraus. Allein es sprach keine Silbe, sondern bewirtete sie und gab jedem ein Schlafgemach. Im Morgengrauen ging es vor den Ältesten, winkte ihm und führte ihn vor eine Schiefertafel, worauf die drei Aufgaben geschrieben standen, wodurch das Schloss erlöst werden konnte. Die erste war, die tausend Perlen der Königstochter zu suchen, die im Wald unter dem Moos zerstreut lägen – wie das geschehen soll, wusste keiner. Wenn aber nur eine einzige fehlte, würde er zu einem Stein werden. Der Älteste ging hin und suchte den ganzen Tag. Als aber die Sonne unterging, hatte er erst hundert gefunden und ward ein Stein. Dem zweiten Bruder ging es ebenso, nur dass er zweihundert zusammenkriegte. Dem Dritten, der nun ganz alleine war, ging es auch schwer zu, und er setzte sich auf einen Stein und weinte, weil er sie doch nicht allesamt zu finden traute, und er dachte: »Ich kam nicht zur Welt um Stein zu sein.« Da kam der Ameisenkönig, fragte ihn, was ihm fehlte und versprach Hilfe. Er kam mit fünftausend Ameisen, und es währte gar nicht lange, so hatten die kleinen Tiere die Perlen miteinander gefunden und auf einen Haufen getragen. Es fehlte keine einzige.

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