Von Bleiben war nie die Rede - Karin Simon - E-Book
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Von Bleiben war nie die Rede E-Book

Karin Simon

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Beschreibung

Eine Sterbeamme nimmt uns die Angst vor dem Tod Wir haben Angst vor dem Tod. Nicht alle von uns, aber doch die meisten. Wäre es nicht beruhigend, eine Art Gebrauchsanweisung für das Sterben zu haben? Und einen lieben Menschen an der Seite, der keine Angst hat? Der dem Tod schon oft gegenüber gestanden ist und uns zeigen kann, wie ein friedvoller Abschied gelingt? Für die Psychotherapeutin HP, examinierte Krankenschwester und ausgebildete Sterbe- und Traueramme Karin Simon ist der Tod nicht furchteinflößend; sie hat ihn oft gesehen und viele Hände sterbender Menschen gehalten. Wie eine liebevolle Sterbebegleitung und ein würdevoller Abschied gelingen können In ihrem ersten Buch erzählt sie von ihrem Alltag als Sterbeamme, gibt durch Fallgeschichten Einblick in ihre Arbeit, beschreibt aber auch die Ängste und Sorgen der Angehörigen Sterbender und erklärt, wie man Sterbenden einen guten Abschied ermöglicht und sich auch selbst gut auf sein Lebensende vorbereitet. Es ist kein trauriges Buch, sondern ein lebensbejahendes, auch heiteres. Durch jahrzehntelange Erfahrung und viele Fallgeschichten nähert sie sich dem Thema Tod und Sterben aus vielen Richtungen: - medizinisch (was passiert, wenn es auf das Ende zugeht), - psychologisch (typische Reaktionen, auch der Angehörigen), - spirituell (ihre schamanische Ausbildung fließt in ihre Arbeit mit ein), - mit Humor (da sie als Musikkabarettistin das Thema Sterben und Tod auf die Bühnen holt)und vor allem und immer wieder: von Mensch zu Mensch. Ein Buch der Hoffnung und des Muts. Das Loslassen können wir üben und lernen, für das letzte große Loslassen. Denn von Bleiben war nie die Rede.

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Seitenzahl: 293

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Karin Simon

mit Shirley Michaela Seul

Von Bleiben war nie die Rede

Eine Sterbeamme erzählt vom großen Abschied und wie er ohne Angst gut gelingt

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Karin Simon war 35 Jahre lang Krankenschwester, bevor sie sich zur Sterbeamme ausbilden ließ. Sie begleitet Sterbende und deren Angehörige, steht mit Rat und Tat zur Seite und weiß auch, wann es Zeit ist, loszulassen und den Übergang zu begleiten. Ihr Buch ist eine Art Gebrauchsanweisung für den Umgang mit Sterben und Tod. Durch jahrzehntelange Erfahrung und viele Fallgeschichten nähert sie sich dem Thema aus verschiedenen Richtungen: medizinisch, psychologisch, spirituell, mit einer Prise Humor und jeder Menge Herzlichkeit. Einfühlsam und berührend beschreibt Karin Simon, was am Ende wirklich zählt, und gibt praktische Anleitungen, um sich möglichst gut auf die letzte Reise vorzubereiten.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Herzlich willkommen

Ich verrate Ihnen ein Sterbenswörtchen

Auf einmal war ich tot und habe es gar nicht gemerkt!

Schweigen wie ein Grab

Sterben ist keine neue Erfindung

Galgenhumor

Wir alle sind schwanger mit unserem Tod

Happy End

Mutterseelenallein

Das Märchen vom Tod

Unsere Begleiter von Anfang bis Ende: Schutzwesen

Zwischen Blaukraut und Kirchhofrosen

Die sichtbaren Boten des Todes

Letzte Hilfe

Die Seele weiß, wann es Zeit ist, heimzugehen

Dem Tod von der Schippe springen

Lass mich nicht im Stich!

Familiengeheimnisse

Lass dich nicht im Stich

Der Tod ist ein heißer Brei

Das große Los

Die letzten Worte

Ich mach mich vom Acker

Leben ist eine Kunst

Highway to Hell

Die fünf Phasen des Sterbens

Erste Phase: Nicht-wahrhaben-Wollen, Leugnen und Isolierung

Zweite Phase: Zorn

Dritte Phase: Verhandeln

Vierte Phase: Depression

Fünfte Phase: Annehmen, Zustimmung

Leichen im Keller

Fasching ohne Frieda

Der letzte Wunsch

Das Vogerl

Talent zum Tod

Sterbeamme

Himmelfahrtskommando

Entpuppt

In den Wehen des Sterbens

Atempause

Sabines Amselarie

Du bist fort und ich bin noch da

Nach-Tod-Erfahrungen

Trauerzeit

Tabuzone Trauer

Die vier Phasen des Trauerns

Erste Trauerphase: Nicht-wahrhaben-Wollen

Zweite Trauerphase: Aufbrechende Emotionen

Dritte Trauerphase: Suchen und Sich-Trennen

Vierte Trauerphase: Neuer Selbst- und Weltbezug

Trauer ist keine Krankheit

Trau dich!

Dank

Zum Weiterlesen

Hilfreiche Adressen

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Es geschieht überall und immer. Dass jemand, den wir gut kennen, schätzen, lieb haben, plötzlich weg ist oder es aller Voraussicht nach bald sein wird, weil er eine verheerende Diagnose erhalten hat.

Irgendwann ist jeder dran.

Sucht man dann das Weite, weil Tod und Trauer ansteckend sein könnten? Oder hat man den Mut, dem Menschen beizustehen? Was letztlich bedeutet, dass man sich selbst nicht im Stich lässt, denn man hat dann schon mal ein bisschen geübt.

Irgendwann ist jeder dran. Auch ich. Auch Sie.

 

… Wenn man nur wüsste, wie man damit umgeht …

Was man in so einer Situation sagt …

Wie man sich einem Sterbenden gegenüber verhält …

Und später bei der Begegnung mit Trauernden …

Oder falls Sie selbst trauernd einen nahen Menschen schmerzlich vermissen …

 

Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, wissen Sie mehr – und vermutlich ist Ihre Angst vor dem Unvorstellbaren geschrumpft. Womit wir uns befassen, dem nehmen wir den Schrecken. Sogar der Tod zeigt dann ein anderes Gesicht. So erlebe ich es in meinen Begleitungen und Seminaren.

 

Herzlich willkommen in einem Tabu-Land.

 

Ihre Karin Simon

Ich verrate Ihnen ein Sterbenswörtchen

In jedem Leben gibt es Herausforderungen, Prüfungen. Man macht vielleicht Abitur oder den Führerschein. Oder lässt es bleiben. Vor einigen großen Herausforderungen kann man sich nicht drücken. Krankheiten und Krisen fragen nicht um Erlaubnis, ehe sie eintreten. Aber kurioserweise stellt man im Nachhinein oft fest, dass ihre Bewältigung das Leben bereichert hat: weil man das Leben erst richtig zu schätzen gelernt hat.

Im Falle des eigenen Todes hilft Prüfungsangst wenig. Petrus oder wer auch immer an der Tür steht, wird wohl kaum ein Attest entgegennehmen, das bescheinigt, dass das Sterben auf unbestimmte Zeit verschoben werden müsse. Gestorben wird, das ist so, denn: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer geboren wird, muss oder darf auch sterben.

Mit diesen zwei Wörtern, muss oder darf, ist schon viel gesagt. Ich werde trotzdem noch ein paar mehr benötigen, um Ihnen, meine lieben Leserinnen und Leser, vom Sterben zu erzählen. Dass das vielseitig ist, erschließt sich schon aus der Schreibweise. Wir haben den Tod mit d und sind tot mit t. Woher ich das weiß? Bin ich vielleicht schon mal gestorben?

Nein, nur fast. Als Dreijährige wäre ich beinahe ertrunken und ein paar Jahrzehnte später fast an Krebs gestorben. Dazwischen und auch heute noch habe ich als Krankenschwester und Sterbeamme Hunderte von Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet und unzählige Gesichter des Todes gesehen. Meistens breitet sich am Ende ein großer Friede aus, und oft bleibt als Letztes ein Lächeln.

 

Ich bin fest davon überzeugt, dass man dem Tod eine gute Landebahn bereiten kann. Damit es weniger holpert, weil die Angst nicht an Bord ist. Zum Beispiel mit einer Sterbeamme als Fluglotsin. Einer wie mir. Was genau sich hinter diesem Begriff verbirgt, erfahren Sie natürlich auch in diesem Buch, und vieles mehr, was hoffentlich Licht ins Dunkel bringt, das gar nicht so dunkel ist, wie man landläufig glauben mag.

Bitte keine Sterbensangst: Sie werden sich nicht totlachen! Aber Schmunzeln und Lächeln und auch Lachen sind erwünscht, und hoffentlich gestatten Sie es sich. Denn so was tut man ja eigentlich nicht. Also bei uns. Tod und lustig, das geht nicht zusammen. Das merke ich auch zu Beginn meiner Auftritte als Kabarettistin mit meinem Programm »Zum Sterben schön«. Zuerst sitzt das Publikum ein wenig verkrampft im Saal, obwohl es den Mut hatte, sich auf ein »Sterbekabarett« einzulassen. Die ersten Lacher sind noch verhalten … darf man denn über so was lachen? Nach drei, vier Nummern vergessen die Zuschauer*innen ihre Zurückhaltung und amüsieren sich einfach. Oft gibt es vor dem Applaus eine Pause, einen nachdenklichen Moment, in dem der eine und die andere für sich etwas erkennt, sich merken will. Heiter geht es weiter, und heiter geht es leichter. Auch und gerade ganz zum Schluss. Doch leider wird das landläufig als geschmacklos verurteilt oder als Blasphemie.

 

Ich bin sehr evangelisch erzogen worden und war oft mit meiner Mutter in der Kirche. Später habe ich auch bei Kindergottesdiensten mitgearbeitet. Einmal, es war Ostern, besuchte ich mit meiner Zwergerl-Gruppe den Gottesdienst. Am Tag zuvor hatte ich ihnen von Jesus am Kreuzweg erzählt und dass die Jünger um seine Kleidung würfelten. Mitten in die Stille der Andacht platzte ein Sechsjähriger heraus, der zuvor lange und nachdenklich auf das große Kreuz über dem Altar geblickt hatte. »Tante Karin, der Jesus ist ja gar nicht nackig. Der hat eine Unterhose an. Sogar aus Gold.«

Nach einer Schrecksekunde lachte die Gemeinde laut los. Nur einer hielt stand, die Bibel unerbittlich in der Hand: unser Herr Pfarrer. Nach dem Gottesdienst bat er mich, der Kirche künftig fernzubleiben, da ich wohl nicht verstanden hätte, dass dies ein Ort des Ernstes sei. Ich glaube, er sagte sogar »heiliger Ernst«. Es gibt aber auch eine heilige Heiterkeit! Die fühlt sich nicht nur gut an, sie ist auch heilsam!

Im Laufe der Jahre habe ich mir einen Werkzeugkoffer zusammengestellt, um die Reise ins Jenseits zu erleichtern und die Bleibenden in der Abflughalle zu unterstützen. Dabei haben mir meine zahlreichen Ausbildungen geholfen, unter anderem zur Krankenschwester, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Sterbeamme, Traueramme und freie Trauerrednerin. Die Sterbeamme begleitet die Reisenden, die Trauerrednerin gestaltet den Zwischenraum, die Traueramme kümmert sich um die Dagebliebenen.

 

Wenn wir Nähe zu Sterbenden zulassen, und das wird in diesem Buch geschehen, sind wir mit unserer eigenen Endlichkeit konfrontiert. Diese Tatsache ist kein Drama, sondern normal. So ist es und Punkt. Man lehnt sich doch auch nicht dagegen auf, dass man zwei Arme hat. Wenn Sie es genau betrachten, dann freuen Sie sich vermutlich über dieses Wunder. Zwei Arme, zwei Hände, zehn Finger zum Entdecken, Essen, Werkeln, Zärtlich- und Kreativsein, jeder Finger ein Schlüssel zur Welt. Und dann fällt Ihnen vielleicht ein, dass es Menschen gibt, die haben einen Finger oder zwei oder sogar eine ganze Hand, einen Arm verloren. Da wird Ihnen Ihre Hand gleich noch kostbarer, richtig? Vielleicht nehmen Sie sich vor, sie ab sofort wertzuschätzen. Jeden Tag einmal, beschließen Sie, streichle ich bewusst mal drüber. Danke, Hand. Schön, dass du da bist. Doch nach einer Weile vergessen Sie es. Vielleicht begegnen Sie irgendwann einem Menschen mit Gicht oder mit einer nach einem Schlaganfall gelähmten Hand. Da fällt es Ihnen wieder ein, und Sie fragen: Kann ich dir zur Hand gehen? Und dann tun Sie etwas für ihn, und Sie merken, dass Sie es auch für sich tun. Fast fühlt es sich an, als hätten Sie eine dritte Hand geschenkt bekommen. Eine gebende. Und das macht glücklich, stimmt’s?

Wir alle sind miteinander verbunden. Wir vergessen es nur manchmal. Ohne Hilfe wären wir nicht auf die Welt gekommen. Keiner von uns wird allein geboren, es ist zumindest eine Mutter da und sehr oft helfende Hände. Und so sollte es auch am Ende sein und war es auch einmal weit verbreitet, als der Tod noch nicht ausgelagert war. Die Verwandtschaft versammelte sich am Sterbebett, ganz ohne Umstände, saß und wartete. Hin und wieder seufzte jemand, schüttelte ein Kissen auf, streichelte mitfühlend eine Wange. Keiner kam auf die Idee, bei einer Psychologin anzurufen und zu fragen, ob der kleine Max einen bleibenden Schaden davontragen würde, wenn er den Opa a) krank und b) als Leiche sieht.

Heute werden Kranke, Alte, Sterbende und Tote vielerorts aus dem Alltagsleben entfernt und professionellen Kräften übergeben. Was mit Sterben und Tod zusammenhängt, läuft Gefahr, zum Tabu zu werden. Oder ist es schon. Den Tod, den wir vor Augen haben – jeden Tag dutzend- oder hundertfach, je nachdem, wie lange wir vor dem Bildschirm sitzen –, der ist virtuell, nicht aus Fleisch und Blut. »Echte« Tote, vielleicht die Eltern oder Großeltern, haben die wenigsten Menschen gesehen, dafür aber Tausende von Leichen im Fernsehen.

 

Bei unserem ersten Atemzug, wenn sich unsere Lungen entfalten, wenn wir zum Erdenbürger werden … In diesem Moment werden wir befruchtet vom Tod, der in uns heranwächst, um am Ende unseres Lebens geboren zu werden. Leben heißt, schwanger zu sein mit dem Tod. Eine ungewöhnliche Vorstellung? Gruselig? Das ist Einstellungssache, und an der will ich mit diesem Buch ein wenig drehen. Denn es bringt ja nichts, sich gegen Dinge aufzulehnen, die unveränderbar sind.

Auf einmal war ich tot und habe es gar nicht gemerkt!

Es ist schnell dahingesagt: Irgendwann bin ich dran. Aber ganz tief drin, da gibt es eine Hoffnung, einen Kinderglauben, dass das nicht sein kann. Dass man eine Ausnahme ist oder zumindest: dass es dann, wenn es schon sein muss, ganz schnell geht. Idealerweise im Schlaf. Auf einmal war ich tot und habe es gar nicht gemerkt. Doch das erscheint nur auf den ersten Blick verlockend. Auf den zweiten könnte es sein, dass uns dann eine Menge entgeht. Ein Leben ohne Tod, das ist eben nur ein halbes Leben. So verrückt es klingt: Erst das Bewusstsein über den Tod macht das Leben bunt, intensiv und vor allem – es inspiriert zur Selbstverwirklichung. Dass man sein eigenes Leben lebt. Nicht das, was andere Leute glauben, was man tun sollte. Ach, es ist noch viel verflixter: Denn oft leben wir so, wie wir glauben, dass andere wollen, dass wir leben, was wir aber gar nicht merken. Hospizhelfer berichten, dass Menschen ein bewusst gelebtes Jahr intensiver empfinden können als zehn, die einfach so vergangen sind, und sogar sagen, dass sie den Preis dafür gerne zahlen: ihren Tod. Und dass sie nun gut Abschied nehmen können – weil sie wissen, wovon und dass es sich gelohnt hat.

 

Sie merken vermutlich, dass es in diesem Buch vom Sterben vor allem um das Leben geht. Nicht nur, weil ich noch nie einen Toten mit einem Buch in der Hand gesehen habe. Wozu auch? Wer »drüben« ist, der hat Antworten statt Fragen. Der glaubt nicht oder ahnt, der weiß. Ich glaube auch etwas, nein, ich lehne mich aus dem Fenster und sage: Ich weiß es. Dass nämlich jeder Mensch in sich die Fähigkeit hat, durchs Schlüsselloch zu blicken und die Verbindung zum hellen Leuchten unserer geistigen Welt wahrzunehmen. Weil ich so aufgewachsen bin und weil ich sie in meinem Sterbekabarett auf der Bühne so anspreche und in meinen Liedern besinge, nenne ich diese höhere geistige Welt in meinem Buch hin und wieder »lieber Gott«. Wenn ich einen Namen für meinen Glauben finden sollte, würde ich sagen, dass ich an die Schöpfung glaube, die sich in der Natur offenbart, ja, vielleicht steckt eine bayerische Schamanin in mir. Manchmal öffnet sich das Fenster ins Jenseits, in die Anderswelt einen Spalt. Sehr häufig ist das so, wenn man einen Menschen bei seinem Übertritt begleitet. Damit erweist man nicht nur diesem Menschen einen großen Dienst, sondern auch sich selbst. Irgendwann ist jeder an der Reihe, und es schadet nicht, wenn man schon mal ein bisschen geübt hat.

Wir würden doch auch niemals im Leben unvorbereitet in Prüfungen, Konfliktgespräche, zu einem ersten Rendezvous gehen. Wir prägen uns ein, was wir wissen müssen, wir entwickeln Strategien und frisieren und rasieren uns sorgfältig. Der Tod aber erwischt uns kalt, wir begegnen ihm erstaunt, als hätten wir noch nie von ihm gehört. Ups, wie jetzt? Ich soll abtreten? Unverzüglich? Wo sind die Jahre geblieben, und Moment mal, dagegen bin ich doch immun, das trifft doch immer nur die anderen.

 

Ich selbst habe den Tod zuerst als grausam und ungerecht erfahren. Ich habe ihn gehasst. Er hat mir das Liebste genommen, da war ich erst fünfzehn: meine Mutter. Danach quälten mich schreckliche Vorwürfe. Dass ich ihr nicht richtig geholfen hätte, dass ich bei ihr hätte bleiben müssen. Aber ich war weggelaufen. Feige, schalt ich mich. Und dachte damals, ich könnte es nie wiedergutmachen. Ich war zu schwach gewesen, warf ich mir vor. Der Tod stand meiner Mama nicht gut, wie es in einem Film heißt. Noch ehe er sein Werk vollendet hatte, hatte er Besitz von ihr ergriffen, so schlimm, dass es mich sogar ekelte. Vor meiner eigenen Mutter! Mein schlechtes Gewissen schien mich zu zerfleischen. Am schlimmsten war, dass ich es nicht rückgängig machen konnte. Jetzt war sie nicht mehr da.

Doch etwas anderes kam in dieser schweren Zeit zu mir: ein helles, strahlendes Licht. So etwas Gleißendes, Schönes hatte ich noch nie gesehen. Auf einmal wurde alles ruhig und gut und friedlich. Sehr verwirrt, doch auch seltsam getröstet lernte ich, ohne meine Mutter zu leben – und auch ohne meinen Vater, der sich dem Alkohol zuwandte und bald einer anderen Frau, wie es so viele tun, die sich ablenken und schnell vergessen wollen. Viel später erst, als ich von diesem unvergesslichen Licht auch in den Erzählungen anderer Menschen hörte, begriff ich, was meine Mutter mir mit diesem Licht sagen wollte: Alles ist gut! Und tatsächlich, auch wenn sie körperlich nicht mehr anwesend war, so war sie es doch auf eine andere Art, die ich zuerst unbewusst, später bewusst wahrzunehmen lernte. Seither haben mir zahlreiche Trauernde von den Botschaften erzählt, die sie von ihren Verstorbenen erhalten haben. Im Kapitel über Nach-Tod-Erfahrungen werde ich einige davon schildern. Auch wenn es uns so erscheinen mag, als wären Diesseits und Jenseits unwiderrufbar voneinander getrennt: Es gibt Brücken. In anderen Kulturen werden diese ganz selbstverständlich begangen, da gilt diese strikte Trennung nicht, die bei uns üblich ist.

Heute bin ich überzeugt davon, dass es der bessere Weg ist, den Tod nicht auszuschließen. Denn das, worum es wirklich geht, kann man nicht vergessen oder verdrängen. Man kann es einladen an den eigenen Tisch, es gut bewirten, um am Ende vielleicht ebenso gütig bedacht zu werden: mit einem leichten Tod wie einer Nachspeise. Aber gewiss ist das nicht. Es ist überhaupt nichts sicher rund um das Thema Tod, und das macht es so spannend. Am Ende des Lebens lüften wir das tiefste Geheimnis und erleben unser größtes Abenteuer. Auch Woody Allen scheint trotz beträchtlicher Skepsis damit zu rechnen: »Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, werde aber ein Paar Unterhosen zum Wechseln mitnehmen.«

 

Nach dem Tod meiner Mutter stieg eine Frage in mir auf.

Was heißt hier eine, es waren Dutzende! Was genau hat es mit dem Sterben auf sich? Wenn jeder sterben muss, warum weiß man so wenig darüber? Wenn man geht, wie es heißt, wohin geht man? In einen Himmel? In Bayern in einen weiß-blauen katholischen? Bei den Preußen in einen protestantischen? Und gibt es einen internationalen Himmel? Wie reden die da, reden die überhaupt? Und wenn die Hinterbliebenen hinten geblieben sind, was ist dann vorne? Kann man schon zu Lebzeiten ein Ticket für eine bequeme Reise lösen? Und wo steigt man aus, nachdem man den Bahnhof Erde verlassen hat?

Über das Ziel kann ich Ihnen nur das sagen, was ich selbst glaube, nein, weiß. Heute spreche ich alle Sterbensängste an. Totschweigen kommt auch in meinem Kabarettprogramm nicht vor, und ich kenne eine Menge todsicherer Tipps. Letztlich geht es darum, eine große Angst, die vielen Menschen nicht bewusst ist, sicht- und spürbar zu machen und sie anzunehmen, damit sie schrumpft. Das erlebe ich täglich in meinen Gesprächen, Seminaren, Coachings, Begegnungen und natürlich auf der Bühne.

Ich bin sehr dankbar und froh, dass ich so viele Menschen unterstützen durfte. Ich habe Hände gehalten, Wangen gestreichelt, als Clown im Altenheim Witze erzählt und Quatsch gemacht und als Krankenschwester Augen sanft geschlossen, als Sterbeamme Abschiede begleitet. Seit nunmehr zwölf Jahren bin ich Sterbe- und Traueramme, Trauerbegleiterin und -rednerin und Clown. Sterben und Amme? Trauer und Clown? Wie geht das zusammen? Meiner Meinung nach unbedingt, denn Humor erleichtert nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben. Wer einem Sterbenden die Hand gehalten hat, ist danach ein anderer Mensch. Ich bin überzeugt davon, dass das Leben nur mit dem Bewusstsein seiner Endlichkeit wirklich rund ist – und schöner. Man muss nicht ständig daran denken. Einfach hin und wieder, auch als Erinnerung für die eigenen Werte, die wirklich wesentlichen Dinge im Leben. Was für eine Befreiung, für ein Glück, wenn man dann feststellen kann: Im Großen und Ganzen habe ich getan, was ich wollte, bin ich meinen Überzeugungen gefolgt. Wer dem Tod bewusst einen Platz im Leben einräumt, installiert ein Korrektiv. Ich halte das für gesund, denn es kostet sehr viel Kraft und Energie, den Tod zu verdrängen. Die kann man auch anders nutzen.

 

In meinen fünfunddreißig Jahren als Krankenschwester saß ich nachts oft an den Betten von Menschen, die ich kaum kannte und die mir in diesen Momenten doch so nah waren, wie es kaum näher geht. Es gibt keinen Small Talk, keine Oberflächlichkeit und Äußerlichkeiten am Ende. Da geht es ans Eingemachte. Alles ist pur und nackt, so, wie wir auf die Welt gekommen sind.

Ich sitze an einem Bett und höre dem Schnaufen zu. Und noch ein Atemzug. Und die Pause. Und noch einer. Und dann Stille. So wie der Atem aus der Stille kam bei der Geburt, wenn sich die Lungenflügel entfalten. Zwischen diesen Polen, Geburt und Tod, findet das Leben statt. Was dazwischen geschieht, die Zahl unserer Atemzüge, die wir tun, die Zahl unserer Herzschläge, ist ungewiss.

Indem wir auf die Welt kommen, sind wir schon schwanger mit dem Tod. Aber im Gegensatz zu einer Schwangerschaft mit dickem Bauch weiß man nicht, wie lange diese dauert. Es könnten tatsächlich nur Monate sein. Meistens sind es nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte, manchmal ein ganzes Jahrhundert, bis der Tod, der im Leib herangereift ist, zur Welt kommt. Niemand kennt den Geburtstermin seines Todes. Oft kündigt er sich jedoch an. Keine Fruchtblase platzt, aber es kann zu anderen Lecks kommen. Es gibt untrügliche Zeichen, nicht nur körperlich, sondern auch die Seele macht sich am Ende der Erdenzeit zum Abflug bereit. Nur noch wenige Menschen können diese Zeichen lesen oder wollen sie erkennen. Heute verlässt man sich gern auf Hightechmedizin. Da muss man nichts spüren, man sieht alles auf einem Bildschirm. Daraus folgt eine vermehrte Entfremdung, eine Unsicherheit unseren Körper betreffend und auch im Umgang mit Sterben und Tod. Wir verlernen Empathie. Auch wenn wir wollten, wenn wir gern die Hand einer sterbenden Freundin, eines Familienmitgliedes halten möchten … es gruselt uns vielleicht ein bisschen. Wir haben Angst, einen Fehler zu begehen, das Falsche zu tun oder zu sagen und gleichzeitig, wenn wir es unterlassen, Angst, dass wir es bereuen werden. Wir trauen uns nicht zu fragen. Es ist so ähnlich wie beim Sex: Er wird besser, wenn man darüber spricht. Dazu fehlt aber vielen Menschen der Mut. Dabei wäre es so wichtig, miteinander zu reden! Für die, die gehen, wie für die, die bleiben. Aber wer sagt uns, was richtig und falsch ist, wenn wir keine Vorbilder haben? Zum Beispiel das einer Sterbeamme?

 

An einem Sonntagabend rief mich eine Familie an. Morgen sollte die Oma aus dem Krankenhaus kommen, weil sie unbedingt daheim sterben wollte. Diesen Wunsch wollte ihr der Sohn gern erfüllen. Auch seine Ehefrau und die Zwillingstöchter, die mit im Haus lebten, hatten Ja dazu gesagt. Doch jetzt wurden sie unsicher und mehr noch: Sie hatten Angst. Was würde auf sie zukommen? Waren sie der Situation gewachsen? Wie sollten sie mit der Mutter, der Oma umgehen? Wie begleitet man eine Sterbende? Worauf muss man achten? Fragen, die mir immer wieder gestellt werden und die im Grunde genommen einfach zu beantworten sind, wenn wir es wagen, auf die Stimme unseres Herzens zu hören. Wenn wir den Mut haben, uns an die Stelle des Sterbenden zu versetzen. Was würden wir selbst uns wünschen?

Schweigen wie ein Grab

Oft glauben Angehörige, sie müssten die Sterbenden schonen. Auch vor ihrer angeblich dunklen Zukunft, vor der sie selbst womöglich viel mehr Angst haben als der oder die Sterbende. Der ist vielleicht auch schon älter. Für sie wird es Zeit. Aber statt die letzten Wochen oder Tage zu nutzen, macht sich Sprachlosigkeit breit, man sagt nicht, was einen bewegt, und trennt sich dadurch voneinander. Dabei wäre gerade jetzt Aufrichtigkeit wichtig, denn sie stärkt beide, die Gehenden und die Bleibenden. Oft stellt sich die Situation so dar, dass die Angehörigen die Sterbenden ablenken, alles vermeiden wollen, was sie an ihren Tod erinnern könnte. Aber diese Menschen müssen nicht daran erinnert werden, sie wissen es, sie spüren es. Der Tod steckt uns im Leib, zumal die Oma ja, wie in diesem Fall, zum Sterben nach Hause gekommen war, um von dort final heimzugehen.

Ich lernte die Familie am nächsten Tag kennen; die Oma war seit drei Stunden im Haus. Schon im Flur spürte ich die seltsame Atmosphäre. Als wäre das Haus mit Watte ausgestopft. Eine Enkeltochter flüsterte, ihre Mutter huschte mit gesenktem Kopf an mir vorbei, ihr Gatte hatte ein verweintes Gesicht. Dieser bedrückte Ort war nicht ideal zum Sterben. Ich nahm aber nicht nur Ratlosigkeit, Angst und Trauer wahr, sondern auch etwas Ungeklärtes. Zahlreiche Menschen tun sich schwer mit dem Sterben, weil sie noch etwas Unerledigtes im Keller ihrer Existenz haben. Dabei haben wir doch von unseren Müttern gehört, dass man vor einer Reise die Wohnung aufräumen soll, denn was ist, wenn ein Wasserschaden passiert und die Feuerwehr reinmuss. Genauso zieht man vor einem Arztbesuch saubere Unterwäsche an.

Manchmal scheinen es Kleinigkeiten zu sein, die Menschen den letzten großen Abschied unmöglich machen. Kein Außenstehender kann sich anmaßen zu wissen, welche Bedeutung diese scheinbaren Kleinigkeiten haben. Wer die Hände voll hat, kann nicht loslassen. Und darum geht es am Ende, um das letzte große Loslassen. Ich sehe das so: Wenn du dich mit dem Tod beschäftigst, steht dein Leben auf dem Kopf. Und wenn dein Leben auf dem Kopf steht, fällt alles aus den Taschen, was du nicht mehr brauchst. Und leichter und heiter schreitest du weiter.

Mit der Zeit habe ich ein Gespür für Unerledigtes bekommen. So wie ein Trüffelschwein wittere ich Konflikte. Solche »unerledigten Geschäfte« hindern uns laut der Schweizer Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross am Sterben. Ich bin sehr dankbar, dass ich dieser beeindruckenden Persönlichkeit vor vielen Jahren bei einem Vortrag leibhaftig begegnet bin. Bis heute ist ihr Appell, die »unerlädigten« Dinge, die sie in wohlklingendem Schweizer Dialekt beschrieb, zu klären, ein roter Faden meiner Arbeit. Für Elisabeth Kübler-Ross war der Tod ein Übergang in eine andere Frequenz. Sie hielt das Leben für schwerer als den Tod und die Angst vor dem Tod für unbegründet. In vielem schließe ich mich ihrer Meinung an, zumal ich ihr Phasenmodell in meiner Praxis mit kranken und sterbenden Menschen bestätigt sehe.

Das »unerledigte Ding« in diesem Haus lag dem Sohn der Sterbenden auf der Leber. Nachdem wir uns über den neuen Alltag der Familie in dieser schwierigen Situation unterhalten hatten und ich allen erklärt hatte, dass sie sich bitte normal verhalten sollten, um ihrer lieben Mutter und Oma einen guten Abschied zu ermöglichen, vertraute mir der Sohn an, dass er sein Leben lang unsicher gewesen war, ob er wirklich der Sohn seines Vaters sei. Er hatte einen anderen Kandidaten im Sinn, nämlich den besten Freund seines Vaters. Es gab wohl im Lauf der Zeit gewisse Andeutungen und auch körperliche Ähnlichkeiten, doch er hatte sich lange nicht mehr mit dem Thema beschäftigt. Und na ja: »So was kann man seine Mutter doch nicht fragen. Andererseits: Wenn ich es jetzt nicht tue, nimmt sie die Wahrheit mit ins Grab.« Ja, es liegen viele Wahrheiten in Gräbern und quälen die Dagebliebenen. Hätte ich doch ist keine Antwort, wenngleich es sicher manches gibt, was in einem Grab gut aufgehoben ist. Nicht umsonst heißt es: Ich kann schweigen wie ein Grab.

Zwei Tage später erzählte mir der Sohn, dass seine Mutter unendlich erleichtert war, dass er seine brennende Frage gestellt hatte. Wie hätte sie selbst das Thema zur Sprache bringen können … Eine Woche darauf starb sie, und alle Familienangehörigen waren berührt und beschenkt von diesem Abschied, der ihnen auch ein Stück weit die Angst nahm. So etwas macht mich immer froh. Man hat einfach zu wenig Ahnung vom Sterben und dem Tod. Wer weiß zum Beispiel, dass man auch einen im Krankenhaus Verstorbenen nach Hause holen und ihn dort – je nach Bundesland unterschiedlich lange und bitte nicht in der Küche – aufbahren darf, um Totenwache zu halten, damit sich Freunde und Familie verabschieden können. Bedenkt man, dass ein gelungener Abschied die Weichen stellt für das Weiterleben ohne einen lieben Menschen, dann begreift man, wie wichtig er ist. Vielen fällt das leider erst auf, wenn es zu spät ist. Doch es ist nie zu spät! Man kann sich auch von einem bereits verstorbenen Menschen verabschieden. Loslassen ist eine Lebensaufgabe.

 

Für Außenstehende mögen manche der »unerledigten Dinge« wie Bagatellen wirken, doch für die Betroffenen hängen sie wie Bleigewichte an einem Abschied und können ihn be- und erschweren. Kurios ist es, dass manches im Lauf des Lebens in Vergessenheit geraten ist. Im Angesicht des Todes tauchen die Themen wieder auf. Der nahende Tod zieht den Schleier weg, und dann ist man konfrontiert mit ollen Kamellen, auch mit Erinnerungen, für die man sich vielleicht schämt. Doch sie verlangen nach Klärung, sowohl beim Sterbenden als auch bei der Bleibenden, die einen guten Abschied herbeiführen möchte, weil ihr schwant, dass sie sonst gegebenenfalls damit weiterleben muss, eine letzte Chance versäumt zu haben. Oft geht es hier um Verzeihen, und zwar auf beiden Seiten. Wobei das nicht bedeutet, dass man etwas gutheißt. Man verzeiht es. Man muss es nicht vergeben. Verzeihen bedeutet, dass man seine Geschichte annimmt: Sie gehört zu mir. Dieses Annehmen ist die Voraussetzung für Frieden.

Den meisten Angehörigen, Kranken, Sterbenden, den Reisenden und den Bleibenden geht Ähnliches durch den Kopf. Der Tod verbindet uns miteinander, dieses Schicksal teilen wir alle. Zum Glück gibt es heute viele Bücher über Tod, Trauer und Sterben. Dass Sterbeammen dabei unterstützen, ist vielen Menschen aber nicht bekannt. Das möchte ich gerne ändern. Genauso wie die Tatsache, dass man sich wegen »schlechter« Gedanken rund um den Tod schämt. Wenn man an Gott glaubt, darf man sich doch nicht so fürchten? Wenn man seinen Mann liebt, darf es einem doch nicht vor ihm grausen? Gut, dass keiner weiß, dass ich mir nur eins wünsche: dass er endlich tot ist. Ich kann nicht mehr … Oder auch: Ich weiß nicht, wie ich ohne sie leben soll – und deshalb soll eine »dem Tode geweihte Patientin« schmerzhafte Prozeduren für eine minimale Lebensverlängerung auf sich nehmen, wenngleich sie austherapiert ist …

Tatsache ist: Wenn man seine eigenen Tränen noch nicht geweint hat, ist man keine gute Begleitung für einen Sterbenden. Wenn ich Angst vor dem Tod habe, wie soll ich einem anderen Menschen die Angst mildern oder gar nehmen? So gehört es zur Ausbildung einer Sterbeamme, dass sie sich mit ihrem eigenen Schatten konfrontiert. Deshalb steht in meinen Seminaren zur Sterbebegleitung, die ich seit vielen Jahren gebe, der erste Tag ganz im Zeichen der eigenen Vorstellung über den Tod. Die schauen wir uns intensiv an, die müssen wir kennen und klären, ehe wir weitergehen und dann anderen die Hand reichen, ob sie nun sterbend oder krank sind. Diese Haltung findet man aber nicht einmal und behält sie bis zum Sankt Nimmerleinstag. Es ist ein ständiges Herantasten, ein immer wieder neues Ringen und In-die-Kraft-Kommen. Ich bete und bitte vor jeder Begegnung und Begleitung um Führung. Ich weiß, dass ich nur ein Werkzeug bin. Damit ich das sein kann, meditiere ich regelmäßig und schöpfe viel Kraft aus der Natur. Wer sich mit dem Tod beschäftigt, braucht einen guten Stand, sonst haut er einen um. Für die Sterbenden, die Trauernden, die Angehörigen bin ich manchmal ein Fels in der Brandung ihrer Katastrophe. Da muss ich auch Orkane und schwere Brecher aushalten können, also gut verankert sein in meiner Spiritualität. Wenn ich in meinem Leben zurückschaue, finde ich viele Situationen, die auf meine Verbindung in die geistige Welt schließen lassen. Doch über lange Jahre hinweg wusste ich das nicht. Richtig aufgefallen ist es zuerst anderen. Noch als Lernschwester riefen meine Kolleginnen in der Klinik mich, wenn jemand im Sterben lag. Es hatte sich herumgesprochen, dass ich keine Berührungsängste hatte, »ein Händchen dafür«, hieß es. Aber es war nicht bloß ein Händchen, es war auch ein Köpfchen oder Herz. Denn manchmal nachts – ich liebte die Nachtdienste –, wenn ich in einem Zimmer zu tun hatte, spürte ich aus einem anderen Zimmer durch die Stille ein Rufen. Ein Sog zog mich dorthin, auch wenn ich gerade bei dieser Patientin gewesen war, auch wenn es bei ihr aktuell nichts zu tun gab, die Infusion lief. Ich klopfte, trat ein und sah, dass das aktive Sterben begonnen hatte. So setzte ich mich an das Bett der Patientin, hielt ihre Hand und teilte mir die folgende Arbeit so ein, dass ich viel Zeit mit ihr verbringen konnte. Natürlich informierte ich die Angehörigen und den diensthabenden Arzt. Vor allem aber blieb ich bei diesem Menschen.

 

Ein Grund für mein Ausscheiden aus der Klinik nach fünfunddreißig Jahren liegt darin, dass wir als Pflegepersonal immer weniger Zeit hatten für das, weshalb viele von uns diesen Beruf gewählt haben. Wir sind nur noch gerannt, es gab viel zu viele Patienten für eine Krankenschwester, einen Pfleger, und gar keine Zeit mehr, sich an ein Bett zu setzen. Wie Leistungssportlerinnen hetzten wir von Zimmer zu Zimmer, immer mit dem Gefühl, es nicht zu schaffen. Am Ende nahm ich mein Rennrad mit in die Klinik und trat in die Pedale, um über die langen Flure schnell bei einem Patienten zu sein, das ist kein Witz!

Ich trug viel Leid mit nach Hause, und eines Tages hatte ich keine Kraft mehr. Eigentlich habe ich ziemlich lange durchgehalten, denke ich heute und bin froh, dass alles so gekommen ist, denn seit zwölf Jahren arbeite ich endlich so, wie ich es möchte: Ich habe alle Zeit der Welt, um andere so zu begleiten, wie es für sie stimmig ist. Und dann stimmt es auch für mich.

So, wie jeder Mensch einzigartig ist und lebt, stirbt er auch einzigartig. Jedes Sterben ist anders. Wie genau, das weiß man erst ganz zum Schluss. Und das ist gut so.

Sterben ist keine neue Erfindung

Es kommt mir so vor, als hätten die Leute früher viel mehr über den Tod gewusst, obwohl wir heute sogar verschiedene Tode definieren können zwischen Hirn-, Herz- und Nahtod. Der eigentlich ein Ferntod ist. In Büchern und Filmen gibt es immer wieder eine Szene wie diese: Ein Mensch legt sich zu Bett und bittet, die Familie zusammenzurufen: »Es geht zu Ende mit mir.« Wie kann er das wissen, ohne Ultraschall und Röntgen? Ich bin überzeugt davon: Die Seele weiß es! Sie ist es, die entscheidet, wann es so weit ist, nicht die Diagnose. Wenn Ärzt*innen drei Monate Lebenszeit einräumen und die Seele noch drei Jahre braucht, dann wird es eben noch drei Jahre dauern. Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht. Die Seele ist zwar schwer fassbar und keiner weiß, wo sie sitzt, doch wir können Kontakt mit ihr aufnehmen – zum Beispiel durch Meditation und Gebet.

Doch unser eigenes Gefühl wird heute vielerorts von Maschinen entmachtet oder gar ersetzt. Wir erhalten Diagnosen, die ein Zeitlimit setzen, und Maschinen und Medikamente sorgen dafür, dass dieses Limit ausgedehnt wird. Glauben wir. Ich glaube, dass das Aberglaube ist. Dass wir den wahren Steuermann, die wahre Steuerfrau oft gar nicht kennen.

Die meisten Menschen wünschen sich, in einer vertrauten Umgebung zu sterben. Am liebsten zu Hause im Kreise der Familie, ihrer Freundinnen und Freunde. Hospize und Hospizvereine helfen hier weiter. Oder man ruft eine Sterbeamme an. Vor allem geht es um die eigene Entscheidung, einen lieben Menschen auf seinem letzten Stück Weg zu begleiten. Das kann im Grunde jede*r, wie auch jede*r in die Situation kommen kann, Geburtshelfer zu werden. Und was macht man dann? Man sorgt für heißes Wasser, das kennt man aus dem Kino, wenngleich nie erklärt wird, wozu.

Auch im Umgang mit Trauernden fehlen uns Vorbilder. In unseren Breiten gibt es keine Klageweiber mehr, der Tod ist optimiert worden, sodass sich Trauernde manchmal fühlen, als hätten sie eine ansteckende Krankheit: Man meidet sie, so höre ich es oft in meiner Eigenschaft als Traueramme, Trauerbegleiterin und Trauerrednerin.

Galgenhumor

Wenn wir ewig leben würden, wäre das Leben nichts Besonderes. Stellen Sie sich das mal vor! Nach wie vielen hundert Jahren wäre Ihnen sterbenslangweilig? Und warum wünscht man sich das überhaupt? Weil wir nicht wissen, was eigentlich beim Sterben passiert und ob es dann wirklich aus ist oder ob danach noch was passiert und was, bitte schön. Ob es ein Happy End gibt? Das weiß man erst danach. Wenn man dann noch etwas weiß.

Eine Garantie kann uns niemand geben, dass der Tod ohne Komplikationen auf die Welt kommt. Wir kriegen kein Zeugnis: Frau X, Herr X hat sich getraut, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen, und eine bestmögliche Sterblichkeitsziffer erlangt. Hier bitte schön ist die Urkunde, und somit erhält der Prüfling ein beschleunigtes Verfahren oder stirbt erster Klasse, und alles wird einfach paradiesisch.

Aber immerhin bin ich mit Petrus per Du. Und Sie