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Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen E-Book

Till Reiners

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Beschreibung

Ein pointierter Einblick in die erhitzte deutsche Seele – vom Shootingstar des jungen politischen Kabaretts Was geht in den Köpfen derjenigen vor, die auf Pegida-Demos jubeln und Flüchtlingsheime angreifen? Till Reiners will verstehen, wovor die Menschen in Deutschland sich plötzlich so fürchten, wie Vorurteile, Wut und manchmal auch Gewalt entstehen. Deshalb spricht er mit «besorgten Bürgern», mischt sich unter Demonstranten und fragt nach. Denn er will wissen, warum er keine Angst hat – zumindest nicht vor einer «Islamisierung des Abendlandes». Wie entstehen Vorurteile? Warum halten sie sich? Und wie begegnet man ihnen? Ein intelligent-pointierter Blick auf ein Land im Umbruch.

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Seitenzahl: 324

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Till Reiners

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Begegnungen mit besorgten Bürgern

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein pointierter Einblick in die erhitzte deutsche Seele – vom Shootingstar des jungen politischen Kabaretts

 

Über Till Reiners

Neugier

Es ist Anfang 2016, meine Freundin und ich trennen uns. Ich sitze in einer Neuköllner Bar und lasse mich volllaufen, um mich ein bisschen wie ein Tatort-Kommissar zu fühlen, die machen das ja auch immer so.

Um mich herum haben die Menschen andere Probleme. Deren Ursprung heißt «Flüchtlingskrise», und seit einigen Wochen hat sich die Stimmung in Deutschland endgültig zugunsten derer gedreht, die keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen. Das Politbarometer des ZDF veröffentlicht eine Umfrage, die besagt, dass 60 Prozent die Frage «Kann Deutschland die vielen Flüchtlinge verkraften?» mit «Nein» beantworten.

Es ist noch nicht lange her, dass die Bundesvorsitzende der Alternative für Deutschland, Frauke Petry, gefordert hat, dass Polizisten als «Ultima Ratio» auch auf Geflüchtete schießen sollen.

Sogar die NPD Baden-Württemberg distanziert sich von diesem Vorschlag. Die AfD rudert zurück, aber es wird klar: Die hat das eigentlich so gemeint, das war kein Versehen. Die neuesten Umfragen zeigen, dass das die AfD-Wähler nicht stört. Mit um die 12 Prozent sehen alle Umfrageinstitute die Alternative für Deutschland als drittstärkste Kraft im Bundestag, «wenn morgen Bundestagswahl wäre», wie es so schön heißt.

 

Neben mir am Tresen sitzt ein Mann Mitte 40, irgendwann kommen wir ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass er Israeli und Jude ist sowie Geschichtsdozent an einer deutschen Uni. Wir sprechen über Gott und die Welt, Geschichte und Politik natürlich. Wir philosophieren über die ideale Gesellschaft, so wie Betrunkene das machen, immer etwas zu ergriffen von den eigenen Worten. Ich stelle fest, dass sich ALLES (ich werde sehr pauschal, wenn ich betrunken bin), was Gesellschaft ausmacht, auf das alte Rosa-Luxemburg-Zitat «Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden» herunterbrechen lässt, und mein Nebenmann nickt etwas zu ernst.

Irgendwann frage ich ihn, ob ihm die Entwicklung in Deutschland Angst mache. Er nickt. «Ja, na klar hab’ ich Angst. Aber nicht so viel. Du solltest viel mehr Angst haben. Ich bin Jude. Ich mag die israelische Regierung nicht, ich habe meinen Wehrdienst gehasst, aber eines kann ich sagen: Wir sind wehrhaft. Gegen eine Langstreckenrakete mit Atomsprengkopf sagt man so schnell nichts. Aber du, mit dieser Rosa-Luxemburg-Einstellung, du solltest Angst haben. Dich schützt niemand.»

Na ja, denke ich am nächsten Morgen. Nee, die Stimmung im Land bereitet mir keine Sorge. Sie befremdet mich eher. Ich verstehe nicht, wie man Angst vor den Menschen haben kann, die hierherfliehen. Die Mehrheit denkt anders, seit klar ist, dass unter den Tätern in Köln Menschen «nordafrikanischer» Herkunft waren. Bei über einer Million Flüchtlingen, die pro Jahr nach Deutschland kommen, ist es doch verständlich, dass da auch Idioten drunter sind. Aber über ein Drittel der Deutschen sagen, dass sich ihr Standpunkt danach geändert habe. Warum? Ich verstehe das nicht. Ich verstehe nicht, wie einige schreckliche Bilder eine Meinung kippen können. Als wäre irgendjemand jetzt stärker bedroht als vor der Flüchtlingsdebatte! Viele sehen die Geflüchteten nicht einmal; die kennen die nur aus dem Fernsehen. Was ich mich häufig frage: Wenn die Bevölkerung von allen Medien abgeschnitten wäre – würde sie merken, dass so viele Menschen hierherfliehen?

Komisch, wie abstrakt diese Angst ist. Ich will sie verstehen. Ich will endlich wissen, woher das kommt. Wovor haben diese Menschen Angst? Und wovor haben sie wirklich Angst? Mir geht es mit besorgten Bürgern wie mit Flüchtlingen: Ich weiß, dass es sie gibt, kenne sie nur aus dem Fernsehen, denn sie leben woanders als ich, ich weiß, dass es viele sind, aber sie machen mir keine Angst.

Das liegt bestimmt auch an meiner Prägung. Meine Familie ist sozialdemokratisch, da weiß man um Gut und Böse, man ist gesellschaftskritisch, aber nicht so sehr, dass man nicht mehr Teil dieser Gesellschaft ist. Auch ich war an der Uni politisch aktiv, in Kreisen, in denen es teilweise darum ging, wer am vehementesten das Schlaraffenland einforderte, und einem der Stempel «reaktionär» auf die Stirn geknallt wurde, wenn man sich das Schlaraffenland nicht paradiesisch genug ausmalte. Etwas gegen Flüchtlinge zu haben, war außerhalb des Meinungsspektrums meiner Mitstreiter. Dass jeder Mensch Asyl bekommen sollte, war so selbstverständlich, dass man darüber nicht mehr diskutierte. Und manchmal denke ich: Ist das nicht vielleicht ein großer Fehler? Nicht mehr zu diskutieren? Wann wird eine Überzeugung eigentlich zum Lifestyle? Ist das nur noch Distinktion, sich an die WG-Tür «Refugees welcome» zu pappen? Ich bin seit einigen Jahren raus aus der Uni, aber meine Kreise haben sich nicht geändert. Ich mache politisches Kabarett, da trifft man keine Kollegen, die ernsthaft eine andere Meinung haben als ich: «Klar, wir müssen denen helfen, wer hierherflieht, der soll mit offenen Armen empfangen werden.» Die meisten meiner Freunde wurden so sozialisiert wie ich, manchmal streiten wir darüber, wie gut oder schlecht die DDR war, versuchen das in Relation zur BRD zu sehen, und überhaupt geht es viel um Perspektivenwechsel: Hier der tolle ethische Westen, da die anderen – das ist Quatsch, das wissen wir. Diskutiert wird nur noch, wie groß der Quatsch ist. Es geht wieder nur darum, wie radikal man eine Meinung vertritt, aber die Meinung steht schon. Der Perspektivenwechsel geht nie so weit, dass jemand sagt: «Ich kann die Asylkritiker verstehen. Hier sind wir als gute Linke, dort die bösen Rechten, das ist doch auch Quatsch, da müssen wir mal die Perspektive wechseln.» Das meinen wohl auch viele Rechte, wenn sie von «Gutmenschen» sprechen: Sie nervt die moralische Überlegenheit, die Grundeinstellung, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.

Ich kann mich nicht davon frei machen. Aber ich kann es probieren. Ich will die anderen Leute mal kennenlernen, die andere Meinung hören. Denn ich habe ein Zerrbild vom besorgten Bürger – genau wie besorgte Bürger vom Flüchtling. Und wenn ich «besorgte Bürger» höre, denke ich an zahnlose Ossis, die «Ausländer raus» plärren. Besorgte Bürger stellen sich wiederum einen Flüchtling wahrscheinlich groß und durchtrainiert vor, mit Islamisten-Bart, und er klaut irgendwas, während er laut schreit: «Nix Integration, nix Integration, Allahu akbar, wollen ficki ficki machen!»

Solche Zerrbilder entstehen, weil es beides tatsächlich gibt. Ich habe sie gesehen, die zahnlose Ossi-Frau, die in die Kamera sagt: «Ich bin voller Hass!», und ich habe von dem Marokkaner gelesen, der einer Zeitung sagte, er habe an Silvester in Köln nur «ficki ficki» machen wollen. Wenn es um Flüchtlinge geht, habe ich sofort den Reflex zu sagen: Die sind ja nicht alle so. Bei den besorgten Bürgern gibt es diesen Reflex nicht. Da reagiere ich sehr viel träger; um zu relativieren, muss ich mich aufraffen. «Nee, stimmt, die sind bestimmt nicht alle so», sage ich dann und merke, wie schal das klingt, wie sehr ich den Anschein von Differenziertheit erwecken möchte.

Dabei fordern die Linken immer Empathie ein. Warum sollen wir den Flüchtlingen helfen? «Weil wir es könnten.» Das Argument ist einfach und klar. Aber muss man dann nicht auch sagen: «Wir könnten ein besorgter Bürger sein?»

«Nee, nee, die haben sich ja dazu entschieden, die Geflüchteten auszuschließen, aber die, die flüchten, haben sich nicht ausgesucht, auf der Flucht zu sein.»

Ja. Aber haben wir uns unsere Meinung ausgesucht? Was wäre passiert, wenn ich nicht in einer Sozi-Familie groß geworden wäre, sondern als Kind eines «Nein-zum-Heim»-Initiators in Heidenau? Wäre meine Meinung dann nicht eine andere? Politische Haltungen kommen mir oft vor wie eine Konfession: Man übernimmt die, die dort herrscht, wo man aufwächst.

Oder liege ich da falsch? Entscheidet man sich, wofür man steht, reflektiert man seine Herkunft so, dass das möglich ist? Halten sich Menschen, die kritisieren, dass Deutschland Flüchtlinge aufnimmt, für die «Guten»? Oder haben die Flüchtlingsgegner insgeheim ein schlechtes Gewissen, weil alle Menschen eigentlich die gleiche Vorstellung von Gut und Böse teilen? Und entscheiden sich Flüchtlingsgegner bewusst für das Böse?

Es könnte auch sein, dass ich es bin, der ein Brett vor dem Kopf hat. «Sei tolerant» – das habe ich jahrelang in meiner Blase eingetrichtert bekommen. Bin ich mittlerweile den Falschen gegenüber tolerant? Machen sich hier Leute breit, deren Einstellung ich bekämpfen würde, wenn sie Deutsche wären? Und was weiß ich eigentlich wirklich über die Menschen, die hierherfliehen? Klar, die kommen aus dem Krieg, denen muss man helfen – auf diese Lesart haben sich unsere Kreise geeinigt. Aber stimmt das? Ich habe wenig Faktenwissen darüber, wie viele Menschen aus welchen Gründen hierherkommen. Und was wollen die besorgten Bürger eigentlich wirklich? Geht’s denen vielleicht um eine konstruktive Kritik an der Flüchtlingspolitik? Haben sie recht, wenn sie sich verunglimpft fühlen?

All dem will ich nachgehen. Für mich ist das eine größere Exkursion, als nach Kambodscha zu reisen. In Kambodscha weiß ich, wie ich mich den Menschen gegenüber verhalte: aufgeschlossen, freundlich. Und den besorgten Bürgern gegenüber? Ist man da «nett»? Keine Ahnung. Denn tatsächlich habe ich mich noch nie mit Menschen unterhalten, die ich rechts von der CDU verorten würde. Wie geht man mit denen um? Kann man sich verständigen, vielleicht sogar einigen? Ich will diese Leute kennenlernen. Aber wo trifft man besorgte Bürger? Wer ist denn alles besorgt? Ich mache mir einen groben Reiseplan: Zuerst will ich Pegida-Anhänger kennenlernen, weil ja dort alles begann, dann die Leute, die nicht politisch engagiert, aber besorgt sind, und zuletzt die AfD, als die Partei der besorgten Bürger. Zeit habe ich ja jetzt, ohne Beziehung.

Pegida

Bärgida: «Die Stimmung dreht sich.»

Es ist Ende März 2016, und ich bin ein besorgter Bürger. Ich mache mir nämlich Sorgen, ob meine Tarnung auffliegt. Zuerst habe ich mich für Bärgida entschieden, den Berliner Ableger der Pegida-Bewegung; das liegt nahe, weil ich in Berlin wohne.

Jeden Montag trifft sich Bärgida zum mittlerweile «64. Abendspaziergang», wie es bei Facebook heißt. Je näher der Termin rückt, desto mehr Sorgen mache ich mir, dass die Demonstranten sofort sehen, dass ich nicht dazugehöre. Deswegen kommt ein guter Freund als Beistand mit. Er fragt mich am Telefon, wie er sich anziehen solle, und ich antworte: «Deutsch!» Als wir uns am Hauptbahnhof treffen, müssen wir beide lachen: Wir tragen das Gleiche. Deutsche Kleidung ist für uns offenbar: Turnschuhe, Jeans, schwarze Jacke, eine Mütze.

Vor dem Bahnhof haben sich gegen halb sieben schon ein paar Leute versammelt, die Polizei lässt uns klaglos zu ihnen durch, am Bahnhofsausgang werden die Taschen einiger Leute mit bunten Haaren und Rastas kontrolliert – Gegendemonstranten. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass drei Parteien gegen mich sind: Die Bärgida-Leute, die Polizei und die Gegendemonstranten. Auf der Demo nimmt niemand Notiz von uns. Neben uns unterhalten sich zwei Männer Anfang 60: «Du, die halten sich jetzt bei der Berichterstattung über die AfD erstaunlich zurück. Ich habe die heute-show gesehen, die guck ich ja sonst nicht mehr, weil die so viel hetzen. Aber das war wirklich mal okay. Sogar der Böhmermann hat sich zurückgehalten. Die wissen wohl, wer bald der neue Herr ist.»

Ich weiß, auf welche Sendungen er sich bezieht: In der heute-show gab es einen Einspieler über eine Parteiveranstaltung in Magdeburg, in der die Moderatoren quatschige Antworten von AfD-Anhängern zusammengetragen hatten, lustig, aber nicht böse. Jan Böhmermann meinte: «Die AfD ist ’ne Partei wie jede andere, das hab ich ja schon immer gesagt.» Am Ende der Show sang er allerdings ein Lied namens «Frühling für Frauke und Beatrice», es wurden Fahnen im Stile der Hakenkreuzfahnen entrollt, nur statt des Hakenkreuzes prangt das geschwungene AfD-Zeichen auf weißem Kreis. Ich finde das nicht zurückhaltend.

Aber die Wahrnehmung, auf die man sich hier einigt, ist eine andere. Auch der erste Redner spricht davon, dass der Wind sich gedreht habe und manche Medienvertreter jetzt von der AfD sogar als Opposition sprächen. Nach zweistelligen Ergebnissen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sieht man sich auf der Siegerstrecke. Dass nur 50 Personen gekommen sind, ist kein Grund, an der kommenden Überlegenheit zu zweifeln. Eine Mauer dient als Bühne, es sind vier Boxen aufgebaut, im Hintergrund ist der Reichstag, und im näheren Hintergrund stehen ähnlich viele Gegendemonstranten. Beide Gruppen sind mit Zäunen abgeschirmt, ein paar Polizisten stehen davor; sie scheinen sich darauf zu verlassen, dass kein Demonstrant zur anderen Veranstaltung durchbrechen möchte. Es geht los, der Versammlungsleiter begrüßt die Anwesenden, allerdings setzt das Mikrophon immer wieder aus, neben mir macht ihm jemand Mut: «Egal, red’ einfach laut.» Der Redner redet lauter, aber die hinteren Reihen bekommen nichts mit, nach einer Weile wird dem Versammlungsleiter ein Megaphon gereicht. Es ist jetzt laut genug, aber undeutlich, trotzdem lässt sich niemand durch technische Widrigkeiten aus der Ruhe bringen; wie fiebern alle mit, dass unser Mann nicht den Faden verliert. Er ist tapfer und kündigt schnell den Hauptredner an. Als er die Bühne, also das Mäuerchen betritt, pfeift die Gegenseite und ruft «Alerta, alerta, antifascista!»

«Mehr habt ihr nicht drauf?», brüllt jemand aus dem Bärgida-Publikum zurück. Beide Parteien wirken in ihrer Aufregung routiniert. Der Mittfünfziger auf der Mauer ruft mit rheinischem Singsang ins Mikro, dass «noch vor Sommer» ein Flächenbrand in Deutschland ausbräche. Es wirkt, als glaube ihm das hier niemand, aber man honoriert seinen Elan mit Applaus, die meisten schauen die ganze Zeit zu ihm. Er ist eine «aparte Erscheinung»; seine langen schwarzen Haare kräuseln sich unter einem Zaubererhut, und man weiß nicht, wo das Haupthaar endet und der zerzauste Vollbart anfängt. Dazu trägt er einen langen schwarzen Mantel. Er sieht aus wie eine verlebte Version von Gandalf. Eigentlich könnte er auch gut auf der Gegendemo reden: ein leicht verwirrter Rollenspieler, immer etwas zu uncool und zu nervig für alle, aber im Herzen ein netter Kerl. Anscheinend bemüht, diesen Eindruck sofort zu zerstreuen, dreht er sich zu den Gegendemonstranten und schimpft, dass die «vom Staat alimentiert» seien, dass die meisten von denen wohl Hartz IV kriegen würden. «Die rufen ‹Deutschland abschaffen›, aber in einem neuen Deutschland ginge es denen an den Kragen!»

In der DDR-Diktatur seien solche Leute als das bezeichnet worden, was sie sind: als Asoziale! Applaus. Auch von uns. Bloß nicht auffallen, ich bin immer noch etwas paranoid. Mein Freund ist es wohl auch, deswegen klatschen wir immer etwas zu überschwänglich. Das erste Mal, als ich klatsche, ekele ich mich vor mir selbst. Dann aber kommen wie beide gut rein. Man kann ansonsten auch nichts tun, es ist kalt, und das Klatschen ist einer der wenigen Momente, in denen wir interagieren. Irgendwann lässt sich mein Freund sogar zu einem «Jawohl!» hinreißen, und als wir nach einiger Zeit «Merkel muss weg!» skandieren, geht mir das sehr gut über die Lippen.

Was genau der Redner sagt, ist wirklich schwer wiederzugeben. Zuerst geht es sehr lange um die Gegendemonstranten, dass man durch sie Woche für Woche Mut schöpfe, dass man genau wegen denen hier stehe, dass sie eigentlich aber auch gar nicht wichtig seien. Das wird sehr oft betont, und ich bin erstaunt, dass sich viele der Teilnehmer offensichtlich sehr über die Gegendemo ärgern. Irgendwann schallt laut «Say it loud, say it clear, refugees are welcome here» herüber. Bukowski-Gandalf reagiert darauf: «Es geht eben nicht darum, dass wir gegen Flüchtlinge sind. Es geht darum, dass Deutschland wieder ein souveräner Staat wird.»

Warum Deutschland das nicht ist, wird nicht ausführlich erklärt, aber der Redner gibt Hinweise: Lobbyismus, Abgehobenheit der Politiker. Er zeigt auf das Kanzleramt und ruft: «Die wissen doch gar nicht mehr, wie viel ein Liter Milch oder ein Pfund Butter kosten! Die wissen nur noch, wie viel sie kosten!» Seine Stimme zittert vor Wut, und die Emotion kittet kleinere Sinnlücken. Gemeint ist natürlich: Die machen sich die Taschen voll, ohne ans normale Volk zu denken. Außerdem geht es gegen Amerika. Merkel stecke im Arsch der Amerikaner, wie die NSA-Affäre gezeigt habe. Dass man sich sicher sein könne, dass diese Veranstaltung auch mitgeschnitten würde, dass jeder, der ein Handy besäße, auch überwacht würde. Ich denke allerdings, dass 50 Bärgida-Leute nicht besonders spannend für Sicherheitsbehörden sind. Das stört hier aber niemanden – man versteht sich als historische Bewegung. Der Redner zitiert zwischendurch Jesus und Lenin, trägt alles frei vor, und obwohl er sich selten verspricht, reißt seine Rede niemanden richtig mit. Zum Schluss ruft er zum Generalstreik auf und wirkt wirklich fasziniert von seinem eigenen Gedanken, dass, wenn keiner mehr Steuern zahlt und keiner mehr arbeitet, alles zusammenbricht. Bei allem Wohlwollen wird pflichtschuldigst applaudiert. Zu sehr merkt man, dass da einer einfach nur gerne vor Leuten steht und erzählt, was ihm so einfällt. Immer mal wieder laufen Touristen durch die Menge, irritiert davon, was hier stattfindet. Die Gegendemonstranten gehen nach einer halben Stunde. «Für mehr Zeit sind sie wohl nicht bezahlt worden», sagt jemand aus unseren Reihen. Ich bin neidisch auf die Linken.

 

Früher wurde bei uns auf dem Dorf immer eine kleine Kirmes aufgebaut, ein Karussell, zwei Losbuden, ein Angelstand (die mit den magnetischen Fischen, die größte Abzocke von allen, bloß nie machen!) und drei Fressbuden. Selbst als kleines Kind merkte ich: Das ist keine richtige Kirmes, das ist die Idee einer Kirmes. Bei Bärgida kann man erahnen, wie groß es sein könnte: mit mehr Leuten, mit anderen Rednern, wie geil es wäre, wenn es nicht hier in Berlin wäre. Hier stehen die Leute, die es nicht nach Dresden, Halle, Leipzig geschafft haben. Es ist eine Werbeveranstaltung für ebendiese Städte, ein Schnupperstudium. Es kommt mir vor, als würde ich zwei Stunden lang einen Trailer gucken.

 

Redner Nummer drei liest eine auf Deutsch übersetzte Rede von Victor Orbán vor, die dieser am 15. März, also ein paar Tage zuvor, gehalten hatte. Jetzt geht es endlich gegen Flüchtlinge. Victor Orbán sagt, dass die meisten Menschen, die nach Europa fliehen, gar keine richtigen Flüchtlinge seien. Dass Europa seine Nationalstaaten abschaffen würde, dass man sich nicht alles von Brüssel diktieren lassen dürfe. «Sollen wir Sklaven sein, oder sollen wir frei sein? Keine Freiheit ohne Wahrheit. Heute ist es in der EU verboten, die Wahrheit zu sagen.»

Ich blicke mich um. Es gibt ordentlich Applaus, an vielen Stellen. Hier kann sich niemand leisten, nicht zu klatschen – es sind einfach zu wenige Menschen. Der Altersschnitt liegt weit über fünfzig, nur ein paar schwarz angezogene Jugendliche, sie sehen aus wie Hooligans oder Nazis, senken den Altersschnitt. Ansonsten sind die alten Männer in der Überzahl, manche in Begleitung ihrer Frauen; sie wirken, als seien sie froh, mal unter Leute zu kommen.

Langsam erkenne ich den ideologischen Kitt der Redebeiträge. Was man eigentlich will, ist die Renaissance des Nationalstaats. Dass sich die Staaten wieder allein um ihre Angelegenheiten kümmern. Alle Parteien, die EU-freundlich sind, werden als korrupt angesehen. Man glaubt, dass die Menschen, die hierherfliehen, mehrheitlich Böses im Sinn haben. Immer wieder ist natürlich von Ungarn die Rede. Dafür, dass man so viel auf Deutschland hält, ist man ganz schön international aufgestellt. Es sind fünf deutsche Fahnen zu sehen, eine mit einer Rune, dem Zeichen der «Identitären», einer neorassistischen Strömung, eine schwarz-weiß-rote Reichsflagge und auch zwei russische. Nach einer knappen Stunde sind alle durchgefroren, der Versammlungsleiter tritt noch mal ans Mikro und fordert die «lieben Patrioten» auf, zur Friedrichstraße zu fahren, um von da aus Merkel einen Besuch abzustatten, also friedlich in der Nähe ihrer Wohnung vorbeizulaufen, wie er betont. Meinem Freund und mir ist zu kalt, und wir gehen nach Hause. Wahnsinn, diese eigene Welt. Noch aber habe ich wenig verstanden. Ich weiß auch nicht, wie repräsentativ diese 50 Leute sind, wie vernetzt das Gedankengut der Pegida-Bewegung ist – das sind diejenigen, über die so viel geschrieben wurde? Von den Ängsten der Menschen habe ich wenig gespürt. Ich habe den Ausschnitt eines Weltbildes kennengelernt, das mir fremd ist. Aber ich habe nicht erfahren, wovor sich die Menschen fürchten; alles wirkte merkwürdig weit weg, zu verkopft. Ich fühle mich, als hätte ich einen langen Arthouse-Film gesehen, bei dem ich nachlesen muss, was er mir sagen will. Ich muss mehr von denen sehen, um zu verstehen. Also nicht die Arthouse-Filme, das habe ich schon vor Jahren aufgegeben, sondern mehr Pegida, aber diesmal im großen Kino: Ich muss nach Sachsen.

Legida: Angst ist ein Allesfresser

Ich starte in Leipzig, denn einige Tage nach meinem Bärgida-Besuch erscheint ein großer Artikel im Tagesspiegel. Es geht darin um Legida, den Leipziger Pegida-Ableger. Man erfährt, dass am 11. Januar, dem Jahrestag von Legida, das linke Viertel Connewitz in Leipzig von 250 Hooligans demoliert wurde, in einer Straße wurden Scheiben eingeschlagen. Es ist ungewöhnlich, dass es in Leipzig rechte Gewalt gibt, weil die Stadt lange Zeit im Vergleich zu Dresden als weltoffener galt, und als genauso ungewöhnlich wird die Hartnäckigkeit von Legida herausgestellt. Der Autor des Artikels endet etwas ratlos mit der Suche nach Gründen, warum auch in Leipzig solch eine Bewegung entstehen kann, die sich so standhaft hält wie in Dresden – wenn auch auf niedrigerem Niveau.

Also fahre ich nach Leipzig und mache mir selbst ein Bild. Wieder will ich bei den Demonstrierenden mitlaufen und am liebsten mit jemandem ins Gespräch kommen, fragen, wovor die Menschen Angst haben und was der Kern ihres Weltbildes ist. Ich schlafe bei Freunden, und als ich ihnen erzähle, was ich vorhabe, sind sie besorgt. «Ich würde mich das nicht trauen», sagt mein Freund, und seine Freundin fügt hinzu: «In Leipzig sind die schlimmer als in Dresden, weil hier so viele Hooligans mitlaufen.»

 

Angespannt fahre ich zum Hauptbahnhof. Auf dem Weg dorthin sehe ich bereits unzählige Mannschaftswagen der Polizei und abgesperrte Straßen. Diesmal wäre es wirklich nicht gut, wenn ich auffliege. Meine «Tarnung» ist die gleiche wie in Berlin: Ich trage eine Jeans und eine alte Kunstlederjacke, die ich in einem Army Store gekauft habe. Schon von weitem sehe ich die Gestalten vor dem Treffpunkt und atme auf: So viele sind es überhaupt nicht, ich hatte mir ein Pulk von aggressiven Hooligans ausgemalt. Die gibt es zwar auch, aber es überwiegen die normal Gekleideten. Generell gilt: Je älter, desto unscheinbarer sehen sie aus, die jüngeren sind eindeutiger der rechten Szene zuzuordnen. Schwarze Pullover, New-Balance-Turnschuhe, Jeans, Böhse-Onkelz-Pullover (Wahnsinn, dass es die immer noch gibt), viele Deutschlandfahnen, ein paar tragen sogar Legida-Shirts, über einen dicken Männerbauch spannt sich ein T-Shirt mit der Aufschrift «Wir sind das Pack». Ich stehe mutterseelenallein in der riesigen Bahnhofshalle und tue so, als würde ich auf jemanden warten. Neben mir steht ein junger Typ, der auch wartet, und ich frage ihn, wann es denn losgehe. «Was denn?», fragt er zurück. Oh Gott.

«Na, die Legida-Demo», sage ich.

«Achso, nee, ich warte hier nur auf jemanden.»

«Achso.»

«Meine Meinung ist: Ob Antifa oder Legida, das sind beides Idioten.» – «Ah», sage ich und stelle mich woandershin. Das hat ja prima geklappt, das mit dem Ins-Gespräch-Kommen. Eine Gruppe Männer und Frauen steht jetzt neben mir, und ein südländischer Tourist mit starkem Akzent fragt sie, was das denn hier für eine Versammlung sei. «Legida», antworten sie. «Ahhh, Pegida», lächelt er, glücklich, das Wort schon einmal gehört zu haben. «Nee», korrigiert ihn eine Frau mit lila Haaren, «Legida, wie Pegida, aber in Leipzig heißt es Legida.»

«Ah», sagt er und fragt interessiert weiter, worum es denn ginge. Die Frau erklärt, dass sie gegen kriminelle Ausländer seien und gegen Islamisten und dass er gerne mitkommen könne. Er kommt nicht mit, und man sieht ihm an, dass er überhaupt nicht versteht, was hier passiert. Als ginge es mir anders.

Der Zug kommt endlich in Gang. Wir gehen geschlossen zum Versammlungsplatz, eskortiert von der Polizei. Viele sind wir nicht, «aber auch nicht zu wenige», denke ich ernsthaft. «Sähe ja sonst peinlich aus.» Was mir sowieso schon peinlich ist, müssen wir ja wenigstens nicht noch mit peinlich wenigen tun.

Später wird von 500 Teilnehmern gesprochen werden. Der Platz ist umgeben von Eisengittern und Polizisten, dahinter machen die Gegendemonstranten beeindruckenden Lärm. An den Seiten der Bühne werden zwei große Lautsprecher aufgedreht. Es erklingt der Pegida-Song. Ja, es gibt einen Pegida-Song. Der Refrain: «Wiiiir sind das Volk. Wir lassen uns nicht mehr spalten von den feigen Gestalten.» Es ist wirklich eine eigene Welt. Es gibt einen eigenen Song, T-Shirts und sogar eine eigene Zeitung. Ein älterer Herr stellt sich zu mir und sagt mir, ich müsse unbedingt das Magazin Compact lesen. «Die schicken sich an, der neue Spiegel zu werden. Kann man hier überall kaufen.» Das Pegida-Fanzine. Eigentlich brauchen die nur noch ihre eigene Währung. Ach ja, gäbe es ja: D-Mark.

Ein Mann im Sakko, Anfang 50, betritt die Bühne. Er heißt Nikos und geleitet durch den Abend, wenn man so will. Er stellt sich vor: «Mein Name ist Nikos, ich komme aus Dresden, mein Name verrät: Nikos hat ’n griechischen Hintergrund, ich weiß also, wenn’s ums Thema Migration geht, woher das kommt, wie das vonstattengeht.»

In der öffentlichen Ankündigung wurde versprochen, dass man auch «drei sehr gute Redner» hätte. Und dass man doch bitte Leute mitbringen solle. Es klingt etwas verzweifelt. Nikos ist aber guter Dinge und kündigt den ersten Redner an: Simon, der «die Thematik Kriege und Geostrategie bearbeiten wird».

 

Ich merke, wie schwierig es ist, über die Gedanken der Pegida-Welt zu berichten. Das liegt zum einen an den Reden. Zwischen den Thesen liegen oft gewaltige Gedankensprünge. Das liegt zum anderen an mir. Diesen Teil des Kapitels musste ich dreimal neu schreiben, bis ich zufrieden war, weil ich zwei Versuchungen erlegen bin – zuerst der Versuchung, mich lustig zu machen. Legida macht es einem leicht. Spätestens, als Nikos aufzählt, wo die angeblich 200 weiteren Pegida-Ableger stattfinden, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Er liest mit salbungsvoller Stimme die Orte der Bewegung vor, als werde man hier und jetzt gerade Zeuge eines historischen Ereignisses. Es sind unzählige Käffer, von denen ich noch nie gehört habe. Gleich viermal werden Stadtteile von Dresden genannt. Der Gegensatz zwischen Tonfall und Inhalt der Rede ist ungefähr so, als ob der Brautvater die Hochzeitsgesellschaft großzügig zum Essen einlädt und dann sagt: «Aber jeder nur einen kleinen Salat.»

Die Leute hier essen auch den kleinen Salat mit großer Geste, über allem liegt eine schwere Feierlichkeit, und die bierernste Stimmung schreit danach, gebrochen zu werden. Der Kabarettist in mir fühlt sich, als würde die ganze Zeit jemand mit einem großen Lolli vor meiner Nase wedeln.

Die zweite Versuchung ist, alles gleich zu kommentieren. Denn es gibt einen anderen Teil in mir: Zeigefinger-Till! Zeigefinger-Till mahnt, warnt, differenziert und weiß es besser. Zeigefinger Till streicht die «kruden Thesen» mit Rotstift an, «krude», das ist Zeitungsdeutsch – und das sagt euch: Zeigefinger-Till liest Zeitung, er weiß ganz viel und eines sowieso: Er hat recht und die Pegida-Leute nicht.

Beide Versuchungen sind kontraproduktiv. Ich habe fast Mitleid, wenn der zwanzigste Reporter auf einer Pegida-Veranstaltung Verarschungsfragen stellt. Und wenn in Talkshows AfD-Politiker abgebügelt werden, sieht vor allem der schlecht aus, der abbügelt. Ein Taxifahrer sagte neulich zu mir: «Ich finde oft unfair, wie mit der AfD umgegangen wird.» Ich dachte, er wäre Sympathisant, aber er meinte dann: «Ich komme politisch wirklich von der anderen Seite. Ich bin Punkrocker. Früher war ich richtiger Punk. Aber ich bin dann irgendwann ausgestiegen. Weil ich gemerkt habe: Eigentlich bin ich der Spießer. Wir waren nur besoffen und hatten recht, das war bequem, aber du merkst irgendwann, das stimmt nicht.»

Haben wir doch mal kurz nicht recht und lachen mal nicht aus. Es gibt zwar gute Gründe, diesen Versuchungen nachzugeben. Aber verarschen hilft nicht, um zu verstehen, recht haben schon gar nicht. Und wie viel Kommentar braucht man? Warum schreiben, wie die Musik ist, wenn man sie auch gleich hören kann? Also: Machen wir uns locker und hören zu.

Ich will ein gelehriger Schüler sein, gerade auch, weil ich hier neu in der Klasse bin. Also, Hefte raus, Diktat, ich klebe wie ein Streber an den Lippen meines Lehrers.

Der heißt jetzt Simon, ist schwarz gekleidet und trägt eine große Sonnenbrille. Er wettert gegen die internationalen Finanzmärkte und den Kapitalismus. «Viele glauben ja, sich eher vorstellen zu können, es gäbe einen Kapitalismus ohne Erde, als sich vorstellen zu können, dass es auch eine Erde ohne Kapitalismus geben könnte.»

Ich klatsche das erste Mal, zuerst, um nicht aufzufallen, dann, weil ich, tja, es eigentlich ganz gut finde. Ich denke an den Chef der Herkuleskeule, dem Kabaretthaus in Dresden, der mir sagte: «Am Anfang, als es mit Pegida losging, war ich bei der Gegendemo. Und da hatte ich das Gefühl, dass ein Teil von mir auf die andere Seite gehört.» Ich kann das verstehen. Ich höre erleichtert zu, denn der Sound ist mir vertraut, ich komme mit.

Allerdings ist Nikos mit der Kapitalismuskritik nicht einverstanden und sagt dazu: «Kapitalismus ist vordergründig ein Wirtschaftssystem. Und das Wirtschaftssystem Kapitalismus ist das, was den Naturgesetzen gerecht wird. Das, was wir nicht zulassen werden, sind Ideologien. (…) Unser Protest richtet sich gegen die Pervertierung der Demokratie. Gegen die Parteien und die Mediendiktatur.»

Ich streiche das mit «gegen den Kapitalismus» in meinem imaginären Collegeblock und ergänze, was Nikos gesagt hat.

Aber zurück zu Simon, der ruft: «Wir erleben dieses System (…) als die mafiöse Zusammenrottung von Superreichen, die sich über ihre Banken abhängige Parteien geschaffen haben, die sich über die Presse die willkürliche Manipulation der öffentlichen Meinung leisten können oder eben die über die Rüstungskonzerne gigantische Profite generieren vorbei an den Lebensinteressen der breiten Masse unserer Völker.»

Ich merke, dass es jetzt schwierig wird; ich muss mich sehr konzentrieren, um die Kausalketten zu verstehen und zu behalten. Wenn mich jetzt jemand beobachten würde, sähe er jemanden, der Augen und Stirn zusammenkneift und starr auf den Redner blickt, wie ein Verliebter, der nicht lächelt. Man könnte mich durchaus für einen Verrückten halten, der sich verlaufen hat. Oder sich nicht verlaufen hat, je nach Standpunkt. Egal, ich muss mich jetzt konzentrieren, denn schon ist das nächste Thema dran, es geht um Terror: «Sie erklären uns ständig ‹Wir stehen im Krieg›. Die ganze Gesellschaft soll permanent in Kriegsbereitschaft versetzt werden. Ein endloser Krieg ist uns angekündigt worden mit dem sogenannten Krieg gegen den Terror. Der Terror selbst aber ist nichts anderes als eine Kriegsstrategie, und eine Kriegsstrategie kann man akzeptieren oder nicht, aber man kann eine Strategie niemals besiegen.»

Das ist mir wieder vertraut. Das kenne ich von Linken und Superlinken. Konservative reden vom Terror, nur um noch ein «Sicherheitspaket» mehr durchzudrücken, mehr Bürger zu überwachen und pauschal zu verdächtigen. Ich blicke mich um. Wie reagieren die anderen? Ich habe das Gefühl, sie haben so oft gehört, was da geredet wird, dass sie nicht mehr aufmerksam sind. Die meisten applaudieren in längeren Redepausen oder wenn ihnen ein Schlagwort gut gefällt. Wieder andere reagieren gar nicht, ein Mann schräg neben mir sagt manchmal «Na ja».

In den ersten Reihen sind einige Eifrige dabei, die auch mal ein «Jawohl!» rufen oder «Genau» oder «Pfui», wenn sie zeigen wollen, dass ihnen etwas genauso missfällt wie dem Redner. Die Eifrigen kenne ich auch von den Demos, an denen ich teilgenommen habe. Wenn ein NPD-Aufmarsch angekündigt war, ging man mit zur Gegendemo. Ich tat das immer aus Pflichtgefühl, nie aus Begeisterung. Aber die Begeisterten gab es eben auch. Die, die etwas ins Megaphon brüllten, die Sprechchöre anstimmten, trommelten oder pöbelten. Das habe ich nie gefühlt. Ich kann mich aufregen, wenn Nazis Hassparolen verbreiten, wenn ich sehe, wie sie andere Menschen schlagen, aber nicht, wenn sie bloß da sind. Ich weiß, dass es Nazis gibt, aber deswegen schreie ich nicht jeden Tag. Dadurch haben Demos oft etwas Rituelles für mich, so wie Karneval. Da verabredet man sich zum Gute-Laune-Haben, auf Demos zum Dagegen-Sein. Das ist wichtig, aber um mitzuschreien, müsste ich eine Gefühlskonserve aufmachen.

Mein Eindruck ist: Den meisten auf dieser Seite geht es wie mir. Wie soll man auch zu all dem ein konkretes Gefühl bekommen? Globalisierung, Atomkraftwerke, Terror. Die meisten stehen hier aus Pflichtgefühl, und ab und an macht sich jemand eine Gefühlskonserve auf. «Jawohl!»

Die Gegenseite hat vor Augen, was sie ablehnt, jeder Wortfetzen, der von Simons Rede herüberschallt, peitscht sie höher, und man merkt: Das hier nehmen viele persönlich, es geht darum, wem die Stadt gehört. Um uns herum toben Pfiffe, Sprechchöre, es wird getrommelt und ununterbrochen gelärmt.

Simon redet ungerührt weiter: «Ziel des Terrors sind mittlerweile nicht nur europäische Städte, sondern unter anderem auch Atomkraftwerke.»

Das war ein Abzweig, den ich nicht erwartet hätte. Ich dachte, Simon setzt an, um gegen Überwachung zu wettern. Stattdessen geht es jetzt um die Folgen von Fukushima und über Atomkraft im Allgemeinen:

«Dieses Risiko geht man bewusst ein, auch wenn man die Kosten für diese Technologie weit in die Zukunft verschiebt und heute für uns unkalkulierbare Risiken schafft, nicht nur indem man dem Terror freien Raum lässt. Sondern in dem man auch solche sehr anfällige und störfällige Technologie weiterhin forciert und nutzt, um Profite zu generieren für eine kleine Clique von Superreichen.»

Applaus. Ich merke, dass ich mir Mühe geben muss, um mitzukommen. Ich weiß nicht mehr, in welcher Klasse ich bin, geschweige denn, welches Fach wir haben. Aber es geht schon weiter, Thema ist jetzt die Souveränität Deutschlands: «Wir haben in unserer Heimat als Zeichen unserer Besatzung über 200 Atombomben stationiert. Es gleicht ja fast der Ironie der Geschichte, dass diese möchtegernsouveräne Bundesrepublik noch nie einen souveränen Regierungschef hatte, der das ablehnte, wie zum Beispiel es sich ein Erich Honecker geleistet hat, der im Jahre 1984 sagte: Das Teufelszeug von Ost und West, das brauchen wir von beiden Seiten nicht. Wo ist denn diese Courage unter diesen Politikerdarstellern in der Bundesrepublik jemals gewesen?»

Erich Honecker wird zitiert! Bei Legida ist für alle etwas dabei. Auf dem Banner an der Bühne steht: «Nicht Rechts. Nicht Links». Die Querfront-Strategie, also der Zusammenschluss von Links- und Rechtsextremen ist ein Ziel der Legida-Bewegung. Sogar die Aktivistin und Leipziger Linken-Politikerin Jule Nagel ist anfangs gefragt worden, ob sie nicht bei Legida reden möchte (sie lehnte ab). Simon kommt jetzt richtig in Fahrt: «Was sind die hierzulande mit den Kriegstreibern Operierenden denn anderes als Schakale und Hyänen eines internationalen Finanzkapitals?»

Mir raucht der Kopf, ich denke daran, was Nikos zu Beginn der Veranstaltung sagte: «Die Gesellschaft radikalisiert sich von Tag zu Tag. Und wenn nicht dringend etwas dagegen getan wird, dann wird Bürgerkrieg die schlussendliche Konsequenz sein. Und verdammt noch mal genau das wollen wir nicht. Wir wollen keinen Bürgerkrieg in Deutschland!»

 

Nach einer halben Stunde warte ich darauf, dass wir endlich losgehen.

Alle Redner, die ich bisher erlebt habe, konnten sich nicht kurz fassen. Das liegt auch daran, dass alle frei vortragen und sich nicht an ein Skript halten. Irgendwann gibt Nikos ein Zeichen, dass man jetzt mal losmüsse. Es ist kurz vor acht, endlich.

Der Tross setzt sich in Bewegung. Links von uns toben die Gegendemonstranten, die Polizei hält sie zurück, und eine Gruppe von Polizisten eskortiert uns. Ich bin froh, dass sie da sind. Zweimal versuchen Linke vergeblich, unseren Zug zu stürmen. Es wird langsam dunkel, und viele haben entlang der Strecke Lichter angezündet. «Haut ab!», schreien sie, und wir schreien: «Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen.»

 

Die Gegendemonstranten sind etwa drei- bis viermal so viele wie wir. Ich bin beeindruckt und gerührt, darf mir das aber nicht anmerken lassen und gucke starr auf den Boden. Über mir erschallt eine Trompete. Wir passieren die Hochschule für Musik und Theater, jemand spielt aus einem der höheren Stockwerke. Ich erkenne die Melodie nach einiger Zeit: Es ist «Bella Ciao», ein Partisanenlied gegen die spanischen Faschisten. Es gibt eine Version von Konstantin Wecker, die ich sehr mag und schon oft mitgesungen habe. Ich bekomme politisches Heimweh, und mir kommt in den Sinn, was der Kabarettchef Schaller noch sagte: «Aber dann wurde dieser Hass auf Ausländer so groß, dass einer auf der Pegida-Tribüne bedauerte, dass es keine KZs mehr gibt. Und da muss ich allen, die da mitlaufen, sagen: Ich habe doch eine Verantwortung, wem ich da hinterherlaufe. Von Pegida-Anhängern hört man häufig: Es ist egal, was dort vorne gesagt wird, es ist der einzige Ort, wo ich meinen Protest anmelden kann, wo ich andere um mich habe, die so denken wie ich.»

Schaller meint den Auftritt des Autors Akif Pirinçci, für den sich Pegida-Gründer Bachmann im Nachhinein entschuldigte. Eine komische Einstellung: «Hier fühle ich mich wohl, egal was die auf der Bühne sagen.» Ich fühle mich überhaupt nicht wohl. Am liebsten würde ich jetzt über die Absperrung springen und mich zu den Gegendemonstranten stellen. Egal, weiterlaufen, Fresse halten, denke ich und zünde mir noch eine Zigarette an, obwohl mir längst schlecht ist vom Rauchen.

 

Nach einiger Zeit dreht unsere Gruppe wieder um, und es geht zurück zum Versammlungsplatz. Als wir dort ankommen, skandieren die vorderen Reihen: «Eins, zwei, drei – danke Polizei.»

Das war schon immer eine Strategie von Pegida: sich gut stellen mit der Polizei. Lutz Bachmann hat direkt am Anfang der Polizei gedankt und den Schulterschluss gesucht. Die, die nerven, sind die Linken, das sollte die Botschaft sein.

Jetzt allerdings sind wir wieder auf dem Platz, sicher abgeschirmt von den Gegnern. Von allen fällt Anspannung ab. Ich kaufe mir am Legida-Getränkestand eine Fanta, neben mir steht ein Teilnehmer und bestellt Bier für seine Truppe. «Willste auch eeens?», fragt er. «Nee, danke», antworte ich reflexhaft, weil ich keine Lust auf Bier habe, und ärgere mich im gleichen Moment. Mist. Das wär die Gelegenheit gewesen, ins Gespräch zu kommen. Ich sollte selbst mal einen Versuch starten. Aber wie anfangen? «Na, auch gegen Flüchtlinge?» Mist, Mist. Ich trinke betrübt meine Fanta.

 

Der Song wird noch einmal gespielt, es geht weiter. Nikos moderiert jemanden an, der einfach nur «Der Lange» genannt wird. Er ist von der Bürgerinitiative «Roßwein wehrt sich gegen Politikversagen». Es geht gegen Angela Merkel, gegen den Leipziger Oberbürgermeister und gegen den Leipziger Polizeichef, der sich kritisch über Legida geäußert hat. Dann ist das Thema Flüchtlinge dran. «Diese sogenannten Linken sind dabei, unsere ganzen Sozialkassen an die ganze Welt zu verschenken.» Einige aus dem Publikum skandieren «Volksverräter, Volksverräter», der Lange hält kurz inne. Dann spricht er von 50 Milliarden im Jahr, die die Flüchtlinge kosten würden.

Schon vorher hatte Nikos diese Zahl genannt, nachdem er vorgerechnet hatte, wie viele Flüchtlinge überall unterwegs seien:

«Nimmt man mal nur an, was aktuell wanderungswillig ist, dann sind das 540 Millionen Menschen. Und davon sind schon 60, 70, 80, 100 Millionen unterwegs. Wie viel Einwohner hat Europa? Ungefähr 500 Millionen. Wie viel Einwohner hat Deutschland? 82 Millionen aktuell. Okay, Frau Merkel sagt, ‹kommt alle her›. Das sind knallharte Zahlen, mehr ist das nicht.»

Und knallhart geht es weiter mit Zahlen: «Wie viele sind echte Flüchtlinge? 1, 2 Prozent, das wissen wir, das ist Statistik. Ilse Aigner hat so nebenbei gesagt, dass 90 Prozent von den Migranten nicht für unseren Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, weil sie einfach ungeeignet sind.»