Von Isis und Osiris zur Schneekönigin - Brigitte Musche - E-Book

Von Isis und Osiris zur Schneekönigin E-Book

Brigitte Musche

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Beschreibung

Seit Menschengedenken werden durch Mythen und Märchen Sehnsüchte und Träume angesprochen. Ein wiederkehrendes Motiv ist das der Partnersuche und -erlösung. Weithin bekannt sind partnersuchende und/oder -erlösende Gottheiten, wie im Mythos von "Isis und Osiris" oder Märchenhelden und -heldinnen, wie in "Die Schneekönigin". Sie alle sind getrieben von der Kraft der Liebe, einer Liebe, die alle Widerstände jenseits jeglicher Vernunft überflügelt. Das Motiv hat eine lange Tradition, wie die im vorliegenden Buch zum Lesen angebotenen bekannten und weniger bekannten Mythen und Märchen sowie die kompetenten Ausführungen und geschlechtspsychologischen Interpretationen zeigen.

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Seitenzahl: 407

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Gewidmet dem Andenken meiner Mutter

Inhalt

Einführung

Mythen

Isis und Osiris (Osiris-Mythos)

Inanna/Ischtar und Dumuzi (Inannas Gang zur Unterwelt/Ischtars Höllenfahrt)

‘Anat und Ba’al

Telepinuš

Demeter und Kore

Kybele und Attis

Aphrodite und Adonis

Orpheus und Eurydike

Amor und Psyche

von Apuleius

von Fulgentius

Märchen

Orthodosio und Isabella (Kaufmann Orthodosio Simeoni)

Pintosmalto

Die Schöne und das Tier

von J.-M. Leprince de Beaumont

von den Gebrüdern Grimm, 1812

Das singende springende Löweneckerchen

Die Frau, die auszog, ihren Mann zu erlösen

Der Grüne Ritter

Ellenlang, Meilenbreit und Feuerauge

Die sechs Schwäne

Die Gänsehirtin am Brunnen

Die Schneekönigin

Nachwort (mit Deutungen zur Geschlechterpsychologie)

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Einführung

Wie Perlen auf der Schnur, so reiht sich in diesem Buch eine Geschichte über Liebe und Leid an die andere, und jede ist tatsächlich eine kleine Perle der Literatur.

In der Einführung wird die Entstehung der einzelnen Dichtungen kurz geschildert. Dann, im Hauptteil, folgen die einzelnen Werke. Im Nachwort werden allgemeine Theorien über deren historische Hintergründe sowie über ihre Bedeutung für die Psyche der Zuhörer- bzw. Leserschaft vorgestellt. Dabei kommen viele Gedanken über die Liebe und Geschlechterpsychologie zur Sprache.

Zusammengestellt sind in diesem Buch antike Mythen des Vorderen Orients und des Mittelmeerraumes sowie europäische Märchen mit dem Motiv des ein verlorenes, geliebtes Wesen Suchenden und aus misslichen Umständen Befreienden/Erlösenden. Nach der Märchentypologie von A. Aarne und St. Thompson werden Volksmärchen1 mit diesem Motiv als Suchwanderungsmärchen (AT 400–459) bezeichnet.(1) Ihr Charakteristikum ist, wie schon angedeutet, die Schilderung der Suche und Erlösung des verzauberten/verfluchten/geraubten oder aus eigener Schuld verlorenen geliebten Partners (der Gattin / des Gatten oder der/des Künftigen) oder von Geschwistern. Das Wiederfinden und die damit verbundene Erlösung aus einem unglücklichen Zustand, welcher Art auch immer, erfolgt nach mehr oder weniger langer und aufopfernder Suche und/oder einer Befreiungsaktion. Wegen der daraus resultierenden Erlösung kann man auch von einem Erlösungsmotiv sprechen. Nimmt man zu dem von Aarne und Thompson auch aufgeführten Märchentypus um „Amor und Psyche“ (AT 425 A) und „Die Schöne und das Tier“ (AT 425 C) noch weitere Mythen und Kunstmärchen hinzu, so erkennt man bald nicht nur das hohe Alter dieses Motivs, sondern auch eine enge Verwandtschaft mit jenen Motiven, in welchen Kinder (Tochter/Sohn), die Mutter oder Freunde gesucht werden. Das Motiv der Vatersuche scheint hingegen einen anderen, eigenständigen Ursprung zu haben.2 Obwohl die Suche und Erlösung häufig in einem Mythos oder Märchen zusammentreffen, gibt es doch auch Texte, in welchen, ohne vorherige Suche, nur die Erlösung3 eine Rolle spielt, d. h., es gibt das Erlösungsmotiv mit und ohne Suche. Hier ist im Folgenden von der Partnererlösung am Ende einer langen Suche – eben der Suchwanderung – die Rede.

Dieses Motiv lässt sich verfolgen in verschiedenen Variationen über lange Zeiträume und große geografische Distanzen hinweg, sodass es weltweit zu einem der verbreitetsten zählt. Warum ist dies so? Spricht es im Menschen besondere Wünsche, Träume, Probleme an? Solche Fragen sind seit einiger Zeit Gegenstand der Forschung und deshalb, wie ich meine, einer weiteren Untersuchung wert. Um eine Antwort darauf zu finden, müssen erst einige Beispiele aufgeführt werden.

Das Motiv der/des den geliebten Partner/die geliebte Partnerin Suchenden und Erlösenden in Mythen und Märchen lässt sich bei den hier zusammengestellten Texten auf zweierlei Weise gruppieren: einmal nach dem Inhalt, zum anderen nach der Entstehungszeit. Bei der Einteilung nach dem Inhalt wären zunächst zu nennen: Mythen um eine Göttin und ihren Geliebten, der auch ihr Ehemann und/oder Bruder sein kann („Isis und Osiris“, „Inanna/Ischtar und Dumuzi“, „‘Anat und Ba’al“, „Kybele und Attis“, „Aphrodite und Adonis“), Mythen um Liebespaare („Orpheus und Eurydike“, „Amor und Psyche“), sodann Mythen um göttliche Eltern und ihre Kinder („Telepinuš“5, „Demeter und Kore“). Gleichermaßen ließen sich anschließend die Märchen in Gruppen zusammenfassen zu Märchen mit dem Motiv der Partnersuche und -erlösung („Orthodosio und Isabella“, „Pintosmalto“, „Die Schöne und das Tier“, „Das singende springende Löweneckerchen“, „Die Frau, die auszog, ihren Mann zu erlösen“, „Der Grüne Ritter“), mit dem Motiv der Partnerinnensuche und -erlösung („Ellenlang, Meilenbreit und Feuerauge“), mit dem Motiv der Geschwistersuche und -erlösung („Die sechs Schwäne“), mit dem Motiv der Kindersuche und -erlösung („Die Gänsehirtin am Brunnen“) und schließlich mit dem Motiv der Freundessuche und -erlösung („Die Schneekönigin“). Der Begriff „Partner“ wird hier also recht weit gefasst. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht aber der Liebespartner, die Liebespartnerin. Aus Gründen der historischen Genauigkeit ist meines Erachtens einer Anordnung der Mythen und Märchen in chronologischer Reihenfolge, nach ihrer jeweiligen Überlieferungssituation, wie sie im Folgenden getroffen wird, der Vorzug zu geben.

Der wohl älteste hier vorgestellte Mythos mit dem Suchwanderungsmotiv ist der von „Isis und Osiris“ (Osiris-Mythos) aus Ägypten. Andeutungen bzw. Erwähnungen in den religiösen Texten der Pyramiden des Alten Reiches (ca. 2670 – 2135 v. Chr.) zeigen, dass er sich schon in dieser frühen Zeit herausgebildet haben muss. Vermutlich entstand er im Nildelta, um die Stadt Busiris, die als Heimat des Osiris galt, breitete sich aber über das ganze Land aus, sodass die Stadt Abydos zum Hauptsitz des Osiris-Kultes wurde. Der Mythos vom Gott Osiris liegt aus ägyptischen Quellen nicht vollständig vor. Er ist in einer zusammenhängenden Fassung erst von Plutarch (ca. 46 – 120 n. Chr., De Iside et Osiride, Kap. 12-21) überliefert. Plutarch, ein griechischer Geschichtsphilosoph, stellte ihn aus älteren ägyptischen Überlieferungen zu einer fortlaufenden Erzählung zusammen. Bis es jedoch zur Plutarch-Fassung kam, hatte sich der Mythos allmählich und aus verschiedenen Elementen, „die ursprünglich auch verschiedenen Mythenkreisen angehörten“, entwickelt. (5) Die hier abgedruckte Textzusammenstellung folgt weitgehend Plutarch, wobei sie auf das Wesentliche, d.h., um alle Nebenhandlungen und sonstige Ausführungen, gekürzt ist.

In zeitlicher Reihenfolge schließen sich drei Mythen um Gottheiten aus altorientalischen Reichen im Zweistromland von Euphrat und Tigris, im heutigen Nordsyrien und in Kleinasien an.

Zunächst zu nennen ist der Mythos um „Inanna und Dumuzi“ bzw. „Ischtar und Dumuzi“. Inanna und Dumuzi sind die Namen der Göttin und ihres Geliebten und Gatten in der älteren, sumerischen Dichtung.6 „Ischtar“ lautet der Name der Göttin in der jüngeren, akkadischen Dichtung.7 Über dieses heilige Paar sind mehrere Mythen und Gesänge, sogenannte Braut- und Liebeslieder, überliefert. Am bedeutsamsten davon sind die Dichtungen über Inannas bzw. Ischtars Abstieg in die Unterwelt. Erhalten sind eine ältere und eine jüngere Version.

Seit dem 19. Jahrhundert ist die jüngere akkadische Version aus dem 1. Jahrtausend v. Chr., genannt „Ischtars Fahrt zur Unterwelt“ (Ischtars Höllenfahrt), bekannt. Sie wurde im antiken Ninive, in dem heute der irakischen Stadt Mosul gegenüberliegenden Ruinenhügel Kujundschik gefunden. A. H. Layard entdeckte dort 1849 die ersten Tontafeln, sein einstiger Assistent und späterer Nachfolger Hormuzd Rassam fand 1853 im Palast des assyrischen Königs Assurbanipal (7. Jahrhundert v. Chr.) dessen Bibliothek mit weiteren Tontafeln. Eine der Keilschrift-Tafeln (heute Britisches Museum, London, Kujundschik-Sammlung K. 162) enthält die hier behandelte Dichtung. Ihre beschädigten Stellen lassen sich durch zwei Duplikate (K. 7600, K. 7601) ergänzen. Außerdem ist erhalten ein gleichaltriger, etwa gleichlautender Text (KAR 1, KAR 288) aus Assur, einer weiteren assyrischen Stadt, sowie eine ältere mittelassyrische, abweichende Fassung.

Erst zwischen 1937 und etwa 1980 gelang es nach Vorarbeiten nach und nach, die ältere, um 1750 v. Chr. niedergeschriebene, über orale Tradition aber wahrscheinlich zeitlich wesentlich weiter zurückreichende Fassung, genannt „Inannas Gang zur Unterwelt“, bis auf etwa 20 zerstörte Zeilen zusammenzustellen und zu bearbeiten. Sie besteht heute aus ca. 30 Tafeln und Fragmenten, überwiegend aus Nippur8, die in mehreren Museen aufbewahrt sind.

Da in der zuerst entdeckten Ninive-Fassung das Ende fehlt, ergänzte man nach vergleichbaren Mythen, davon ausgehend, dass auch Ischtar ihren Geliebten und Gatten sucht, in diesem Fall bis in der Unterwelt, und befreit.9 Seit die ältere sumerische Fassung bekannt ist, weiß man jedoch, dass diese Ergänzung nicht stimmt. Die Göttin sucht ihren Geliebten nicht in der Unterwelt und sie befreit ihn nicht. Und doch ist dieser Mythos hier nicht fehl am Platz. Zum einen, weil dem Geliebten, wenn auch nicht von ihr, so doch von seiner Schwester und seinem Schwager geholfen wird. Zum anderen, weil auch die Göttin selbst eine Erlösung erfährt. (6) Hier wird die sumerische Fassung mit Einschüben aus der akkadischen nacherzählt.

Etwas jünger ist der in ugaritischer Keilschrift und Sprache verfasste Mythos um „‘Anat und Ba’al“, gefunden in der einst wohlhabenden Handelsstadt Ugarit, heute Ras Schamra in Nordsyrien. Berühmt hat diesen Ausgrabungsplatz auch der Fund eines umfangreichen Palastarchivs aus Tontafeln gemacht. Es enthielt unter anderem den Zyklus um den Gott Ba’al, niedergeschrieben im Auftrag des Königs Niqmadu II. (14. Jahrhundert v. Chr.), nachdem die Mythe sicherlich zuvor über Generationen mündlich weitergeben worden war. Leider ist der Text nur fragmentarisch erhalten, weshalb der Mythos nicht lückenlos und vollständig rekonstruiert werden kann. Nach dem Forschungsstand ergibt sich in etwa der hier zusammengestellte Handlungsablauf. (7)

Ebenfalls aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. stammt der hattische Mythos von „Telepinuš“. Die Hattier, sesshaft in Kleinasien, verehrten den Vegetationsgott Telepinuš, den Sohn des Wettergottes. Die um 2000 v. Chr. eingewanderten Hethiter sammelten die älteren einheimischen Sagen, übersetzten sie und verwendeten sie im Kult weiter. Der Mythos von dem Bemühen des Wettergottes, unter Mithilfe anderer Gottheiten seinen verschwundenen Sohn Telepinuš wiederzufinden, wurde während der Ausgrabungen auf Tontafeln in dem reichhaltigen Archiv von Hattuscha10, der Hauptstadt des ehemaligen Hethiter-Reiches, entdeckt. „Er ist in drei voneinander abweichenden Versionen überliefert“, die bis heute immer wieder neu bearbeitet werden. (8) Hier wird eine freiere, schon etwas ältere Bearbeitung wiedergegeben.

Auch in der griechischen, der hellenisierten und der römischen Welt waren Mythen um Gottheiten bekannt, die ihren verlorenen, geliebten Partner (Liebespartner, Familienangehörigen) suchen und erlösen. Die griechischen Mythen lassen Anfänge im 2. Jahrtausend v. Chr. erkennen. Beziehungen zu den altorientalischen, speziell hurritischen11, werden immer wieder gesehen. Die griechischen Mythen wurden im 1. Jahrtausend v. Chr. niedergeschrieben bzw. von griechischen Autoren in ihren Werken erwähnt und zum Teil auch von römischen Autoren, vor allem Ovid, erneut bearbeitet. Auf diese Weise liegen sie in zahlreichen Versionen vor. Hier werden die Mythen von „Demeter und Kore“, „Kybele und Attis“, „Aphrodite und Adonis“, „Orpheus und Eurydike“ sowie „Amor und Psyche“ in der heute allgemein bekannten Form vorgestellt.

Der zuerst hier wiedergegebene Mythos von „Demeter“ (Göttin des Ackerbaus, des Getreides, der Kornfelder) und der Suche nach ihrer Tochter „Kore“ war in der antiken Welt weit verbreitet. Er ist vor allem überliefert durch den ‘Homerischen Hymnos an Demeter’ (ca. 600 v. Chr.), durch Ovid (43 v. Chr. – 17/18 n. Chr.) in den ‘Fasten’ (V, 417 ff.) und den ‘Metamorphosen’ (V, 341 ff.), wird aber auch in anderen Dichtungen erwähnt. Aus diesen unterschiedlichen Quellen ergibt sich die hier abgedruckte Fassung. (9)

Eng verwandt mit den besprochenen älteren ägyptischen und orientalischen Mythen um eine Göttin und ihren Geliebten, aber auch mit den jüngeren griechischen erscheint der Mythos von „Kybele und Attis“ aus Phrygien in Kleinasien. Die Phrygier waren nach griechischen Quellen noch vor dem Trojanischen Krieg aus Makedonien eingewandert. Sie gelangten etwa zwischen 725 und 550 v. Chr. zu größerer Bedeutung. Ihr unglücklicher König Midas, dem nach einer griechischen Sage alles zu Gold wurde, was er berührte, war nach orientalischen (assyrischen) Quellen eine historische Persönlichkeit. Die Göttin Kybele war eine vom ganzen Volk verehrte Große Göttin. Um sie und ihren Geliebten, den schönen phrygischen Jüngling Attis, rankt sich ein Mythos, der von antiken Schriftstellern wiederholt, allerdings mit großen Abweichungen und mehr oder weniger ausführlich, erzählt wird. Die Abweichungen beruhen z. T. auf lokalen Verschiedenheiten, vermutlich aber auch auf verschiedenen philosophischen Einflüssen. Der römische Lyriker Catull hat im 1. Jahrhundert v. Chr. diesen Mythos mit einem längeren Gedicht (carmen 63) geehrt.(10) Zwei Versionen wurden hier ausgewählt, die letztere frei zusammengefasst.

Ein weiterer Mythos ist der von „Aphrodite und Adonis“. Aphrodite, dem Meerschaum entstiegen, Tochter des Zeus, war eine in weiten Teilen Griechenlands verehrte Göttin der Liebe und Schönheit. Adonis, ihr Geliebter, ist ein von der griechischen Mythologie übernommener syrischer Gott und als Variante von Dumuzi anzusehen. Überliefert ist dieser Mythos durch mehrere antike Autoren, die in der hier ausgewählten Fassung zusammengestellt sind.(11) Wie schon bei „Kybele und Attis“ wird das Motiv der Suche und Erlösung nicht weiter ausgeführt. Es lässt sich aber aus dem Vergleich mit anderen Mythen und Festriten (s. S. 254 ff.) erschließen.

Zum hier behandelten Themenkreis gehört auch „Orpheus und Eurydike“. Die Gestalt des thrakischen Sängers Orpheus ist im griechischen Schrifttum seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. nachgewiesen. Um ihn ranken sich mehrere Sagen. So war er Teilnehmer des Argonautenzuges, „ruderte aber nicht, denn er besitzt nicht die Körperkraft gewöhnlicher Helden. Er gibt den Ruderern den Takt an, und wenn sich ein Sturm erhebt, besänftigt er die Elemente und gibt den Herzen der Seeleute die Zuversicht zurück. (…) Wir wissen auch, daß die Gesänge des Orpheus an Schönheit die der Sirenen übertrafen und die Argonauten daran hinderten, der Versuchung zu erliegen, als das Schiff an den Klippen vorbeifuhr, von denen herab sie sangen. (…) Die berühmteste Episode der Orpheussage ist die von seinem Besuch in der Unterwelt. (…) Es war Vergil, der uns am Ende der ‚Georgica‘ die schönste Version der Mythe erhalten hat; zweifellos aber stammt sie nicht aus ältester Zeit, und die Spuren alexandrinischen Geistes darin sind leicht zu erkennen.“ (12) Vielleicht noch bekannter ist die Bearbeitung von Ovid (Metamorphosen X, 1-75). Sie ist kein Mythos im eigentlichen Sinn, enthält aber soviel Mythisches, ja Mystisches, dass man sie durchaus hier einordnen kann. Häufig wurden „Orpheus und Eurydike“ auf Reliefs, Vasen und Mosaiken dargestellt.

Was Demeter nur zum Teil, Orpheus überhaupt nicht geglückt ist, glückt dem Gott Dionysos, einem der bekanntesten griechischen Götter. Er kann eine geliebte Person, in diesem Fall seine Mutter, nach ihrem Tode aus der Unterwelt befreien und in den Olymp holen.

Nach vielen Abenteuern „stieg Dionysos (…) zum Tartaros hinab und bestach Persephone mit einem Geschenk von Myrte, seine tote Mutter Semele freizugeben. Er nahm sie mit in den Tempel der Artemis zu Troizen. Um die anderen Götter nicht eifersüchtig zu machen oder zu verärgern, änderte er ihren Namen und stellte sie seinen olympischen Gefährten als Thyone vor. Zeus schenkte ihnen ein Haus (…).“ (13)

Der Mythos enthält keine weitere Schilderung der Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Er wird deshalb lediglich der Vollständigkeit halber, d. h. als Ergänzung zu den beiden zuvor genannten Mythen, hier zwar erwähnt, fehlt jedoch unter den in diesem Buch zusammengestellten Dichtungen.

Den krönenden Abschluss, den Höhepunkt all dieser Mythen, bildet die allgemein als Märchen bezeichnete Geschichte von „Amor und Psyche“. Es ist, als bündelte diese Dichtung wie ein Brennglas die verschiedenen Strömungen der antiken Erlösungsversionen und entzündete sie zu einem besonders glänzenden Lichtstrahl, der dann weiterleuchtet bis in die Neuzeit hinein. Nach Ansicht vieler Märchenforscher ist „Amor und Psyche“ für die weitere Entwicklung des Suchwanderungsmotivs von zentraler Bedeutung. Wegen dieser Bedeutsamkeit und weil als Folge davon eine intensive wissenschaftliche Erforschung dieses Mythos stattfand,12 soll hier ausführlich darauf eingegangen werden. Zugleich kann damit ein kleiner Einblick in die Überlieferungsgeschichte antiker Werke gegeben werden. Sie ist bei dieser Dichtung besonders spannend verlaufen.

„Amor und Psyche“ ist als eigenständiger Teil (IV, 28 bis VI, 24) in der Mitte des Romans „Metamorphosen“, auch genannt „Der Goldene Esel“ von Apuleius (2. Jahrhundert n. Chr.), enthalten. Der Dichter, Universalgelehrte und Philosoph Apuleius aus Madaura in Numidien, einer damals römischen Kolonie im heutigen Osten von Algerien, lebte und studierte in Karthago, Athen und Rom; auch unternahm er ausgedehnte Reisen durch Griechenland sowie Kleinasien. Kurz, er war ein weit gereister, gebildeter Mann seiner Zeit. Dies zu wissen ist wichtig, wenn man die Frage nach der Herkunft seines Stoffes für „Amor und Psyche“ untersucht. Klar ist heute, dass bisher in der griechischen und lateinischen Literatur vor Apuleius keinerlei Spuren dieser Geschichte entdeckt wurden. So bildeten sich verschiedene, allerdings umstrittene Auffassungen über die Herkunft des Stoffes heraus. Gemeinsam ist allen, dass sie eine oder mehrere ältere, unbekannte Vorlagen voraussetzen. Bei den weiteren Überlegungen herrschen allerdings unterschiedliche Ansichten. Einer zufolge geht die Idee für diesen Stoff auf Werke des griechischen Philosophen Platon (427–347 v. Chr.), namentlich den „Phaidros“, zurück, weil er eine Lobrede auf den Gott der Liebe (griech.: Eros, lat.: Amor, Cupido) und einen Mythos über die Seele/n beinhaltet.

Etwa gleichzeitig (ca. Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr.) ist die wohl älteste uns bekannte Darstellung von Amor und Psyche als Liebespaar auf einem Bronzerelief, wohl ehemals Teil eines Spiegels. Bis in die späte römische Kaiserzeit folgen zahlreiche weitere Darstellungen in der Kleinkunst (etwa auf Vasen, Lampen, Spiegeln, Gemmen, Silberschalen), als Rundplastiken, auf Wandmalereien und Sarkophagen. Andere Herkunftsdeutungen sehen in Psyche eine altiranische Gottheit, nämlich die Göttin der Allseele/Urseele, oder betrachten die Dichtung als Hinweis auf den Isis-Mythos bzw. eine Zusammensetzung verschiedener altgriechischer Mythen wie „Zeus und Semele“ und lokaler Erzählungen.

Verschiedentlich wird auch auf deutliche Parallelen in anderen Dichtungen hingewiesen: so auf die indische „Purūravas und Urvasī“ aus dem Rigveda (ca. 1200/1000 v. Chr.) und das möglicherweise aber jüngere Märchen „Tulisa, die Tochter des Holzhauers und Basnak Dau“. Angesichts solcher Querbezüge wird davon ausgegangen, dass die uns heute vorliegende „Amor-und-Psyche-Geschichte“ eine lange und verzweigte Vorgeschichte hat, die durch die dichterische Freiheit und Gestaltungskraft des Apuleius geformt wurde. (14)

Was faszinierte G. Boccaccio und die anderen an der Dichtung von „Amor und Psyche“? Ihr Interesse entsprach der damaligen Mode, ja geradezu Manie, der viele Intellektuelle mit Begeisterung frönten. Man suchte begierig in Klöstern, Kirchen und Burgen nach antiken griechischen und lateinischen Handschriften. In diesen Schriften hoffte man u.a. philosophische Antworten auf Fragen des täglichen Lebens zu finden. Die Suche nach solchen Antworten war notwendig geworden, da das mittelalterliche Standesideal des Ritters seinen Sinn verloren hatte. Eine neue Lebensweise begann sich durch das Wachstum der Städte mit einem erstarkten, selbstbewussten, kritischen und tüchtigen Bürgertum zu entwickeln. Auf der Suche nach neuen Idealen entdeckten die Bürger, dass ihrem Lebensgefühl viele Gedanken der griechischen und römischen Antike über eine selbstverantwortliche Lebensführung entsprachen. Verstärkt wurde dieses Interesse durch das Konzil von Ferrara und Florenz (1439), welches die Spannungen zwischen Ost- und Westkirche beheben sollte, und durch den Verlust Ostroms mit der Eroberung Konstantinopels (1453) durch das osmanische Heer, woraufhin viele griechische Philosophen mit antiken Handschriften nach Italien und speziell Florenz zogen. Vor allem der „Weise von Byzanz“, Georgios Gemistos Plethon, soll Cosimo d. Alten zur Bildung der „Platonischen Akademie“ (1459) angeregt haben. Sie bestand aus einer losen Gruppe gleichgesinnter und befreundeter Männer, die sich zunächst in der „Villa di Careggi“ bei Florenz, dem bevorzugten Sommersitz Cosimos, seines Sohnes Piero und seines Enkels Lorenzo d. Prächtigen versammelten. In diesem Kreis sollten gelehrte Studien über jene antiken griechischen Philosophen betrieben werden, die der geistigen Kultivierung eines neuen Menschen, d. h. eines an der Antike orientierten Bildungsmenschen mit Selbstverantwortung, unter Anerkennung seiner Würde als Individuum, dienen konnten. Im Mittelpunkt standen die Schriften Platons mit Fragen nach der Seele im Allgemeinen und ihrer Unsterblichkeit im Besonderen. Vor diesem geistigen Hintergrund lässt sich erahnen, welche Bedeutung dem Werk des Apuleius zu dieser Zeit beigemessen worden sein muss. Ließ doch sein Märchen „Amor und Psyche“ viel Deutungsspielraum über die Seele zu.14

In der „Platonischen Akademie“ wurden auch griechische Dichter übersetzt und Neuauflagen antiker Schriftsteller publiziert. Zu ihnen gehörten die „Metamorphosen“ des Apuleius, die bereits 1469, bald nach der Einführung des Buchdrucks, sofort ein großer Erfolg und mehrfach neu aufgelegt wurden. Vom 16. Jahrhundert an erschienen auch in anderen europäischen Ländern Gesamtausgaben der „Metamorphosen“, aber auch Einzelbearbeitungen von „Amor und Psyche“ in Latein und den einzelnen Landessprachen.

Auch für Deutschland muss zwischen verschiedenen Bearbeitungen unterschieden werden. Sie geben in ihrer Mannigfaltigkeit Zeugnis von der Beliebtheit dieses Stoffes über die Jahrhunderte. Einige sollen hier beispielhaft genannt werden: Deutschsprachige Übersetzungen des Gesamtromans (Erstdruck von J. Sieder, Augsburg 1538), freiere Bearbeitungen und Übersetzungen (besonders bekannt die von A. Rode, Dessau 1783/Berlin 1790), lateinische Ausgaben (z. B. von G. Elmenhorst, Frankfurt a. M. 1621), gesonderte Ausgaben des Amor-und-Psyche-Märchens in Latein (z. B. A. Ern(n)st aus Nordhausen bei Göttingen, 1519), freiere Übersetzungen (z. B. die hier verwendete und noch immer aktuelle von A. Rode 1780, die zusammen mit dem Gesamtroman den Weimarer Kreis um Goethe begeisterte), vollständige Übersetzungen (nach Vorarbeiten von G. F. Hildebrandt 1842 und H. Keil 1849 z. B. durch O. Jahn 1851). 1881 fand das Buch von A. Zinzow, welches, wie es im Untertitel heißt, „Darstellung und Auffassung des Apulejus beleuchtet und auf seinen mythologischen Zusammenhang, Gehalt und Ursprung zurückführt“, seine Leserschaft. Auch im Laufe des 20. Jahrhunderts stieß das Märchen von „Amor und Psyche“ auf großes Interesse, sodass neue Ausgaben erschienen.

Und doch muss, wie ein Blick vor allem auf die französischen Ritterromane zeigt, der Einfluss des „Amor-und-Psyche-Stoffes“ auf das Suchwanderungsmotiv in Europa noch älteren Ursprungs sein, also bereits vor Boccaccio und der ersten Drucklegung stattgefunden haben. Wie kam es dazu? Zur Beantwortung dieser Frage sind bis heute umfangreiche Forschungsarbeiten betrieben worden, nach denen sich folgendes Bild ergibt. Um 500 n. Chr. verfasste Fulgentius aus Karthago, der mit griechischer und lateinischer Literatur vertraut war, ein Werk über die Mythologie der Antike. Es enthält die Geschichte von Amor und Psyche, genau nach Apuleius, kurz nacherzählt, jedoch nur etwa bis zur Hälfte der Handlung. Im Gegensatz zum originalen Apuleius ist der Fulgentius im Mittelalter nicht unbekannt gewesen; es gibt eine größere Anzahl von Handschriften. (15) Diese hatten direkt oder indirekt mehr oder weniger großen Einfluss auf die Dichtung der nachfolgenden Zeit. Wegen der Bedeutung dieses Werkes für die Literaturgeschichte freue ich mich besonders, mit Einverständnis des Verlages Teubner, Stuttgart/Leipzig, der Dichtung des Apuleius eine deutsche Übersetzung des Fulgentius durch H.-G. Obermeier beifügen zu können.15

Nach diesem Exkurs über die Wege der Verbreitung einer Dichtung nun zurück zur Entwicklungsgeschichte des Suchwanderungsmotivs in der europäischen Literatur.

Wie oben gezeigt, war das Motiv aus verschiedenen antiken Quellen16 in Europa bekannt. Doch unter den Einflüssen einer neuen Zeit entfernte sich das Motiv mehr und mehr aus dem mythischen Zusammenhang. Nicht mehr göttliche Wesen sind die Handelnden, sondern menschliche. Zwar spielen noch Feen, Hexen, Zauberer und Zauberinnen u. Ä., also überirdische Wesen, eine Rolle, ist die Umwelt noch voller fantastischer Elemente, doch ist die Gesamtgeschichte nun in gewisser Weise im Irdischen verankert, eben weil die Hauptpersonen Menschen sind.

Vor allem zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert n. Chr. flossen in Europa verschiedene Strömungen und Einflüsse in der Dichtung zusammen und spiegelten so die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit wider. Grob umrissen gab es: Frankreich und das Deutsche Reich auf u.a. Gebieten des ehemaligen Römischen Imperiums und deshalb auch mit klassisch antikem, speziell römischem Erbe, sodann in Griechenland und seinen umgebenden Gebieten das Byzantinische Reich mit ebenfalls klassisch antikem, speziell griechischem Erbe, aber auch orientalischen Einflüssen, dann in Südspanien und auf einigen Mittelmeerinseln den arabisch-islamisch beherrschten Bereich mit älteren keltiberischen, griechisch-römischen, sowie germanischen Einflüssen und schließlich, seit dem 10. Jahrhundert n. Chr. zunehmend erstarkend, die normannischen Gebiete mit England, der Normandie, Süditalien, Sizilien, Nordsyrien (um die Stadt Antiochia) und kurzfristig Teilen der nordafrikanischen Küste um Tripolis (Libyen) mit zusätzlichen fränkischen und skandinavischen Einflüssen. All diese Großmachtgebiete waren nicht nur gegenseitig in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, sondern auch friedlich miteinander verbunden durch internationalen Handel (z. B. zwischen Venedig, Genua und den byzantinischen sowie arabischen Gebieten) und die dadurch miteinander in Gedankenaustausch tretenden Kauf- und Seeleute, durch Pilgerzüge z. B. nach Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela, durch wandernde und Arbeit suchende Ritter, Handwerker, Gelehrte, Musikanten/Sänger/Gaukler, durch Eheschließungen der adeligen Herrscherschicht oder durch überregional eingesetzte Angehörige der Kirche (Mönche, Nonnen, höherer Klerus); nicht zuletzt verband die Machtzentren, in unterschiedlichsten Konstellationen, die Teilnahme an den Kreuzzügen (Konzil von Clermont, Aufruf zum 1. Kreuzzug, 27. Nov. 1095). Durch diese vielfältigen Kontakte herrschte ein reger Austausch nicht nur von Handelsgütern, Handwerkstechniken und Wissen, sondern auch von literarischen Motiven. Ein Beispiel hierfür ist das Buch von Sindbad (auch „Die sieben weisen Meister“ genannt). Es war über syrische und arabische Vermittlung im 11. Jahrhundert n. Chr. aus Persien nach Europa gelangt, wo es sehr bekannt war und viele literarische Anregungen lieferte. Besondere Bedeutung kam bei diesen literarischen Interdependenzen den schon ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. an fremden Höfen wirkenden keltischen Sängern zu. Ihre „Lais“, Verserzählungen, die auf der Harfe oder der Rotte begleitet wurden, waren sehr beliebt. Die bedeutendste Schöpferin der Lais war die Dichterin Marie de France (12. Jahrhundert n. Chr.), von der Verserzählungen in französischer Sprache vorliegen. Zwei von ihnen, „Guigemar“ und „Lanval“, enthalten Elemente der Suchwanderung und Erlösung. Vor allem bei dem zweiten hier aufgeführten ist die Verwandtschaft mit „Amor und Psyche“ deutlich zu erkennen.

Die Erzählung „Guigemar“ in knapper Zusammenfassung:

Guigemar, ein mutiger junger Ritter, verwundet auf der Jagd eine weiße Hindin. Sein Pfeil springt zurück und schlägt ihm eine schwere Wunde, von der er, wie die Hindin ihm weissagt, nur durch innige Frauenliebe gesunden kann. Entsetzt und nachdenklich reitet er davon, gelangt zu einem Wunderschiff, betritt es neugierig. Als er dort, ermüdet von seiner Verwundung, einschläft, segelt es davon und bringt ihn in ein unbekanntes Land. Dort findet er heimlich Unterschlupf bei einer königlichen Dame, die ihn gesund pflegt. Niemand darf von seiner Anwesenheit erfahren. Da sich beide ineinander verliebt haben, bleibt er auch nach der Heilung seiner Wunde bei ihr. Eines Tages aber wird er entdeckt und muss fliehen. Er gelangt durch das Wunderschiff wieder in seine Heimat. Auch der Dame gelingt die Flucht, und nach manchen Fährnissen, die an eine Suchwanderung erinnern, finden sie sich wieder und sind nun glücklich vereint, d. h. von ihrer Liebessehnsucht erlöst.

Die Erzählung „Lanval“ in knapper Zusammenfassung:

Lanval, ein edler, vorbildlicher und treu dienender Ritter aus der Tafelrunde des König Artus, wird von diesem ohne Grund bei der jährlichen Verleihung von „Gaben“ als Einziger übergangen. Da niemand für ihn beim König vorspricht und er selbst auch nicht bitten mag, gerät er in große finanzielle Bedrängnis. Voll Kummer reitet er auf eine Wiese und legt sich dort nieder. Da kommen zwei Damen auf ihn zu und führen ihn zu ihrer Herrin. Diese ist schon lange in den Ritter verliebt und gesteht ihm ihre Liebe. Lanval, der sich bei ihrem ersten Anblick in sie verliebt hat, erwidert ihre Gefühle. So verbringen sie manche Liebesstunde miteinander, doch muss er ihr versprechen, niemandem von ihr zu erzählen. Er gibt ihr sein Wort. Doch in einer für ihn schwierigen Situation bricht er sein Versprechen und erzählt von ihr. Die Schöne besucht ihn daraufhin nicht mehr. Lanval ist nun in mehrfachen Schwierigkeiten – von Liebessehnsucht geplagt, gerät er auch in äußere Bedrängnis. In einer für ihn gefährlichen und aussichtslosen Situation erscheint sie im letzten Moment doch, hilft ihm und reitet mit ihm zusammen nach Avalon in eine schönere Welt. (16)

Aus derselben Zeit stammt einer der ältesten europäischen Ritterromane, „Partonopeus de Blois“ (altfranzösisch, zwischen 1182 und 1185 n. Chr.), von Denis Piramus. Bei ihm kommt die Orientierung an Fulgentius insgesamt noch stärker zum Ausdruck als bei den beiden hier wiedergegebenen Lais der Marie de France. Im Gegensatz zu „Amor und Psyche“ ist hier, wie schon in „Lanval“, nicht die Frau, sondern, gemäß der ritterlichen Welt, der junge Ritter der Haupthandelnde. Dementsprechend ist er es, der sein Versprechen bricht. Hier eine kurze Zusammenfassung des Romans, da die Dichtung ansonsten schwer zugänglich ist.

Während einer Jagd verfolgt der Ritter Partonopeus einen wilden Eber. Dabei verirrt er sich und gelangt zu einem Schiff. Er betritt es, findet es menschenleer und bemerkt zu seinem großen Schrecken, dass es mit ihm davonsegelt. Es bringt ihn zu einer ebenfalls menschenleeren Stadt. Im dortigen Palast legt er sich auf ein Ruhelager. Er schläft ein und wird während der Nacht von einer Frau, genannt Melior, besucht. Sie sagt ihm, dass sie ihn heiraten werde, er ihr aber versprechen müsse, sie während der folgenden zweieinhalb Jahre nicht anzusehen. Er verspricht dies. Während eines Besuches bei seiner Mutter erhält er von dieser eine Lampe. Zurück bei Melior, zündet er eines Nachts die Lampe an und betrachtet die Geliebte. Sie bemerkt es und verlässt ihn. Er reist daraufhin zurück in seine Heimat, möchte vor Liebesleid nur noch sterben. Doch auf einer erneuten Jagd gelangt er auf ein anderes Schiff und trifft dort die Schwester von Melior. Auch diese verliebt sich in den jungen Ritter und führt ihn auf ihr Schloss. In der Zwischenzeit hat Melior, die alle Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Partonopeus aufgegeben hat, ein Turnier ausgerufen. Der Gewinner soll ihr Ehemann werden. Nach vielen Abenteuern nimmt auch Partonopeus an diesem Turnier teil und gewinnt es – und damit die Hand von Melior und die Herrschaft über das Reich.

In einer deutschen Version (Partonopier und Meliur, mhd., um 1277) von Konrad von Würzburg wird das Liebesleid der Liebenden noch detaillierter ausgestaltet.

Ähnlichen Inhalt hat eine mittelhochdeutsche Sage über Friedrich von Schwaben (Anfang 14. Jahrhundert n. Chr.).

Auch er verfolgt auf der Jagd ein Tier, gelangt dabei in einen verlassenen Palast, isst und trinkt dort, legt sich nieder zum Schlaf, wird in der Nacht von einer Frau besucht. Sie sagt ihm, dass sie nachts eine Frau und bei Tag ein Tier sei. Auch er darf sie nicht ansehen, wenn sie bei ihm bleiben soll. Auch er verspricht dies, auch er nimmt eines Nachts ein Licht und sieht sie an. Auch sie muss ihn daraufhin verlassen. Zuvor gibt sie ihm einen Ring und verwandelt sich dann in eine Taube, um fortzufliegen. Nach vielen Abenteuern kann Friedrich von Schwaben sie jedoch erlösen und zurückgewinnen. (17)

Das gemeinsame literarische Erbe und vergleichbare kulturelle, politische und soziale Verhältnisse führten in Europa zu vergleichbaren Erzählungen, die sich später auch wieder in deutlich voneinander unterscheidbare Erzählkreise aufspalteten. Im Italien des 14./15. Jahrhunderts zehrte man von der reichen Literatur der Vergangenheit, erneuerte sie aber zugleich zeitgemäß. Hier ist besonders die Novellensammlung „Il Decamerone“ (Das Dekameron) von G. Boccaccio mit seiner Rahmenhandlung zu nennen. Von Märchen nach heutigem Verständnis ist aber vor dem 16. Jahrhundert so wenig bekannt, dass man ihren Beginn bei den großen Sammlungen von G. F. Straparola und G. Basile im 16. Jahrhundert ansetzt. Allgemein wird angenommen, dass sich Märchen erst zur Zeit der Kreuzzüge oder nur wenig früher vom Mittelmeer über Italien nach Europa verbreitet haben, wobei verschiedene Einflüsse auf sie eingewirkt haben. „Diese Einwirkung geht auf zwei Wegen vor sich. Einmal gehen die märchenhaften Elemente mittelalterlicher Erzählungen, die Kern vieler Märchenstoffe sind, oft auf Anregungen aus antiker Literatur zurück. (…) Zweitens aber haben die Märchenautoren direkt aus der antiken Literatur geschöpft. Sie sind ja alle mit Latein, wenn nicht sogar, wie Basile, mit Griechisch aufgewachsen; und welche ungeheure Rolle im 16. bis 18. Jahrhundert die antiken mythologischen Stoffe spielten, erlebt jeder, der die Statuen eines barocken Parks oder die Malerei der Zeit betrachtet. Die herausragende Rolle, die die Amor-Psyche-Geschichte des Apuleius als Lieferant von Motiven spielte, hat wohl damit begonnen, dass Straparola ihre Verwandtschaft mit dem Parthenopaeus17 und davon beeinflußten anderen mittelalterlichen Texten erkannte und sie so der Klasse der romantischen und wunderbaren Erzählungen zurechnete, in denen er stofflich seine Vorbilder sah. Ihm folgten Basile und die Franzosen.“ (18) In den Sammlungen von Straparola und Basile vermögen wir deshalb auch Motive des Suchwanderungsmärchens zu erkennen. Beide gehören zu den ersten Märchensammlern Europas. Sie haben die Märchen, die ihnen erzählt wurden, niedergeschrieben, wobei sie die barocke Sprache der Erwachsenen beibehalten haben.

Giovan Francesco Straparola (sein genauer Name ist unbekannt) verbrachte vermutlich die meiste Zeit seines Lebens in Venedig. Diese Stadt war zu seiner Zeit ein Hauptstapelplatz für Waren aus dem Orient. „Mit Menschen und Waren aus aller Herren Länder strömten dort auch die Erzählungen aus dem Orient zusammen und veränderten, indem sie von Mund zu Mund gingen, allmählich ihre ursprüngliche Form, erfuhren eine Vermischung der Motive, daß sie zuweilen anmuten wie ein aus bunten Flicken zusammengesetztes Kleid. Straparolas große Bedeutung für die Genealogie der erzählenden Dichtung liegt darin, dass er als Erster dieses alte Märchengut gesammelt hat und es, ohne aus Eigenem etwas hinzuzutun, mit allen Gewaltsamkeiten und Strukturmängeln, mit der ganzen babylonischen Verwirrung der Motive wiedergab, die es im Schoße der Lagunenstadt erlitten hatte. Straparola kam mit seiner Sammlung einem Bedürfnis entgegen. Wie groß dieses war, zeigt der Erfolg seiner ‚Ergötzlichen Nächte‘. Diese erlebten innerhalb eines Zeitraumes von rund sechzig Jahren nicht weniger als zweiunddreißig italienische (in Venedig erschienene) Ausgaben.“ (19) Das Werk erschien in zwei Teilen: 1. Teil 1550, 2. Teil 1553.

Die einzelnen Märchen, von denen Straparola zweifelsfrei die meisten dem einfachen Volk abgelauscht hat, werden von einer Rahmenhandlung zusammengehalten. Sie lautet:

Eine adelige Dame hat einen kleinen Hofstaat von zehn Damen. Zu ihm gesellen sich zwei ältere Damen und viele vornehme und gelehrte Herren. Sie finden sich fast allabendlich im Hause der adeligen Dame ein und unterhalten sich mit allerlei Kurzweil wie Tanz, heiteren Gesprächen, Musik, Gesang, Rätseln. Während des Karnevals wird ein besonderes Programm geplant. So soll während der noch verbliebenen 13 Nächte zuerst getanzt werden, dann sollen fünf Damen vorsingen und sodann nach der Wahl des Loses ein Märchen erzählen.

Dieser Rahmenhandlung entspricht der Aufbau von Straparolas Werk. Es ist in 13 Nächte gegliedert, deren jede fünf Märchen zählt, ausgenommen die 13., die dreizehn enthält. Den Abschluss bildet der Ausklang der Rahmenerzählung. Die hier aufgenommene Erzählung vom „Kaufmann Orthodosio Simeoni“ ist die dreißigste Geschichte, d. h. die letzte der sechsten Nacht. Sie enthält das Motiv der aufopfernden Suche und Erlösung aus einer unerquicklichen Situation und passt deshalb hierher. Die Schilderung des Umfeldes kann als realistisch angesehen werden. Seit dem 13. Jahrhundert hatten Florentiner Kaufleute nicht nur Geschäftsbeziehungen, sondern auch Handelsniederlassungen in allen Teilen Europas, besonders auch in Flandern.

Aus einer anderen großen italienischen Handelsmetropole, aus Neapel, kommt G. Basile (1575–1632). Über sein Leben ist wenig bekannt. Ebenso wenig ist darüber bekannt, woher er die Märchen für sein berühmtes Werk „Il Pentamerone“ (Neapel 1634/36) hat. Es wird angenommen, dass er sie mehr oder weniger alle in Neapel und Umgebung hörte bzw. sie ihm erzählt wurden. Ebenso gut könnten einige aber auch ihren Ursprung in Venedig, Kreta oder Korfu haben, da Basile sich dort in jungen Jahren aufhielt. Die Sammlung wurde erst nach seinem plötzlichen Tod von seiner Schwester unter einem Pseudonym herausgegeben. Wäre sie zu seinen Lebzeiten erschienen, hätte er darin vielleicht Angaben über sich selbst und sein Werk gemacht. Auch im „Pentamerone“ gibt es wieder eine Rahmenhandlung. Diesmal sind es zehn hässliche alte Frauen, die bis zu der in fünf Tagen erwarteten Niederkunft der falschen Gemahlin des Prinzen täglich je eine Geschichte erzählen sollen, insgesamt also 50. Die Rahmenhandlung enthält Kriterien, die sie selbst zu einem Suchwanderungsmärchen macht.

Eine Königstochter wird von einer alten Frau zur Ehelosigkeit verflucht, es sei denn, sie erlöst einen verwunschenen Prinzen. Die Prinzessin nimmt diesen Fluch ernst und begibt sich auf die Suche nach diesem Prinzen. Sie findet ihn und einen Krug, den sie zur Erlösung des Prinzen mit ihren Tränen füllen soll. Dies gelingt ihr zwar, doch wird sie von einer Sklavin in einem entscheidenden Moment überlistet. Diese wird dann statt der Prinzessin von dem erlösten Prinzen geheiratet und erwartet in Kürze ihr erstes Kind – Anlass für das Erzählen der 50 Märchen. Mittlerweile unternimmt die Prinzessin alles in ihrer Macht Stehende, um sich dem Prinzen zu nähern. Dabei erinnert sie sich an drei Geschenke, die ihr eine Fee für Notfälle übergeben hatte. Dreimal versucht sie den Prinzen zu erreichen. Dies glückt ihr beim dritten Mal. So kommt im letzten Märchen die Wahrheit an den Tag. Die Sklavin wird bestraft und die Königstochter von dem Prinzen geheiratet.

Das hier enthaltene Märchen „Pintosmalto“ wurde am fünften Tag erzählt. (20) Es entspricht dem neugriechischen Märchen „Vom Manne aus Zucker“. Das Motiv „Mann/Frau erschafft sich selbst eine/n Geliebte/Geliebten“ ist seit der Antike bekannt. So erzählt eine griechische Sage von dem Bildhauer Pygmalion, dass er aus Elfenbein das Bildnis der Göttin Venus geschnitzt habe. Der Anblick des Bildnisses entzückte ihn derartig, dass er sich in sein Werk verliebte. Liebeskrank bat er die Göttin verzweifelt um Hilfe. Aus Erbarmen mit ihm hauchte sie dem Schnitzwerk Leben ein.18 Die Rahmenhandlung mit dem Motiv der „drei Geschenke“ hat ihre Parallelen im Märchen „Pintosmalto“ und dem weiter hinten aufgeführten Märchen „Das singende springende Löweneckerchen“ der Gebrüder Grimm.

Die Beispiele zeigen recht deutlich, dass diese Märchen bis etwa zum 17. Jahrhundert n. Chr. Erzählungen für Erwachsene waren. Danach setzt eine Veränderung ein. Im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt sich in Frankreich, das damals in kultureller Hinsicht in Europa Vorbild war, eine zwischen 1690 und 1790 weit verbreitete literarische Modeströmung: die Feenmärchen. Diese Strömung zog viele Schriftsteller und vor allem Schriftstellerinnen an. Allen gemein war, dass sie die Volksmärchen, die sie von Ammen, Dienern, Gouvernanten und Bauern gehört hatten, einfallsreich zu Kunstmärchen verwandelten. Es war vor allem das Verdienst von Madame D’Aulnoy, dass diese Märchen in den feinsten Pariser Kreisen salonfähig wurden. Der Dichter Ch. Perrault, der bekannte Pädagoge Fénelon und Madame de Maintenon erkannten ihre Bedeutung für die Erziehung. Besonders bedeutsam wurde der Zyklus „La Belle et la Bête“. „Die bedeutendsten Märchen dieses thematischen Zyklus’ in Frankreich sind: Mlle. Catherine Bernards ‚Riquet mit dem Schopfe‘ in ihrem Roman ‚Inès de Cordue‘ (1696), Charles Perraults ‚Riquet mit dem Schopfe‘ in ‚Histoires ou Contes du temps passé‘ (1697), Madame D’Aulnoys ‚Der Bock‘ und ‚Die grüne Schlange‘ in ‚Contes des fées‘ (1697), Madame Catherine Durands ‚Das Wunder der Liebe‘ in ‚Les Petits Soupers de l’année 1699‘ (1699), Madame Gabrielle de Villeneuves ‚La Belle et la Bête‘ in ‚La jeune Amériquaine et les contes marins‘ (1740) und Madame Leprince de Beaumonts ‚La Belle et la Bête‘ (…) (1756).“ (21)

„La Belle et la Bête“ – deutsch: „Die Schöne und das Tier“ – von Madame J.-M. Leprince de Beaumont wurde die bekannteste Erzählung. Sie fand in Europa deshalb so weite Verbreitung, weil sie in dem Kinderbuch „Magasin des Enfants“ abgedruckt war, das als Lehrbuch für Französisch in vielen Ländern benutzt wurde und zudem als eine Art Anstands- und Lehrbuch für junge Mädchen aus dem Adel und dem gehobenen Bürgertum in mehrere Landessprachen (Deutsch 1758) übersetzt worden war. Das vierbändige Werk besteht aus 29 Dialogen zwischen einer Gouvernante und ihren sieben vernünftigen, kritischen Elevinnen im Alter zwischen 5 und 13 Jahren. Diesen Dialogen sind i. d. R. Geschichten aus verschiedenen Bereichen, z. B. der Bibel oder den Historien des griechischen und römischen Altertums, aber auch geografische Schilderungen, sachlich-moralische Belehrungen oder Märchen hinzugefügt. Das hier abgedruckte Märchen „Die Schöne und das Tier“ von Madame Leprince de Beaumont ist im ersten Band in den fünften Dialog des dritten Tages eingeschoben. Es ist die verkürzte Fassung des (längeren) romanhaften Feenmärchens von G.-S. de Villeneuve. (22) Das Märchen „Die Schöne und das Tier“ hat nicht nur die Gebrüder Grimm beeindruckt, denn unter dem Titel „Von dem Sommer- und Wintergarten“ befand es sich in der Erstausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812 unter der Nr. 68, sondern hat bis ins 20. Jahrhundert Autoren zu Bilderbüchern, Gedichten und Romanen, Komponisten zu Opern, Operetten und Musicals, Filmschaffende zu Filmen (Jean Cocteau 1946, Disney Studios 1992) angeregt. (23) Das Märchen ist ein Beispiel für das Vorkommen des Erlösungsmotives ohne leidvolle, langwierige Suche, wie eingangs schon erwähnt. Es fehlt diese wie auch das Erbringen von Opfern bzw. das Erfüllen von Aufgaben. Und doch lässt sich dies alles noch erahnen durch die Rückkehr der „Schönen“ auf das Schloss, ihrer kurzen Suche nach dem „Tier“ im Garten und vor allem ihrer Opferwilligkeit zugunsten desselben. So passt es doch in die hier erfolgte Zusammenstellung.

Die Sammlung der Gebrüder Grimm enthält mehrere Märchen, die mit dem „La Belle et la Bête“-Zyklus verbunden sind. Vor allem „Das singende springende Löweneckerchen“ ist als recht eigenständige Variante zu nennen. Bei ihm findet sich auch das Suchwanderungsmotiv mit großer Ausführlichkeit wieder. Das Märchen wurde Jacob und Wilhelm Grimm von Henriette Dorothea (Dortchen) Wild (1793–1867), der damaligen Nachbarstochter und späteren Ehefrau Wilhelm Grimms, wie es heißt, am 7. Januar 1813, abends um halb neun, erzählt. Sie war eine begabte Märchenerzählerin, wie auch die anderen Töchter der Wild’schen Apothekerfamilie in Kassel. Unbekannt ist, woher Dortchen Wild das Märchen kannte. Allerdings gab es im hessischen Raum, in der Schwalmgegend, im Hannoveranischen, kurzum im mittel- und norddeutschen Raum etliche verwandte, mündlich überlieferte Erzählungen, die in der letzten Fassung des „Löweneckerchen“ zusammenflossen. In der Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ von 1815 steht es im 2. Band unter der Nr. 2, ab 1819 ist es das Märchen Nr. 88. (24)

Die beiden Volksmärchen „Die Frau, die auszog, ihren Mann zu erlösen“ und „Der Grüne Ritter“19 sind mündliche Überlieferungen aus Spanien und Norwegen. (25)

Neben der Suchwanderung, in welcher die Frau den geliebten Partner sucht und erlöst, gibt es auch dass Motiv der aufopfernden Suchwanderung des Mannes nach seiner Frau (AT 400–424). Ein schönes, hier abgedrucktes Beispiel ist „Ellenlang, Meilenbreit und Feuerauge“ aus Böhmen. Bei ihm ist das Motiv der Suchwanderung des Mannes ausführlich geschildert. Ein schönes Beispiel für eine nach kurzer Suche auf Liebe beruhende langwierige Erlösungsarbeit des Mannes, welches hier nicht abgedruckt, sondern nur ergänzend erwähnt wird, ist „Der Rosenbey“, eine orientalisch-türkische Variante von „Dornröschen“. (26)

Während in allen bisher hier vorgestellten Märchen das Motiv der Liebe und Treue zwischen Ehegatten bzw. zwischen sich liebenden Männern und Frauen weiterlebt, erzählt das Grimm’sche Märchen „Die sechs Schwäne“ von der Liebe zwischen Geschwistern. Auch dieses uralte, bereits aus Mythen bekannte Motiv der Geschwisterliebe lebt in Märchen in verschiedenen Variationen weiter (AT 450–459). Besonders in „Die sechs Schwäne“ wird die leidvolle Suche einer Schwester erzählt. Über Jahre hinweg hält sie ihren verzauberten und damit in Not geratenen Brüdern die Treue und vermag sie erst nach großen persönlichen Opfern zu erlösen. Auch dieses Märchen haben die Gebrüder Grimm von Henriette Dorothea Wild, die es am 19. Januar 1812 im Gartenhaus erzählt haben soll. Bereits in der 1. Ausgabe von 1812 wurde es veröffentlicht. Ähnlichkeiten mit Grimms Märchen „Die zwölf Brüder“ und „Die sieben Raben“ sind vorhanden. Bei L. Bechstein heißt ein Märchen „Die sieben Schwanen“ (vgl. H. C. Andersen, „De vilde Svaner“). Reste dieses Motives erahnen wir natürlich in „Hänsel und Gretel“. (27)

Seltener belegt ist das Weiterleben des Motivs der Suche von Vater oder Mutter nach dem geliebten Kind. Als eine späte Variante kann das Grimm’sche Märchen „Die Gänsehirtin am Brunnen“ angesehen werden. Ursprünglich handelt es sich dabei wohl um ein alpenländisches Märchen, welches seit 1833 in Mundart bekannt ist. Die Gebrüder Grimm nahmen „Die Gänsehirtin am Brunnen“, „in stark literarisierter Fassung“, 1843 „in den zweiten Band der fünften, stark vermehrten Auflage (…) auf“. Das Motiv des Vaters, der seine drei Töchter auf eine Probe stellt, wie in dem hier ausgewählten Märchen, ist aber wesentlich älter. William Shakespeares „König Lear“ (1606) ist die bekannteste, eine Ballade von Geoffrey of Monmouth (1135) die älteste Version, die aber ihrerseits Vorformen vermuten lässt. (28)

Mit dem Ende des 17. Jhs. setzt man den Beginn des Kunstmärchens an, d. h., der Dichter des Märchens ist, im Gegensatz zum Volksmärchen, bekannt. „Die Schöne und das Tier“ wurde schon genannt – ein weiteres Kunstmärchen, chronologisch das jüngste, soll den Abschluss dieser Übersicht bilden. Das Märchen „Die Schneekönigin“ wurde von Hans Christian Andersen gedichtet. Nach eigenen Angaben begann er mit der Niederschrift „am 5. Dezember 1844, und bereits am 21. Dezember wurde es, zusammen mit ‚Der Tannenbaum‘ veröffentlicht“. Im selben Monat schrieb Andersen dazu an seinen Freund, den Dichter B. S. Ingemann: „Es war eine reine Freude für mich, mein letztes Märchen, ‚Die Schneekönigin‘, zu Papier zu bringen; ich war innerlich so davon durchdrungen, daß es, als es herauskam, übers Papier tanzte.“ In seiner Tagebucheintragung vom 12. Januar 1846 berichtet Andersen von einer Einladung am Hofe zu Weimar. „Zur Tafel des Großherzogs geladen, saß ihm zur Linken. (…) Abends um einhalb acht Uhr zum Erbgroßherzog; die Großherzogin war da, und später erschien der Großherzog. Ich las den ‚Tannenbaum‘ und ‚Die Schneekönigin‘.“

Für „Die Schneekönigin“ hat H. C. Andersen von überall her Motive entlehnt, so auch das Amor-und-Psyche-Motiv. Daneben sind auch Erinnerungen an seine Kindheit darin enthalten. In „Märchen meines Lebens“ ist über sein Elternhaus zu lesen: Von der Küche konnte man „auf einer Leiter (…) auf den Boden gelangen, wo in der Dachrinne, gegen das Nachbarhaus hin, ein großer Kasten mit Erde und Küchengewächsen, der ganze Garten meiner Mutter, stand; in meinem Märchen ‚Die Schneekönigin‘ blüht er noch.“ Auch seine von ihm zärtlich geliebte Großmutter, für ihn der Inbegriff von Milde und Herzenswärme, lebt weiter in der Großmutter und wohl auch in den alten Frauen dieses Märchens. Seine persönliche Lebenseinstellung, dass man dem Leben gegenüber eine gewisse Naivität behalten sollte und dass die positive Kraft des warmen Herzens den kalten Verstand und das Böse besiegt, kommt in diesem Märchen ebenfalls zum Ausdruck. „Einer seiner liebsten Bibelsprüche war: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen – und dies ist letztlich auch die Botschaft seines Märchens ‚Die Schneekönigin‘.“ (29)

Das Suchwanderungsmotiv erscheint darin in einer neuen Variante: der Suche der Freundin nach dem Freund.

Zum Ende sei darauf hingewiesen, dass bei den nachfolgenden Zitaten und Abdrucken im Allgemeinen die alte Rechtschreibung beibehalten ist.

1 Volksmärchen: Der Autor ist unbekannt, sie sind überliefert im Volk, Sammler sind bekannt, z. B. Gebrüder Grimm, Bechstein.

Kunstmärchen: Der Autor ist bekannt, z. B. H. Chr. Andersen. Allgemein wird der Beginn der Kunstmärchen im 17./18. Jahrhundert angesetzt.

2 E. Frenzel, Vatersuche, in: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon Dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 4., überarb. u. ergänzte Aufl. 1992, 745 ff., A. van der Lee, Zum literarischen Motiv der Vatersuche, 1957.

3 Zum Erlösungsmotiv s. S. 267.

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