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Inklusion ist ein Grundstein der demokratischen Gesellschaft, denn sie bedeutet vorbehaltlose Einbeziehung aller Menschen, ihre selbstverständliche Dazugehörigkeit und gleichberechtigte Teilhabe. Trotz internationaler, europäischer und deutscher Rechtsnormen werden Millionen BundesbürgerInnen an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, darunter der große Bevölkerungsteil der Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen. Sie werden als "behinderte" Personen benachteiligt und abgeschoben: in Sonderkindergärten, Sonderschulen, Sondertagesstätten und eine Sonderwelt aus Wohn- und Arbeitsstätten. Den bedenklichen Mangel an sozialer Inklusion beschreiben Fachleute in diesem Buch aus eigenem Erleben. Zu ihnen gehören wissenschaftlich qualifizierte ExpertInnen mit jahrzehntelangen Praxiserfahrungen im Bildungs- und Sozialsektor, u.a. als Leitungsmitglieder in den "Werkstätten". Zwei Autoren wurden wegen ihrer Beeinträchtigungen in jungen Jahren behördenseits als "bildungsunfähig" und "erwerbsunfähig" abgestempelt. Trotz dieses staatlichen Kainsmals haben sie zeitlebens gegen die strukturellen Behinderungen mühsam, aber mit Erfolgen gekämpft. Hier beschreiben sie und die Fachleute aus Wissenschaft und Praxis ihre Erkenntnisse sowie die historischen, sozialen und politischen Zusammenhänge. Alle AutorInnen entwerfen konkrete Alternativen zu den zahlreichen deutschen Sondereinrichtungen.
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Seitenzahl: 496
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Cover
01_Scheibner_Titelei
Abkürzungsverzeichnis
1 Die deutsche Geschichte ist eine Geschichte der Behinderungen
1.1 Die Absonderung unpassender Menschen: Praxis seit Jahrhunderten
1.1.1 Drinnen oder draußen – dazugehörig oder ausgeschlossen
1.1.2 Die Ausgeschlossenen
1.1.3 Ausweisung durch Einweisung
1.2 Das Anstaltswesen: Aufbewahrung und Arbeitspflicht bis ins 21. Jahrhundert
1.2.1 Gefängnisse und Zuchthäuser – auch für »Irre« und »Idioten«
1.2.2 Arbeitshäuser – ökonomisch nutzlose staatliche Repressionsanstalten
1.2.3 »Werkstätten für behinderte Menschen«: moderne Arbeitshäuser?
1.3 »Es muss anders werden, wenn es besser werden soll.«
1.4 Weiterführende Literatur
1.5 Literaturverzeichnis
2 Mein Menschenrecht auf Bildung: unteilbarer, universeller Wert meiner Menschenwürde
2.1 Vergangenes ist unkorrigierbar
2.2 Wenn man nicht der Mensch sein darf, der man ist
2.2.1 Beeinträchtigte Menschen sind keine Mängelwesen
2.2.2 Ich bin, der ich bin: Uwe Heineker
2.2.3 Mein Ringen um das Bildungsrecht ist ein Kampf gegen den Staat
2.2.4 Bildung, Glück und Einbeziehung
2.3 Begabung, Kreativität und alle Fähigkeiten voll entfalten können
2.4 Bildung, Freizeit und Kultur: verweigerte Menschenrechte
2.5 »Empört Euch!«, »Engagiert Euch!«
2.6 Die Alternative: tatsächliche Gleichberechtigung beschleunigen
2.7 Literaturverzeichnis
3 Der menschenrechtliche Auftrag: die inklusive Schule für alle
3.1 Salamanca: Meilenstein auf dem Weg zum Menschenrecht auf inklusive Bildung
3.2 Bildungspolitische Widerstände gegen das UN-Übereinkommen
3.3 Die gesetzlichen Vorschriften für ein inklusives Bildungssystem
3.3.1 Merkmale inklusiver Bildung
3.3.2 Die Länderregierungen mit ihren Kultusministerien auf Gegenkurs
3.4 Bildungspolitische Leugnung negativer Effekte des »Schonraums Sonderschule«
3.4.1 Menschenrechtsnormen werden ignoriert
3.4.2 Deutschlands Sonderweg ist ein Holzweg
3.4.3 Sonderschulbefürwortung ist bewusste Benachteiligung
3.4.4 Das deutsche Benachteiligungssystem: Alle Institutionen arbeiten Hand in Hand
3.5 Sonderpädagogische »Kontinuitäten«
3.5.1 Sonderschulideen in restaurativen und reaktionären Zeiten
3.5.2 Kontinuität: typisch für jeden gesellschaftlichen Umbruch
3.6 Folgen völkerrechtlicher Verstöße gegen das Gesetz zum UN-Übereinkommen
3.6.1 Erhalt und Ausbau des Sonderschulsystems
3.6.2 »Pseudo-Inklusion«
3.6.3 »Sonderpädagogisierung« der Inklusion
3.6.4 Erhalt des inklusionsfeindlichen selektiven Regelschulsystems
3.6.5 Systematische Diskreditierung der Inklusion
3.7 Wege zu einem inklusiven Schulsystem
3.8 Die inklusive Langformschule – das demokratische und menschenrechtliche Strukturmodell
3.9 Überfällig: menschenrechtskonformes politisches Handeln!
3.10 Literaturverzeichnis
4 Zu Menschenrechten gibt es keine Alternative. Inklusion: ein Grundstein der Demokratie
4.1 Der Mensch wird zum Behinderten
4.2 Sonderwelten sind Unterwelten: Inklusiver Alltag ist unmöglich
4.3 Es gibt kein Menschenrecht auf Inklusion?
4.4 Kein Menschenrecht auf Inklusion im »Werkstätten«-System
4.5 Widerstand ist nicht zwecklos
4.6 »Totalinklusion« braucht kleine und große Reformschritte
4.7 Weiterführende Literaturempfehlungen
4.8 Literaturverzeichnis
5 Transformation der Sonderwelt »Tages(förder)stätten« – Inklusion heißt gleichberechtigt mitten unter uns!
5.1 Viele Ausdrücke, viele Etiketten – wenig Inhalt, wenig Informationen
5.2 Fördern und Förderung – Inhalt und Maßstäbe
5.3 Die Sonderwelt: Sammeleinrichtungen für spezielle Menschengruppen
5.3.1 Der Personenkreis bleibt sozial ausgeschlossen
5.3.2 »Tagesstätten« aus staatlicher Sicht
5.3.3 Wissenschaft als Werbeträgerin staatlich gewollter Sonderwelten
5.4 Menschenrechtliche Maßstäbe für die Förderung
5.5 Thesen über eine menschenrechtsgemäße Förderung
5.5.1 »Behinderung« vom Klischee befreien – ein Mittel gegen Separation
5.5.2 Teilhabe setzt bei Dienstleistenden Wissen und Kompetenz voraus
5.5.3 Inklusionsverpflichtete Alternativen
5.6 Die inklusionsgerechte Alternative: Das Gesetz erfüllen
5.7 Weiterführende Literaturempfehlungen
5.8 Literaturverzeichnis
6 Inklusion kennt keine Arbeitspflicht. Dazugehörigkeit und gleichberechtigte Teilhabe muss man sich nicht erst erarbeiten
6.1 Damit Sie mich richtig verstehen ...
6.2 Fremdbestimmte Arbeit hat kein Inklusionspotenzial
6.3 Die falsche gesellschaftliche Alternative: »Werkstatt«-Pflicht und Armut
6.4 Wer arbeiten will und kann, den lasst auch an die Arbeit ran!
6.4.1 »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« – Regierungsdoktrin?
6.4.2 »Werkstätten« – Schwellenländer im eigenen Land
6.5 Die »Werkstätten« sind nicht das Hauptproblem
6.6 In Sonderwelten wächst kein Baum der Erkenntnis
6.7 Sonderwelten für beeinträchtigte Menschen sind keine Lösung
6.8 Sofort durchsetzbare Ausstiegsstrategien
6.9 Das Beste kommt zum Schluss: keine Arbeitspflicht!
6.10 Literaturverzeichnis
7 Teilhabe – uneingeschränkt: die fundamentale Grundfreiheit. Sonderwelten mangelt es an Menschenwürde, Autonomie und Entscheidungsfreiheit
7.1 Grundfreiheiten und Akzeptanz
7.2 »Sprache in Aktion ist selber Politik« (H.-G. Schumann)
7.3 Behinderung ist ein typisch deutsches Ausschlusskriterium
7.4 »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung« (Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG)
7.5 Notwendigkeit einer Inklusionsstrategie zur Sonderwelt-Transformation
7.6 Die Inklusionsstrategie. Der erste Schritt: Alternativen zur Sonderwelt
7.7 Literaturverzeichnis
8 »Werkstätten« sind keine Inklusionsstätten. Menschenrechte verlangen die Transformation
8.1 Angstmache gegen Menschenrechte
8.2 Wenn Fortschritt in Rückschritt umschlägt
8.3 Zukunftsfragen sind Systemfragen
8.4 Merkmale des deutschen anti-inklusiven Systems beseitigen
8.5 »Keine Werkstatt ist das Beste.«
8.5.1 »Konservative« Alternativvorschläge zur »Werkstatt«-Transformation
8.5.2 Nein zu einer Wirtschaft mit ausschließenden Sondersystemen
8.6 Die Alternative: demokratische Transformation der Sonderwelten
8.6.1 Sonderwelten überwinden: Gleichberechtigung herstellen
8.6.2 Inklusion und Rehabilitation zutreffend gesetzlich definieren
8.6.3 Abbau der Sonderwelt: inklusionsförderliche Sofortmaßnahmen
8.7 Maßnahmen zur Transformation segregierender »Werkstätten«
8.7.1 Arbeitsmarktpolitische Instrumentarien inklusionswirksam gestalten
8.7.2 Nichtstaatliche, behördenunabhängige arbeitsplatzvermittelnde Dienstleistende stärken
8.7.3 Wandel der Wirtschaft und Wege ihrer Transformation einleiten
8.7.4 Transformationsmaßnahmen für »Werkstätten« sind überfällig
8.7.5 Arbeitnehmerstatus kontra Vorurteile und Benachteiligungen
8.7.6 Das »Werkstätten«-System darf kein menschenrechtsfreier Raum bleiben
8.7.7 Das »Sozialsystem Billig« kommt teuer zu stehen
8.8 Menschenwürde als Fundament für Rehabilitationseinrichtungen
8.8.1 Ausstiegsstrategien aus dem »Werkstätten«-System
8.8.2 Wer gegen Lohn arbeiten will, soll auch arbeiten können.
8.8.3 Mittelfristige Inklusionsstrategien
8.9 Kurze Bilanz
8.10 Literaturverzeichnis
9 Freilassung! – Ein Schritt in Richtung Inklusion. Demokratie, Freiheit und Inklusion gibt es nicht in Sonderwelten
9.1 »Der Vorrang der Freiheit«
9.2 Sonderwelt-Reform: Der Freiheit den Vorrang geben
9.3 »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie ...« (Goethe). »Theorielosigkeit« als machtsichernde Ideologie
9.4 Unfreiheit im Sonderweltsystem der Wohn- und »Werkstätten«
9.5 Grundbedingungen zur Freiheitssicherung in Wohn- und »Werkstätten«
9.5.1 Einigkeit, Recht und Freiheit: Freiheitsregeln als Rechtsgrundlage
9.5.2 Gleiche Rechte – keine gleichen Pflichten!
9.6 Sonderwelten fehlt das Fundament der Menschenrechte
9.7 Literaturverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Autor:innenverzeichnis
Kohlhammer
Die Herausgeber
Ulrich F. Scheibner war über zwei Jahrzehnte lang hauptamtlicher Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der »Werkstätten für behinderte Menschen«.
Wilfried Windmöller war der erste gewählte ehrenamtliche Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der »Werkstätten« und ein entscheidender Mitgestalter des deutschen Werkstättenrechts.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-045064-6
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-045065-3epub: ISBN 978-3-17-045066-0
Abs.Absatz
ADSBAntidiskriminierungsstelle des Bundes
AEMRAllgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948(A/RES/217 A [III])
AGGAllgemeines Gleichbehandlungsgesetz
AOAbgabenordnung (zentrales Steuer- und Steuervergütungsgesetz)
Art.Artikel
ASMKArbeits- und Sozialminister:innenkonferenz
AÜGGesetz zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz)
BABundesagentur für Arbeit
BAG WfBBundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Behinderte (Firmierung bis 2001)
BAG WfbMBundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen (Firmierung ab 2001)
BAGBundesarbeitsgericht
BAGüSBundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe
BARBundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation
BBiGBerufsbildungsgesetz
BetrVGBetriebsverfassungsgesetz
BGBBürgerliches Gesetzbuch
BGBl.Bundesgesetzblatt
BiBBBundesinstitut für Berufsbildung
BMASBundesministerium für Arbeit und Soziales
BMBFBundesministerium für Bildung und Forschung
BMJBundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
BMFSFJBundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BMZBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
BPersVGBundespersonalvertretungsgesetz
BPSBundesverband Produktionsschulen
BR-DBundesratsdrucksache
BTDBundestagsdrucksache
BTHGBundesteilhabegesetz
BTPBundestagsplenarprotokoll
BVerwGBundesverwaltungsgericht
BVLBundesvereinigung Lebenshilfe e. V.
BYBayern
CRPD1) Convention on the Rights of Persons with Disabilities; deutsch wörtlich: Konvention über die Rechte von Personen mit Beeinträchtigungen; im deutschen Recht: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen;2) Committee on the Rights of Persons with Disabilities; deutsch: Fachausschuss (Kontrollausschuss) für die Rechte von Personen mit Beeinträchtigungen
ders.derselbe
DGCCDeutsche Gesellschaft für Care und Case Management
DGPPNDeutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.
dies.dieselbe
DIMRDeutsches Institut für Menschenrechte
DRKDeutsches Rotes Kreuz
D-UNESCODeutsche UNESCO-Kommission
DVfRDeutsche Vereinigung für die Rehabilitation
EKEuropäische Kommission
EPEuropaparlament, Europäisches Parlament
EREuropäischer Rat
et al.(lat.) et alii – und andere
EUEuropäische Union
EuGHEuropäischer Gerichtshof
EUKKommission der Europäischen Union
FNFußnote
GBankDVDVVerordnung über den Vorbereitungsdienst für den gehobenen Bankdienst der Deutschen Bundesbank
GFABPrVwörtlich: Geprüfte Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung, Prüfungsverordnung; offiziell: Verordnung über die Prüfung zum anerkannten Fortbildungsabschluss Geprüfte Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung (Arbeits- und Berufsförderungsfortbildungsprüfungsverordnung)
GGGrundgesetz
GmbHGesellschaft mit beschränkter Haftung (Kapitalgesellschaft)
GPFGlobal Policy Forum
GÜRKGesetz zu dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vom 17. Februar 1992
GÜRMBoffiziell: Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008; hier auch verkürzt: Gesetz zum UN-Übereinkommen, Gesetz von 2008 zum UN-Übereinkommen oder Gesetz von 2008 zum UN-Übereinkommen von 2006
GVBl. NRWGesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen
HBankDVDVVerordnung über den Vorbereitungsdienst für den höheren Bankdienst der Deutschen Bundesbank
Hrsg.Herausgeber, Herausgeberin
HVGHHessischer Verwaltungsgerichtshof
IAOInternationale Arbeitsorganisation (UN-Unterorganisation)
ICFInternationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
IFDIntegrationsfachdienst
ILOInternational Labour Organisation (siehe IAO)
KABKirchliches Arbeitsgericht für die Bayerischen (Erz-)Diözesen
Kap.Kapitel
KMKKultusminister:innenkonferenz
KSDKonferenz der Schulaufsicht in derBundesrepublik Deutschland e. V.
LAG WfbMLandesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderteMenschen
lit.(lat.) littera – Buchstabe
LkSGLieferkettensorgfaltspflichtengesetz (Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten)
LVRLandschaftsverband Rheinland, einer der größten (staatlichen) Kommunalverbände, staatlicher Kostenträger der Sozialhilfe
MBankDVDVVerordnung über den Vorbereitungsdienst für den mittleren Bankdienst der Deutschen Bundesbank
MdBMitglied des Bundestages
MiLoV3Dritte Verordnung zur Anpassung der Höhe des Mindestlohns (Dritte Mindestlohnanpassungsverordnung)
NGONon-Government-Organisation (Nichtregierungsorganisation)
NRONichtregierungsorganisation
NZZNeue Züricher Zeitung
o. D.ohne Datum
PgAPolitik gegen Aussonderung
RGBl.Reichsgesetzblatt
S.Seite
SchwbBAGGesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
SchwBeschGSchwerbeschädigtengesetz
SchwbGSchwerbehindertengesetz
SchwbWVSchwerbehinderten-Werkstättenverordnung
SGB IXNeuntes Buch Sozialgesetzbuch
SGBSozialgesetzbuch
sog.sogenannt
StGBStrafgesetzbuch
UNVereinte Nationen (ehem. Abk. UNO)
UNESCOUnited Nations Educational, Scientific and Cultural Organization; deutsch: Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur
ÜRKÜbereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (Kinderrechtsübereinkommen)
ÜRMBÜbereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen (Das deutsche Gesetz verwendet den Begriff »Behinderungen«)
URLUniform Resource Locator; deutsch: Einheitlicher Quellen-Ortsbestimmer (für Internetadressen)
VaWVerzeichnis anerkannter Werkstätten der Bundesagentur fürArbeit
VDSVerband Deutscher Sonderschulen
VNVereinte Nationen
WfBWerkstatt für Behinderte (bis 2001)
WfbMWerkstatt (Werkstätten) für behinderte Menschen (seit 2001)
WHOWorld Health Organisation; Weltgesundheitsorganisation
WMVOWerkstätten-Mitwirkungsverordnung
WRVWeimarer Reichsverfassung vom 14. 08. 1919
Wilfried Windmöller & Ulrich F. Scheibner
Pädagog:innen, Politolog:innen und Soziolog:innen haben Behinderung nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu beseitigen.
Folgt man der geschichtswissenschaftlichen Kontinuitätstheorie, lässt sich trotz der Zeitspanne von einigen Jahrhunderten ein Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Aussonderungseinrichtungen wie Gefängnissen, Armen- und Arbeitshäusern und den heutigen Sondereinrichtungen für als sozial unpassend bewertete Bevölkerungsgruppen finden. Obwohl sich die Gesellschaftsstrukturen und Regierungsformen, die sozialen Klassen und Schichten und deren Interessen in den verschiedenen Zeitabschnitten unterscheiden, gibt es dennoch Parallelen zwischen den historischen und aktuellen Absonderungsstätten. Dabei wird nicht übersehen, dass der Verlauf der Geschichte nach Foucault eine fundamentale Konstante beinhaltet: die »kontinuierliche Diskontinuität des historischen Wandels«.1 Die Einzigartigkeit der geschichtlichen Ereignisse hängt mit der Einzigartigkeit der menschlichen Akteur:innen und der Einzigartigkeit der von ihnen geschaffenen oder vorgefundenen Bedingungen zusammen, unter denen gehandelt wird. Wenn sich geschichtliche Ereignisse mehr oder minder ähneln, sind das zufällige Ereignisse, die im Nachhinein von den Menschen als ähnlich konstruiert werden:
Die sozial abgeschobenen Personen gelten nicht als ebenbürtig, gleichberechtigt und gleichwürdig. Das betrifft auch das Schicksal der Frauen: Zum Beispiel konnten sie in der Ehe erst nach 1957 − zumindest formalrechtlich − über ihr Leben selbst entscheiden. Die Kontroversen im Bundestag über den gesellschaftlichen Standpunkt »Die Frau gehört an den Herd!« hielten lange an.2
Alle isolierten Personengruppen unterliegen z. T. massiven Benachteiligungen bis hin zur Bevormundung.
Am Abschiebeort gelten gegenüber den regulären gesellschaftlichen Lebensbereichen besondere, zurücksetzende Normen, benachteiligende und unterdrückende Regeln.
Die Abschiebeeinrichtungen verlieren im Verlauf ihrer Existenz den ihnen zugeschriebenen angeblich »heilsamen« Charakter, werden zu Diskriminierungs- und Disziplinierungsstätten.3
Alle separierenden Sondereinrichtungen geraten früher oder später in Konflikt mit der Finanzierungsbereitschaft ihrer staatlichen oder privaten Eigentümer:innen. Die Gründe dafür sind vielfältig: massiver Zuwachs an Internierten, dadurch wachsende Notwendigkeit weiterer Investitionen, steigende (Personal-)Kosten, abnehmende Aussichten auf die definierten Erfolge, zunehmende Kritik am vermeintlich übertriebenen Versorgungsstatus (»Sozialneid«), wachsender Widerspruch innerhalb der Bevölkerung. Im 20. Jahrhundert wurden solche Sondereinrichtungen während der Nazi-Herrschaft in Deutschland zu Sammelstellen für den Transport in den Tod. Seit jenem Jahrhundert hatten separierende Einrichtungen und deren Auflösung in Frankreich, Italien und England zumindest vorübergehend schlimme Folgen für die darin untergebrachten Personen. In Großbritannien führte 2012 die staatlich beschlossene Auflösung der Sondereinrichtungen von »Remploy«, vergleichbar mit den deutschen »Werkstätten«, zu enormen Konflikten und Widerständen der Betroffenen, besonders ihrer Angehörigen. In Italien wurden die psychiatrischen Anstalten 1978 per Gesetz aufgelöst und deren Neueinrichtung verboten.4
Bevölkerungsteile aus der sozialen Gemeinschaft auszusondern und auszuschließen, war und ist in staatlich organisierten Gesellschaften nichts Besonderes. Für eine solche Abschiebepolitik werden oft Sondereinrichtungen für die separierten Bevölkerungsteile geschaffen. Doch sind Absonderungsstätten keine Bedingung, um Menschen aus der sozialen Gemeinschaft zu entfernen. Zwar bedeutete und bedeutet Segregation von Bevölkerungsteilen nach wie vor deren räumliche und soziale Distanzierung, doch ist das nicht gleichbedeutend mit ihrer Kasernierung in eigens für sie geschaffene Gebäude oder Territorien. Typisch für nahezu alle an den gesellschaftlichen Rand Gedrängten ist deren gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit. Sie als Marginalisierte zu bezeichnen, trifft den Kern ihrer sozialen Situation.5 Die Folgen ihres Ausschlusses sind verallgemeinerbar. Dazu gehören u. a.:
1.
ein untergeordneter sozialer Status und ein geringes Ansehen;
2.
ein nur schwacher oder fehlender Einfluss auf die soziale Umgebung;
3.
reduzierte Rechte und mangelnde Gleichberechtigung bis hin zur faktischen Entmündigung;
4.
benachteiligter Zugang zu wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Ausbildung und Kultur, gesellschaftlich organisierter Arbeit und öffentlichen Ämtern oder Leitungsfunktionen;
5.
ein niedrigeres Einkommen aus gesellschaftlich verlangter Arbeit;
6.
ungenügende, an Bedingungen geknüpfte oder ausbleibende materielle Unterstützung aus staatlichen Mitteln und
7.
die Zuweisung spezieller, oft sehr begrenzter sozialer Lebensräume und die Beschränkung der Bewegungsfreiheit.
Die gesellschaftlich bestimmenden sozialen Gruppen und jene, die sich an ihnen orientieren, entwickeln in jeder historischen Epoche die Welt- und Menschenbilder, die ihrer Vorherrschaft nützen und ihr Verhalten legitimieren. Die durch Bildungsdefizite, herabgesetzten sozialen Status, Leichtgläubigkeit und Abhängigkeit beeinflussbaren Bevölkerungsteile akzeptieren i. d. R. die schlüssig und wahr anmutenden Ideologien, die Abschiebung und Isolierung rechtfertigen. Auf diese Weise werden gesellschaftlich prägende und bestimmende soziale Leitbilder geschaffen, verfestigt und verbreitet (siehe Boeckh/Benz et al. 2015, 30 ff.).
In allen differenzierten, nach Klassen und Schichten organisierten Gesellschaften finden sich in den vorherrschenden Leitbildern typische Merkmale, die den sozialen Ausschluss von Bevölkerungsteilen rechtfertigen wollen. Den Personengruppen, die an die gesellschaftliche Peripherie oder darüber hinaus abgedrängt sind, werden u. a. folgende Kennzeichen zugeschrieben: Sie wären
nicht anpassungsfähig oder anpassungsbereit;
nicht lernfähig oder lernbereit;
nicht bildungsfähig oder bildungsbereit;
nicht eingliederungsfähig oder eingliederungsbereit;
nicht gleichwertig oder gleichwürdig.
Hinter solchen Attributen stecken Ideologien und idealisierte, die Sozialstrukturen rechtfertigende Menschenbilder, die den sozialen Status quo als »normal« oder gar gottgewollt darstellen. Damit sichern sich die bestimmenden Eliten im jeweiligen Zeitalter kollektive und persönliche Vorteile, Macht und Vorherrschaft.6
Es ist ein eklatanter Mangel, dass die Organisationen, die sich als »Anwälte« der Menschen mit Beeinträchtigungen präsentieren, das Menschenbild-Thema und seine politischen wie ökonomischen Fundamente immer noch vernachlässigen. Auch in den christlich geprägten Organisationen fehlt eine konsequent demokratische Praxis, die sich bedingungslos auf das Bekenntnis stützt, dass alle Menschen aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit die gleichen unveräußerlichen Rechte haben:
gleichberechtigt, auf dem allgemeinen gesellschaftlichen Niveau mitten in der sozialen Gemeinschaft zu leben, zu wohnen und zu arbeiten;
ihre Persönlichkeit frei und voll zu entfalten und ihre individuellen Fähigkeiten vollständig zu entwickeln und dafür die Bedingungen vorzufinden;
an den gemeinsam gesellschaftlich erarbeiteten Werten gleichberechtigt teilzuhaben und einen Lebensstandard zu genießen, der dem erreichten Fortschritt entspricht;
selbst und unmittelbar an der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen und politischen Verhältnisse teilhaben und auf sie einwirken zu können (▸ Kap. 1.4).
Das in der Soziologie häufig benutzte Modell, um die Sozialstruktur der Bevölkerung zu beschreiben, ist das sog. Klassen-Schichten-Modell. Es hat an Aktualität und Berechtigung nichts verloren. Doch spätestens seit den 1990er Jahren ist als Ergänzung ein besonders aussagefähiges Sozialmodell hinzugekommen, das Fachleute verschiedener Wissenschaften auf das Engagement der Kommission der Europäischen Gemeinschaft zurückführen – das Modell über die Ausgrenzung und Einbeziehung: Exklusion : Inklusion (dazu Geißler 2010). Dieses Modell ist geeignet, die gesamte sozioökonomische Situation und damit die gesellschaftliche Misere zu beschreiben: die soziale Spaltung in Privilegierte und vielfältig Unterprivilegierte, in politisch (mit-)entscheidende und teilweise oder ganz ausgeschlossene Bevölkerungsteile. Diese Gruppen existieren – in unterschiedlicher Ausprägung und sehr verschiedenen (Unter-)Privilegierungsgraden – in nahezu allen Klassen und Schichten, besonders unterhalb der sozialen Eliten, aber auch in ihrer eigenen sozialen Gruppe.7
Die größte Bevölkerungsgruppe, die in jeder Epoche hierarchisch und patriarchalisch strukturierter Gesellschaften von gesellschaftlicher Diskriminierung betroffen war und noch ist, ist die der Frauen (siehe Hammer/Lutz, 2002 und Sauer/Wöhl 2011).Und mit ihnen waren und sind es die Menschen mit markanten Beeinträchtigungen, die den idealisierten gesellschaftlichen Anforderungen und Normen scheinbar nicht Stand halten. Doch die Liste der Ausgeschlossenen, Benachteiligten und Diskriminierten ist so alarmierend lang,8dass jeder demokratisch überzeugte Mensch bestürzt sein muss. Zur übergroßen Bevölkerungsgruppe der Ausgegrenzten gehören außer den Frauen und Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen u. a. noch
1.
einkommensschwache (arme), erwerbslose, obdachlose und nichtsesshafte Menschen;
2.
»Ausländer« oder vermeintliche »Ausländer«, Menschen mit Migrationshintergrund und ethnische Minderheiten;
3.
Menschen mit einer Hautfarbe und einem Aussehen, die als »fremdartig«, nicht dazugehörig stereotypisiert werden und von denen man sich distanziert;
4.
Menschen mit geringer oder fehlender Deutschsprachigkeit oder mit ungewohnter Aussprache;
5.
Menschen anderer Glaubens- oder Religionszugehörigkeit, die von den christlichen Kirchen abweichen, besonders jüdische und muslimische Religionen;
6.
Menschen in nicht erwerbsfähigem Alter (Kinder, alte Menschen);
7.
Menschen mit differenzierter Geschlechtsidentität (trans- oder intergeschlechtliche, nicht binäre Personen);
8.
Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung (u. a. gleich- oder bisexuelle Personen);
9.
Menschen mit (auffälligen) chronischen Erkrankungen und Beschwerden;
10.
Menschen mit (auffälligen) beeinträchtigungs- oder sozialisationsbedingten Verhaltensweisen.
Bevölkerungsgruppen aus der sozialen Gemeinschaft zu verbannen, zu separieren und abzuschieben, ist in der Gesellschaftsgeschichte nicht ungewöhnlich. Das diente und dient dazu, den machtvollen Eliten entscheidende Privilegien zu sichern – Macht, Reichtum, Herrschaft und somit ihre gesellschaftliche Dominanz. Damit das dauerhaft und weitgehend widerstandslos möglich ist, werden die Benachteiligung und die daraus entstehenden Dilemmata und Konflikte individualisiert. Die sozial Ausgeschlossenen werden zudem »ideologisch entsorgt« (vgl. Butterwegge 2008, 171): Ihre gesellschaftliche Ausgliederung wird »primär als Folge der Verhaltensweisen der betroffenen Menschen, ihrer ›Unterschichtskultur‹ betrachtet und damit letztlich ihnen die ›Schuld‹ für ihre Situation zugeordnet« (ebd.).
Gesellschaftlich degradierte Bevölkerungsgruppen werden in Staaten mit Demokratie-Mangel immer reproduziert. Von daher muss dem Aussonderungsproblem mit politischen Maßnahmen entgegengetreten werden. Das Grundgesetz bietet dafür eine solide Handlungsbasis, vor allem mit Art. 1 (Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen), Art. 2 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit), Art. 3 (Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichberechtigung und Benachteiligungsverbot) und Art. 19 (Unantastbarkeit der Grundrechte).
Der Terminus »Randgruppen« gehört inzwischen zur Umgangssprache. Doch Wissenschaftler:innen weisen darauf hin, dass dieser Begriff problematisch ist. Er vermittelt ein soziozentrisches Gesellschaftsbild, das eine einzige gesellschaftliche Mitte mit einer Vielzahl von Peripherien vorgaukelt. In Wirklichkeit ist unsere Gesellschaft aber viel differenzierter und vor allem hierarchisch strukturiert. Zudem wird der Eindruck erweckt, als würde es sich um außenstehende soziale Minderheiten handeln. Doch mit den Frauen, die in Deutschland den größten Bevölkerungsanteil bilden, machen benachteiligte Bevölkerungsgruppen die gesellschaftlich überwiegende Mehrheit aus.9
Schließlich steht der »Randgruppen«-Begriff synonym für Außenseiter:innen und asozial bewertete Personen. Er ist ein unerbittliches Stigma. In hierarchisch, zumal in patriarchalisch organisierten, nach sozialen Privilegien und Rängen strukturierten Gesellschaften gibt es aber nicht nur »Ränder«, nicht nur ein »Innen« und ein »Außen«. In der sozialhierarchischen Wirklichkeit gibt es vor allem ein »Oben« und »Unten«. Mit der Bezeichnung »Randgruppen« wird diese soziale Dichotomie verborgen, gerade in den modernen »offenen« Gesellschaften.10
Das soziale Schichtenmodell von Exklusion : Inklusion (▸ Kap. 1.1.1) setzt den Fokus auf zwei besonders auffällige, gegensätzliche soziale Gruppen: einerseits auf diejenigen, die die Gesellschaft prägen, deshalb akzeptiert werden und als unbedingt zugehörig gelten; andererseits auf jene, die als sozial Ausgegrenzte und letztlich sozial entbehrlich erscheinen. Dieses Modell beschreibt der Soziologe Rainer Geißler ausführlich und ergänzt damit das Klassen-Schichten-Modell (Geißler 2014, 74 ff.). R. Geißler hebt hervor: »Quantitative Analysen belegen, dass Ausgrenzung und Prekarität sehr deutlich schichttypisch ungleich verteilt sind. Das Exklusion-Inklusion-Modell erfasst soziale Realität daher am besten, wenn es in Kombination mit dem Klassen-Schichten-Modell eingesetzt wird« (ebd., 80). In den Sonderweltsystemen werden solche Erkenntnisse und die Schlussfolgerungen daraus ignoriert.
Die Darlegungen von R. Geißler verdeutlichen, dass Benachteiligungen und Diskriminierungen auch in den sog. besten Kreisen vorkommen (siehe Schichtenmodell »Dahrendorf-Häuschen«, Geißler 2014, 75): Die meisten Ausgegrenzten und Benachteiligten wurden in der früheren deutschen Sozialgeschichte und werden bis heute in zugewiesene definierte Räume abgedrängt (siehe auch ▸ Kap. 8.2). Dennoch wurden nicht alle geringgeschätzten sozialen Gruppen in eigens für sie geschaffenen Einrichtungen interniert, sondern auch mitten in der Gesellschaft isoliert. »Deutschland hat eine lange Geschichte der Aussonderung«, kritisierte Diane Kingston, Berichterstatterin im UN-Ausschuss für die Rechte behinderter Menschen (siehe 53°Nord 2015).11Die Ausweisungshistorie wurzelt tief in der deutschen Geschichte und entspricht seit Jahrhunderten den menschenrechtsfeindlichen Menschenbildern.
Einige Beispiele für die lange, differenzierte und unmenschliche Geschichte der Abschiebung, Vertreibung oder Internierung von Bevölkerungsteilen, die als abweichend ausgemacht wurden, sollen die Erkenntnismöglichkeiten für die heutige Situation verbessern helfen:
Die Frauen: In Gesellschaften, in denen die privat organisierte Ökonomie derart dominiert, dass große Teile der Bevölkerung in Armut leben müssen, damit eine kleine Elite in Macht und Herrlichkeit regieren kann, gehören auch Frauen zu den »Überflüssigen«. Das waren z. B. in den Ständegesellschaften jene weiblichen Personen der niederen Stände (»dienende Klasse«), die unverheiratet, kinderlos, arbeitslos, besitzlos keine gesellschaftlich nützliche Arbeitsleistung erbrachten. Der örtliche Pfarrer hatte sie – gemäß dem »protestantisch-evangelischen Handbuch« von 1859 –
»[...] stets im Auge zu behalten, deren Moralität und geziemendes Betragen zu beaufsichtigen oder auf alsbaldige Hinwegweisung unsittlicher, roher und brodloser, dem Müßiggange fröhnender Individuen dieser Kategorie anzutragen. [...] Endlich vorzüglich und mit Anstrengung aller Kräfte dahin zu wirken, dass das wo möglich wieder in das Leben zu rufende Institut der Zwangsarbeit seiner wahren Bedeutung nach erkannt, gewürdigt und genutzt werde« (Wand 1859, 384/385).
Die Juden: Seit 1215 musste sich der jüdische Bevölkerungsteil auf Geheiß von Papst Innozenz III. (Papst seit 1198) auffällig kleiden. Ihm wurden spezielle Wohngebiete (»Judenviertel«, »Judengassen«) zugewiesen und seit dem 14. Jahrhundert der Ankauf von Grund und Boden verwehrt (siehe Götzinger 1885, 463). Die jüdischen Stadtgebiete nannte man in Italien ghetto. Das bekannteste Ghetto hatte Papst Paul IV. (1476 – 1559) durch seine Bulle vom 14. Juli 1555 in Rom anlegen lassen. Die Geschichte der Absonderung, Diskriminierung und Verfolgung der Juden in Deutschland und das Menschheitsverbrechen in der Nazi-Zeit müssen eine fortwährende Lehre sein (siehe Eriksen/Harket/Lorenz 2019; Gruner 2002; Aly 2017).
Die Aussätzigen: Spätestens seit dem 15. Jahrhundert sind für die großen Städte sog. Klapperfelder und Klappergassen belegt: streng abgegrenzte Gebiete, oft außerhalb der Stadtmauern. Hier mussten die von erkennbar folgenschweren Krankheiten Befallene, immer wieder auch ausgesetzte »Verrückte«, warnend und abweisend mit speziellen Handklappern auf sich aufmerksam machen.
Die Alten: Besonders über die ärmlichen Regionen der Vorläuferstaaten im heutigen Niedersachsen halten sich Erzählungen, die von brutalen Übergriffen auf die sog. Altenteiler berichten. Das waren i. d. R. weniger leistungsfähige und womöglich kranke Eltern der Hofbesitzer. Diese alten früheren Hofbesitzer wurden von ihren Erben in einen vertraglich vereinbarten Wohnraum abgeschoben oder in einen festgelegten Gebäudeteil, das Auszugshaus. Ihr Auskommen war im sog. Leibgedingvertrag geregelt und umfasste in den wenig fruchtbaren Gegenden eine Minimalversorgung, kaum genug zum Überleben. In Zeiten wiederholter Missernten reichte es nicht einmal dazu. Deshalb hätten sich in harten Krisenzeiten und nach mehreren Missernten, bei anhaltenden Seuchen oder existenzbedrohenden Katastrophen die jungen Hofbesitzer ihrer belastenden Altenteiler »im Jammerholz« entledigt, wird berichtet: Sie wurden in den nahen Wald, ins sog. Jammerholz gezerrt und hier von den männlichen Verwandten erschlagen (siehe Kasten).12 Auch wenn für solche Schreckenstaten auf Quellen des 19. Jahrhunderts verwiesen wird, bleibt das Archivmaterial eher den Volksmärchen verpflichtet. Allerdings senken solche erdichteten Erzählungen die Hemm- und Skrupelschwellen. Dass alte Menschen – vor allem der unteren Bevölkerungsschichten – wegen Unterernährung verhungerten, ist dagegen belegt (siehe Herrmann-Otto u. a. 2004; Endreva 2015, 128; Grabner-Haider u. a. 2012, 19/20; Menker 2006, 2).
Alte, arbeitsunfähige Angehörige wurden im Jammerholz erschlagen
»Ja, man weiß sogar, daß die Wenden alte und unvermögende Leute lebendig begraben haben, von welchem Gebrauche im Lüneburgischen ein Waldrevier, (wo ich nicht irre,) in der Gegend Uelzen, bis diese Stunde noch den Nahmen: das Jammerholz, führet, weil dort alte untaugliche Leute in den Gauen abgethan wurden.«(Oekonomische Encyklopädie der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft 1805, S. 159)
In Gesellschaften, in denen soziale Schichten existenziell auf die Arbeitsergebnisse anderer sozialer Gruppen angewiesen sind, gehören die »Aussätzigen« und arbeitsschwachen Alten zu den sozial »Unnützen« und wirtschaftlich »Unbrauchbaren«. Sie sind keine »ökonomischen Rollenträger« (Woll, 2021, 49), weder im Produktionsprozess noch im (familiären) Reproduktionsprozess. Auf sie kann aus ökonomischer und machtpolitischer Sicht verzichtet werden. Ihre Aussperrung oder gar Auslöschung richtet keinen ökonomischen Schaden für die gesellschaftlichen Eliten an, sofern ihr Exodus keine erheblichen Kosten verursacht.
»Hinwegweisung« (s. o.) und Zwangsarbeit sind zwei verschiedene soziale Strafen für sich »unziemlich betragende« Personen: erstere entsprach der Ausweisung aus dem polizeilichen Hoheitsgebiet, zweitere war die Einweisung in ein unverblümt »Zwangsarbeitshaus« genanntes Arbeitslager. Zur Pflicht der Polizei und des »Armen-Pflegschafts-Rathes« einer Gemeinde gehörte u. a. »das Vermindern der Armen für die Zukunft, und die Sorge dafür, daß nicht im Verhältnisse mit den Gebildeten, auch die Ungebildeten allen Wohlstand, und die Ordnung gefährden, und durch drohende Bevölkerung sich vermehren« (Königlich-Bayerisches Intelligenzblatt 1834, 186). Und sollten sich die Armen nicht staatstreu und »arbeitsscheu« verhalten, waren sie »in das Zwangs-Arbeitshaus zur Zwangs-Beschäftigung und zur Angewöhnung angemessener Thätigkeit« zu senden (ebd., 161). Der Autor eines entsprechenden Handbuchs, ein »Königlich-Bayerischer Regierungs- und Consistorialrat zu Speyer« und staatlich angestellter Ratgeber für die Geistlichkeit, stellte klar:
»War früher die Wirkung der Zwangsarbeitshäuser in hohem Grade unbefriedigend, so lag der Grund hievon nicht bloß in der Mangelhaftigkeit dieser Institute selbst, sondern namentlich auch in der irrigen Ansicht der meisten Gemeinden über die eigentliche Bestimmung der Zwangsbeschäftigungs-Anstalten. Diese Anstalten wurden nämlich häufig nicht als das, was sie sind, als Beschäftigungs-Institute und Mittel, um arbeitsscheue oder der Arbeit entwöhnte Individuen zur Arbeitsgewohnheit zurückzuführen, sondern als Zucht- und Strafhäuser betrachtet« (Wand 1859, 385).
Deutschland wird ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem Land mit einer Vielzahl variantenreicher geschlossener Anstalten und Zwangshäuser. Vordergründig gilt der Dreißigjährige Krieg mit seinen verheerenden Folgen als Grund dafür. Da bestanden aber bereits drei Internierungsarten: verschiedene Kategorien von Gefängnissen, seit dem 14. Jahrhundert sog. Siechenhäuser für alte und kranke Menschen, spätestens ab dem frühen 16. Jahrhundert die Armenhäuser. Im 17. Jahrhundert entstehen in allen deutschen (Klein-)Staaten Arbeitshäuser und seit dem 18. Jahrhundert geschlossene Anstalten für Menschen, die damals als Blödsinnige, Idioten, Irre oder Schwachsinnige bezeichnet wurden.
Jede dieser sozialen Kasernen hat ihre eigene besondere Geschichte. Von den Gefängnissen abgesehen gingen die Gründungsinitiativen zumeist von wohlhabenden Privatpersonen aus (siehe von Maurer 1870, 41 ff.; Drossbach 2007; Bernhardt 2012).13Für alle Arten von Sondereinrichtungen gilt: Sie wurden zu ihrer Gründungszeit und für eine unterschiedlich lange Zeitspanne als Fortschritt gegenüber den vorausgegangenen Maßnahmen angesehen. Das wird besonders an der Entwicklung des Anstaltswesens im Deutschen Reich erkennbar. Die Aufgaben und Rollen solcher isolierender Häuser am Ende des 19. Jahrhunderts verdeutlicht der steierische Bezirksarzt Dr. Bartholomäus Knapp in seinem Bericht von 1879:
»Ist schon das Schicksal der schwachsinnigen, idiotischen Kinder bei Bemittelten ein trauriges, so ist es bei den Armen noch viel trauriger, ja mitunter wahrhaft schrecklich! Und leider gehört die überwiegende Mehrzahl solcher Kinder armen Eltern an. Schon in der ersten Kindheit vielfach vernachlässigt, weil die Eltern dem Erwerbe nachgehen müssen, erlischt auch die vielleicht noch vorhandene geistige Anlage, die bei aufmerksamer Behandlung noch zu gänzlicher Ausbildung sich hätte entwickeln können. [...]
Selbst die auf der niedrigsten Stufe stehenden Idioten und Cretinen sah ich in den verschiedenen Pflege-Anstalten [...] reinlich gehalten, gut gepflegt, mit zufriedenen Mienen wenigstens ein menschliches Dasein führen [...]. Welche Last wird armen Eltern, ja Gemeinden abgenommen, wenn solche Schwachsinnigen zu arbeitsfähigen Menschen erzogen werden! [...] Gewiss könnten Gemeinden und Länder entlastet werden, wenn alle derlei Kinder in solchen Anstalten erzogen und so zum großen Theil zu producirenden Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft gebildet werden, statt dass sie sonst als Ekel erregende Einleger oder als Bewohner der Gemeinde-Versorgungs- oder der Landes-Siechenhäuser während des ganzen oft langen Lebens eine Last für Gemeinden und Länder sind« (Knapp 1879, 36/37, 41).
Die enorme Entwicklung des flächendeckenden gewaltigen deutschen Anstaltswesens offenbaren die Statistiken der Königreiche in Deutschland, insbesondere die Zahlen aus Preußen (siehe Erlenmeyer 1863; Laehr 1874; Königliches statistisches Burreau 1891; Windmöller 2003, 53 ff.). Viele dieser Anstalten für »Blödsinnige«, »Schwachsinnige« und »Idioten« hatten im 19. Jahrhundert einen guten Ruf, vor allem, weil sie die Angehörigen und – wegen ihrer kirchlichen Trägerschaft – den Staat entlasteten. Ihre Untaten und Übergriffe dagegen wurden weitgehend ignoriert und z. T. als erzieherisch notwendig akzeptiert. Darüber ist viel geschrieben worden.14 Der Satz des früheren Präsidenten des Diakonischen Werkes der EKD, Jürgen Gohde, beschreibt den Sachverhalt allerdings zu mystisch: »Der Gang durch die Geschichte geht durch finstere Zeiten.« (Gohde/Stölzl in Röper/Jüllig 1998, 10) Tatsächlich waren es die machthabenden Vertreter der Eliten mit ihren inhumanen Menschenbildern, die unerwünschte Menschen durch »die finsteren Zeiten« geschickt hatten. Die Geschichte der Psychiatrie und ihrer Anstalten ist dafür ein schreckliches Beispiel. »Schrecklich« ist das Attribut, das in zeitgenössischen Berichten von »Fachleuten« im 19. Jahrhunderts immer wieder zur Beschreibung der Zustände in den »Irrenanstalten« verwandt wird:
»Es ist schrecklich, wenn man sich solch einem Orte des Unglücks und Jammers nähert. Wenn man einem aus Jauchzen und Geheule der Verzweiflung zusammengesetzten Gebrüll entgegengeht. Es ist entsetzlich, wenn man sich in den Ort selbst begibt und sich von diesem mit Schmutz und Lumpen bedeckten Unglücklichen bestürmen sieht, währenddessen andere nur durch Ketten und Bande oder Rippenstöße der Aufwärter abgehalten werden, ein Ähnliches zu tun« (Frank 1804, zitiert nach Schott/Tölle 2006, 253).15
Die Gründung von Gefängnissen reicht über die ägyptische Antike hinaus. Bei der jüdischen, christlichen und moslemischen Bevölkerung ist die Legende von Joseph im Gefängnis (1. Mose 39, 19 ff.) und seinen Traumdeutungen bekannt (1. Mose 40; siehe auch Krohne 1889, 2 ff.). Diese Erzählung wird auf die Zeit um 1600 v. Chr. datiert. Jahrhundertelang dienten Gefängnisse als eher kurzzeitig und befristet absondernde Zwischenlager für die anschließend zu Bestrafenden: ein unmenschlicher Warteraum auf die eigentliche Strafe oder auf die Freilassung (vgl. Krohne 1889). Die Strafen waren nach heutigen Maßstäben rigoros: Vermögensentzug, drastische Geldstrafen und Schuldknechtschaft. Sie waren barbarisch: Verlust sämtlicher Rechte (Atimie), Verbannung, Vertreibung, Deportation, unsägliche Torturen wie physische und psychische Erniedrigung, Leibesqualen (Folter und Geißelung), Verstümmelung bis hin zum oft grausam herbeigeführten Tod (siehe auch Baer 1871, 9 ff.).
Wer in den Zeitabschnitten vor dem 19. Jahrhundert ins Gefängnis geworfen wurde, verlor i. d. R. sein Ansehen, seinen sozialen Status und galt – oft auch nach seiner Gefängniszeit – nicht mehr als Mensch. Dabei war selbst die langjährige Gefängniszucht ein Fortschritt gegenüber den früheren Formen des Ausschlusses aus der Gemeinschaft. Das Gefängnis war – so befremdlich es anmuten mag – jahrhundertelang ein Privileg in den meisten deutschen Ländern bis ins 18. Jahrhundert: Niedere Stände oder standeslose Bevölkerungsteile erhielten diese Chance erst gar nicht: Sie wurden unverzüglich bestraft – durch sog. spiegelnde Strafen oder peinliche Strafen nach dem Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn: »Spezialpräventiv sichernd wirken insbesondere Strafen am schuldigen Glied auch dadurch, dass sie dem Täter die Wiederholung der Tat unmöglich machen (Abschneiden der Lästerzunge, Abhacken der Schwurhand oder der diebischen Hand)« (Ebert 1987, 408).
Zum Gefängnis als staatlicher Einrichtung gehören gesellschaftliche, staatliche, amtliche und Organisationsstrukturen: von den Bauwerken – selbst, wenn es Löcher, Kerker, Türme und Verließe waren (siehe Schmale, 1997, 206) – über den Personalaufwand z. B. für die Bewachung bis hin zur oft notdürftigen Verpflegung. Gefängnisse kosten Geld: Die Gebäude und ihre Sicherheitsvorrichtungen müssen ebenso wie die Personal- und Sachkosten aus der Staatskasse bezahlt werden und – sofern Gefangene zu Arbeitsleistungen gezwungen wurden – aus deren Arbeitsergebnissen.
Weil Gefängnisse zu den ältesten gesellschaftlichen Sondereinrichtungen mit Verbannungs- und Isolationscharakter gehören, sind Kenntnisse über ihre Geschichte und die jeweils historisch bedingten Aufgaben und Funktionen, ihren Charakter und ihre Zielgruppen, ihre Ausstattung und Gestaltung eine wichtige Voraussetzung, um alle im Verlauf der Sozialgeschichte geschaffenen Absonderungsstätten besser zu beurteilen. Doch nicht nur das: Solides Wissen über das Gefängniswesen verhilft zu tiefen Einblicken in die gesellschaftlichen Strukturen, Sozial- und Machtverhältnisse. Es verschafft Einsichten über die vorherrschenden Welt- und Menschenbilder. Kenntnisse über das Gefängniswesen, seine Geschichte, seine Entwicklung und Differenzierung sowie über die sozialen Folgen für die Gefangenen bieten einen Maßstab zur Beurteilung sämtlicher Arten von Separierungsstätten und Formen von Aussonderungsmaßnahmen für missliebige, ausgestoßene Bevölkerungsgruppen.16
Ein Standardwerk über die Geschichte und Rolle der Gefängnisse hatte 1975 der französische Philosoph Michel Foucault (1926 – 1984) vorgelegt und damit einen immer noch anhaltenden Meinungsstreit ausgelöst. Es erschien 1976 auf Deutsch: »Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses«. Foucault beschreibt drei fundamentale Machtgefüge, die immer noch zur Beurteilung aller absondernden Einrichtungen dienen können:
Abgeschlossenheit der Personen innerhalb eines nach außen abgesonderten Bereiches mit weitgehender Kontrolle über den Austausch zwischen der isolierten Innenwelt und der Außenwelt.
Parzellierung der separierten Menschen, indem jeder Person ein eindeutig definierter Platz und eine klar geregelte Aufgabe zugewiesen werden. Das macht die Kontrolle und Fremdbestimmung über jedes Individuum, über dessen Verhalten und (Arbeits-)Leistung wirkungsvoll.
Hierarchisierung schafft eine dichotomische Ordnungsstruktur und Rangordnung. Die dafür geschaffenen Normen bewerten die Personen nach Status, Stellung und Leistung. Jedes Individuum soll sich dieser Norm anpassen und um eine höhere Bewertung ringen, z. B. durch Steigerung von Anpassung, Ausdauer, Fleiß, Produktivität und Verlässlichkeit.
Gefängnisse waren seit dem 18. Jahrhundert die Isolationsstätten auch für »Geisteskranke« und »Irre« (Schott/Tölle 2006, 258, 278). In den Gefängnissen geht es wie in allen segregierenden Sonderwelten um Machtbeziehungen, um Machtausübung, um Macht und Vor-Macht. Macht wird eingesetzt, um soziale Störenfriede auszusondern und die politischen wie wirtschaftlichen Abläufe und Ziele im jeweiligen Staat und in jeder Sondereinrichtung so reibungslos wie möglich abzusichern. Das gilt für alle solche Anstalten, insbesondere für die »geschlossenen« und auch für jene, die ihre Belegschaften nur zu bestimmten Tageszeiten von der Außenwelt ausschließen.
Eine Verbindung zu den heutigen »Werkstätten« in der Bundesrepublik ist bei Ralf Dahrendorf (1929 – 2009) zu erkennen: Noch bevor »Normalisierung« und »Inklusion« zu Alltagsbegriffen geworden waren, wies er auf einen bedeutenden Sachverhalt hin: Die Ausformulierung und Anwendung des Resozialisierungsgedankens bilden nach Dahrendorf den Indikator für den sozialen und politischen Zustand von Staat und Gesellschaft. »Geeignete Zeugen« für die demokratische Beschaffenheit der Bundesrepublik Deutschland seien nicht Politiker und Juristen, »sondern ›Gastarbeiter, Geisteskranke und Gefangene‹. Denn an den Außenstehenden lasse sich besonders gut dokumentieren, ›was in einer Gesellschaft vor sich geht‹« (Dahrendorf, zit. nach Ramsbrock 2020, 10). Den Resozialisierungsaspekt auf die »Werkstätten« zu beziehen, ist eine interessante, provokante Herausforderung.
»Neben Zucht- und Arbeitshäusern waren Waisenhäuser eines der wesentlichsten Merkmale der sog. Armenfürsorge in den hundert Jahren nach dem Dreißigjährigen Krieg und zahlenmäßig wohl ebenso bedeutend wie jene. Teilweise waren beide Anstaltsarten auch institutionell verbunden«,
konstatiert Markus Meumann, Wissenschaftler am Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt (Meumann 2014, 260). Ergänzt wird sein Katalog vielfältiger Kasernierungs- und Isolierungseinrichtungen auf deutschem Boden u. a. durch Armenhäuser, Findelhäuser,17 Siechenhäuser18 und Tollhäuser (siehe dazu Mosen/Scheibner 2001).
Zu den Einrichtungstypen, die sich im Verlauf des ausgehenden 19. Jahrhunderts schließlich als zu starke ökonomische Belastung herausgestellt hatten, gehörten die Arbeitshäuser. Über sie hatten sich Beamte im staatlichen Gesundheitsdienst und der sog. Armenfürsorge besonders in England und Deutschland weitreichende Gedanken gemacht. Sie entwickelten mehrere Typen von Arbeitshäusern, obschon nicht alle realisiert wurden: Arbeitshäuser für Alte und Gebrechliche, für arbeitsfähige Frauen und Männer – nach Geschlechtern getrennt, um die Kinderzahl und mit ihr die Kinderarmut nicht noch zu vergrößern – und Arbeitshäuser speziell für Kinder (siehe Wendt 1995, 125).
Die in Nachschlagewerken seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verwandten Bezeichnungen für solche Separationsstätten sprechen für sich:
»[...] eine öffentliche Anstalt, in welcher man müßige Leute zur Arbeit anhält« (Adelung 1793, 421); »darunter versteht man 1. eine Anstalt, wo Müßiggänger, die auf öffentliche Kosten erhalten werden müßten, zur Arbeit angehalten und wo möglich gewöhnt, also gebessert werden. 2. Strafanstalten, wo Vergehen durch Entziehung der Freiheit und zwangsweise Arbeit gesühnt werden. 3. In neuester Zeit mißglückte Versuche, öffentliche Werkstätten, in denen der Arbeiter auf öffentliche Kosten beschäftigt und bezahlt werden sollte, wofür dem Staate oder der Gemeinde die gelieferte Arbeit zufiele; als ob Gemeinde und Staat mit Schuhen, Beinkleidern, Hausgeräthen u.s.w. Geschäfte machen könnte« (Herder 1854, 232).
Werden die verschiedenen Typen der Aus- und Absonderungseinrichtungen in den vergangenen Zeitabschnitten miteinander verglichen, lassen sich Parallelen zu den heutigen »Werkstätten« erkennen. Das gilt auch für die anhaltenden und bisher erfolglosen Versuche der Bundesregierung, kostengünstigere Alternativen zu den »Werkstätten« zu schaffen wie z. B. die für den Staat billigeren sog. »anderen Leistungsanbieter« (§ 60 SGB IX). Ein solcher Vergleich drängt sich besonders auf, wenn man die Wirtschaftsgeschichte des US-amerikanischen Historikers Richard Hugh Tilly (1932 – 2023) zugrunde legt: Die Haltung staatstragender Bevölkerungsgruppen zum Einsatz ungenutzter Arbeitskräfte und deren konzentrierte Unterbringung in Arbeitshäusern seit der Frühphase der industriellen Revolution ähnelt den heutigen Anliegen:
Die ungenutzte menschliche Arbeitskraft musste billig sein.
Sie musste in größerem Umfang vorhanden sein.
Sie musste in der gewerblichen Produktion einsetzbar sein.
»Also erschien eine Rekrutierung von Arbeitslosen oder bedingt Nicht-Arbeitsfähigen in Arbeitshäusern bei niedrigem Lohn sinnvoll« (Schaefer 1993, 10). Der Volkswirt K. Chr. Schaefer zitiert die Behauptung des englischen Nationalökonomen William Petty (1623 – 1687), dass die Art der Beschäftigung solcher Personengruppen in Arbeitshäusern zwar völlig unwichtig, aber selbst dann förderlich sei, wenn die Insassen so Unsinniges täten wie die Steine des Megalith-Monuments »Stonehenge« auf den Londoner »Tower-Hill« zu schleppen (ebd.; Orig.: »to build a useless pyramid upon Salisbury Plain, bring the Stones at Stonehenge to Tower-Hill, or the like.«). Tatsächlich begründen heutige »Werkstatt«-Leitungen sinnlose und unwirtschaftliche Arbeitsaufgaben ähnlich wie Petty im 17. Jahrhundert: »Hauptsache, wir haben überhaupt Arbeit.«
In den europäischen Ländern mit umfangreichen Arbeitshaus-Systemen wurden solche Sondereinrichtungen bis ins frühe 18. Jahrhundert häufig zunächst von wohlhabenden Bevölkerungsgruppen finanziert. Im Verlauf der Zeit übernahm das der spätfeudale Staat, weil sie i. d. R. unrentabel und den privaten Finanziers zu teuer geworden waren (ebd., 15). Den macht- und wirtschaftspolitisch wichtigsten Aspekt formuliert Helmut Lambers:
»Arbeitshaus und Arbeitszwang spielten bei der Durchsetzung der Industrialisierung und der Kapitalinteressen eine zweitrangige Rolle. Die noch im Frühkapitalismus des 18. Jahrhunderts verfolgte Idee, Arbeitshäuser als Mittel der Produktivitätssteigerung einzusetzen, ging in den Zeiten der Großindustrie nicht auf« (Lambers 2018, 133).
Für die heutige Variante des Kapitalismus spielen die »Werkstätten« eine ebenso belanglose Rolle wie ihre historischen Vorläufer, die Arbeitshäuser und Großanstalten: Die private und öffentliche Wirtschaft nutzt sie, die einen mehr, die anderen weniger. Sie streicht die geringfügigen Extragewinne ein oder zahlt – längst weitgehend anstandslos – die sog. Ausgleichsabgabe (§ 160 SGB IX). Das ist ein unbedeutendes gesetzliches Strafgeld von z. Z. zwischen 140 und 360 Euro im Monat, wenn Unternehmen ihre gesetzliche Pflicht zur Beschäftigung von Menschen mit Beeinträchtigungen (§§ 154 ff. SGB IX) nicht vollständig erfüllen. 720 Euro haben seit 2024 diejenigen Betriebe zu zahlen, die überhaupt keinen Pflichtarbeitsplatz besetzen (siehe § 160 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX). Einen unverzichtbaren Wirtschaftsfaktor stellt die Sonderarbeitswelt der »Werkstätten« ebenso wenig dar wie die früheren Arbeitshäuser.
Zeitweilig wurden die Arbeitshäuser in einigen deutschen Staaten abgeschafft – etwa im Königreich Preußen. In anderen Staaten des Reichs wurden sie nach ihrer Auflösung wieder eingeführt, z. B. zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Königreichen Sachsen und Württemberg (siehe Nipperdey 1990, 356). »Aber generell waren Arbeitshäuser in Deutschland im späteren 19. Jahrhundert die Ausnahme; sie waren die äußerste Absicherung gegen Faulenzertum und Missbrauch der Armenfürsorge, sie sollten die Selbsthilfe der Armen genügend motivieren« (ebd.).
»[...] so fern auch Verbrecher darin zur Arbeit gezwungen werden« (Adelung 1793, 421).
»[...] so fern das weibliche Geschlecht darin zum Spinnen angehalten wird« (ebd.).
»Um jugendliche Verbrecher und in der Erziehung Verwahrloste auf den Weg der Besserung zu führen, bestehen Besserungsanstalten, welche die jungen Leute (unter 20 Jahren) zur Arbeit erziehen und in der Landwirtschaft unterrichten und beschäftigen« (Lueger 1906, 337/338).
»[...] eine Anstalt, in welchem [sic] lasterhafte Glieder der Gesellschaft durch Arbeit und Schärfe zu einem pflichtmäßigen Verhalten gewöhnet werden« (Adelung 1801, 1742).
Armen- und Arbeitshäuser galten zunächst als Fortschritt, weil sie die freiwillige, zumeist kirchliche und spendenfinanzierte Armenhilfe ablösten und »ein System der institutionalisierten öffentlichen Armenpflege« schufen. Das existierte neben den privaten Stiftungen reicher Bürger und den privaten Vereinigungen und machte Spitäler, Armen-Verpflegungsanstalten und Waisenhäuser möglich. Das Gefängniswesen profitierte davon und wurde immer wieder reformiert,19 ebenso die späteren Arbeitshäuser, die mancherorts den Gefängnissen ähnlich waren. Für die Schaffung und den Unterhalt von Arbeitshäusern gab es in den Staaten des Deutschen Reiches zahlreiche regional unterschiedliche Gründe. Aufschluss darüber geben u. a. G. L. Kriegk (1868), G. Görres und P. George (1851) und in jüngerer Zeit J. Stumbrat (2008). Doch in drei Zielen waren sich die Staatsführungen im ausgehenden 18. Jahrhundert weitgehend einig: in der
Disziplinierungsabsicht – besonders im Zuge der massiven Militarisierung z. B. in Preußen,
staatlichen Förderung der Gewerbetreibenden im Verlags- und Manufakturwesen gegen die historisch überholten Zünfte und
Ablösung bisher drastischer Körperstrafen durch Zwangserziehung und Zwangsarbeit, um möglichst viele Arbeitskräfte zur Wirtschaftsförderung zu nutzen (siehe Lambers 2018, 86, 100).
Es sind über 300.000 Menschen, die der deutsche Staat in Sondereinrichtungen abgeschoben hat. Das Gesetz nennt sie »Werkstätten für behinderte Menschen« (siehe § 56 ff., 219 ff. SGB IX), im Folgenden kurz »Werkstätten«. Das sind besondere staatlich finanzierte Arbeitsstätten für Erwachsene, die der Arbeitsmarkt wegen ihrer Beeinträchtigung ablehnt (dazu BTD 05/4110, 1969, 12). Diese werden den »Werkstätten« von den staatlichen Sozialhilfeämtern zugewiesen. Solche »Werkstätten« und ihre 2016 geschaffenen Billigausgaben nach § 60 SGB IX20 bilden eine Sonderwelt, in der ihre beeinträchtigten Beschäftigten folgenschwer benachteiligt werden:
Durch das behördliche Zuweisungsprinzip wird ihnen das Grundrecht auf freie Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte vorenthalten (vgl. Art. 12 GG). Diesen Sonderweg ins soziale Abseits hat der Staat den Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen bereits im Kindesalter vorgezeichnet: mit seiner benachteiligenden Bildungs-, Förderungs- und Arbeitsmarktpolitik. So zwingt er sie auf ihrem gesamten Lebensweg – und erst recht im Bildungs-, Ausbildungs- und im Wirtschaftssystem – zu einem lebenslangen sozialen Hürdenlauf.
»Werkstatt«-Beschäftigte besitzen nicht die gleichen Arbeits- und Arbeitsschutzrechte, wie sie der Gesetzgeber der übrigen abhängig erwerbstätigen Bevölkerung einräumt. Dabei sind »Werkstatt«-Beschäftigte gesetzlich zu wertschaffender Arbeit und einem wirtschaftlich verwertbaren Arbeitsergebnis verpflichtet (§§ 57 Abs. 1 Nr. 2; 58 Abs. 1, 219 Abs. 2 SGB IX).
Ihnen werden keine personbezogenen Arbeitsverträge angeboten, sondern benachteiligende, gesetzlich sog. Werkstattverträge (§ 221 SGB IX, § 13 WVO). Diese »Werkstatt«-Verträge erkennen de jure den Arbeitnehmerstatus nicht an, sondern beinhalten einen ungünstigen »arbeitnehmerähnlichen« Rechtsstatus.
»Werkstatt«-Beschäftigte haben keine gesetzlich geregelten individuellen Anhörungs-, Erörterungs- und Beschwerderechte gegenüber dem »Werkstatt«-Träger, wie sie nach dem Betriebsverfassungsgesetz alle abhängig Beschäftigten besitzen – auch die arbeitsvertraglich dienstleistenden »Werkstatt«-Angestellten (vgl. §§ 81, 82, 84 BetrVG und § 5 ArbGG).
Den einzelnen beeinträchtigten und deshalb leistungsberechtigten »Werkstatt«-Beschäftigten sind individuelle Mitwirkungsrechte versagt, die bis Juni 1996 rechtlich vorgeschrieben waren (vgl. § 14 SchwbWV, BGBl. 1980 Teil I Nr. 48, 1368). Ihr früheres Mitgestaltungsrecht wurde vollständig auf »Werkstatträte« übertragen (vgl. § 14 SchwbWV, BGBl. 1996 Teil I Nr. 38, 1099). Diese »Räte« sind den Betriebsräten nicht gleichgestellt und haben – anders als die betrieblichen Jugend- und Auszubildendenvertretungen – keine Rechte gegenüber den Betriebsräten (vgl. §§ 66 bis 68 BetrVG).
»Werkstatt«-Beschäftigte mit einem »Werkstatt«-Vertrag (s. o.) haben keinen Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit oder einen entsprechenden Lohnanteil. Als nur arbeitnehmerähnliche Produzierende gilt für sie das Recht auf einen Mindestlohn nicht (siehe § 1 Abs. 1 MiLoG).
Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, müssen sie Sozialhilfe-Leistungen beantragen, die sog. »Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung« (siehe § 41 ff. SGB XII).
Erst nach 20-jähriger »Werkstatt«-Zugehörigkeit haben sie Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente (§ 43 Abs. 6 SGB VI), die Arbeitnehmer:innen dagegen schon nach fünf Jahren zusteht.
Ein großer Teil dieser »Werkstatt«-Beschäftigten gehört zu den über 200.000 Erwachsenen, die außerhalb des Lebensumfeldes ihrer Angehörigen in sog. stationären Wohnheimen untergebracht sind. Das sind besondere staatlich finanzierte Wohneinrichtungen, in denen es i. d. R. an Bedingungen mangelt, die ein selbstbestimmtes Leben auf dem allgemeinen Niveau der Wohnbevölkerung ermöglichen: Oft fehlt es z. B. an Einzelzimmern mit eigenem Eingang. Es mangelt an persönlichen Sanitäranlagen. Und immer wieder offenbaren die Medien, dass es dienstleistenden Angestellten in Folge solcher nivellierenden Kasernierungen an Empathie und Respekt vor den Menschen mit Beeinträchtigungen fehlt.21
In diesen beiden Arten von Sondereinrichtungen – Wohn- und »Werkstätten« – wachsen die Belegungszahlen von Jahr zu Jahr.22 Einige, die in solchen Heimen wohnen und in den »Werkstätten« arbeiten, sehen sich aus dem wirklichen Leben verbannt und nennen sie sarkastisch »Abladeplatz« und »Entsorgungsstätten«. Solche Begriffe stehen im engen Zusammenhang mit Bezeichnungen, die immer noch von Eigentümer:innen der Wohn- und »Werkstätten« benutzt werden: Behindertenwerkstatt, Behindertenwohnheim. In solchen Wortverbindungen verbirgt sich der Abschiebegrund: »Behindert sein« gilt als Stigma und gesellschaftliches Ausschlusskriterium.
Die Verwendung des entwürdigenden Begriffs »Behinderte:r« entsteht aus einer Denk- und Verhaltensweise, die Behinderung weder als soziale (Be-)Handlung erkennt noch als gesellschaftliches Verhalten von Benachteiligung und Diskriminierung. Der Terminus »Behinderung« mit seinem herabsetzenden Inhalt wird zum untrennbaren Bestandteil der Person. Er will die persönliche Eigenschaft des Menschen beschreiben und wird so zum charakteristischen Merk-Mal, zum Kainsmal des Individuums. So bleibt Behinderung als gesellschaftlich bedingte und gewollte oder hingenommene Erniedrigung unerkannt (siehe auch Müller 2018).23 Dabei beweist die deutsche Sozialgeschichte in jedem ihrer Zeitabschnitte, dass Behinderung mit ihren vielfältigen zeitbedingten Synonymen stets eine soziale Konstruktion war. Das ist sie immer noch: ein dem Menschen zugeschriebenes Kennzeichen, um die soziale Ab- und Ausweisung legitimieren zu können.
Das System der amtlich anerkannten und staatlich finanzierten »Werkstätten für behinderte Menschen« steckt seit langem in der Krise (vgl. Greving/Scheibner 2021). Diese Krise offenbart in unterschiedlichen Entwicklungsphasen eine Vielzahl an Konflikten und Widersprüchen auf verschiedenen Ebenen und Eskalationsstufen. Sie lassen sich vier Hauptabschnitten zuordnen: der Gründungsphase, der Konsolidierungsphase, der Kostensenkungsphase und der Dilemmata-Phase.
Der Staat hatte in dieser frühen Phase die zahlreichen pädagogisch begründeten Empfehlungen und unterschiedlichen Konzepte für differenzierte und qualifizierte Fördereinrichtungen für beeinträchtigte Erwachsene ignoriert. Er missachtete die Hinweise auf die überaus vielfältigen Personengruppen mit Beeinträchtigungen und deren unterschiedlichen Assistenz- und Unterstützungsbedarf. 1974 beschloss die Bundesregierung ein »Werkstätten«-Konzept, das bis heute wider besseren Wissens den Grundsätzen des Absonderns, Nivellierens und Pauschalierens folgt – ein Einrichtungstypus für alle Personen mit Beeinträchtigungen, die am Zugang zum Arbeitsmarkt gehindert werden (siehe BTD 07/3999, 1975, 3/7).24
Doch es fand sich einige Jahre lang kein staatlicher Kostenträger für ein »Werkstätten«-Konzept, das die »Werkstätten« als Sammelstelle aller möglichen beeinträchtigten Menschen außerhalb des regulären Arbeitsmarktes platzierte: Die damalige Bundesanstalt für Arbeit (heute Bundesagentur für Arbeit) hielt ihre (Mit-)Finanzierung für »systemwidrig«, weil ihr Haushalt beitragsfinanziert ist und »Werkstatt«-Beschäftigte keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen. Die überörtlichen Träger der staatlichen Sozialhilfe sahen sich nicht in der Finanzierungspflicht, weil sie sich für diese Form der dauerhaften Arbeitsförderung nicht zuständig hielten. Die Bundesländer widersetzten sich aus Kostengründen einer sinnvollen Personalausstattung u. a. mit pädagogisch begleitenden Diensten (vgl. Cramer 2007, 96).
Die staatliche »Werkstätten«-Konzeption von 1974 hatte den Beschäftigten weder einen Rechtsanspruch auf »Werkstatt«-Leistungen zugestanden noch ihren Rechtsstatus definiert. Sie verlangte vom »Werkstätten«-Träger weder einen Vertragsabschluss mit den Beschäftigten noch die Auszahlung eines Arbeitslohns. Es herrschten Rechtszustände, die mit denen in den Anstalten seit dem 19. Jahrhundert vergleichbar waren. Es dauerte nach 1974 noch 22 Jahre, bis der Bundestag 1996 endlich zu weiterreichenden Reformen bereit war: Auf anhaltendes Drängen fortschrittlicher Vertretungen in den Trägerorganisationen wurden die Vertragspflicht, die Lohnzahlungspflicht und ein Rechtsverhältnis gesetzlich geregelt (BGBl. 1996, Teil I Nr. 38, 23. 07. 1996). Wie 1985 standen zahlreiche »Werkstätten«-Eigentümer:innen der konfessionellen Träger dieser Entwicklung skeptisch bis ablehnend gegenüber (Windmöller 2021, 319 ff.). Doch eine Klagezurückweisung des Bundesverfassungsgerichts wie 1986 bei der Werkstättenverordnung wollten die Organisationen nicht riskieren (vgl. BVerfG 2 BvR 930/81, 2 BvR 931/81, 2 BvR 947/81).
Mit der von der Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Bundesrat 1980 beschlossenen Werkstättenverordnung (BGBl. 1980 Teil I Nr. 48, S. 1365) entwickelte sich das bundesweite »Werkstätten«-Netz rasant: von 234 sog. Haupt-Werkstätten 1973 mit 17.758 besetzten Plätzen auf rund 300 Haupt-Werkstätten mit 67.000 Plätzen im Jahr 1982. 1995, ein Jahr vor der großen Zäsur, der Verabschiedung eines massiven Einspargesetzes, war die Zahl der Haupt-Werkstätten schließlich auf fast 620 gestiegen und die »Werkstätten«-Plätze auf rund 160.000.25 Dennoch hielt der Widerstand der konfessionellen »Werkstätten«-Träger und ihrer Bundesverbände gegen die staatliche Einflussnahme an – bis hin zum Bundesverfassungsgericht (Windmöller 2021, 325 ff.).
Die Auflehnung der kirchlichen »Werkstätten«-Träger und ihrer Dachorganisationen richtete sich gegen die staatliche »Werkstätten«-Konzeption in der »Werkstätten«-Verordnung von 1980. Immer wieder wiesen und weisen kirchliche Trägerorganisationen der »Werkstätten« auf ihr grundgesetzlich garantiertes Sonderrecht der Selbstgestaltung und Selbstbestimmung hin, wie es ihnen in der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 zugestanden worden war.26
In die fast 20-jährige Konsolidierungsphase fällt der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland und damit die Entwicklung eines vergleichbaren »Werkstätten«-Netzes in den fünf neuen Bundesländern und im Ostteil von Berlin. Die Auseinandersetzungen zwischen den westdeutschen »werkstatt«-tragenden Nichtregierungsorganisationen um einen möglichst großen Anteil am Eigentum der ostdeutschen »Werkstätten« wurde von den dortigen Funktionsträgern immer wieder als »Eroberungskrieg« geschmäht. Das Ringen um Einfluss-Sphären und Eigentum führte bisweilen zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft der »Werkstätten« und mit den staatlichen Instanzen, aber auch mit den bis dahin leitenden Verantwortlichen in den Sondereinrichtungen der früheren DDR. Deren »werkstatt«-ähnliche Betriebe offenbarten nach der sog. Wende nicht nur eine baulich-technische und pädagogische Rückständigkeit, sondern auch menschenrechtlich heikle Arbeits- und Wohnbedingungen der beeinträchtigten Menschen (siehe Mürner 2000).
In ganz Deutschland wiesen die staatlichen überörtlichen Sozialhilfeträger den »Werkstätten« immer mehr Personen zu, die an der Teilnahme am üblichen Erwerbsleben behindert wurden. So dehnte sich das »Werkstätten«-Netz im gesamten Bundesgebiet beständig aus und wurde binnen kurzer Zeit bundesweit flächendeckend. Das hatte längst zu Konflikten zwischen den »Werkstätten«-Trägern und den staatlichen Kostenträgern geführt. Vorrangig ging und geht es um die kostendeckende Finanzierung aus öffentlichen Haushalten. Die Bundesregierung sah sich gemeinsam mit den staatlichen Kostenträgern in der Situation, die »Werkstätten«-Kosten und damit die wachsende Belastung der öffentlichen Haushalte deutlich zu verringern, zumindest den Kostenzuwachs zu begrenzen. Denn der Umfang der vom Staat zu finanzierenden Kostenarten war und ist außerordentlich: Zu ihnen gehören nicht nur die Kosten des laufenden Betriebs der »Werkstätten« – einschließlich der Personalkosten für die Angestellten –, sondern auch die Bestandserhaltung der Gebäude und Anlagen, die Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge für die beeinträchtigten Beschäftigten und die Subventionierung der »Werkstatt«-Löhne durch ein monatliches Arbeitsförderungsgeld von 52 Euro (§ 59 SGB IX). Die »Werkstätten«-Träger und ihre Organisationen befürchteten eine langfristige Finanzmisere.
Das »Werkstätten«-Netz, dessen Betriebe und Arbeitsplätze wuchsen in den 1990er Jahren rasant: von 152.501 Plätzen 1994 auf 188.275 Plätze 1999; im Jahresdurchschnitt um 4,3 %.27 Mit ihnen wuchsen die Konzernbildung im »Werkstätten«-System und das Betriebsvermögen der »Werkstätten«-Eigner:innen. Gemeinsam mit den staatlichen Behörden, die für die »Werkstätten«-Finanzierung gesetzlich zuständig waren, suchte die Bundesregierung immer nachdrücklicher nach Möglichkeiten einer spürbaren Kostensenkung im »Werkstätten«-System. Bund, Länder, staatliche Sozialhilfeträger und die damalige Bundesanstalt für Arbeit wollten ihre Milliardenzuschüsse für den »Werkstätten«-Sektor nachhaltig verringern. Die Länderregierungen und ihre Sozialhilfeträger wandten sich entschieden gegen die aus ihrer Sicht unzureichenden Kürzungsabsichten der Bundesregierung im Sozialhilfe-Sektor und stellten ihre eigentliche Aufgabe und Finanzierungspflicht klar:
»Aufgabe der Sozialhilfe ist es, durch in der Regel vorübergehende Hilfen [...] akut in Not geratenen Menschen zu helfen. Die Sozialhilfe ist deshalb als Instrument für auf Dauer zu gewährende Leistungen zur sozialen Rehabilitation von Behinderten ungeeignet und systemwidrig« (BR-Drs. 452/1/95,1995, 4).
Zwei Begriffe setzten sich im politischen Sprachgebrauch für diese Politik der sozialen Einschnitte durch: Deckelung und Pauschalierung. Allen rhetorischen Auseinandersetzungen zum Trotz waren sich Länderregierungen und Bundesregierung einig:
»Die Sozialhilfe muss von den Massentatbeständen befreit werden« und »wieder ihre ureigene Funktion als nachrangiges soziales Netz bei individueller Notlage wahrnehmen« (BR-Drs. 688/95,1995, 407 ff.).
Die Chance einer massiven Einsparpolitik bot sich mit Horst Seehofer (Jg. 1949), ab 1992 Bundesgesundheitsminister im Kabinett Helmut Kohl (1930 – 2017). Seehofer hatte sich als hartnäckiger Sparminister im Gesundheitswesen bewiesen und 1995 sogar mit Rücktritt gedroht, falls seine Sparpläne abgelehnt würden. Ihm und seinem Ministerium wurde nun auch die Zuständigkeit für die Sozialhilfe übertragen, deren Kosten die öffentlichen Haushalte immer stärker belasteten. Als »Sozialhilfe-Minister« realisierte Horst Seehofer mit CDU/CSU und FDP eine massive Einsparpolitik im »Werkstätten«-Sektor. Dazu gehörten die Deckelung der »Werkstatt«-Finanzierung für drei Jahre von 1996 bis 1998, die anschließende Pauschalierung der staatlichen Finanzierungsmittel und die gesetzliche Verhinderung von nachträglichen Kostenerstattungen im Falle von Defiziten bei den »Werkstätten« (BT-Drs. 13/2412, 1995, 2 und § 93b Abs. 1 Satz 1 BSHG 1996, BGBl. 1996, I/38, 1092).
Dem Bundesrat gingen einige Einsparmaßnahmen des Seehofer-Ministeriums nicht weit genug: Er forderte deshalb u. a., die gesetzliche Zahlungspflicht der Sozialhilfeträger zu ändern, aufgrund derer die Sozialhilfe zur Deckung eines Teils der betriebswirtschaftlich bedingten »Werkstätten«-Kosten verpflichtet ist. Diese Pflichtleistung sollte in eine Kann-Bestimmung geändert werden. Dadurch wären die staatlichen Finanzierungsbehörden nicht länger genötigt, die Kosten der wirtschaftlichen Betätigung der »Werkstätten« übernehmen zu müssen. Zudem sollten diese wirtschaftlich bedingten Kostenanteile nur noch pauschal erstattet werden (BR-Drs. 452/95, 1995, 20/Blatt 57).28 Diese Bundesratsforderung ist besonders bemerkenswert, weil das Kräfteverhältnis im Bundesrat die Opposition im Bundestag begünstigte, voran die SPD.29 Gerade die SPD forderte die Vorlage eines neuen Gesetzentwurfes zur Sozialhilfe-Rechtsreform, der den Nachrang der Sozialhilfe stärker betonen und zur »Einzelfallhilfe für akute, vorübergehende Notlagen« zurückkehren sollte (BT-Drs. 13/2442, 1995).
Zu diesen für die »Werkstätten«-Eigner:innen problematischen Ereignissen kam verschärfend eine wirtschaftliche Entwicklung hinzu, die für das »Werkstätten«-System riskant wurde: »Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks öffnete sich eine Niedriglohnperipherie direkt in der Nachbarschaft Westeuropas. [...] Gering qualifizierte Arbeitskräfte an Hochlohnstandorten sind Verlierer der Verlagerungsprozesse [...]« (Jürgens/Krzywdzinski 2009, 4, 6). Die Niedrigpreise der staatlich subventionierten »Werkstätten« wurden in Osteuropa unterboten. In den 1990er Jahren kam es zu einer für die »Werkstätten« deutlich spürbaren Fertigungsverlagerung einfacher Arbeitsaufträge und Komponenten in die osteuropäischen Niedriglohnländer. In der deutschen Erwerbswirtschaft waren vor allem un- und angelernte Beschäftigte stark betroffen. Das schlug sich ebenso drastisch in der »Sonderwirtschaftszone der Werkstätten« nieder: Die Aufträge mit einfachen Arbeitsanforderungen gingen massiv zurück.
Die vorausgegangene, das »Werkstätten«-System stark prägende Kostensenkungsphase setzte sich als Krisenvariante fort und prägt die derzeitige Dilemmata-Phase. Sie hat für das »Werkstätten«-System zusätzlich zwei auffällige Kennzeichen erhalten, durch die die staatliche »Werkstätten«-Konzeption objektiv infrage gestellt wird:
1.
die Suche der Bundes- und Länderregierungen nach kostensenkenden Alternativen zu den »Werkstätten«, ohne das Sonderwelt-System insgesamt in Frage zu stellen;
2.
die zunehmende Schärfe kritischer Positionen der Vereinten Nationen und der EU-Gremien gegen Sonderwelten wie die der deutschen »Werkstätten«. Einen frühen Höhepunkt erreichte die UN-Kritik 2012 mit der Studie des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte zur Arbeit und Beschäftigung von Menschen mit Beeinträchtigungen (UN-Dok. A/HRC/22/25 vom 17. 12. 2012). Diese Kritik wiederholte sich seitens der UN in den zehn Folgejahren und fand ihre Entsprechung auch im Europaparlament (EU-Dok. P9_TA[2021]0075).
Diese aktuelle und vierte Krisenphase überschneidet sich mit den vorausgegangenen und begann deutlich erkennbar mit der 84. Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Länder (ASMK) am 15. 11. 2007. Nur dürftig hinter einem verbalen Anstrich aus dem UN-Übereinkommen von 2006 überdeckt, beschloss die 84. ASMK weitreichende Einsparmaßnahmen, um das »Werkstätten«-System nicht weiter auszudehnen: »[...]
Annäherung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen an die allgemeinen Lebensbedingungen (Wohnen in eigener Wohnung, Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, Vorrang ambulanter Leistungen vor stationären Leistungen).
Verbesserte Steuerung und Wirkungskontrolle durch die Kostenträger, um eine am individuellen Bedarf orientierte Hilfe zu sichern.
Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingungen und Alternativen für eine dauerhafte Unterstützung von nicht werkstattbedürftigen Menschen mit Behinderungen, die eine stärkere Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt fördern.
Leistungsgewährung, die sich am individuellen Teilhabebedarf des Menschen mit Behinderung orientiert und nicht mehr auf Leistungsform, Leistungsort und Leistungsanbieter abstellt. [...]
Ziel muss sein, bereits frühzeitig dem jetzigen Automatismus eines Wechsels aus der Förderschule in die Werkstatt für behinderte Menschen auch durch geeignete schulische Regelungen und Maßnahmen entgegenzuwirken« (84. ASMK 2007, 11/13).
Doch die Fakten verdeutlichen, dass die Länderministerien mit ihren staatlichen Kostenträgern auch weiterhin behinderte junge Menschen in viel zu hoher Zahl den »Werkstätten« zugewiesen haben:
Tab. 1:Beschäftigte im sog. Arbeitsbereich der »Werkstätten«: Entwicklung 1999 – 202230
Jahr
Beschäftigte
1999
188.275
2001
201.679
2005
256.556
2007
275.495
2013
271.073
2015
281.065
2017
289.326
2022
285.588
Seit über einem Vierteljahrhundert versuchen die Regierungen auf Bundes- und Länderebene den selbstverantworteten Anstieg der »Werkstatt«-Belegung zu stoppen, zumindest zu bremsen. Ihre Maßnahmen waren und sind bisher erfolglos, weil sie sich ausschließlich an die »Werkstätten« richten und die mitverantwortliche Erwerbswirtschaft nicht einbeziehen. Doch die »Werkstätten«-Träger akquirieren Menschen mit Beeinträchtigungen gar nicht. Die Entscheidungsmacht über den Zuwachs an Arbeitsplätzen in dieser Sonderwelt liegt beim Gesetzgeber, der Bundesregierung und den staatlichen Kostenträgern: Die Arbeit suchenden Menschen werden den »Werkstätten«-Trägern nämlich von den Behörden zugewiesen.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine politische Wende hin zur Inklusion existieren längst (siehe dazu auch Sackarendt/Scheibner 2021, 189 ff.). Doch stattdessen hatte die Bundesregierung wesentliche ASMK-Beschlüsse in das sog. Bundesteilhabegesetz vom 23. 12. 2016 aufgenommen und neben dem »Werkstätten«-System ein billigeres »werkstatt«-ähnliches System implantiert – die sog. anderen Leistungsanbieter nach § 60 SGB IX.
Noch im Jahr vor Verabschiedung des »Bundesteilhabegesetzes« bat die 92. ASMK »die Bundesregierung zu prüfen, wie der Übergang von den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) auf den allgemeinen Arbeitsmarkt [...] u. a. durch Änderungen im Teilhaberecht und im Rentenrecht erleichtert werden kann« (ASMK-Protokoll 2015, 26). Es ging den Länderregierungen nicht darum, die Beschäftigungspflicht der Wirtschaft gegenüber Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen durchzusetzen (siehe § 155 SGB IX, Gesetzestext im ▸ Kap. 8.6.3). Stattdessen konzentrierten sich Bundesregierung und Länderregierungen darauf, die »Werkstatt«-Finanzierung und den Verbleib der Beschäftigten weniger »komfortabel« zu gestalten: keine sachgerechte Refinanzierung der »Werkstätten«-Kosten (s. o.), Schaffung von preisgünstigeren Konkurrenzbetrieben, Desinteresse an der benachteiligenden Rechtssituation der Beschäftigten und Ignoranz gegenüber den Mikro-Löhnen in dieser Sonderwelt.
In den 13 Jahren zwischen der 85. ASMK von 2008 und der 98. ASMK von 2021 beschlossen weder die Länderregierungen noch die Bundesregierung Maßnahmen, um das Gesetz von 2008 zum UN-Übereinkommen zu verwirklichen. Die Hauptverantwortlichen für die soziale Eingliederungs- und Teilhabemisere blieben außen vor: die Erwerbswirtschaft, ihre Organisationen, ihre politische Lobby in Regierungskreisen und im Bundestag.
Es ist offensichtlich, dass diese Überschrift aus der geistreichen Bemerkung von Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) zitiert, diesem beispiellosen Gelehrten und Begründer des deutschen Aphorismus. Dass er eine Wirbelsäulenverkrümmung und infolgedessen zahlreiche weitere körperliche Beeinträchtigungen ertrug, ist weniger geläufig. Heute würde er zu den »Behinderten« gezählt und hätte gegen Voreingenommenheit zu kämpfen. Sein schlagkräftig realitätsnaher Aphorismus lautet vollständig:
»Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird. Aber so viel kann ich sagen: Es muss anders werden, wenn es gut werden soll.«31
Aktuell zielt Lichtenbergs Aussage auf die wenig reformbereiten Personen im Politikbetrieb und die Nutznießer der Sonderwelten. Denen scheint entgangen zu sein, dass Lichtenbergs drängendes Verlangen nach Veränderungen nur wenige Zeilen nach seiner prinzipiellen politischen Grundaussage geschrieben wurde. Darin beschreibt er Karrierist:innen so, dass seine Einschätzung noch heute auf die Inklusionsverweigernden zutrifft – gerade im Zusammenhang mit den behinderten Personen in den Sonderweltsystemen:
»Denn man ist gewöhnlich immer desto weniger republikanisch gesinnt, je höher der Rang ist, den man selbst in der Welt bekleidet. Auch ist es schon hundertmal gesagt worden, daß die Verteidiger der Gleichheit eigentlich nichts wünschen, als alles höher zu ihrem Horizont hinauf, aber nicht sich selbst zu einem tiefern herab gebracht zu sehen.«32
Seit Lichtenberg steht die Verwirklichung des Kernthemas immer noch aus: Gleichrangigkeit, d. h. tatsächliche Demokratie und darum Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen, unabhängig vom Geschlecht, der Abstammung, der ethnischen Abkunft, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens, der religiösen oder politischen Anschauungen und der Beeinträchtigungen (vgl. Art. 3 Abs. 3 GG sowie § 1 AGG).