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Viele Menschen trauern der Kindheit nach oder hadern mit ihr. Weil eine (zumindest rückblickend) unbeschwerte Zeit vorüber ist oder weil sie meinen, ihre damals schmerzlichen Erfahrungen ständen ihnen für ihr heutiges Glück im Weg. Doch bei genauerem Hinsehen kann uns nichts Besseres widerfahren als das Erwachsenwerden, nichts Beglückenderes als das Erwachsensein – gerade auch in sehr herausfordernden Lebensumständen In lebendigen Beispielen zeigt der Arzt und Psychotherapeut Albrecht Mahr die Geschenke auf, die uns das Älterwerden macht: Verantwortung für sich zu übernehmen ist etwas zutiefst Befreiendes. Wir finden in eine zunehmende Weite, die durch Klarheit, Wohlwollen sich selbst und anderen gegenüber, spirituelle Erfahrung und nicht zuletzt durch Humor gekennzeichnet ist. Vielleicht ist es gar nicht so wichtig ist, ob wir eine glückliche Kindheit hatten. Denn es ist nie zu spät ist, ein glücklicher Erwachsener zu sein.
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Seitenzahl: 330
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ALBRECHT MAHR
Die in diesem Buch vorgestellten Informationen und Empfehlungen sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft. Dennoch übernehmen der Autor und der Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch der hier beschriebenen Methoden ergeben. Bitte nehmen Sie im Zweifelsfall beziehungsweise bei ernsthaften Beschwerden immer professionelle Diagnose und Therapie durch ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch.
1. eBook-Ausgabe 2022
© 2016 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Umschlagabbildung: © roundstripe/shutterstock.com
Layout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
Konvertierung: Bookwire
ePub-ISBN: 978-3-95803-523-2
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Für Brigitta, Johannes und Ines
Einführung
»Werdet wie die Kinder«: Ein spirituelles Missverständnis
Erwachsen sein
Zum Aufbau des Buches: Eine Lesehilfe
1. Kapitel
Positiv hoffnungslos – Über den erwachsenen Umgang mit kindlichen Illusionen
Zugehörigkeit: Urtrieb und Notwendigkeit
Selbstbilder: Garanten unserer Zugehörigkeit
Der Wächter: Ein mächtiger Irrtum in der Zeit
Der scheinbar harmlose Wächter: To-do-Listen
Der Wächter als Lebensgefahr
Der Wächter: »Willst du mich überwinden, so musst du wachsen«
2. Kapitel
Die Eltern und die sauren Trauben – Unser Standort im Strom von Vorfahren und Nachkommen
Einschließlichkeit
»Die Bürde des Menschen ist unantastbar«
Wie wir unsere Vorfahren wahrnehmen, so wirken sie in uns
Ungehorsam gegenüber den Vorfahren als Ausdruck von Respekt
3. Kapitel
Die freundlichen Toten – Gute Gedenkstätten
Heilsame Grenzen zwischen Lebenden und Gestorbenen
Sterben als Wandlung
Angst vor den Toten
Zum Wesen der Toten und unsere Vorstellungen von ihnen
Zweierlei gute Gedenkstätten
Was sind gute kollektive Gedenkstätten?
4. Kapitel
Identitäten: Segen, Abgründe und Lösungen oder »Wer bist du?« – »Ich bin niemand«
Was ist Identität?
Unsere neurobiologische Grundausstattung: Glückshormone bei Kooperation und Altruismus
Am Anfang: Gesunde, primäre Identitäten
Gefährliche Einengung: Hermetische Identitäten
Gefährliche Ausweitung: Kollektive Identitäten in Großgruppen
Mörderische Identitäten – Wie kommt es dazu?
Exkurs: Ein psychopolitischer Pionier
Drei weitere Faktoren, die Identitäten gefährlich verändern können
Erwachsen werden und die Notwendigkeit radikaler existenzieller Bewährung
Exkurs: »Peace Studies« – Ein harter und guter Weg
Eine Zwischenbilanz: Vier Merkmale für gefährliche Identitäten und die vier Medizinen dafür
5. Kapitel
Unser »wissender Körper«
Das Naturwunder Körper: Einige erstaunliche Zahlen und Befunde und – nicht aufgeben!
Merkwürdige Verbindungen: Die Kommunikation mit Pflanzen und mit eigenen Körperzellen
Körperwissen und Körpersprache
Systemisches Körperwissen: »Meine Leute sind alle in meinem Körper«
»Das Trauma liegt nicht im Ereignis, sondern im Körper«
Traumaauflösung ist Körperarbeit
Das Leiden am Körper, unreife Körperfeindlichkeit und erwachsene Körperfreundlichkeit
Der sexuelle Körper – Anarchie im eigenen Haus
Sexuelle Erfahrungen – Von heilig bis schrecklich
Zur »Kontrolle« von Sexualität
Sexualität, Gender, Kultur und systemisches Wissen
Der Segen medizinischen Fortschritts – Am Beispiel der Palliativmedizin
Die Würde-Therapie
In summa: Erwachsen im Körper
6. Kapitel
Das Herz – Der springende Punkt
Wissenschaftliches zum Herzen
Das kommunikative Herz: Neuronal, hormonell, elektromagnetisch und per Druckwellen
Das intelligente Herz: Herzkohärenz, Flow und womöglich Vorausahnung
Im Herzen alles fühlen – Aus dem Herzen keine Mördergrube machen
Das Herz als Wegweiser
Exkurs: Das Herz der anderen – Herztransplantation
Damit aus einer Organtransplantation etwas Gutes werden kann
Das spirituelle und das wissenschaftliche Herz – Ein Herz
Das Herzensgebet
Zusammenfassend: Das erwachsene Herz
7. Kapitel
Sucht – Die Sehnsucht nach einem guten Leben
Süchtig machen kann alles
»Drogen« sind nicht per se pathologisch
Hungrige Geister
Aus der Arbeit mit Drogenabhängigen
Krank machende Familienstrukturen: Notgereifte und überforderte Kinder
Die Bedeutungen der Drogen
Was therapeutisch hilft: Spiritus contra spiritum oder Spiritualität statt Spirituosen
Nützliches für die Therapie
In summa: Co-intelligente Nüchternheit, ein erwachsener Umgang mit Sucht
8. Kapitel
Kollektive Weisheit – Kollektive Dummheit – Kollektiver Wahnsinn
Herausforderungen kollektiv lösen
Was ist kollektive Weisheit?
Eine größere Familie: Die Verwandten von kollektiver Weisheit
Gute Bedingungen für kollektive Weisheit
Gemeinsam sind wir blöd – Wie entsteht kollektive Dummheit?
Des Teufels Advokat oder wie Gruppendenken verhindert werden kann
Gleichschaltung und ihre Bedingungen – Wie entsteht kollektiver Wahnsinn?
Traumaheilung in der Gemeinschaft
Ein guter Umgang mit kollektiver Weisheit und ihren Widersachern
9. Kapitel
»Der Krieg ist wie die Liebe: Er findet immer einen Weg« – Anmerkungen zur Unvermeidbarkeit von Krieg und zu Möglichkeiten jenseits von Krieg
Naive Vorstellungen vom Frieden
Die Menschheitsgeschichte ist eine Gewalt- und Kriegsgeschichte
Der Krieg: Faszinosum, Verheißung, Sinngebung
Eine herausfordernde Liste: Was für die unwiderstehliche Anziehungskraft oder gar »Notwendigkeit« von Gewalt und Krieg spricht
Überraschendes: Gewalt nimmt ab
Was haben wir richtig gemacht?
Exkurs: Systemische Momentaufnahmen in der Europäischen Union und in den Vereinten Nationen
Auf Engelsflügeln – Frauen und der Rückgang von Gewalt
Versuche zu Lösungen jenseits von Krieg
»Der Krieg ist wie die Liebe, er findet immer einen Weg« – Ist das so?
10. Kapitel
JETZT – Die einzig wirkliche Wirklichkeit
Ganz ins Jetzt kommen
Ewiges Damals und Jetzt
Was ist das Jetzt?
Erholung bei Haikus
Jetzt für jedefrau und jedermann
Förderliche Vergangenheit – Die Kunst, sich gut zu erinnern und gut zu vergessen
11. Kapitel
Jetzt in Auschwitz
Auschwitz ist heute auch ein guter Ort
Gewandelt? Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz
Ein zunehmend attraktives Ziel für Touristen
»Lass mich durch deine Augen sehen«
Epilog
Das Glück, erwachsen zu sein: »Was ist nicht Gnade?«
Nichts glauben
Die eigene Pest lieben
Festhalten, aufgeben und fallen: Auf die eigenen Füße
Anhang
Systemaufstellungen – Bewusstseinslaboratorien für das Erwachsensein
Dank
Literatur
Kind zu sein wird oft verstanden, als unbeschwert, spielerisch und spontan ein Leben ganz im Jetzt zu führen, voller Entdeckerfreude, Abenteuerlust und erfrischender Sorglosigkeit. Und Gott sei Dank gibt es solche glücklichen Kinder tatsächlich.
Und dennoch – Leiden heißt oft, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. Denn die Möglichkeiten des kindlichen Bewusstseins sind von Natur aus begrenzt und bringen ein Kind dazu, vieles auf sich zu beziehen und sich entsprechend belastet zu fühlen. Ist die Mutter zum Beispiel krank, ruft dies bei ihrem Kind oft den innigen Wunsch hervor, sie zu entlasten, und die Überzeugung, dafür vielleicht verantwortlich und, bei rechter Anstrengung, irgendwie auch fähig zu sein. Was zu chronischer Überforderung und zu Gefühlen von Versagen, Minderwertigkeit und Schuld führt. Als Erwachsener erlebt sich dieser Mensch später dann unter dem unbewusst fortdauernden Einfluss dieses Kinderbewusstseins ständig als verantwortlich, überanstrengt, untergründig erbost und entsprechend unglücklich.
In ihren Bewusstseinsgrenzen deuten Kinder ihre Lebenswirklichkeit immer wieder zu ihren Ungunsten und verknüpfen Ursachen und Wirkungen oft auf eine Weise, die für sie belastend oder gar ängstigend ist, indem ein Kind zum Beispiel annimmt: »Irgendwie liegt es an mir, dass meine Eltern so unglücklich sind und andauernd streiten. Wenn ich nicht da wäre, dann …«
Wenn Kinder unter traumatisierenden Umständen – also zum Beispiel von selbst schwer traumatisierten, vernachlässigenden oder drogenabhängigen Eltern – empfangen beziehungsweise gezeugt werden und das bereits während ihrer Zeit im Mutterleib und mehr noch nach ihrer Geburt erleben und spüren, gelten die skizzierten Glückseinschränkungen natürlich noch viel mehr.
Die als glücklich und unbeschwert idealisierte Kindheit ist für zahlreiche Kinder oft alles andere als nur schön, sondern von viel Furcht, Unsicherheit und Verwirrung geprägt, mit denen sie in ihrem kleinen Bewusstsein nicht gut umgehen können. So kann das Jesuswort »Werdet wie die Kinder« leicht missverstanden werden.
Nach Matthäus 18, 1–5 beschäftigen sich die Jünger mit der Rangfolge untereinander und fragen Jesus: »Wer ist doch der Größte im Himmelreich?« Jesus bittet darauf ein Kind mitten in die Runde und sagt: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich.«
Wenn wir zustimmen, dass mit »Himmelreich« kein äußerer Ort, sondern ein weit entwickelter, gereifter Bewusstseinszustand gemeint ist, und wenn wir dieses merkwürdige »sich selbst erniedrigen« zu verstehen suchen als das Wesensmerkmal eines Kindes im Sinne von Unbekümmertheit, Einfachheit, Bescheidenheit und mitfühlender Offenheit, so ist das für die meisten Menschen die Frucht eines langen Bewusstwerdungs- und Reifungsprozesses, der eines Tages vielleicht in die innere Verfassung des »Himmelreichs« führen kann. Jesus spricht dann mit dem Bild vom Kind offensichtlich über einen Reifungs- und Läuterungsweg, der nur einem erwachsenen Bewusstsein möglich ist, der also nicht als »Zurück in die Kindheit« gemeint sein kann, sondern als »Vorangehen zum Immer-bewusster- und damit Immer-erwachsener-Werden«.
Die Kindergleichnisse Jesu wurden von Theologen häufig so missverstanden, wie die jeweiligen Autoren sich vor ihrem zeitgeschichtlichen, beruflichen und persönlichen Hintergrund Kinder vorstellten oder wünschten. »Meist lesen die Auslegenden den Text, als hieße es: ›Werdet wie die braven Kinder‹«, und das heißt zum Beispiel: »… nicht stolz, frei von Bosheit und Streit … nicht frech, sie hassen und lügen nicht, glauben, was man ihnen sagt … fromm und fröhlich … nimmt die Strafen seiner Eltern an … anspruchslos …« (Luz 1997).
Die Situation von Kindern zur Zeit Jesu war jedoch alles andere als beneidenswert. Sie galten wenig, waren rechtlos und wurden auch zur Sklavenarbeit herangezogen. Sie waren gesellschaftlich »niemand«, und darauf mag Jesus hingewiesen haben: das Himmelreich als »das Königreich der ›Niemande‹«. »Ein Reich der Kinder ist ein Reich, in dem niemand was ist oder jeder ein Niemand« (Crossan 1994), wo es nicht auf Status oder Leistung ankommt, sondern auf einfaches So-Sein. Danach sind Kinder in sich bereits vollkommen, ohne sich dessen noch gewahr zu sein.
Das Missverständliche beim Bild von den Kindern spiegelt auch einen häufigen psychologisch-spirituellen Irrtum wider, den der amerikanische Anthropologe Ken Wilber als »Prä-Trans-Trugschluss« bezeichnet: die Verwechslung der kindlichen vorrationalen und vorbewussten Wahrnehmung (»prä«) mit dem transrationalen, gereiften und erwachsenen Bewusstsein (»trans«), ebendem »Himmelreich« – als das Königreich der bewussten, lebensfreundlichen »Niemande«.
Das Erwachsensein genießt nicht immer einen guten Ruf. Es ist die Rede von ständigem Leistungs- und Verantwortungsdruck, erschöpfendem Leerlauf, Stress und chronischen Erkrankungen, Verlust von Spontaneität und Kreativität, von Erstarrung in Traditionen und Konventionen oder von quälender Sinnleere. »Das vorherrschende Bild des Erwachsenseins vermengt all diese Bedeutungen zu einem einzigen sauren Gebräu« (Neiman 2014). Und tatsächlich leben wir als Erwachsene allzu oft in dieser Verfassung.
Bei genauerem Hinschauen aber kann uns nichts Besseres widerfahren als das Erwachsenwerden, nichts Beglückenderes als das Erwachsensein. Damit ist der Prozess gemeint, der unser Bewusstsein aus der Enge und der Gefangenschaft der kindlichen Vorstellungen herausführt in eine zunehmende Weite, die vor allem durch die Qualitäten Klarheit, Leichtigkeit, Selbstliebe, Liebe zu unseren Mitmenschen und zum Leben, Freundlichkeit, Wohlwollen anderen gegenüber und – nicht zuletzt – durch Humor auch in schwierigen Lebenslagen ausgezeichnet ist.
Tatsächlich haben Kinder oft viel weniger zu lachen als Erwachsene! Wie bereits angesprochen, deuten sie in ihren Bewusstseinsgrenzen ihre Lebenswirklichkeit immer wieder zu ihren Ungunsten und verknüpfen Ursachen und Wirkungen oft auf eine Weise, die für sie belastend oder gar ängstigend ist.
Wenn wir die viel größeren Möglichkeiten unseres erwachsenen Bewusstseins nutzen und ausschöpfen, so lebt es sich viel freier, als das vielen von uns als Kind möglich war. Das geschieht natürlich nicht von selbst, sondern braucht Einsicht, Förderung und Übung. Unser Bewusstsein wachsen und erwachsen werden zu lassen ist wie das Erlernen eines Musikinstruments, auf dem wir mit der Zeit immer schönere Töne hervorbringen.
Vom Glück, erwachsen zu sein – davon handelt dieses Buch. Es geht dabei nicht so sehr um das Noch-erwachsen-Werden als vielmehr um das Glück, zu realisieren, dass wir bereits erwachsen sind – auch wenn wir uns nicht immer so fühlen mögen.
Ich habe in den folgenden Kapiteln meine Erfahrungen als Arzt sowie als psychoanalytischer und systemischer Psychotherapeut1 – mit langjähriger Praxis als Abteilungsleiter in einer psychotherapeutischen Klinik –, als Ehemann und Vater, als Bürger der Bundesrepublik Deutschland und auch manchmal so empfindender Weltbürger zusammengetragen. Erfahrungen, die mir am Herzen liegen, die das Erwachsensein und Wege dorthin beleuchten und die dazu ermutigen, eigene Möglichkeiten zu erkunden. Ich greife dabei auf frisch überarbeitete eigene Vorträge und Fachartikel zurück, auf neu verfasste Texte, auf Erfahrungen von zahlreichen Reisen und von vielen Jahren Schulungen in Zen- und Vipassana-Meditation sowie im Diamond Approach, einer Methode, bei der Tiefenpsychologie und Spiritualität sich verbinden. Sie wird durch die Ridhwan-Schule vermittelt, eine in den USA gegründete international tätige gemeinnützige Vereinigung.
Das Wichtigste aber verdanke ich meiner Frau und Lebensgefährtin Brigitta und unseren Kindern Johannes und Ines, unserem Zusammenleben und unserem immer wieder so schönen Zusammenkommen aus verschiedenen Winkeln der Welt.
Die einzelnen Kapitel dieses Buches tragen ganz unterschiedliche Aspekte zum zentralen Thema »Erwachsensein« bei, sie sind also konzentrisch oder zentripetal darum gruppiert und sollen zusammen eine gute Orientierungshilfe dafür anbieten, wo die Leserin oder der Leser steht und wie ihr/sein Erwachsensein weiter gewinnen und wachsen kann.
Eine Einführung zu Beginn der Kapitel und am Ende eine kurze Überleitung zum Folgekapitel sollen die Übersicht erleichtern.
Die Kapitel können ohne Weiteres selektiv gelesen werden. Einzelne Aspekte und Themen – zum Beispiel zum Verständnis kollektiver Gewalt oder zur Spiritualität – tauchen wiederholt auf. Das wollte ich nicht vermeiden, sondern es geschieht im Sinne erhellender Perspektivenwechsel.
So sorgfältig ich konnte, habe ich die Quellen von Meinungen und Zitaten angegeben. Das war mir indessen nicht immer möglich, und so hoffe ich, dass mir die Kennzeichnung übernommener Ansichten gut genug gelungen ist. Im Zusammenhang mit Beispielen gebe ich öfter die Erfahrungen von Klienten wieder, ohne dies jedes Mal explizit zu benennen. Die Namen wurden natürlich jeweils geändert.
Ich folge keiner bestimmten konfessionellen Richtung, auch wenn ich als Mitteleuropäer vielleicht häufiger auf christliche Bilder und Begriffe zurückgreife.
Und schließlich der Hinweis, dass ich viele meiner Erfahrungen bei meiner Arbeit mit Systemaufstellungen gewonnen habe. Dies ist kein »Aufstellungsbuch«, ich habe jedoch für Interessierte im Anhang eine kompakte Zusammenfassung von den Essentials gegenwärtiger Aufstellungsarbeit angefügt, vor allem unter dem Gesichtspunkt des Erwachsenseins.
Beginnen wir nun die Erkundungen zum Glück, erwachsen zu sein, mit der merkwürdigen Erfahrung von »positiver Hoffnungslosigkeit«.
1»Systemische Therapie«, ein Begriff, der in diesem Buch häufiger auftaucht, bezieht sich nicht so sehr auf einzelne Personen und ihre Beschwerden, sondern auf »das System«. Das heißt auf das Netz aller wichtigen Personen (zum Beispiel die Familienmitglieder), die in ihren Wechselwirkungen »das Problem« gestalten beziehungsweise dann auch zusammen lösen können.
Am Ende einer Selbsterfahrungsgruppe kam in der Abschlussrunde die Reihe an einen Mann, der strahlend feststellte: »Es geht mir sehr gut. Ich habe hier alle Hoffnung verloren.« Seine Ausstrahlung war so positiv und seine Wärme so ansteckend, dass wir mit ihm zu dem Schluss kamen, er sei nun wohl »positiv hoffnungslos«. Gemeint war damit ein Zustand, der eintreten kann, wenn wir schließlich alle kindlichen illusionären Hoffnungen aufgeben können. Die Freiheit, die wir damit gewinnen, lohnt es, die Voraussetzungen dafür genauer zu untersuchen.
Menschen erleben nach der Geburt eine besonders lange Abhängigkeit von den Eltern oder von anderen Pflegepersonen. Wir werden in einem vergleichsweise noch sehr unreifen Entwicklungszustand geboren (wir sind »physiologische Frühgeburten«), der uns körperlich und seelisch für mehrere Jahre existenziell besonders auf die Mutter, zunehmend aber auch den Vater angewiesen sein lässt. Damit wird die sichere Zugehörigkeit zu den frühen Bezugspersonen, zu unserer »Überlebensgruppe«, buchstäblich zu einer Frage von Leben und Tod.
Wenn Eltern und Bezugspersonen dem Kind in seinen ersten Lebensjahren wegen Krankheit, eigener Traumatisierung oder aus sozialer Not keine sichere Bindung geben können, kommt es in größte Schwierigkeiten. Das kleine Kind versucht um jeden Preis, seine Zugehörigkeit zu den Menschen zu sichern, von denen es auf Gedeih und Verderb abhängig ist. Es ist bestrebt, in den verwirrenden Erfahrungen von erlebter Not, überforderten Eltern, großer eigener Angst und ungestillter Bedürftigkeit einen Weg zu finden, der eines unbedingt verhindern soll: die eigene Zugehörigkeit zu verlieren, allein zu sein und dann – so muss das Kind fürchten – auf womöglich schreckliche Weise sterben zu müssen. Das kann im Extrem für das Kind zu so paradoxen und ausweglosen Dilemmata führen wie: »Ich kann meine Eltern am besten dadurch entlasten, dass ich gar nicht da bin. Meine Eltern mögen oder wenigstens ertragen mich dann am meisten, und ich darf so etwas wie ›dazugehören‹, wenn ich verschwunden bin.«
Mildere Formen von kindlichen Annahmen über die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zugehörigkeit sind zum Beispiel »Wenn ich still bleibe und mich ganz zurücknehme, sind meine Eltern (oder andere Pflegepersonen) zufrieden mit mir«, »Wenn ich strahle, viel lache, immer ein Sonnenschein bin, geht es allen besser« oder »Wenn ich bei Streitereien immer vermittle, so gut ich kann, und es allen recht mache, dann geht es wieder für eine Weile; wenn ich das nicht schaffe, werde ich nicht mehr gemocht«. Sprich: »… gehöre ich nicht mehr sicher dazu.«
In diesen ersten Jahren entstehen unsere Selbstbilder, das heißt unsere Überzeugungen und Gewissheiten, die Art, wie wir uns selbst sehen und wer wir zu sein glauben. Wir nennen diese seelische Struktur auch »Ich« oder »Ego«. Die Selbstbilder sind das Resultat unserer Erfahrungen und unserer Bemühungen darum, sicher dazugehören zu können. Zum Beispiel kann ich überzeugt sein, ich würde wirklich nur dann akzeptiert, wenn ich immer erst das Wohl aller anderen sähe und mich selbst stets hintanstellte. Das könnte in einer strenggläubigen Familie noch verstärkt werden durch die Überzeugung, dass auch die Zugehörigkeit zum »Reich Gottes«, zu der übergeordneten »Familie«, jene Selbstverleugnung verlange und belohne. Und dieses Selbstbild (und viele andere Selbstbilder) garantiere meine »sichere« Zugehörigkeit, von der Ursprungsfamilie bis zur Gemeinschaft mit Gott – so die kindliche Vorstellung.
Wenn Eltern durch eigenes Schicksal und Leiden belastet sind und sich deshalb ihrem Kind nur eingeschränkt oder gar nicht zuwenden können oder es missbrauchen, entstehen im Kind machtvolle Überzeugungen und Selbstbilder, um mit dieser unerträglichen Realität umzugehen. Das in dem späteren Erwachsenen fortlebende Kind ist dann unter Umständen für sein ganzes Leben von Illusionen wie den folgenden überzeugt:
>»Wenn meine Mutter/mein Vater mich nicht sehen und anerkennen, wenn ich also nicht dazugehören darf, kann ich nicht leben. Ohne ihre Zuwendung muss ich sterben.«
>»Irgendwie liegt es auch an mir, und ich bin mit daran schuld, dass Mutter/Vater mich nicht sehen und mich so behandeln. Irgendetwas ist an mir nicht richtig, stimmt nicht.«
>»Es ist also meine Aufgabe und meine Verantwortung, mich so zu ändern, dass Mutter/Vater erleichtert sind, es ihnen besser geht und sie sich dann auch mir zuwenden können. Ich muss herausfinden, was an mir nicht in Ordnung ist, und es dann ändern.«
>»Wenn ich mich nur genügend anstrenge, wenn ich mir alle Mühe gebe, mich zu ändern, so wie meine Eltern das möchten und brauchen, dann werden sie mich endlich sehen und annehmen und mich lieben.«
>»Ich kriege das hin, ich kann das, ich schaffe das, und kein Preis ist mir dafür zu hoch, kein Warten zu lang. Ich werde das schaffen: Mutter/Vater werden mich schließlich wahrnehmen, wertschätzen und sogar lieben.«2
>»Wenn mir das aber nicht gelingt, dann muss ich mit unerträglichen Schuld-, Versagens- und Schamgefühlen leben und im Gefühl von andauerndem Mangel und Entbehrung. Dazu kommt dann ein untergründiges heftiges Wutgefühl, zu dem ich jedoch keine Berechtigung habe. All das ist dann eine unentrinnbare Situation, mein Schicksal.«
Auf dem Lösungsweg aus dieser Not begegnet uns nun eine große Herausforderung, die unvermeidlich und notwendig ist: der Wächter.
Die Angst, unsere ursprüngliche Zugehörigkeit zu verlieren, kann uns also das ganze Leben lang begleiten. Da wir aber Bewusstsein besitzen und entwickeln können – Selbstreflexion, Einsicht und Weisheit –, sind wir zu dieser Angst nicht »auf lebenslänglich« verurteilt, sondern wir können davon frei werden. Dabei stoßen wir auf den Wächter, eine aus Kinderangst genährte Struktur unseres Bewusstseins, die unser kindliches Selbstbild und damit unsere vermeintlich sichere Zugehörigkeit mit aller Macht und unter Strafandrohung bewahren will. Wir kennen diesen Wächter auch als »strenges Gewissen«, als »inneren Richter« oder als das »Über-Ich« der Psychoanalyse.
Der gesunde Anteil des Wächters besteht in Orientierung und Schutz, die unsere Eltern und Nächsten uns mitgegeben haben, zum Beispiel beim Umgang mit Feuer, beim Verhalten im Straßenverkehr und bei vielen anderen Gefahren. Der ungesunde Anteil des Wächters aber insistiert auf Stillstand und Nicht-Entwicklung, auf Kind-Bleiben und Nicht-erwachsen-Werden.
Immer dann, wenn wir uns aus dem Kraftfeld unserer Eltern und Herkunft lösen wollen, meldet sich der Wächter und will uns aufhalten. Angst ist sein mächtigstes Mittel:
>die Angst, im Leben die falsche Richtung einzuschlagen, zu versagen und zu scheitern,
>die Angst, den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Wünschen nach Veränderung nicht trauen zu können und »verrückt« zu sein,
>die ängstigende Vorstellung, dass es mir nicht gut gehen darf, dass mir Glück nicht zusteht,
>die Angst, dass ich meine Eltern, Partner, Kinder oder Freunde verrate und am Ende ganz allein dastehe.
Jede(r) von uns könnte diese Liste weiter fortschreiben.
Noch einmal: Die einschüchternden und lähmenden Argumente des Wächters sind ausschließlich gespeist aus den ersten Kindheitsjahren, der damals realen Abhängigkeit, den daraus entstandenen Selbstbildern und der Überzeugung, dass diese vergangenen Verhältnisse noch immer Gültigkeit haben. Wir leben dann in einer Art ewig gegenwärtiger Vergangenheit, in einem schweren Irrtum in der Zeit, und wir sind abgeschnitten von der Wirklichkeit der aktuell gegebenen Lebensumstände.
Aufgaben mithilfe von To-do-Listen gut einzuteilen und sinnvoll zu strukturieren ist prinzipiell sehr nützlich. To-do-Listen können aber auch Ausdruck ständiger innerer Unruhe und einer Stimme sein, die uns unaufhörlich sagt: »… noch die beiden E-Mails schreiben … und die Telefonate, wo ich gestern nicht durchgekommen bin … und das Bahnticket buchen … und eben das Laub zusammenkehren … und die eine Yogaübung für die Halswirbelsäule … und mal kurz so richtig Pause machen … und schnell noch einkaufen … und, und, und.« – Diese Vertagungsmentalität ist ein weitverbreitetes und scheinbar doch harmloses Phänomen, aber was geschieht da eigentlich?3
Aufdringliche und unersättliche, nie abgeschlossene To-do-Listen sind ebenfalls Ausdruck einer Kindernot.
Ein älterer Kollege sagte mir einmal beim Pausenkaffee während einer Tagung: »Die Pausen sind doch das Beste von Tagungen. Da gibt’s für ein paar Momente nichts zu erledigen, kein Aufpassen, Mitschreiben, Nachdenken, nur mal rumhängen bei Saft oder Kaffee, nichts weiter sagen oder nur was Belangloses …« Dann trat eine Gesprächspause ein. Daraus entwickelte sich aber doch noch ein gutes Gespräch, bei dem ich von meinem Partner erfuhr, dass er für sich die Beweggründe seiner »To-do-Manie« herausgefunden hatte. Nachdem er sein Leben lang hintergründig ein diffuses Schuldgefühl mit sich herumgetragen hatte, konnte er das in letzter Zeit begreifen. Dabei habe ihm ganz sicher sein fortgeschrittenes Alter geholfen. Kurz gesagt, war er unbewusst schon immer mit dem Versuch beschäftigt, stellvertretend die Schuld seines Vaters und von dessen Vater, seinem Großvater, abzutragen, die diese aus aktiver Beteiligung an nationalsozialistischen Übergriffen in Polen und Russland zu verantworten hatten. Er, mein Kollege, habe bisher ganz gut damit gelebt, sich nicht weiter damit zu beschäftigen, aber nun wolle er das so nicht mehr. Die To-do-Listen und ihr »Es ist nicht genug, es reicht nicht …« waren eine permanente Erinnerung an seinen kindlichen Versuch, etwas Unmögliches zu bewerkstelligen.
Es kann also lohnend sein, unsere eigenen endlosen To-do-Listen und ihr ewiges »Erst wenn …, dann …« unter die Lupe zu nehmen. Denn sie können über den psychologischen Aspekt hinaus auch noch auf etwas anderes, durchaus nicht Harmloses aufmerksam machen.
Unter dem mächtigen Einfluss des Wächters an solchen kindlichen Überzeugungen festzuhalten ist unter Umständen lebensgefährlich. Nicht nur seelische, sondern auch ernste körperliche Krankheiten können nämlich daraus resultieren, dass wir blinde Opfer an unsere Selbstentfaltung und Lebensfreude bringen, um illusionäre Liebesziele bei unseren Eltern oder Pflegepersonen und bei denen zu erreichen, die später für sie stehen – zum Beispiel Partnern.
Die Gefährlichkeit ist nicht schwer zu verstehen und in der Sozio-Psychosomatik seit Langem gut bekannt. Der andauernde Kampf gegen die natürliche Lebensentfaltung eines Kindes und vor allem die ständige Unterdrückung der großen Gefühle wie Freude, Liebe, Ärger/Wut, Angst, Schmerz und Trauer – zusammen ein Synonym für »Leben« – führen früher oder später zu schwerer und unter Umständen tödlicher Krankheit (mehr dazu im 5. Kapitel, »Unser ›wissender Körper‹«). Dahin muss es aber nicht kommen.
So könnte der Wächter zu uns sprechen, wenn er sein Geheimnis preisgäbe. Wie also sehen die nächsten Wachstumsschritte auf unserem Weg zur erwachsenen positiven Hoffnungslosigkeit aus?
Es ist vor allem unsere eigene Lebendigkeit, die für weitere Bewegung sorgt. Wir verlassen ja schon früh die Familie in Kindergarten, Schule, später dann in Sport- und vielen anderen Vereinen, politischen Gruppen, Ausbildungs- und Berufsgruppen sowie Liebesbeziehungen – und dort gelten oft ganz andere Zugehörigkeitsregeln als zu Hause. Es kann uns dann sehr unter Druck setzen, wenn zum Beispiel in einer Kunst-AG besondere Bescheidenheit oder Zurückhaltung nicht wirklich geschätzt werden, sondern eher ein risikofreudiges Experimentieren und Sich-Zeigen. Die vertrauten Selbstbilder und ihre Anerkennung bleiben aus, und wir werden schmerzlich und beängstigend mit unseren Entwicklungsstillständen konfrontiert. Ein typischer Konflikt tritt deutlich ans Licht: »Treue und Loyalität oder Entwicklung?« Wenn ich den vertrauten kindlichen Selbstbildern und Zugehörigkeitswünschen folge, bleibe ich seelisch, geistig und oft sogar körperlich zu Hause und verharre in der Illusion, dass sich das eines Tages doch noch auszahlt und ich dafür die entbehrte Anerkennung bekomme. Der Preis hierfür sind Stillstand und oft auch Krankheit. Wenn ich aber meinem Lebensruf nach lebendiger Entwicklung folge, muss ich mich den Gefühlen von Angst, Loyalitätsbruch mit den Eltern, Schuld und Alleinsein stellen. Das ist nicht angenehm, aber eben der unvermeidliche Preis für Wachstum – und es lohnt sich allemal, ihn zu zahlen!
Zu Beginn steht oft die Erfahrung, dass die jahrelangen Bemühungen von Anpassung, Zurückhaltung der eigenen Lebendigkeit, rücksichtsvollem Stillhalten und Entwicklungsstillstand eigentlich nicht viel geändert haben. Das Schicksal meiner Eltern, ihre Traumata, Verluste und enttäuschten Hoffnungen konnte ich ihnen kaum erleichtern oder gar abnehmen. Es stand nicht in meiner Macht. Mit dieser Einsicht kann die bewusste Wahrnehmung einer großen Erschöpfung verbunden sein, die die jahrelangen Anstrengungen widerspiegelt.
Kinder von Holocaust-Überlebenden spüren manchmal, dass es ihre Eltern eigentlich zu ihren ermordeten Angehörigen zieht und sie große Mühe haben, im Leben zu bleiben. Solche Kinder setzen ihre ganze Kraft daran, ihre Eltern am Leben zu erhalten, wozu sie tatsächlich auch beitragen können. Eltern sagen zu ihnen, mit und ohne Worte: »Ohne dich und deine Lebendigkeit hätte ich es nicht geschafft. Ohne dich wäre ich längst gegangen.« In solchen extremen Fällen lagen Leben und Tod der Eltern für eine Weile tatsächlich auch in den Händen der Kinder. Für sie als Erwachsene ist es später wichtig, die unglaubliche Anstrengung, die enorme Überforderung, aber auch die Unausweichlichkeit dieser Aufgabe bei sich anzuerkennen und zu würdigen.
Erschöpfung und deren bewusste Wahrnehmung kann also die Tür öffnen für die weiteren fünf Schritte zur positiven Hoffnungslosigkeit.
Es geht um die Einsicht, dass ein kleines Kind sein Leben sehr wohl bedroht sieht, wenn es nicht liebevoll wahrgenommen, nicht genügend gesehen oder sogar abgelehnt wird – dass diese Zeit für den Erwachsenen nun aber vorbei ist, der ganz andere Möglichkeiten als das Kind hat. Auch wenn der Erwachsene sich noch so wie das damalige Kind fühlen mag, de facto ist er es nicht mehr, und er kann von den folgenden weiteren Möglichkeiten Gebrauch machen. Zur Sicherheit hier eine kleine Zwischenfrage an den Leser, bitte ohne groß nachzudenken: Wie alt sind Sie? Wenn Sie gleich Ihr richtiges Alter wissen, ist es in Ordnung. Wenn Ihnen ein viel jüngeres Alter einfällt, könnte das Ihr Interesse wecken.4
Mit »Verzicht« verbinden wir oft etwas Negatives, Schmerzliches und Schales. Verzicht kann aber der »Königsweg in die Freiheit« sein.
Bildlich gesprochen stehen viele Menschen vor ihren Eltern – und warten. Wie wir schon gesehen haben, warten sie darauf, dass von den Eltern endlich noch das kommt, was gefehlt hat: liebevolle Zuneigung, Schutz, Unterstützung, Trost, Anerkennung, Stolz, Bekenntnis eigener Schuld, Bedauern … So als sagten die schon längst erwachsenen Kinder zu ihren Eltern: »Erst wenn ich das endlich von euch bekomme, bin ich fähig und frei, mein eigenes Leben zu leben. So lange muss ich eben warten.« Dieser Ort – vor den Eltern stehen und warten – ist ein Gefängnis, man kann dort lebenslänglich einsitzen. Das Leben rauscht an diesem Ort vorbei, man kann schnell darin alt werden und in Verbitterung sterben.
Verzicht fällt uns nicht in den Schoß, er ist das Resultat von viel Arbeit. Die nach langer Zeit errungene Einsicht, dass die Eltern nicht in der Lage waren,5 dem Kind das Entbehrte zu geben, kann es schließlich ermöglichen, die Eltern und sich selbst nicht mehr länger mit illusionären Erwartungen und Hoffnungen zu bedrängen.
Verzicht ist das Gegenteil von Resignation. Wer eines Tages bewusst verzichten und positiv hoffnungslos werden kann, der richtet sich auf, erlebt mehr Weite und atmet die frische Luft von Freiheit. Wer resigniert bleibt und vielleicht sagt: »Na ja, okay, es hat keinen Sinn, ich lasse halt los«, der sinkt dabei zusammen, fühlt sich matt und ist untergründig wütend.
Verzicht ist also die Befreiung aus dem Gefängnis illusionärer Hoffnungen und nicht etwa der endgültige Absturz in die Hölle ewigen Mangels – so fürchten wir als Kinder. Die Welt in ihrem Reichtum und ihrer Schönheit kann sich uns erst zeigen, wenn wir die Eltern mit allem Respekt zurücklassen und sie in der Vergangenheit hinter uns wissen. Erst dann können wir die früher erlebte Not heute im Zusammensein mit anderen Menschen und in besseren Umständen ausgleichen und befrieden.
Unterstützend für diesen Prozess des Verzichtens sind natürlich all die Einsichten, die uns die eingehende Beschäftigung mit der Familiengeschichte geben kann: die eigenen Verstrickungen der Eltern über die Generationen hinweg und ihre Schicksalsbindungen aus Krieg, Vertreibung, schwerem Verlust und anderen großen Ereignissen. Diese sind ja nicht durch uns, die Kinder unserer Eltern, verursacht, sodass wir zwar davon berührt, aber nicht für deren Lösung zuständig und verantwortlich sind.
Erfahrungsgemäß sind Systemaufstellungen besonders hilfreich dabei, die genannten Zusammenhänge aufzuklären und unmittelbar zu erleben. Das ist viel wirksamer, als lediglich davon zu wissen.
Wir haben schon von der Bedeutung und den Wirkungen des Wächters gehört, dessen Funktion sich zum Beispiel in ständiger Unruhe, Gefühlen wie »Es ist nie genug«, geringem Selbstwert oder Freudlosigkeit äußern sowie zu körperlichen Beschwerden und Krankheiten führen kann.
Zwei Dinge beim erwachsenen Umgang mit dem Wächter sind besonders wichtig. Zum einen liegt es in seiner Natur, dass er immer dann aktiviert wird, wenn wir den Entschluss fassen, uns weiterzuentwickeln, und das auch tun. Wir provozieren damit die kindliche Angst, die Bedingungen unserer Zugehörigkeit zu verletzen, und fürchten dann Ablehnung, Verurteilung und Einsamkeit. Als Erwachsene wissen wir nun: Diese Gefühle sind zu erwarten, sie gehören zum Wachsen dazu und bedeuten keinesfalls, dass ich »es« falsch mache, dass ich immer scheitern muss oder etwas Ähnliches. Sondern vielmehr, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Angenehm ist das nicht, aber das hat uns auch niemand versprochen. Es ist im Wortsinn not-wendig: zum Wenden der Not.
Zum Zweiten sind wir dem Wächter nicht hilflos ausgeliefert, sondern es gibt viele »Techniken«, das heißt vom Wortsinn her »Kunstfertigkeiten«, mit denen wir dem Wächter wirkungsvoll begegnen können. Ich will hier nur einige davon nennen und Sie damit anregen, sich selbst weiter kundig zu machen (zum Beispiel bei Brown 2012 oder Peichl 2014):
>Eine ganz einfache Möglichkeit, sich klarzumachen, dass wir unter dem Einfluss des Wächters (inneren Richters/Über-Ichs) stehen und nicht eine weise innere Stimme vernehmen, ist die erlebte Wirkung. Wenn ein inneres »Du solltest eigentlich …!«, »Wieso hast du nicht …?«, »Sag mal, wann bist du endlich erwachsen?« oder »Es ist doch nur zu deinem Besten« eine kalte, vorwürfliche Qualität hat und, wenn auch nur subtil, eine unangenehme klein machende oder defensive Anspannung in uns auslöst, dann erleben wir nicht »die Wahrheit«, sondern eine Über-Ich-Forderung. Wir wissen dann, dass diese ihre Zeit hatte, heute nicht mehr stimmt und eine klare Distanzierung erfordert.
>Mit anderen Worten: Der Wächter hat keine Weisheit, kein überlegenes Wissen. Ursprünglich diente er unserem Überleben und der Sicherstellung unserer Zugehörigkeit. Heute aber ist er ein Irrtum in der Zeit, ist substanzlos und hat längst ausgedient.
>Argumentieren oder verhandeln, umstimmen, geneigt machen, sich verteidigen oder rechtfertigen – all das ist überflüssig und untauglich, und es kommt aus unserer Kinderseele, die dem Wächter noch imaginäre Macht gibt. Wir sind aber erwachsen und können das folgendermaßen bekräftigen.
>Klare Stellung beziehen gegenüber den Symptomen des Wächters, nachdem wir sie deutlich als solche erkannt haben. Dazu kann gehören: sich an die Substanzlosigkeit, die Leere des Wächters zu erinnern und ihn zu ignorieren.6 Ohne weitere Auseinandersetzung Abstand zu nehmen, durchaus mit ein paar Schritten rückwärts, konkret oder als innere Bewegung. Und schließlich kann es gelegentlich angemessen sein, den Symptomen des Wächters ein entschiedenes und lautes »Nein!« mit entsprechender abgrenzender Gestik entgegenzusetzen. Ein gutes Maß an konstruktiver Wut und sehr deftige Kraftausdrücke finden hier auch ihre nützliche Anwendung. Dadurch kann der Wächter sogar zu einer Art von Verbündetem werden (Peichl): Er fordert uns heraus, endlich kraftvoll für uns selbst einzutreten und die Vorstellung aufzugeben, wir seien das Opfer unserer Eltern und Vorfahren oder unserer Geschichte. Dass wir die innere Kraft dafür aufbringen und ausdrücken, verdanken wir vor allem der Auseinandersetzung mit dem Wächter. In diesem Sinn wird er eines Tages seine Schuldigkeit getan haben und gehen können.
Die tiefste Lösung für diese Konflikte liegt am Ende in unserem Innersten dort, wo wir immer unversehrt waren und sind und wo wir schon immer fraglos zugehörig waren und bleiben. Dieser Raum des Nicht-Bedingten wird von allen spirituellen Traditionen als die »wirklichste aller Wirklichkeiten« beschrieben mit der Zusicherung, für jeden Menschen unmittelbar zugänglich und erfahrbar zu sein. Ein Sufi sagt von dieser Wirklichkeit, sie sei »uns näher als der eigene Herzschlag«,7 und bestätigt damit, dass wir längst dort angekommen und heimisch sind, wonach wir uns immer gesehnt haben, weil wir tatsächlich nie davon getrennt waren. Diese Erfahrung setzt voraus, dass wir unsere Hausaufgaben hinsichtlich positiver Hoffnungslosigkeit sorgfältig und geduldig erledigen. Das führt schließlich dorthin, dass wir zu unseren Eltern sagen können: »Heute brauche ich euch und eure Zuwendung nicht mehr so wie damals. Ich bin erwachsen. Und ich bin frei und achte euch genau so, wie ihr wart und heute seid. Und dass ich diese Freiheit gewinnen konnte, verdanke ich euch – dem Leben, das von euch kommt, und den reichen Möglichkeiten, die darin liegen.«
Nach diesem ganz auf die Wirkung der Dreiergruppe Eltern–Kind bezogenen Kapitel erweitern wir jetzt unsere Sicht auf die Viel-Generationen-Perspektive. Wir leben in der Generationenabfolge von Vorfahren und Nachkommen. Nachkommen müssen keine Blutsverwandten sein, sondern es sind auch diejenigen, auf deren Leben mein eigenes Leben eine direkte oder auch eine mittelbare, feinere Wirkung hatte.
2An dieser Stelle ist es sinnvoll, »die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben«, wie es in der systemischen Therapie heißt. Unser kindliches Bewusstsein hofft, durch entsprechende Anstrengungen rückwirkend doch noch alles gut werden zu lassen. Diese Hoffnung als Illusion zu erkennen und die Vergangenheit so anzuerkennen, wie sie nun einmal war, ist am Ende befreiend und sehr erleichternd.
3Wir betrachten uns gern als ein Selbstoptimierungsprojekt: immer auf Verbesserung aus. Das ist eine kindliche Einstellung, die ständig das mit einem »Ja, aber …« ablehnt, was uns im Moment ausmacht.
4Der Trainer des Rekordhalters und Langstreckenschwimmers Jim (Name geändert) berichtet von seinen Trainingsmethoden (persönliche Mitteilung): »Wenn Jim ans Limit kommt, frage ich ihn mittendrin schon mal zu meiner Orientierung: ›Wie heißt deine Freundin?‹ Und wenn er mir dann mit äußerster Anstrengung den Namen seiner Mutter zuschnauft, dann weiß ich: Er muss raus.«
5Gerade dann, wenn die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, offenbar nicht willens waren, ihren Kindern Zuneigung und Unterstützung zu geben, ist der Verzicht der vielleicht wirksamste Schritt ins eigene Leben.
6Von Karl Valentin wissen wir, dass es die vernichtendste Behandlung eines Gegners ist, »ihn nicht mal zu ignorieren«.
7Ali Hameed Almaas, mündliche Mitteilung auf der Tagung »Konflikttransformation und Mystik« in Würzburg, 29. April bis 1. Mai 2011.
In der Tradition nordamerikanischer Indianer sieht sich jeder Einzelne in seinem Leben verbunden mit sieben vorhergehenden und sieben nachkommenden Generationen. Es erweist sich als eine wichtige und oft durchaus herausfordernde Kraftquelle für unser Leben, sich verbunden mit Eltern und Ahnen zu wissen und als mitgestaltend und verantwortlich für die nachfolgenden Generationen – ob es um eigene Nachkommen geht oder um später Geborene, die von unserem Leben und seinen Wirkungen direkt oder indirekt beeinflusst sind. Damit stehen wir mitten im Strom von etwa 450 Jahren nach- und weiterwirkenden Beziehungen (das sind einschließlich unserer eigenen fünfzehn Generationen von je dreißig Jahren). Der aus der Lebensphilosophie der südafrikanischen Zulu stammende Begriff »Ubuntu« (»Ich bin, weil du bist« oder etwas weiter gefasst und an Vor- und Nachfahren gerichtet »Ich bin, weil ihr vor mir wart – ihr seid, weil ich vor euch war«) fasst das gut zusammen. Es gehört zu den Vorzügen des Erwachsenseins, unser Leben bewusst davon bereichert zu wissen.
»Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden die Zähne stumpf«, so wusste es bereits der Prophet Jeremia (31, 29) vor über 2500 Jahren. Er beschreibt damit die seit Menschengedenken bekannte Tatsache, dass Wissen und Erfahrungen früherer Generationen unbewusst weitergegeben werden an die Nachkommen. Sigmund Freud war sich sicher, »dass keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen« (Freud 1973). Die gegenwärtige Familientherapie ist unter anderem deshalb so erfolgreich, weil sie die »transgenerationale Weitergabe«8 von ungelösten Verletzungen und Traumatisierungen, von Schuld und überwältigenden Verlusten sorgfältig in die Lösungssuche einbezieht. Genauso werden aber auch die positiven Kräfte, das über Generationen gewachsene Erfahrungswissen und die Zuversicht aus mutigen und großherzigen Lebensläufen von früheren Generationen an die späteren weitergegeben. So lohnt es sich ganz praktisch, das eigene Leben und das unserer Vor- und Nachfahren als einen reichen Strom von Empfangen und Weitergeben wahrzunehmen und auf diese Weise, oft überraschend wirksam, dazu beizutragen, vermeidbares Leiden abzuwenden und aufzulösen.
In der Generationenfolge sind es vor allem zwei Dynamiken, die es zu beachten gilt: Einschließlichkeit und die Unveräußerbarkeit des eigenen Schicksals.
Einschließlichkeit beschreibt eine Haltung, in unserer gegenwärtigen Familie wie bei unseren Vorfahren allem und jedem sein Dasein, seinen Raum, seine Zugehörigkeit zuzuerkennen. Das ist nun gewiss nicht leicht zu bewerkstelligen, sondern es ist mit einem anhaltenden Ringen verbunden, aber immer auch mit vielen schönen Überraschungen – wenn uns, wie im Märchen, die Lästigen, die Hinderlichen oder die Ekelhaften ebenso wie die eigenen inneren Nachtwesen und Schreckgestalten manchmal zu den entscheidenden Helferinnen und Helfern werden.
Die Praxis der Einschließlichkeit erweist sich als eine äußerst nützliche psychologische und spirituelle Schulung, uns nicht nur der Opfer schlimmer Ereignisse anzunehmen, sondern uns auch ganz besonders denjenigen zuzuwenden, die im üblichen Verständnis gescheitert, schuldig, schlecht, übel, gewalttätig, missbrauchend, hasserfüllt oder gemein sind. Damit folgen wir weniger einer moralischen Forderung als vielmehr einem »systemischen Naturgesetz«, das für die Erinnerung von ausgeschlossenen, entwerteten oder missachteten Systemmitgliedern auf besondere Weise sorgt. Wer zu unserer Familie gehört, sei es durch Blutsverwandtschaft oder durch Schicksalsbindung (zum Beispiel ein Soldat, der dem Vater das Leben gerettet hat), gehört zur Familie, ganz unabhängig von seinem oder ihrem Verhalten.
Zugehörigkeit ist keine moralische Kategorie, sondern eine Kategorie des Faktischen: Mein Vater bleibt mein Vater, auch wenn er zum Mörder geworden ist. Wenn wir nun aus moralischen Gründen Mitglieder unserer Familie ausschließen (»Der Großvater war ein hochstehender Nazi«, »Die Mutter war Alkoholikerin und hat ihre Kinder geschlagen« und Ähnliches), so sorgt das genannte systemische Naturgesetz der Einschließlichkeit