Von der Freiheit des Huhns zu picken - Gaetano Altopiano - E-Book

Von der Freiheit des Huhns zu picken E-Book

Gaetano Altopiano

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Beschreibung

Gaetano Altopiano stellt Sätze auf, wie andere Bäume setzen. Tiefgründig.  Und plötzlich entsteht da ein Wald, und man sieht den Baum mit anderen Augen. Immer relativ und durchaus grenzüberschreitend. Flunkernd, aber ernst. Im besten Sinn wird hier kombiniert, anstatt sich bloß etwas zusammenzureimen.  Altopiano denkt gegen den Strich, positioniert sich auf der Gegenseite des Mainstreams, sieht genauer hin, durchkämmt Kultur- und Wissenschaftswelten, die Literatur, den Film, um im Schlich des Alltäglichen gedanklich Gold zu schürfen. Essayismus en miniature.  Ein Brevier für Ungläubige. Das nennt man Witz, der (sich) nicht nach dem buon gusto richtet.  Gaetano Altopianos Themen können vielfältiger nicht sein: Von physikalischen Gesetzen, soziologischen Studien, medizinischen Untersuchungen, Heil- und Therapiemitteln, Glaubenssätzen, Zahlenmystik, ökonomischen Theorien, über Nostalgie, Synästhesie, Prophetie bis Alltagsbeobachtungen reicht das Repertoire, von Descartes, Schopenhauer, Hegel, Freud, Platon, Dante ... die Anspielungen.

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Seitenzahl: 49

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GAETANO ALTOPIANO

Von der Freiheit des Huhns zu picken

Aus dem Italienischen vonMonika Lustig und Elvira M. Gross

Gaetano Altopianos Kürzestessays werfen uns mit wenigen Sätzen in die Tiefen einer existenziellen Auseinandersetzung mit Zeit, Bewusstsein und Identität. Wer sich zu sehr in seine Werke vertieft, wird bald die Grenze zwischen Realität und Fiktion infrage stellen. Mit einem Augenzwinkern spielt Altopiano gekonnt mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Existenz seiner Protagonisten. Er ist ein Meister der Verwirrung, doch immer mit einem „Glas klaren Verstandes“ in der Hand, das den Leser daran erinnert, dass hinter dem überraschend Fragwürdigen eine tiefe, durchdachte Überlegung liegt.

Michele Scuirba, Herausgeber

E-Book

© Edition Faust, Frankfurt am Main 2024

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

www.editionfaust.de

Lektorat: Elvira M. Gross

Buchgestaltung, Satz: Kevin Mitrega, Schriftloesung

ISBN E-Book: 978-3-949774-54-6

Inhalt

Zeitgeist

Die Stunde ohne Schatten

Der Zweifel des Hundes

Blickwinkel

Mikrozephalie

El Sur

Italiener über sechs Jahre

Scheinbar wahre Sätze, scheinbar falsche Sätze

Kosten und Gewinne

Die Boshafte

Nicht statische Gesichter

Von der Freiheit des Huhns zu picken

Um ein Quäntchen größer als ich

Wildlachs

Im Atomaren das Subatomare

Sibirische Erziehung

Wohlgerüche

Spionage

Paradies für Jäger

Fiktive Massepartikel

Klang

Ein Leben

Der Gewöhnliche

Il boia – der Scharfrichter

Unfehlbarkeit

Null

Der Einwurf

Die Kunst des Urmenschen

Holistische Medizin

Der Schneiderfingernagel

Maus, Kröte, Ringelnatter und Igel

Dichtkunst

Die Intelligenz

Das Durchdrehen der Schraube

Wasser auf dem Mars

Die Anakonda

Fellatio

Dying well

Träume

Bauernfängerei

Kinderklinik

Eine Woche in Saint Vincent

Rapasuco

Friseur

Aspirin

Norden

Etymologie

Zahlen, die nicht existieren

Der Richter

Tarzan

Itaren

Bis zu diesem Zeitpunkt

Ein Polizist

Hummer, Kaviar und Austern

Mehr oder weniger Minuten

Liebe zur Musik

Zeitgeist

Da der technologische Fortschritt den moralisch-intellektuellen längst überholt, ja, wie vorherzusehen, sogar zu einem Rückschritt geführt hat, ist es heute unmöglich, von einem „Spirito del tempo“, einem „Geist der Zeit“ im Sinne Hegels, zu sprechen. Ein heutiger sogenannter Zeitgeist wäre einfach nur lachhaft: Eine Barockzeit, die sich über anderthalb Jahrhunderte erstreckte, wird es, zumindest nach derzeitigen Anhaltspunkten, nicht mehr geben, ebenso wenig eine Renaissance: Waren es doch Epochen, die ihrerzeit jeden Quadratmillimeter der Gesellschaft durchdrangen. Vielmehr haben wir es mit Tausenden loser Fragmente zu tun, die unmöglich kritisch zu durchleuchten sind und unseren Nachkommen nichts homogen Zusammenhängendes mehr sagen werden, weder über unsere Sitten und Bräuche noch über unsere künstlerischen Tendenzen, eben weil sie nicht zulassen, dass sich irgendein kollektiver Geist manifestiert (so ein solcher überhaupt je Sinn stiftet) – und zwar einfach deshalb, weil sie seiner entbehren: Sie entbehren jener „künstlerisch meisterhaften Gewohnheit“, die nur über einen längeren Zeitraum zu gewinnen und für jegliche Objektivierung unerlässlich ist. Undenkbar heute.

Die Stunde ohne Schatten

Die Simultaneität sorgt dafür, dass die Uhren in New York auf die Sekunde genau 12:00 Uhr schlagen, sobald die in Rom 18:00 Uhr desselben Sonnentags anzeigen. Wir könnten diesen Moment ebenso gut als „Moment der Stunde 12:00 und der Stunde 18:00“ definieren, was gleichermaßen zutrifft, wenn wir uns auf eine Zeiteinheit von 24 Stunden beziehen, die im Inneren der Erde als geschlossenes System abläuft, denn dieser Moment ist – absolut gesehen – simultan zum Zenit und zum Nadir jenes geschlossenen Systems hin ausgerichtet. Dennoch tun wir das nicht, und zwar aus dem Grund, weil die Zeit unseres Systems sich als Sonnenzeit und nicht als absolute Zeit versteht, auf welche das Licht nämlich keinerlei Auswirkungen hat. Dieser Moment ist – auf der Erde – kein beliebiger innerhalb einer absoluten Zeiterhebung, sondern der Moment, in dem Punkte ein und desselben geschlossenen Systems auf unterschiedliche Weise einer Lichtquelle ausgesetzt sind, und Menschen, die zu dieser Stunde einen Unterschied in ihrem Schattenwurf erkennen und demzufolge bestimmen, dass es an dem einen Orte Morgen und an dem anderen Nachmittag ist. Gäbe es tatsächlich eine Stunde ohne Schatten (wir befinden uns im Bereich der Vermutungen – doch die universale Zeit hat weder Schatten noch Licht), würde man die Wände erklimmen und die Abgründe erforschen und sich dabei gleichzeitig in Richtung eines höheren und eines tieferen Punkts bewegen, ohne widerlegt zu werden. Die Stunde ohne Schatten würde dem Menschen zeigen, wie er sich gleichzeitig hin zum Alter und zur Jugend neigt.

Der Zweifel des Hundes

Zuweilen überkommt mich ein unnatürliches Verlangen nach Aufklärung, und zwar mehr als es sonst der Fall ist, wenn ich etwas nicht gut verstanden habe. Es ist, wie wenn ich in einem Schreibtisch, dessen sämtliche Schubladen ich bereits geleert habe – deutlich steht mir die Szene noch vor Augen – unergründlicherweise versuche, noch eine Schublade zu finden, die ich kontrollieren könnte, weil ich hundertprozentig davon überzeugt bin, dass es trotz allem dort zu finden sein muss. Oder als suchte ich in einer Straße, die eindeutig mit der Hausnummer 100 endet, hartnäckig nach der Nummer 102. An solchen Tagen kann ich es nicht dabei belassen, eine Szene aus einem Film noch einmal zu sehen, dieselbe Seite eines Buchs dreimal zu lesen, mir einen Satz vorzusagen oder zu begreifen versuchen, was genau vor sich geht, indem ich fortwährend die Gedanken neu ordne. Es drängt mich weiter und weiter hinaus. Hinaus über das Register des Verstandenhabens hin zu einem Konzept, das mit der Idee, eine absolute Sättigung zu erreichen, zu tun hat – wie bei einem Hund: Doch es gibt sie nicht.

Blickwinkel