Von dazumal - Isolde Kurz - E-Book

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Isolde Kurz

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Isolde Kurz ist auch heute noch eine ambivalente Schriftstellerin. Schon in jungen Jahren selbstständig als Autorin und Übersetzerin, war sie eine Seltenheit im wilhelminischen Deutschland. Später jedoch geriet sie wegen ihres Schweigens im Dritten Reich und ihrer altmodischen Sprache in Kritik. Hervorzuheben sind ihre Werke "Vanadis" und "Florentiner Novellen". Isolde Kurz wuchs in einem liberalen und an Kunst und Literatur interessierten Haushalt auf. Anfang der 1890er Jahre errang sie erste literarische Erfolge mit Gedicht- und Erzählbänden. Null Papier Verlag

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Isolde Kurz

Von dazumal

Erzählungen

Isolde Kurz

Von dazumal

Erzählungen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962812-45-4

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

Es und ich.

Nach­bars Wer­ner

Das Ver­mächt­nis der Tan­te Su­san­ne.

Wer­ters Grab.

Der Rei­se­sack.

Der Ak­ti­en­gar­ten.

Die Rei­se nach Tripstrill.

Dan­ke

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Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Es und ich.

Es gibt eine Gott­heit, die von Al­len ge­sucht wird, und die im­mer un­er­kannt über die Erde geht. Sie ist von un­be­greif­lich flüch­ti­ger Sub­stanz, und ihr We­sen zeigt sich nur im im­mer­wäh­ren­den Ver­ste­ckens­spie­len und sich Ver­klei­den; ihre wah­re Ge­stalt hat kein Sterb­li­cher je­mals ge­se­hen. Men­schen und Völ­ker setzt sie in Be­we­gung und ras­tet nie­mals. – Da sie kei­nen si­che­ren Na­men hat, habe ich sie Es ge­nannt.

Man hal­te es nicht für An­ma­ßung, dass ich Es und mich in ei­nem Atem nen­ne, denn wir bei­de ge­hö­ren un­zer­trenn­lich zu­sam­men. Habe ich doch Es nie an­ders als in Ver­bin­dung mit mir ge­kannt und kann mir gar nicht vor­stel­len, wie Es aus­se­hen wür­de, wenn ich nicht wäre. Hin­wie­der­um exis­tie­re ich nur in Be­zie­hung auf Es, und wenn ich von mei­nen Er­leb­nis­sen re­den will, kann ich nicht an­ders sa­gen als: Es und ich.

Ich er­in­ne­re mich ganz ge­nau: mein ers­ter Be­griff, als ich den­ken lern­te, und, noch ehe ich den­ken konn­te, mei­ne ers­te Vor­stel­lung war Es. Nie­mand hat­te mir je da­von ge­sagt, aber ich wuss­te, dass Es vor­han­den ist, ich hat­te die­se Kennt­nis aus dem Mut­ter­lei­be mit­ge­bracht.

Im­mer, wo es recht merk­wür­dig und ge­heim­nis­voll aus­sah, da such­te ich Es. Wenn ir­gend­wo ein ro­tes Lämp­chen brann­te, blieb ich ste­hen, um auf Es zu war­ten. Hin­ter dem Zelt­tuch wan­dern­der Zi­geu­ner saß Es ger­ne, doch woll­te man mir nie er­lau­ben, das Tuch zu lüp­fen.

Zum ers­ten Mal er­kann­te ich Es leib­haft in der Ge­stalt ei­nes Koch­löf­fels. Den hat­te ich ganz neu aus der Kü­che ent­wen­det und in ei­nem Nes­sel­busch ver­steckt, denn ich woll­te für mich und den Bru­der ein Häu­schen un­ter der Erde bau­en, zu dem die Gro­ßen kei­nen Zu­tritt ha­ben soll­ten. Um es ein­zu­rich­ten brauch­te ich ver­schie­de­ne Din­ge, vor al­lem den be­wuss­ten Koch­löf­fel. Zu­wei­len zog ich ihn heim­lich aus dem Ver­steck her­vor und schwelg­te in sei­nem An­blick. Es war ein Zau­ber­stab, denn so­bald ich ihn in Hän­den hielt, war das Häu­schen schon fer­tig mit vie­len nied­li­chen blitz­blan­ken Sä­chel­chen drin; es hat­te ein Dach aus Erde, über dem der Nes­sel­busch wuchs, und eine ganz klei­ne Kü­che, in der ich für mich und den Bru­der koch­te. Ei­nes Ta­ges aber fand mich die Kö­chin bei mei­nem Schatz, er­grimmt ent­riss sie mir den Löf­fel, nach dem sie lan­ge ge­sucht hat­te, und au­gen­blick­lich ver­sank das Häu­schen mit al­lem was drin war in den Bo­den. Spä­ter wur­de mir zwar auf Be­fehl der Mut­ter der Löf­fel zu­rück­ge­ge­ben, aber jetzt war er nur noch ein Stück Holz, und ich konn­te das wun­der­ba­re Häu­schen nie­mals wie­der auf­bau­en.

Ich kann mich nicht mehr an all die ver­mie­de­nen Ge­stal­ten er­in­nern, in de­nen Es da­nach mir wie­der er­schi­en. In ver­schnür­ten und ver­sie­gel­ten Schach­teln, die der Post­bo­te brach­te, war sein Lieb­lings­auf­ent­halt, aber re­gel­mä­ßig beim Öff­nen ent­flog es.

Bei Nacht war Es mir meis­tens ganz nahe. Ich lag in mei­nem Bett­chen, auf dem Tisch brann­te ein Nacht­licht, und die Gro­ßen spra­chen mit ge­dämpf­ter Stim­me. Da­bei wur­de mir selt­sam ah­nungs­voll zu Mut, und nun be­gann das Licht­lein zu fla­ckern und gab im Aus­ge­hen ein pras­seln­des Geräusch von sich, das die Wär­te­rin »sprat­zeln« nann­te. Die­ses »Sprat­zeln« war wie ein Si­gnal, ich wuss­te: jetzt geht so­gleich die Türe auf, und her­ein kommt Es. Doch im Au­gen­blick, wo das ge­sch­ah, war ich auch schon ein­ge­schla­fen, des­halb konn­te ich Es nie­mals von An­ge­sicht se­hen. Aber noch jetzt, wenn es mir ge­le­gent­lich bei­kommt, ein Nacht­licht bren­nen zu las­sen, und ich wa­che in tiefer Nacht an dem Ge­sprat­zel auf, so ist mir’s, als sei jetzt Es so­eben durchs Zim­mer ge­gan­gen.

Un­ter dem Weih­nachts­bau­me habe ich Es wohl des öf­te­ren leib­haft sit­zen se­hen, aber wäh­rend die Lich­ter ab­brann­ten, schlich es still hin­aus. Da­ge­gen wohn­te es in der Wo­che vor Weih­nach­ten stän­dig im Hau­se, nur durf­te man es als­dann nicht se­hen. Es stak in ab­ge­schlos­se­nen Schub­la­den, aus de­nen zu­wei­len ein End­chen Gold­fa­den oder ein Fet­zen bun­ten Sei­den­zeugs her­aus­hing, man ahn­te sei­ne Nähe hin­ter der Schrank­tür, wo beim Auf- und Zu­ma­chen Gold und Sil­ber­f­lit­ter knis­ter­ten, aber woll­te man Es durch einen Tür­spalt oder ein Schlüs­sel­loch be­lau­schen, so wur­de man von den Gro­ßen är­ger­lich weg­ge­sto­ßen.

Ge­duld, dach­te ich, spä­ter, wenn ich groß bin, wird Es be­stän­dig um mich sein. Dies war eine un­um­stöß­li­che Ge­wiss­heit; wie Es aus­se­hen soll­te, frag­te ich mich nicht, aber kom­men muss­te Es.

Ein äu­ße­rer Um­stand gab der Vor­stel­lung mit der Zeit eine be­stimm­te­re Rich­tung. Ein Freund der Fa­mi­lie, der in Smyr­na wohn­te, schick­te all­jähr­lich um die­sel­be Zeit ein Kist­chen voll ge­trock­ne­ter Fei­gen nebst ei­ni­gen Fläsch­chen Ro­sen­öl, die mit Gold­buch­sta­ben be­malt wa­ren. In die­sem Kist­chen zwar wohn­te Es nie­mals, wir wuss­ten zu ge­nau im Voraus, was es ent­hielt und so­gar wie es ver­packt war. Aber das Kist­chen er­reg­te ent­zücken­de Bil­der von dem Land, das sol­che Herr­lich­kei­ten her­vor­brach­te. Und wenn Es fort­an dar­auf be­stand, sich nicht zu zei­gen, so trös­te­te ich mich, es müs­se wohl jen­seits ei­nes wei­ten Mee­res in Smyr­na sein.

Welch ein selt­sa­mes Ge­sicht ma­chen doch zu­wei­len die Buch­sta­ben, wenn sie zu ei­nem Na­men zu­sam­men­tre­ten. Es ist als sehe man durch eine un­end­li­che Tie­fe in das in­ners­te We­sen der Din­ge hin­ein. Ich neh­me es kei­nem übel, wenn er sich in den wohl­klin­gen­den Na­men ei­nes Mäd­chens ver­liebt.

Ähn­lich er­ging es mir mit Smyr­na, und aus tiefer, an­däch­ti­ger Be­wun­de­rung ver­mied ich es, den Na­men zu nen­nen. Aber jen­seits un­se­res Flus­ses lag eine Ort­schaft, wel­che Sir­nau hieß – ich habe sie, ne­ben­bei ge­sagt, nie­mals ge­se­hen. – Um Smyr­na nicht zu pro­fa­nie­ren, re­de­te ich, wo ich nur konn­te, von Sir­nau. Den Wald­strei­fen zwi­schen je­ner Ort­schaft und dem Fluss nann­te man das Sir­nau­er Wäld­chen. Im Som­mer führ­ten un­se­re Wär­te­rin­nen uns zu­wei­len dort hin­über. Der Fluss rann an die­ser Stel­le ganz seicht über sil­ber­hel­le Kie­sel, die Mäd­chen brauch­ten nur ihre Rö­cke zu schür­zen, um hin­durch zu wa­ten, uns Klei­nen zog man ein­fach die Klei­der aus. Die­sen Wald­bo­den be­trat ich nie ohne ent­zück­ten Schau­er, als ob es ein hei­li­ger Grund wäre, denn ei­ni­ge Ähn­lich­keit, dach­te ich, müs­se Sir­nau doch mit Smyr­na ha­ben. Ein­mal zeig­te man mir dort ein Eich­hörn­chen, das an ei­ner Ei­chel knap­per­te, und als­bald be­völ­ker­te mei­ne Fan­ta­sie ganz Smyr­na mit Eich­hörn­chen, die auf schlan­ken glä­ser­nen Tür­men sa­ßen und Fei­gen her­un­ter­war­fen, kla­re Flüs­se, die nach Ro­sen­öl duf­te­ten, ran­nen da­ne­ben, und dies war Es.

Die Stre­cke bis ins zehn­te Jahr war un­end­lich; als ich ein­mal die be­rühm­te Null er­reicht hat­te, kam die gan­ze Sa­che ins Rol­len. Ich lach­te jetzt über Smyr­na und die Eich­hörn­chen, wie ich schon frü­her über den Koch­löf­fel ge­lacht hat­te. Ich wuss­te jetzt, Es ist über­all, es kommt nur dar­auf an, Es zu fin­den, und dazu braucht es den flüch­tigs­ten al­ler Ren­ner.

Ach, ich habe man­ches ra­sche Roß be­stie­gen, bin bei Tage und auch bei Nacht in Ebe­nen und Wald­schluch­ten her­um­ge­streift, aber Es habe ich nie­mals er­jagt. Es war im­mer auf der Flucht vor mir und wuss­te sich so zu ver­ste­cken, dass ich auch nicht ein­mal den Saum sei­nes Ge­wan­des fas­sen konn­te. Und wenn Es mir je­mals über den Weg lief, so trug es Klei­der, in de­nen ich es nicht er­kann­te.

Und doch gab es in der klei­nen Stadt, wo ich zu Hau­se war, eine Räum­lich­keit, in der es gern ver­weil­te. Der Weg da­hin führ­te über einen hoch­ge­le­ge­nen, mit Bäu­men be­setz­ten Platz, des­sen eine Sei­te ein lang ge­streck­tes mas­si­ves Stein­ge­bäu­de ein­nahm. Dort stieg man drei Stu­fen zu ei­ner brei­ten Haus­tür hin­auf und im In­nern zur rech­ten Hand zwei höl­zer­ne Stu­fen hin­un­ter, dann fand man sich vor ei­nem nie­de­ren Pfört­chen. An zwei Aben­den der Wo­che tön­ten hin­ter die­ser Pfor­te son­der­ba­re wim­mern­de und ju­beln­de Lau­te, sie ka­men vom Stim­men der Vio­li­nen her, die Kna­ben und Mäd­chen zur Tanz­stun­de rie­fen. Mit wel­chen Ah­nungs­schau­ern folg­te ich zwölf­jäh­rig dem Lock­ruf der Gei­gen, wenn sie rie­fen: Es ist da! Es ist da! – Und Es war wirk­lich da, der grob­ge­tünch­te Saal mit den ro­hen Holz­bän­ken war ganz von sei­ner Ge­gen­wart aus­ge­füllt. Es tanz­te auch mit, aber in so un­be­greif­lich ver­schlun­ge­nen Fi­gu­ren, dass ich sei­nen An­blick nie­mals er­ha­schen konn­te. Es duck­te sich in Ecken und heim­li­che Win­kel, schlang sich an den höl­zer­nen Säu­len vor­über und woll­te mei­nem Auge nie­mals Stand hal­ten. Ob es den An­dern, die dort tanz­ten, je­mals sei­nen An­blick ge­gönnt hat, habe ich nicht er­fah­ren.

Am un­glück­lichs­ten war ich an den Sonn­ta­gen, denn ich glaub­te lan­ge, dies sei die Zeit, wo Es sich am liebs­ten bli­cken las­se, weil ich sah, dass auch An­de­re dar­auf war­te­ten. Da­rum zog ich mich je­des Mal fest­lich an, um Es wür­dig zu emp­fan­gen, aber aus­ge­hen moch­te ich nicht, ich wuss­te schon, Es mischt sich nicht gern un­ter die Sonn­tags­men­ge, und wenn Es mich fin­den woll­te, konn­te es ja eben so gut in mei­ne Woh­nung kom­men. Aber ich saß viel am Fens­ter, da­mit Es we­nigs­tens den Weg nicht ver­feh­le. Sol­che Sonn­ta­ge hat­ten zehn­mal so viel Stun­den wie ein an­de­rer Tag. Da sah ich dann abends die Leu­te nach Hau­se kom­men, sie mach­ten sich breit und ta­ten alle, als hät­ten sie Es ge­se­hen. Und ich mein­te, alle Men­schen trü­gen ein ho­hes, un­be­greif­li­ches Glück nach Hau­se, und ich al­lein sei leer aus­ge­gan­gen. Frag­te ich aber, was sie er­lebt hät­ten, so ant­wor­te­ten sie, sie hät­ten Käse ge­ges­sen und Bier ge­trun­ken und wä­ren sehr ver­gnügt ge­we­sen.

Ver­gnügt! Wie habe ich von je­her die­ses Wort ge­hasst. Wo Es nicht ist, wie kann die See­le da Ge­nü­ge fin­den. Und wo Es wirk­lich wäre, wel­ches Wort wäre hoch und tief ge­nug, um ihr Ent­zücken aus­zu­spre­chen.

An son­ni­gen Os­ter- und Pfingst­mor­gen, wenn die Glo­cken zu­sam­men­läu­ten, kann ich mich des War­tens auf Es bis zum heu­ti­gen Tag nicht völ­lig ent­schla­gen.

Wun­der­li­ches Ding, die­ses Es! Ein­mal war es gar in ein klei­nes Kreuz­chen aus Berg­kry­stall ein­ge­zo­gen, nach dem ich eine Zeit lang hef­ti­ges Ver­lan­gen trug. Dort muss es ihm so­gar sehr wohl ge­we­sen sein, denn es wohn­te ge­rau­me Zeit in dem Kreuz­chen. Frei­lich war es kein ge­wöhn­li­ches Schmuck­stück, son­dern stell­te in mei­ner Ein­bil­dung zu­gleich das Süd­li­che Kreuz vor, das mir, seit­dem ich im Kos­mos ge­le­sen hat­te, wie das Bild ei­nes Ge­lieb­ten in der See­le glüh­te. Das Kreuz­chen wur­de mein, aber wäh­rend es an mei­nem Hal­se hing, oder in der Scha­tul­le lag, ging lang­sam eine son­der­ba­re Ver­än­de­rung mit ihm vor. Es schwand näm­lich im­mer mehr, nicht an Um­fang, son­dern an Rea­li­tät, ich hielt es oft be­trübt und zwei­felnd in der Hand und be­griff nicht, wo es ei­gent­lich hin­kam. Man konn­te es noch se­hen und tas­ten, aber es war am Ende so gut wie nicht mehr vor­han­den.

Von je­ner Zeit an ver­stand ich das Mär­chen vom Teu­fels­gol­de: Die ma­te­ri­el­len Gü­ter sind über­haupt kei­ne rea­len, sie ver­schwin­den, so bald man sie be­sitzt – nur Es, das wech­sel­vol­le, un­be­greif­li­che bleibt im­mer we­sen­haft und gleich ver­lan­gens­wert.

Wie viel Ent­täu­schun­gen, Zorn und Kum­mer hat Es mir noch fer­ner­hin auf mei­nem Le­bens­weg be­rei­tet! Ich will nicht von sei­ner Tücke re­den, dass es sich bis­wei­len in ein mensch­li­ches Ge­sicht ver­steck­te und mit kei­ner Ge­walt von da zu ver­trei­ben war, bis es ei­nes Ta­ges von sel­ber wie­der aus­zog, – ich wuss­te nicht wie und warum, nur dass der Mensch plötz­lich aus­sah wie Je­der­mann. Das Selt­sams­te und Un­heim­lichs­te war, dass Es Men­schen und Din­gen den Raum ver­sperr­te. Die Din­ge, die sich für real aus­ga­ben, wa­ren ei­gent­lich gar nicht, und die Men­schen, die be­ach­tet sein woll­ten, wa­ren eben­so­we­nig; sie hat­ten wie Schat­ten nur zwei Di­men­sio­nen. Es mit sei­ner über­mäch­ti­gen Sub­stanz stand im­mer zwi­schen mir und ih­nen und ließ sie nicht zur We­sen­heit durch­drin­gen. Da­für ta­ten sie mir aus Ra­che man­chen Tort, und ich war au­ßer stand, mich ge­gen sie zu weh­ren, denn ich glaub­te im stil­len doch nicht an ihre Rea­li­tät. Ich glaub­te nur an Es, das Unaus­sprech­li­che, mir bei der Ge­burt Ver­hei­ße­ne, das je­der Sonn­tags­mor­gen aufs neue ver­sprach.

Ich sah end­lich ein, dass ich Es in mei­nem Va­ter­land nie­mals fin­den wür­de, und wan­der­te aus nach Sü­den. In wei­ßen Mar­mor­pa­läs­ten und tief­grü­nen Hai­nen un­ter der Son­ne von Flo­renz muss­te Es mei­ner Mei­nung nach zu Hau­se sein. – Aber in Flo­renz war Es erst recht nicht – wie könn­te es auch da sein, wo al­les schon ver­gan­gen ist – Es ist ja das Nie­da­ge­we­se­ne, das ewig Künf­ti­ge. Ich fand nicht ein­mal die wei­ßen Pa­läs­te, von de­nen ich ge­träumt hat­te, sie wa­ren alle vom Al­ter ge­schwärzt und hat­ten die Far­be des Ge­steins und Erd­bo­dens, aus dem sie her­aus­wuch­sen. Aber wä­ren sie auch weiß ge­we­sen und ganz so wie ich sie ge­dacht hat­te, – Es hät­te eben­so we­nig in ih­nen ge­haust.

Nun stan­den alle mei­ne Ge­dan­ken nach dem Mee­re. Auf dem Meer ist das Unend­li­che, auf dem Meer ist Es! – Ach, das Meer war gleich­falls ganz an­ders, als ich ge­dacht hat­te. Es war nur ein klei­ner Aus­schnitt des Unend­li­chen mit Was­ser und Him­mel und vie­len Se­geln, die alle sehn­lich et­was zu su­chen schie­nen – und da­hin­ter war der Blick ver­sperrt. – Nein, auf dem Mee­re war Es wie­der nicht, wo war Es denn?

Eine wei­ße Lee­re, eine glü­hen­de Stil­le um­gab mich, in der ich nicht ein­mal mehr wün­schen konn­te. Es war mir gänz­lich ent­schwun­den und wohn­te am ferns­ten Ho­ri­zont. Da sag­te einst ein al­ter Schif­fer, der mich aus dem Golf von Spe­zia ins of­fe­ne Meer hin­aus­ru­der­te: Wenn wir im­mer so wei­ter­füh­ren, wür­den wir in Afri­ka lan­den.

In die­sem Au­gen­blick flog Es vor­aus und ließ sich jen­seits des Mee­res in Afri­ka nie­der. So oft ich von nun an ein Schiff in je­ner Rich­tung se­geln sah, war’s als zöge mich’s an un­sicht­ba­rem Ban­de nach je­ner fer­nen afri­ka­ni­schen Küs­te mit dem wei­ßen blen­den­den Son­nen­schein und den stil­len war­men Näch­ten, wo das Süd­li­che Kreuz, mei­ne Ju­gend­lie­be, am Him­mel steht. Aber ich sah ein, dass Es mich doch nur aufs Neue zum bes­ten hat­te und dass un­ter dem Süd­li­chen Kreuz sei­nes Blei­bens so we­nig sein wür­de wie un­ter den Gestir­nen der nörd­li­chen He­mi­sphä­re. Es war­te­te nur, dass ich mich in Be­we­gung setz­te, um vor mir her­zu­zie­hen wie der Ho­ri­zont, ich hät­te ihm nach- und nach­zie­hen kön­nen rund um die Erde und end­lich am al­ten Fleck wie­der an­kom­men – ich wäre ihm doch nicht um einen Fuß­breit nä­her ge­rückt. So blieb nichts üb­rig als sich end­lich in der Welt ein­zu­rich­ten, als ob Es gar nicht vor­han­den wäre.

Aber Es dul­det nicht, dass man sich auf die Dau­er sei­ner ent­schla­ge. Es be­darf mei­ner wie ich sei­ner be­darf, es kommt zu mir, wenn ich nicht mehr zu ihm kom­me, es muss mich ne­cken, denn mich ne­cken ist sein Da­sein. Ich las­se es an mich her­an­kom­men und sein Spiel mit mir trei­ben, und weiß doch, dass es mit mir spielt. So spielt ein Er­wach­se­nes mit ei­nem Kin­de, das es zu täu­schen glaubt, aber das Kind ist klü­ger als der Er­wach­se­ne denkt; es tut nur mit, weil es ge­fäl­lig ist, und weil das Spiel ihm sel­ber Freu­de macht.

Nun schlen­de­re ich wei­ter ohne Hast und fra­ge je­den Be­geg­nen­den, wie Es für ihn aus­se­he und wo er Es am liebs­ten su­che. Vie­le ver­ste­hen mich nicht, denn für die Mas­se der Men­schen ist Es von Amts­we­gen in fes­te Form ge­bracht; wozu also da­nach su­chen! Sie ho­len es am Sonn­tag mor­gen aus dem Schrank und wan­dern da­mit zur Kir­che, und Abends wenn sie Bier ge­trun­ken ha­ben, wer­den sie be­geis­tert und sin­gen die »Wacht am Rhein«. Aber Sol­che, die mich ver­ste­hen, sind um die Ant­wort nicht ver­le­gen. Der Lie­ben­de bringt mir das Bild­nis sei­ner Ge­lieb­ten – ich sehe dann ein Paar la­chen­der Au­gen und blit­zen­der Zäh­ne, aber sein Es ist für mich nicht wahr­nehm­bar – der Bu­reau­krat denkt an einen Or­den, der jun­ge Dich­ter sieht Es hin­ter dem Thea­ter­vor­hang, für den Back­fisch trägt es Sä­bel und Spo­ren, der Po­li­ti­ker zeigt mir sein Uto­pi­en, aber war nicht – zu sei­ner Zeit – mein höl­zer­ner Löf­fel eben so viel wert?

Und doch ver­spot­tet ei­ner die Träu­me des an­dern. Der nüch­ter­ne Ge­schäfts­mann lacht über den Idea­lis­ten, der ei­nem Hirn­ge­spinst von Kunst, Lie­be oder Va­ter­land nach­jagt, er wird un­ter sei­nen Zah­len grau und ahnt nicht, welch ein hirn­ver­brann­ter Fan­tast er sel­ber ist. Wenn er mit sei­nen Voll­blut­pfer­den vor­über­fährt, blickt ihm frei­lich der nai­ve Fuß­gän­ger nach und meint Es in al­ler Herr­lich­keit ne­ben ihm auf den straf­fen Pols­tern sit­zen zu se­hen. Doch der Herr der Equi­pa­ge weiß, dass Es nicht ne­ben ihm sitzt, weil der Platz ganz leer ist, er muss so­gar wis­sen, dass er selbst im Lee­ren hin­s­aust, denn Pfer­de und Wa­gen sind bloß für das Auge des Fuß­gän­gers vor­han­den. Nur tut er nicht der­glei­chen, son­dern lehnt kühl und vor­nehm zu­rück, um we­nigs­tens in dem Neid der Ein­falt so et­was wie eine dürf­ti­ge Ent­schä­di­gung zu fin­den.

Nein, Es ist nicht in den Din­gen, Es ist im­mer au­ßer­halb. Ist Es dar­um eine Chi­mä­re? Kei­nes­wegs, nur die Din­ge sind Chi­mä­ren.

Es bleibt stets das Glei­che, aber wo es er­scheint, da ist es im­mer neu. Die Wand­lun­gen Wisch­nu’s sind nichts ge­gen die sei­ni­gen. Für den Säug­ling kriecht es in eine ble­cher­ne Ras­sel, ei­nem Na­po­le­on geht es in blen­den­dem Glanz auf den rus­si­schen Eis­fel­dern auf, und doch wird es nie we­der grö­ßer noch klei­ner.

So wer­de ich Es denn nie­mals mit Au­gen se­hen, mit Hän­den grei­fen! Wohnt es viel­leicht in je­nen un­end­li­chen, dem stärks­ten Fern­glas un­durch­dring­li­chen Räu­men hin­ter der Milch­stra­ße?

Nein, es wohnt auch dort nicht, sei­ne Woh­nung ist über­all und nir­gends. Es ist wie der Un­sicht­ba­re, von dem Hiob sagt: »Er geht vor mir über, ehe ich ihn ge­wahr wer­de und ver­wan­delt sich, ehe ich ihn er­ken­ne.« Wer Es an­fasst, dem ist es schon ent­schwun­den. Glau­be kei­ner, sein Nach­bar sei glück­li­cher als er und habe Es ge­bun­den, Es treibt mit Je­dem das glei­che Spiel, kei­ner kommt ihm um Haa­res­brei­te nä­her als der an­de­re.

Ich habe be­haup­ten hö­ren, es gebe Men­schen, die nie auf Es ge­war­tet hät­ten, die gar nichts wüss­ten von sei­nem Da­sein. Mir sind sol­che Pä­scherähs nie­mals vor­ge­kom­men. Al­len, die ich ken­ne, auch den Ärms­ten im Geis­te, ist Es ein­mal in ir­gend ei­ner Ge­stalt er­schie­nen.

Wenn der Mensch auf­ge­hört hat, an Es zu glau­ben, so hat er auf­ge­hört zu le­ben.

Ich glau­be noch an Es – Es ist so­gar das Ein­zi­ge, wor­an ich glau­be, aber ich gehe ihm nicht mehr nach. Ich weiß, es ist im­mer da, wo ich nicht bin: gehe ich durch die Ebe­ne, so nimmt Es sei­nen Weg über die Hü­gel. Wenn ich ein­mal ge­stor­ben bin, so wird Es ge­wiss kom­men und auf mei­ner Aschenur­ne sit­zen, und das wird ein schö­ner Au­gen­blick sein; nur scha­de, dass als­dann nie­mand mehr da ist, ihn zu ge­nie­ßen.

Nachbars Werner

Mei­ne ers­te Lie­be, so er­zähl­te mir mei­ne Freun­din Ada, war un­ser Nach­bars­sohn Wer­ner Horst. Ich ver­ehr­te in ihm, ohne mir da­von Re­chen­schaft zu ge­ben, mein männ­li­ches Ide­al, denn ich stand da­mals zwi­schen dem fünf­ten und sechs­ten Jah­re, be­fand mich also in ei­nem Le­bensal­ter, wo man die Lie­be bis­wei­len schon nach der Emp­fin­dung, aber nicht dem Na­men nach kennt.

Ich hat­te schon von Wer­ner re­den hö­ren, be­vor wir ein­an­der be­geg­ne­ten, denn mei­ne Fa­mi­lie wohn­te erst seit Kur­zem in der Stadt, und die be­son­de­re Art, wie die Er­wach­se­nen von ihm spra­chen, be­schäf­tig­te mei­ne Ein­bil­dung.

Mein Va­ter pfleg­te näm­lich zu sa­gen: »Der Wer­ner ist ein Jun­ge, aus dem ein­mal et­was wer­den kann, aber ich will nicht, dass mei­ne Kin­der mit ihm um­ge­hen.«

Und mei­nem Bru­der Erich, der die glei­che La­tein­klas­se be­such­te wie Wer­ner, war es ver­bo­ten, den Heim­weg aus der Schu­le in sei­ner Ge­sell­schaft zu ma­chen.

Ganz deut­lich er­in­ne­re ich mich, wie Wer­ner das ers­te Mal zu uns kam. Sein Va­ter hat­te ihn mit ei­nem Auf­trag an den mei­ni­gen ge­schickt. Sei­ne freie Mie­ne, die glän­zen­den Au­gen, mit de­nen er den Gro­ßen so fest ins Ge­sicht sah, und dass er zwei Jah­re äl­ter war als ich, das Al­les flö­ßte mir eine mit Scheu ge­misch­te Be­wun­de­rung ein. Und als er wie­der ge­gan­gen war und mei­ne Mut­ter ge­gen den Va­ter be­merk­te: »Es ist doch jam­mer­scha­de um den Wer­ner –« da weiß ich noch ganz ge­nau, dass mir das Herz un­ru­hig zu klop­fen be­gann.

Nach­dem der Va­ter das Zim­mer ver­las­sen hat­te, nahm ich all’ mei­nen Mut zu­sam­men und frag­te:

»Was hat denn der Wer­ner ge­tan, dass Du sagst: ›Scha­de?‹«

»O, et­was sehr Häss­li­ches«, war die Ant­wort, »das klei­ne Mäd­chen bes­ser gar nicht wis­sen soll­ten: der Wer­ner ist ein Lüg­ner.«

Und sie er­zähl­te mir, dass Wer­ner’s Va­ter Al­les auf­ge­bo­ten habe, um den Jun­gen von die­sem wid­ri­gen Las­ter zu hei­len, aber kein Mit­tel woll­te fruch­ten. Un­zäh­li­ge Prü­gel habe er an ihm ab­ge­schla­gen, ihn Tage lang im Kel­ler ein­ge­sperrt, es sei Al­les um­sonst ge­we­sen. Das Lü­gen sei so mit Wer­ner’s Na­tur ver­wach­sen, dass er es nicht las­sen kön­ne. Über­haupt sei er ein Tu­nicht­gut und ein Heim­tücker, was man ihm bei sei­ner of­fe­nen Mie­ne gar nicht an­se­hen wür­de. Er hal­te sich im­mer nur einen Freund un­ter sei­nen Ka­me­ra­den, aus dem ma­che er dann, was er wol­le, set­ze ihm die größ­ten Al­bern­hei­ten in den Kopf und ver­lei­te ihn zu schlech­ten, un­ge­zo­ge­nen Strei­chen, bis er ihn ei­nes Ta­ges ste­hen las­se und sich wie­der einen an­de­ren su­che. Wer­ner Hor­st’s Freund­schaf­ten dau­er­ten nie län­ger als ein paar Wo­chen, aber in die­sen paar Wo­chen ma­che er auch die bravs­ten zu ganz un­ge­hor­sa­men und ver­dreh­ten Jun­gen. Des­halb hät­ten an­de­re El­tern dar­auf zu ach­ten, dass er von ih­ren Kin­dern fern blei­be.

Ich ging an die­sem Tage ganz tief­sin­nig um­her. – Wie kann man nur lü­gen, dach­te ich bei mir selbst. – Pfui, das muss et­was sehr Schmut­zi­ges sein! – Denn ich war ein klei­ner Tu­gend­bold und sehr stolz auf mei­ne von den El­tern oft ge­rühm­te Wahr­heits­lie­be, an der gar nichts Ver­dienst­li­ches war, da ich als zärt­lich ge­heg­tes Haus­kind nie­mals in die Ver­su­chung ge­riet, mir mit ei­ner Lüge zu hel­fen.

Da­her nahm ich mir vor, den Wer­ner gründ­lich zu ver­ach­ten, ihn auch nicht an­zu­se­hen, wenn er mir auf der Stra­ße be­geg­nen wür­de. Aber heim­lich muss­te ich im­mer an den Mis­se­tä­ter den­ken. Mei­ne Fan­ta­sie irr­te be­stän­dig um sei­ne mir doch nicht recht klar ge­wor­de­nen Ver­ge­hun­gen und die Stra­fen, die er da­für zu ver­bü­ßen hat­te, her­um. Sei­ne Be­harr­lich­keit im Bö­sen im­po­nier­te mir eben so sehr, wie ich sie ver­damm­te, und so oft ich mir sein schö­nes, frei­es Ge­sicht vor­stell­te, wur­de ich trau­rig.

Wenn mein Bru­der ge­le­gent­lich in mei­ner Ge­gen­wart sag­te: »Der Wer­ner Horst ist der Bes­te in der gan­zen Klas­se« – so wur­de ich rot, ohne zu wis­sen, warum. Und als ich ihn ei­nes Ta­ges sa­gen hör­te: »Heut’ hat der Wer­ner Prü­gel be­kom­men, weil er wie­der ge­lo­gen hat« – wein­te ich im Stil­len. Fort­an flocht ich all­abend­lich in mein Nacht­ge­bet die Bit­te ein:

»Und, lie­ber Gott, ma­che vor Al­lem, dass der Wer­ner nicht mehr lügt.«

Wer­ner’s Va­ter war der Rec­tor und Kir­chenäl­tes­te Horst, des­sen Haus dicht an das uns­ri­ge stieß. Da drü­ben fie­len zu­wei­len Sze­nen vor, über die man bei uns nur flüs­ternd sprach, denn mei­ne sanf­te, im­mer gü­ti­ge Mut­ter, die ich viel zu kurz be­ses­sen habe, woll­te nicht, dass wir Kin­der von häss­li­chen und trau­ri­gen Din­gen er­füh­ren; sie ver­heim­lich­te uns so­gar ih­ren ei­ge­nen lei­den­den Zu­stand, um uns den Son­nen­schein der Kind­heit so lan­ge wie mög­lich un­ge­trübt zu er­hal­ten. Aber durch des Rec­tors Dienst­magd Rike, die sich bei un­se­rer Chris­ti­ne das Herz zu er­leich­tern pfleg­te, war man von Al­lem un­ter­rich­tet. Der Alte ge­hör­te zu den Stil­len im Lan­de und war der Schre­cken der Schul­kin­der, de­nen er das Chris­tent­hum mit dem Stock ein­bläu­te. Nur über sei­nen Wer­ner hat­te er kei­ne Ge­walt. Die­ser drück­te sich, so oft er Ge­le­gen­heit fand, um die häus­li­chen An­dachts­übun­gen und lief am Sonn­tag in den Wäl­dern um­her. Wenn er dann zum Mit­ta­ges­sen nach Hau­se kam, er­war­te­te ihn re­gel­mä­ßig eine Prü­gel­sup­pe, wor­auf er für den Rest des Ta­ges aber­mals zu ver­schwin­den pfleg­te, um am Abend mit ei­ner neu­en Tracht Prü­gel be­grüßt zu wer­den. Doch war ihm das Um­her­strei­fen eben­so we­nig aus­zu­trei­ben wie das Lü­gen. Ein­mal – aber dies er­zähl­te mir Chris­ti­ne nur mit ge­dämpf­ter Stim­me und in­dem sie sich ängst­lich um­sah, ob Nie­mand zu­hö­re – war er so­gar mit ei­ner Zi­geu­ner- oder Kun­strei­ter­ban­de fort­ge­zo­gen, man wuss­te nicht wo­hin, und erst nach meh­re­ren Ta­gen war der Va­ter sei­ner wie­der hab­haft ge­wor­den.

Ich weiß nicht, ob Wer­ner ahn­te, wie sehr sei­ne Nach­ba­rin mit ihm be­schäf­tigt war. Je­den­falls nahm er sei­ner­seits von mei­nem Da­sein in schmei­chel­haf­ter Wei­se No­tiz, wäh­rend es sonst bräuch­lich war, dass die Mäd­chen von den Jun­gen über die Ach­sel an­ge­se­hen wur­den.

Bei ei­ner fest­li­chen Ge­le­gen­heit ent­spann sich zur Schan­de mei­ner Grund­sät­ze un­se­re Freund­schaft.

Die große Früh­jahrs­mes­se führ­te all­jähr­lich wan­dern­de Cu­rio­si­tä­ten, wie Schieß­bu­den, Me­na­ge­ri­en und der­glei­chen nach un­se­rer Stadt. Dies­mal war auf der großen Fest­wie­se vor den Tho­ren ne­ben an­de­ren Herr­lich­kei­ten ein Car­rous­sel auf­ge­schla­gen, das den gan­zen Tag nicht leer wur­de und die Her­zen der Ju­gend mit Be­geis­te­rung er­füll­te. Ich hat­te nie zu­vor ein Car­rous­sel ge­se­hen, und das quiek­sen­de, krei­sen­de Ding mit sei­nen Pferd­chen und Wä­gel­chen und dem flat­tern­den Wim­pel auf dem Zelt­dach er­reg­te mein glü­hends­tes Ver­lan­gen. Die Mut­ter schenk­te mir ein paar Kreu­zer, zog mir ein wei­ßes Kleid mit rosa Bän­dern an und schick­te mich am Sonn­tag mit Chris­ti­ne auf die Fest­wie­se.

Ei­nen Sonn­tag wie die­sen habe ich nicht wie­der er­lebt. Die Wie­se war so grün, dass man nichts Grü­ne­res se­hen konn­te; die Son­ne schi­en hell, und die Wei­ße des lei­ne­nen Zelt­da­ches, wor­auf die bun­ten Fähn­chen weh­ten, biss ei­nem fast in die Au­gen. Aber das Al­ler­schöns­te war die Mu­sik, die den Rund­gang des Car­rous­sels be­glei­te­te; die Töne der Sphä­ren­har­mo­nie kön­nen ei­nem ver­ste­hen­den Ohre nicht be­se­li­gen­der klin­gen als mir das Ge­schril­le je­ner Jahr­markt­s­or­gel, in das sich das Äch­zen der dre­hen­den Mecha­nik misch­te. Noch heu­te kann ich kein Car­rous­sel her­um­ge­hen se­hen, ohne eine Wei­le ste­hen zu blei­ben, und die Töne, die mein Ohr zer­rei­ßen, we­cken ein fer­nes, himm­li­sches Echo in mei­ner Erin­ne­rung. Doch ließ sich der won­ne­vol­le Tag zu­erst für mich be­denk­lich an. Chris­ti­ne woll­te mich in ei­nes der grün la­ckier­ten Kütsch­chen he­ben, wo­ge­gen ich mich sträub­te, denn ich ver­lang­te sehn­lich nach ei­nem Pferd. Die bäu­men­den Vier­füß­ler aber wa­ren alle von den Jun­gen be­setzt, die es als einen Ein­griff in ihre Vor­rech­te be­trach­te­ten, dass auch ein Mäd­chen in den Sat­tel stei­gen woll­te, und mich über­all zu­rück dräng­ten. Es war eine all­ge­mei­ne Ver­schwö­rung, mich nicht an­kom­men zu las­sen, und un­zäh­li­ge Male muss­te ich das Car­rous­sel ohne mich ab­ge­hen se­hen. Ich war ganz trost­los vor Schmerz und Scham, dass man mich nir­gends dul­den woll­te, und es fehl­te nicht mehr viel, so wäre ich wei­nend nach Hau­se ge­lau­fen. Als das Car­rous­sel wie­der ein­mal still hielt, sah ich einen herr­li­chen Rap­pen mit rund ge­bo­ge­nem Hals und we­hen­der, höl­ze­ner Mäh­ne mir ge­ra­de ge­gen­über. Ich stürz­te dar­auf zu, griff nach dem Steig­bü­gel, wur­de aber al­so­bald wie­der ge­packt und zu­rück ge­zerrt. Dies­mal war es mein ei­ge­ner Bru­der, der mich weg­zu­rei­ßen such­te, doch ich hielt den Bü­gel fest, und ein ge­walt­sa­mes Rin­gen ent­stand.

»Schäm’ Dich doch, Ada«, keuch­te er ganz au­ßer sich – »die Mäd­chen ge­hö­ren nicht aufs Pferd, die Mäd­chen ge­hö­ren in die Kut­schen.«

Nicht dass er das Pferd für sich ge­wollt hät­te, aber als Mus­ter­kna­be, der er war, konn­te er es nicht er­tra­gen, sei­ne Schwes­ter eine Aus­nah­me ma­chen zu se­hen. – Ich war zwar die Jün­ge­re, aber kei­nes­wegs er­heb­lich schwä­cher und wehr­te mich wie eine Lö­win. Die Um­ste­hen­den lach­ten, der Auf­wär­ter sag­te be­gü­ti­gend: »Was macht ihr, Kin­der, es ist Platz für Alle! Auf­ge­stie­gen! Jetzt fah­ren wir ab.«

Er hat­te gut re­den, mein Bru­der hielt mich an mei­nen lan­gen, ge­lock­ten Haa­ren fest. Mit ei­nem ver­zwei­fel­ten Ruck mach­te ich mich end­lich los und ließ ihm mein rosa Band nebst ei­nem Schopf Haa­re in den Hän­den. Aber als ich mich um­sah, war mein Platz von ei­nem Drit­ten ge­nom­men, und ich er­kann­te Wer­ner Horst, der eine Hand auf den Bü­gel des Rap­pen ge­legt hat­te. Mein Bru­der schnitt mir eine scha­den­fro­he Frat­ze und hieß Wer­ner rasch auf den Rap­pen stei­gen.

»Wa­rum denn?« sag­te die­ser ru­hig, in­dem er den Platz frei gab. – »Dei­ne Schwes­ter war ja vor­her da.«

»Aber die Mäd­chen ge­hö­ren in die Kut­schen«, ant­wor­te­te mein Bru­der, in­dem er mit dem Fuß stampf­te.

»Dumm­heit«, sag­te Wer­ner, wäh­rend ich schon tri­um­phie­rend im Sat­tel saß.

Mei­nem Bru­der blieb nichts üb­rig, als sich im Ge­wühl da­von zu schlei­chen, nach­dem er noch die Faust ge­gen mich ge­ballt hat­te. Wer­ner sprang auf das freie Gäul­chen ne­ben dem mei­ni­gen, die Mu­sik setz­te ein, und fort ging es, als flö­ge man ins Him­mel­reich.

Wer­ner nick­te ver­gnügt zu mir her­über und sag­te:

»Du bist doch nicht so lang­wei­lig wie die an­dern Mäd­chen.«

Ich saß strack im Sat­tel, hielt mit ei­ner Hand die Ei­sen­stan­ge, durch die mein Pferd an dem Gerüs­te be­fes­tigt war, und fühl­te mich hoch er­ha­ben über die zah­men Lämm­chen in ih­ren blau­en und rosa Kleid­chen, die rings­um fein ar­tig zu Vier und Vier in den Kut­schen un­ter­ge­bracht wa­ren. Stolz und glück­lich blick­te ich zu Wer­ner hin­über, der mir auf ein­mal als ein ganz An­de­rer er­schi­en. Ich hat­te alle Mis­se­ta­ten, de­ren er an­ge­klagt war, ver­ges­sen und sah in ihm mei­nen Ret­ter und Hel­den, denn es war mir auf­ge­gan­gen, dass er sich nur ein­ge­mischt hat­te, um den be­strit­te­nen Platz für mich zu be­set­zen.

»Wa­rum sol­len die Pfer­de nicht auch für die Mäd­chen sein?« frag­te ich, um aus sei­nem Mun­de die Be­stä­ti­gung mei­ner Rech­te zu ver­neh­men.

»Die Pfer­de sind für Alle, die rei­ten kön­nen«, lach­te er.

Also ich konn­te rei­ten! Der Wer­ner hat­te es ge­sagt, und der muss­te es ja wis­sen. Ich hob mich noch stol­zer im Sat­tel und fühl­te mich so si­cher in mei­nem Ama­zonen­t­hum, dass ich die Stan­ge los ließ und mich auf mei­nem Pferd­chen frei schwe­bend er­hielt. Die Mu­sik gröhlte, die Kin­der schri­en und san­gen, die Mecha­nik stöhn­te, und wir dreh­ten uns in wir­beln­der Eile. Eine Ver­zückung hat­te mich er­fasst; mir war’s, als läge die Erde tief un­ter uns, und wir saus­ten zu­sam­men furcht­los und se­lig durch die blau­en Lüf­te. Auf ein­mal stand das Car­rous­sel stil­le, die Mu­sik schwieg, und ein Mann ging her­um und sam­mel­te Geld ein. Auch ich reich­te ihm ein Geld­stück und woll­te be­trübt her­un­ter glei­ten. Aber Wer­ner sag­te: »So bleib doch sit­zen!« – und ein neu­er Wol­ken­ritt be­gann, so be­rau­schend und so kurz wie der ers­te. Noch meh­re­re Male blie­ben wir bei­de sit­zen, bis all’ un­ser Geld ver­rit­ten war, und es war im­mer noch viel, viel zu kurz ge­we­sen. Zö­gernd stie­gen wir end­lich her­un­ter. Das Dienst­mäd­chen war mit ei­nem Sol­da­ten, der sie wäh­rend des­sen an­ge­spro­chen hat­te, ver­schwun­den. Ich be­fand mich ganz al­lein in dem Ge­wühl – al­lein mit Wer­ner Horst. In mei­nem Freu­den­rausch fühl­te ich mich ihm so nahe, als wäre er mein Bru­der, nur ein bes­se­rer, lie­be­vol­ler­er Bru­der, denn er zeig­te mir kei­ne Missach­tung da­für, dass ich ein Mäd­chen war.

Wir trie­ben uns eine Zeit lang zu­sam­men auf der Fest­wie­se zwi­schen den be­setz­ten Ti­schen und Bän­ken her­um, stan­den vor dem mit wil­den Sze­nen be­mal­ten Vor­hang ei­ner Tier­bu­de, be­trach­te­ten voll In­ter­es­se das La­ger ei­ner brau­nen Zi­geu­ner­ban­de, die im Frei­en koch­te, und fühl­ten uns in dem Ge­drän­ge un­be­ob­ach­tet und se­lig. End­lich, als wir al­les wohl be­schaut hat­ten, sag­te Wer­ner:

»Jetzt geh’ ich in die Stadt Was­ta, willst Du mit?«