Von Kaunas über Dachau in ein neues Leben - Uri Chanoch - E-Book

Von Kaunas über Dachau in ein neues Leben E-Book

Uri Chanoch

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Beschreibung

Uri Chanoch ist 1928 in Kaunas in Litauen geboren. Seine in diesem Band schriftlich festgehaltenen Erinnerungen zeigen den Weg durch die barbarische erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und den Völkermord an den europäischen Juden. Im August 1940 wurde das kleine baltische Land Teil der Sowjetunion. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden die Eltern Frieda und Shraga zusammen mit den Kindern Miriam, Uri und Daniel in das im August 1941 errichtete Ghetto Kaunas gezwungen. Nach der Liquidierung des Ghettos im Juli 1944 kamen Mutter und Tochter ins KZ Stutthof bei Danzig, der Vater und die beiden Söhne Uri und Daniel in den neu errichteten Dachauer KZ-Außenlagerkomplex Kaufering bei Landsberg am Lech. Während die Eltern und die Schwester nicht überlebten, wurde Uri auf einem Todesmarsch befreit und fand wenig später sogar seinen Bruder Daniel in Italien wieder. Seine Rückkehr in ein normales Leben ebenso wie die Emigration nach Eretz Israel gibt er in seinen Erinnerungen anschaulich wieder. Wie Uri Chanoch anfänglich von Rachegedanken geplagt und später zu einem der wichtigsten Vertreter der Versöhnung und Erinnerungskultur in Landsberg und Dachau wurde, davon handeln diese bewegenden Memoiren des Holocaust-Überlebenden.

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Beiträge zur GeschichtswissenschaftReihe Lebenszeugnisse

Herausgegeben von Ernst Piper

Die englische und hebräische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel: »Uri Chanoch and Judith Chanoch, Untold Story: From Kovno and Dachau to a New Life« © Yad Vashem, Hebrew and English editions. First published in Hebrew by Yad Vashem (2018)

Herausgabe und Druck der deutschen Version dieses Buches wurde von der CONFERENCE ON JEWISH MATERIAL CLAIMS AGAINST GERMANY, INC. großzügig unterstützt.

Zur Erinnerung an meine Elten,Frida und Feivel Shraga Chanoch,meine Schwester Miriam (Merke)und all die Mitglieder der Familie Chanoch,die im Holocaust ermordet wurden.

Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH München© 2022 Judith Chanoch© 2022 der deutschen Ausgabe: Buch&media GmbH MünchenLayout, Satz und Umschlaggestaltung: Johanna ConradGesetzt aus Stempel Garamond LT und The SansUmschlagvorderseite: Uri Chanoch, 1947 © privatPrinted in Europe · ISBN 978-3-96233-288-4

Allitera VerlagMerianstraße 24 · 80637 MünchenFon 089 13 92 90 46 · Fax 089 13 92 90 65

Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf www.allitera.de Kontakt und Bestellungen unter [email protected]

Inhalt

Preface of the English Edition

Prolog der englischen Ausgabe

Einleitung

Kindheit in Kaunas, Tage der Unschuld

Mutters Lied – Leitmotiv meines Lebens

Eine zerbrochene Geige und »Faust« mit sechs Jahren

Auf Wiedersehen, Hebräisch – Willkommen, liebes Pionierdasein

An einem Morgen im Sommer ging die Welt unter

Das Getto Kaunas

Neue Wörter: Getto – Eilbote – Aktion – Untergrund

Die Rettung eines kleinen Mädchens

Ein Nazi-Offizier rettet meiner Mutter das Leben

»Kinderaktion«

Ich bin kein Mensch, bin eine Nummer

Die Hölle namens Lager I

Vater verschwand und nun war ich allein

Eine einzige Kartoffel …

Zugreise zurück ins Leben

Ein Panzer mit weißem Stern

Erinnerungen an das wunderschöne Landsberg

Schokolade für das Kind aus dem ersten Stock

Wunderbare Neuigkeiten

Mit einem blauen Davidstern nach Italien

Warum ich Italien so liebe

Die Jugendgruppe im Kibbuz Alonim

Übers Meer bis ins Land Israel

Ein Schäfer im Jezreel-Tal

Wir stehlen kein Silber

Ich verteidige mein Land – der Palmach

Ein schrecklicher Krieg, eine Mauer aus Steinen und schweres Gefecht

Verseuchtes Wasser rettet mir das Leben

Das Mädchen, das alles wissen wollte

Vom Palmach zu den »Arabischen Nächten«

Die Zweite Brigade

Eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart

Im Zivilleben

Das schlimmste Jahr meines neuen Lebens

Blaue Jacke, rote Krawatte

Zurück in ein anderes Deutschland

Schicksalhafte Begegnung in einer unbekannten Stadt

Herbst in Paris, die Jahreszeit für Verliebte

Vom Mädchen, das alles wissen wollte, zur Frau fürs Leben

La Dolce Vita in Tel Aviv

Eine andere Sorte Deutscher

Die Familie Chanoch wächst

Sechs Tage, die die Welt veränderten

Ein schicksalhafter Anruf

Ein paar Worte Russisch und ein internationaler Erfolg

Auf der Suche nach Thereza

»Pizza in Auschwitz«

Gedenken und Hoffnungskeime

Eine Hochzeit am Zionstor

Mein Jerusalem

Zurück zu elf vergessenen Zwangsarbeitslagern

Ein Holocaust-Museum an einem deutschen Militärstützpunkt

Die Träume von einer Zeit der Ruhe nehmen eine neue Richtung

Bayern bewahrt das Gedenken an den Holocaust

Ein Gruß der deutschen Luftwaffe und sieben Wunderbabys

Der Bayerische Verdienstorden und eine Wagner-Oper

Der Richter, der Recht sprechen wollte

Ein Saatkorn Geschichtsbewusstsein und eine Warnung für die Zukunft

Der erste Premierminister, der sich um die Überlebenden kümmert

Ein Gedicht und ein Stück Schokolade, versteckt in meinem Pyjama

Als Vertreter all meiner Vorfahren

28. Mai 2008

Eine abgelehnte Auszeichnung

Endlich eine schlechte und schändliche Vereinbarung

New York, New York …

Ich will zu Hause sterben

Freitag

Sabbat

Montag

Dienstag

Nachwort von Edith Raim

Danksagung des Herausgebers

Epilog – dem Buch zum Geleit

Acknowledgement of the Chanoch family

Danksagung der Familie Chanoch

Preface of the English Edition

This is the story of a boy who survived hell and grew up to be a kind-hearted man of great charm, raised a family, and became a successful businessman, loved people and helped those in need. He was my first love and my life’s partner for fifty-eight years, His life story is also a chronicle of a period in the history of the Jewish people and the State of Israel.

We started writing this book in his last year, when he knew that the end was drawing near, he asked me to continue and tell his story.

The book is lovingly dedicated to our family, to our three children and five grandchildren, who were life’s greatest gift to us.

Judy Chanoch,November 2018

My heartfelt thanks go to everyone who helped publish the book. To the scientific editor, Dr. Bella Gutterman, who illuminated the dark chapter in Uri’s past and that of the Lithuanian Jews. To the editor Dorit Rogovov, who faithfully preserved the spirit of the book with commendable patience and devotion. And with appreciation and praise for the design of the cover to the 2W Design publishing team and the Yad Vashem studio.

Prolog der englischen Ausgabe

Dies ist die Geschichte eines Jungen, der aus der Hölle entkam, um zu einem warmherzigen, charmanten Mann heranzuwachsen. Ein Mann, der eine Familie gründete, ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde, die Menschen liebte und stets half, wo jemand in Not war. Er war meine erste große Liebe und wurde mein Gefährte fürs Leben, über 58 Jahre lang war er an meiner Seite. Seine Lebensgeschichte ist zugleich ein Kapitel in der Geschichte des jüdischen Volkes und des Staates Israel. Im letzten Jahr seines Lebens, als er bereits wusste, dass es sich dem Ende zuneigte, begannen wir, an diesem Buch zu arbeiten – er hatte mich gebeten, es weiterzuschreiben und seine Geschichte zu erzählen.

Dieses Buch ist in Liebe gewidmet unserer Familie, unseren drei Kindern und fünf Enkelkindern – das größte Geschenk, welches das Leben uns gemacht hat.

Judith Chanoch,Tel Aviv, im November 2018

Mein herzlicher Dank geht an all die, die geholfen haben, dieses Buch heauszugehen: Der wissenschaftlichen Editorin, Dr. Bella Gutterman, die die dunklen historischen Kapitel in Uris Leben und das der litauischen Juden beleuchtet; der Editorin Dorit Rogovov, die mit unendlicher Geduld und Hingabe, dem Geist des Buches getreu, ihre Arbeit leistete; dem 2W-Design-Herausgeberteam sowie dem Yad Vashem Studio mit Anerkennung und Lob für die grafische Gestaltung.

Einleitung

Mein Leben war gut. Ich habe Sorgen und Freuden erlebt, hatte eine behütete und glückliche Kindheit und ging anschließend durch die Hölle. Ich war arbeitslos und hungrig, aber ich habe auch Glanz und Wohlstand genossen. Habe allergrößte Bedrohungen überlebt, habe Liebe und Freundschaft erfahren, und die ganze Zeit über habe ich immer daran geglaubt, dass »auf Regen Sonnenschein« folgt. Diese Worte aus dem Lied, das meine Mutter mir so oft vorgesungen hatte, wurden zum Leitmotiv meines Lebens – selbst wenn alles hoffnungslos schien, verzweifelte ich nicht, denn ich wusste ganz sicher: Die Sonne würde schon wieder scheinen.

Jetzt bin ich 87 Jahre alt und lebe, als würden meine Tage nie enden. Ich bin beschäftigt mit Verhandlungen, Konferenzen und Geschäftsreisen. Ich versuche, so vielen Menschen wie nur irgend möglich zu helfen. Immer noch glaube ich daran, dass ich etwas verändern kann.

Uri Chanoch, Israel, 2015

Kindheit in Kaunas, Tage der Unschuld

Ich wurde hineingeboren in eine Welt voll Optimismus und Hoffnung. Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, einer Zeit voll Grausamkeit, Tod und Zerstörung, glaubten die Menschen fest daran, dies wäre der letzte Krieg gewesen. Litauen, dieser kleine baltische Staat, erlangte nach jahrhundertelanger Unterdrückung durch polnische und russische Herrschaft endlich seine Unabhängigkeit.

Zum ersten Mal erhielten Juden die vollen Bürgerrechte und Präsident Antanas Smetona1 führte Gesetze ein, welche jeden offen zutage tretenden Antisemitismus verboten. Litauens Juden glaubten, nun hätte eine Ära des Friedens und der Sicherheit begonnen. Merkten sie tatsächlich nichts von der noch schwelenden Glut unter der oberflächlichen Stille? Begriffen sie wirklich nicht, dass viele Litauer niemals aufgehört hatten, ihre jüdischen Nachbarn zu hassen?

Ich wurde in Kaunas geboren, wo ein Drittel der Bevölkerung einmal aus Juden bestanden hat. Es war und ist immer noch eine schöne Stadt. Die Straßen sind meist schmal, die Häuser haben höchstens zwei oder drei Stockwerke. »Lasves Aleja«, die Lasves-Allee, ist ein wunderschöner, von Bäumen gesäumter Boulevard, der sich mit seinen Cafés und Geschäften einmal quer durch die Stadt zieht. Die Flüsse Neris und Vilija trennen die flacheren Ebenen der Stadt von den Aleksotas-Hügeln und den »Grünen Bergen«, auf denen einige stattliche Stadthäuser thronen.

Am Tag meiner Geburt, Ende März, war die Stadt ganz in Weiß getaucht, tief in Schnee gehüllt, in dem man versinken konnte, und ein eiskalter Wind wehte vom Fluss herüber, der nicht weit von unserem Haus entfernt war. Doch Mutter sagte immer, der Duft des Frühlings, der schon hinter der Ecke wartete, sei bereits in der Luft.

Bikkur Holim2 – das bedeutet »Krankenbesuch« – war ein jüdisches Privatkrankenhaus, das über ein schönes und nagelneues Gebäude verfügte. Die Ärzte und Krankenschwestern versorgten das Neugeborene, das respektable viereinhalb Kilo auf die Waage brachte und bereits den Kopf voll prächtiger schwarzer Haare hatte. Meine Eltern gaben mir einen hebräischen Namen, was in jener Zeit ungewöhnlich war: Uri. Üblicherweise entschied man sich für den Namen eines verstorbenen Verwandten. Mein Name wurde von den nächsten Angehörigen sofort gedehnt zu Urinkeh, und später von meinen Freunden zu Urkeh, denn litauische Juden, die sich selbst »Litvaks« nannten, neigten dazu, allen Namen ein »-keh« am Ende anzuhängen.

Als ich 65 Jahre später zum ersten Mal wieder nach Litauen zurückkehrte, besuchte ich das Innenministerium in Kaunas. Am Empfangstresen eines Büros, das aussah, als wäre seit dem Tag der Eröffnung im Jahr 1920 kein einziger Stuhl bewegt worden, saß ein Angestellter. Er zog einen dicken Ordner heraus, der voll vergilbter alter Dokumente war, und entnahm ihm einen Bogen, der bedruckt war mit Lettern einer altmodischen Schreibmaschine:

»Am 28. März 1928 geboren wurde Uriah Chanoch, litauischer Staatsangehöriger.« Neben meinem Namen und denen meiner Eltern stand das Wort »Zydas«, Jude. Nicht einmal, gleich zweimal, sodass um Gottes willen kein Zweifel hinsichtlich meiner Abstammung aufkommen möge.

Genau dort, in jenem Raum, wurde ich auf der Stelle um ein Jahr älter. Offensichtlich war ich im Jahr 1928 zur Welt gekommen und nicht, wie ich immer gedacht hatte, 1929. Ich vermute, die Quelle dieses Irrtums war die Tatsache, dass ich im Getto und im Konzentrationslager so oft falsche Altersangaben gemacht hatte, dass ich mich irgendwann tatsächlich nicht mehr an mein korrektes Geburtsjahr erinnern konnte.

Warum hat man mich nach dem Heerführer der Hethiter benannt, den König David zum Tode verurteilte, weil er sich in Uriahs Frau Batseba verliebt hatte? Und warum kürzten sie den Namen sofort ab in »Uri«? Wie kam es, dass meine Eltern einen modernen hebräischen Namen gewählt hatten, der zu jener Zeit so ungewöhnlich war?

Lag es daran, dass sie davon geträumt hatten, eines Tages nach Israel auszuwandern? Vielleicht hatten der Roman der englischen Schriftstellerin George Eliot3, »Daniel Deronda«, und die Autobiografie von Uriel da Costa meine bücherverrückte Mutter inspiriert, mich Uri zu nennen und meinem vier Jahre später geborenen Bruder den Namen Daniel zu geben, der sofort zu »Danny« gekürzt wurde. Ich habe meine Eltern nie gefragt, wie sie auf unsere Namen gekommen waren – und später war niemand mehr da, den ich hätte fragen können.

Mein Vater, Feivel Shraga Chanoch, wurde in Žasliai – oder, wie die Litvaks sagen: »Zosleh« – geboren, einem pittoresken kleinen Dorf nahe Kaunas, mit einem rechteckigen Platz in der Dorfmitte. Zwei kleine tiefblaue Seen liegen in der Nähe, und Wälder mit Nadelbäumen. Unsere Familie lebte dort seit über 150 Jahren und seit Ende des 17. Jahrhunderts ist der Name Chanoch im Geburtenbuch der nahe gelegenen Stadt verzeichnet.

Mein Nachname Chanoch lässt mich vermuten, dass meine Ahnen sich nach ihrer Vertreibung aus Spanien zur Zeit der Inquisition in Litauen ansiedelten, nachdem sie zunächst Zuflucht in Italien oder der Türkei gefunden hatten, von wo aus sie nach Norden weiterzogen. Meine mediterrane Herkunft ist am Familiennamen Chanoch ersichtlich, der sich von den Familiennamen nordeuropäischer Juden unterscheidet; diese erhielten erst im 19. Jahrhundert Familiennamen, welche üblicherweise auf ihre Berufe oder Tätigkeiten verwiesen. Mein nahöstlicher Hintergrund zeigt sich zudem in meiner Hautfarbe, die davon zeugt, von der Sonne verwöhnt zu sein, und vielleicht auch an meinem Temperament. Wenn ich wütend werde, dann werde ich richtig wütend …

Die Verwandten väterlicherseits lebten alle in Zosleh: meine Großmutter Sara Leah, mein Großvater Moshe und ihre anderen beiden Söhne, Abraham und Israel, sowie Vaters Onkel. Es gab noch weitere jüdische Familien im Dorf, die sephardische Namen wie Shamash oder Don Yechiya trugen. Ich nehme an, dass viele spanische Juden Zuflucht in Litauen fanden.

Vater, der im Alter von 20 Jahren nach Kaunas umzog, war Holzhändler, oft reiste er hinaus aufs Land, von Zeit zu Zeit sogar bis nach Rumänien. Dort wählte er seine Ware aus dem, was in den Wäldern gefällt wurde. Er importierte nach Litauen und darüber hinaus auch ins Land Israel (das damals noch britisches Mandatsgebiet war), wohin er in den 30ern zweimal reiste, da er die »Nur«-Streichholzfabrik mit Holz belieferte, die der Familie Weizman gehörte, einer litauischen Familie, die ihre Streichhölzer in Akko herstellte.

Von einem seiner Besuche im Land Israel brachte mein Vater einen großen Wandbehang aus Stoff mit, der die Klagemauer zeigte: eine äußerst enge Gasse und eine hohe Mauer aus massiven Steinen, gegen die sich ein paar Juden im Gebet neigten, gekleidet in Schwarz, orientalische Kopfbedeckungen auf den Häuptern. Der Wandbehang hing in unserem Wohnzimmer. Es war ein trauriges Bild, doch ich habe es immer sehr gern betrachtet und mir vorgestellt, dass ich eines Tages nach Jerusalem reisen und die Klagemauer besuchen würde.

Frida und Feivel Shraga Chanoch, Uri Chanochs Eltern, Anfang der 1920er-Jahre in Kaunas

Ich weiß nicht, von woher die Familie Ipp nach Litauen kam. Das war die Familie meiner Mutter. Ich vermute, sie lebten seit Generationen in Kaunas, doch nach dem Ersten Weltkrieg wanderten alle Brüder meiner Mutter nach Südafrika und in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. Meine Mutter wurde in Kaunas geboren und arbeitete, als sie jung war, als Sekretärin für die Zeitung »Die Jiddische Stimme«4. Sie verließ das Blatt erst, als Miriam, meine große Schwester, zur Welt kam.

Mutter und Vater waren beide groß und gut aussehend. Mein Vater maß gut 1 Meter 80, und auch Mutter war groß und schlank. Während damals die meisten Frauen ihre Haare lang trugen, waren Mutters dunkelbraune Haare kurz geschnitten. Vielleicht lag es daran, dass sie so gern im Fluss nahe unserem Haus schwamm und kurze Haare dafür bequemer waren. Ich erinnere mich, dass sie im Winter mit ihren Freundinnen zum Fluss ging, wo sie eine Art Kanal ins Eis schnitten, sodass sie, selbst wenn der Fluss zugefroren war, ihrer Leidenschaft frönen konnten.

Wir lebten in einer großen, geräumigen Wohnung nahe dem Rathaus. Meine erste Kindheitserinnerung ist die an die Feuerwehr. Es war an einem Sommertag, ich war drei Jahre alt und kletterte auf einen Stuhl, um von dort aus durch das offene Fenster hinauszusteigen auf den Mauerabsatz, der das ganze Gebäude umzog und auf dem ich nun zu balancieren begann. Vermutlich blieben Passanten wie versteinert stehen, als sie den Knirps da oben auf dem schmalen Absatz im zweiten Stock spazieren sahen. Irgendjemand muss die Feuerwehr gerufen haben. Die Feuerwehrleute stiegen auf eine Leiter und holten mich unversehrt herunter. Nie vergesse ich den Anblick der Menschen da unten auf der Straße, die zu mir hoch starrten. Wahrscheinlich war dies das erste Mal, dass ich eine Gefahrensituation erlebte und dabei feststellte, überhaupt kein Gefühl der Angst zu verspüren.

Meine zweite Erinnerung ist die an die Geburt meines Bruders. Ich war vier Jahre alt und wir fuhren mit einem Pferdewagen zum Krankenhaus. Das hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck auf mich, denn ich war zuvor noch nie mit einem Pferdewagen gefahren. Unterwegs hielt mein Vater vor einem Delikatessengeschäft und kaufte mir dort eine Banane, vermutlich als kleinen Trost. Bananen waren in Litauen schwer zu bekommen, und ich war so bezaubert von dieser Frucht, dass ich nur wenig Notiz von dem kleinen, in Windeln gewickelten Bündel nahm, das mir da gezeigt wurde und das von diesem Moment an mein jüngerer Bruder sein sollte, Danny.

Zuhause erwartete uns Vince, ein Christenmädchen vom Dorf, das seit 13 Jahren in unserem Haushalt lebte und als ein Familienmitglied angesehen wurde. Sie bewohnte ein kleines Zimmer am hinteren Ende der Wohnung und war, wenn Mutter nicht da war, die Oberbefehlshaberin. Als Danny vier Jahre alt war und ich acht, bekam Vince ein Kind. Sie war unverheiratet und kein Mensch wusste, wer der Vater des Kindes war. Als ihre Schwangerschaft offensichtlich wurde, hat meine Mutter sie nicht zurück in ihr Dorf geschickt, da sie wusste, dass ihre Familie und die Nachbarn, allesamt streng katholisch, sie vermutlich verdammen würden. Mutter sorgte dafür, dass sie im Bikkur Holim, dem privaten jüdischen Krankenhaus, entbinden konnte, und ihre Tochter Theresa wuchs in unserem Haus als Familienmitglied auf. Die Aufnahme Theresas in unsere Familie brachte mir zunächst großen Ärger, denn sofort begannen die anderen Kinder mich »Urkeh und sein Bastard« zu nennen. Doch glücklicherweise vergaßen sie das bald wieder. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Mutter noch nicht, dass ihre Hilfsbereitschaft uns dereinst das Leben retten würde.

Der einjährige Uri Chanoch, 1929

Miriam Chanoch mit Uri (rechts) und Danny, Mitte der 1930er-Jahre

Das Leben zuhause folgte einer festgelegten Routine. Jeden Tag um zwei Uhr war der Tisch gedeckt, wo wir ein dreigängiges Mittagessen einnahmen. Abends durften wir niemals später als halb sieben daheim sein, denn um sieben Uhr wurde das Abendessen serviert. Im Winter brachte Vince am Freitagmittag den großen Topf mit Tscholent (dem Sabbateintopf) in die nächstgelegene Bäckerei, damit er dort über Nacht im Ofen garte. Am Sabbat wurde der Topf mittags zurückgebracht, und der Duft von Tscholent durchzog das Haus. Bis heute ist es eine meiner Lieblingsspeisen.

Im Esszimmer stand ein großer quadratischer, schwarz gestrichener Tisch mit acht dazu passenden Stühlen. Dem Tisch gegenüber stand ein Sofa, auf dem Vater gern seinen Mittagsschlaf machte, am liebsten nach dem Sabbatessen. An der Wand neben dem Sofa hing ein Telefon, ein seltener Gegenstand in einer Privatwohnung zu jener Zeit in Litauen. Ich denke, Vater benötigte es für geschäftliche Gespräche, und manchmal telefonierte Mutter mit unseren Verwandten, doch meiner Erinnerung nach waren das sehr kurze, fast geschäftliche Gespräche. Wenn Menschen damals miteinander reden wollten, trafen sie sich zuhause oder in einem Café.

Montags bestand das Mittagessen aus einer Milchspeise, zum Beispiel Milchreis, oder gekochtem Fisch mit Blintze, denn der Montag war der Waschtag. Eine Wäscherin kam in unser Haus. Sie war eine große Frau, deren Hände vom Rubbeln der Wäsche ganz rot geworden waren. Sie und Vince wuchteten den großen Bottich voll Wasser auf den Primus-Kocher. Schon bald kochte und sprudelte das Wasser. Als kleiner Junge sah ich immer neugierig beim Waschen zu, obwohl Mutter mich warnte, ich solle mich fernhalten vom kochenden Bottich. Ich liebte es, die gelben Seifenflocken im Wasser zu betrachten und die kleinen Säckchen mit einem blauen Material, die dem letzten Spülgang hinzugefügt wurden und dazu dienten, die Leintücher weiß zu halten. Vince und die Wäscherin spülten und wrangen die Wäsche aus, um dann hochzusteigen auf den Dachboden, wo sie aufgehängt wurde. Wenn alles getrocknet war, brachten sie die Wäsche wieder hinunter, um sie zu bügeln. Überall im ganzen Haus roch es nach frischer Wäsche. Bis heute ist das für mich der beste Geruch überhaupt.

Später, als Judith und ich schon verheiratet waren, stellte ich zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen unserem Familienleben in Tel Aviv und meinem früheren in Kaunas fest. Es stellte sich heraus, dass wir in ähnlichen Familien, ähnlichen Haushalten, ähnlichem Lebensstil aufgewachsen waren, obwohl uns in unserer Kindheit Tausende von Kilometern trennten. Judith erzählte mir, dass es auch bei ihnen montags Milchspeisen gegeben hatte, weil es auch ihr Waschtag war, mit der einzigen Ausnahme, dass ihre Waschfrau eine Jemenitin war.

Die Ähnlichkeit hinsichtlich unserer Speisen, hinsichtlich der engen familiären Beziehungen daheim, der regelmäßigen Verwandtenbesuche, der Bücher, die wir lasen, und der Lieder, die wir sangen, ist bemerkenswert. Vielleicht ist dies eines der Geheimnisse unserer engen Beziehung.

Damals hatten Kinder und Eltern ein anderes Verhältnis zueinander als heutzutage. Der Vater war das Familienoberhaupt und wurde mit Respekt und Liebe behandelt, doch wir standen ihm nicht so nahe wie Mutter; vielleicht lag es auch daran, dass er beruflich oft für lange Wochen unterwegs war. Als kleiner Junge habe ich es geliebt, auf seinem Schoß zu sitzen und seinen Geschichten zuzuhören. Unter den Liedern, die er mir vorsang, war »A Tsigaleh a weiße« mein Lieblingslied. Als ich größer war, erzählte er mir Geschichten über sein Leben in Zosleh.

Manchmal saß Vater nachmittags im Café Monica und war dort immer umringt von Freunden. Ich weiß noch, wie sie ihn jedes Mal, wenn er von einer seiner letzten Auslandsreisen heimgekehrt war, gefragt hatten: »Nu, Reb Feivel, was ist geschehen da draußen in der großen weiten Welt, und was wird dort künftig geschehen?« Ich weiß nicht, warum sie ihn so nannten, denn Vater war nicht sonderlich religiös; vielleicht wollten sie ihn auf diese Weise ehren. Ehe er ihre Fragen beantwortete, bestellte er »etwas Großes, Langes«. Ich wusste, dass er damit auf einen ganzen Hering und etwas zum Trinken anspielte. Den Fisch aß er zuerst, mit einer Schnitte Schwarzbrot, die dick mit Butter beschmiert war. Das Getränk hob er sich zum Nachtisch auf. Anschließend besprachen er und seine Freunde das Tagesgeschehen. Ich erinnere mich, wie er nach seiner letzten Reise erklärte: »Es geschehen sehr viele Dinge da draußen in der Welt und die meisten davon versprechen nichts Gutes. Aber was soll ich euch sagen? Wer weiß schon, was die Zukunft uns bringen wird.«

Frida Chanoch, Uris Mutter, Anfang der 1920er-Jahre

_________________________

1Smetona war der erste Präsident Litauens. Nach dem sowjetischen Einmarsch im Jahr 1940 floh er aus dem Land.

2Das Krankenhaus befand sich in einem modernen Gebäude, die dort tätigen Ärzte waren Litauer und Juden. Der Direktor des Krankenhauses war Dr. Elkhanan Elkes, der spätere Vorsitzende des Ältestenrats, welcher mit der deutschen Verwaltung in Kaunas zusammenarbeitete.

3George Eliot war das Pseudonym der englischen Schriftstellerin Mary Anne Evans (1819–1886). Sie schrieb zahlreiche Romane, darunter »Daniel Deronda«, mit dem sie ihre Sympathie für das nationale Wiedererwachen des jüdischen Volkes zum Ausdruck brachte.

4»Die Jiddische Stimme« war eine Tageszeitung, die von 1919 bis 1940 in Kaunas erschien. Es war die erste zionistische Tageszeitung in Litauen, Herausgeber war Leib Garfunkel. Nach dem sowjetischen Einmarsch Anfang Juli 1940 verließ Garfunkel die Zeitung, ein politisch links stehender Herausgeber trat an seine Stelle. Die letzte Ausgabe der Zeitung erschien am 1. August 1940.

Mutters Lied – Leitmotiv meines Lebens

Mutter war der Mittelpunkt in unserem Leben. Obwohl ich das mittlere Kind war, das Sandwich-Kind, habe ich mich niemals benachteiligt gefühlt. Ich wusste, wie sehr sie mich liebte. Sie brachte mir gute Manieren bei und dass man andere mit Respekt behandelte, sie lehrte mich, aufrichtig und ehrlich zu sein, und sie besaß ihre ganz eigenen Wege, uns zu zeigen, wie das ging.

An der Haustür stand ein kleiner Tisch. Unter einer bestickten Serviette lagen dort immer ein paar Münzen für die Armen bereit. In Kaunas gingen verarmte Menschen von Haus zu Haus, um Almosen zu sammeln. Vielleicht war das einfacher, als auf der Straße zu betteln und sich dafür schämen zu müssen, dass man dabei von Menschen gesehen wurde, die einen kannten.

Eines Tages hatte ich unbändige Lust auf Süßigkeiten. Mutter war nicht zuhause, doch ich wusste ja, wo ich etwas Geld finden würde. Ich hob die Serviette an, nahm aber nicht alle Münzen, bloß zwei davon. Rasch steckte ich sie in die Tasche und machte mich auf den Weg zu Toters Kiosk am Stadtplatz, nicht weit von uns. Der Kioskinhaber hatte den Spitznamen »Toter« wegen seiner schrägen Tataren-Augen. Ich weiß nicht, wie Mutter meine Tat entdeckte, doch als sie heimkam, fragte sie mich, warum ich die Münzen genommen hatte, die doch für die Armen bestimmt seien. Sie bat mich, neben ihr Platz zu nehmen, und erklärte mir, wie hart es sei, arm und fürs Überleben auf Almosen angewiesen zu sein. Wenn es dir möglich ist, sagte sie zu mir, solltest du anderen helfen und lieber geben, als zu nehmen. Was war es mir peinlich, dass ich den Lebensunterhalt der Armen geklaut hatte, bloß um mir davon Süßigkeiten zu kaufen. Bis zum heutigen Tag kann ich niemanden fortschicken, der um Hilfe bittet.

Einige sonderbare Gestalten irrten damals durch die Straßen von Kaunas. Da war zum Beispiel Haimelah Ritzkus, der Sohn eines Rabbis, der pausenlos von seiner geplanten Reise nach Paris erzählte, ohne jemals irgendwohin zu reisen. Oder der meschuggene Leizer, der am Sabbatmittag an der Haustür erschien, wenn die Luft vom Duft des Tscholent durchzogen war. Dann sang er einen Marsch und schlug dazu mit den Fingern an der Tür einen Rhythmus, und anschließend wartete er, bis ihm ein Teller Sabbateintopf serviert wurde. Dann gab es eine Frau, die alle »die Koldereh«, die Wolldecke, nannten, weil sie einen Schal im Arm trug, der zur Gestalt eines Babys gefaltet war. Niemand wusste, welche Tragödie diese unglückliche Frau überstanden hatte. Markus, Sohn aus adligem Hause, stand draußen vor der Oper und sang Arien mit seiner Bassstimme. Jeder wusste, dass sein Wahnsinn das Ergebnis einer enttäuschten Liebe war. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt und wollte es heiraten, doch ihre Familie war nicht ehrenwert genug, sodass seine eigene Familie ihm diese Heirat untersagte. Seitdem irrte er durch die Straßen und rezitierte Reime, die er selbst verfasst hatte. All diese Menschen prägten das Straßenbild. Wir betrachteten sie voll Neugierde, doch niemals haben wir uns über sie lustig gemacht oder sie ausgelacht.

Meine Familie achtete die religiösen Traditionen, doch gläubig waren wir nicht. Freitags bereitete Vince für den Sabbat einen festlichen Tisch vor, mit weißer Tischdecke und einem Paar glänzender Silberleuchter mit weißen Kerzen. Daneben lagen zwei Laib Challah-Brot, zugedeckt mit bunt bestickten Leinentüchern. Mutter zündete die Sabbatkerzen an und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, wobei sie die Lippen in stummem Gebet bewegte. Immer rätselte ich, was sie wohl sagte, worum sie Gott wohl bat. Wir führten einen koscheren Haushalt, Milchiges und Fleischiges wurde getrennt. Vor dem Zubettgehen sprachen wir das Shema-Gebet, das uns vor Albträumen schützen sollte, und wenn Mutter nicht daheim war, hielt Vince uns dazu an, das Gebet zu sprechen. Viermal im Jahr gingen wir in die Synagoge, an Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest; an Jom Kippur, dem Sühnetag; an Erev Pessach, dem Sederabend, mit dem das Pessachfest beginnt; und an Erev Schawuot, dem Erntedankfest 50 Tage nach Pessach. In der Synagoge sprang ich hin und her zwischen dem Vater, wo ich am Boden saß, und dem Frauenbereich auf der Empore, wo Mutter, meine Tante und die Cousinen sich wichtige Informationen zuflüsterten und zwischen den Gebeten neueste kleine Gerüchte austauschten. Sie sprachen Jiddisch, und wenn sie nicht wollten, dass wir Kinder sie verstanden, wechselten sie ins Russische.

Wie erkläre ich am besten die Widersprüche zwischen Traditions-bewusstsein und Alltag? Vater zum Beispiel war starker Raucher, er fischte sich seine Turmac-Zigaretten aus einer flachen Blechdose. Ich denke mal, dass er am Sabbat und an den hohen Feiertagen nicht geraucht hat, aber sicher bin ich mir da nicht. Vielleicht hat er sich in den Hof geschlichen, um sich dort eine Sabbatzigarette zu gönnen. Und dann erinnere ich mich an den Schreck, der mich packte, als mich mein Cousin Mulkeh dabei erwischte, wie ich ein trefes Würstchen, ein nicht koscheres Würstchen, aß, das ich bei einem Budenverkäufer erstanden hatte, der nahe der Oper einen glänzenden Würstchenstand aus Metall führte. Ausgestattet mit weißer Schürze und Kochmütze, steckte er die Frankfurter Würstchen in ein längliches Brötchen, das er mit einem scharfen Messer aufschlitzte; anschließend belegte er alles mit Sauerkraut und etwas Senf und schlug es in ein Stück weißes Papier ein. Dieser Hotdog ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen, noch ehe ich in diese Delikatesse hineingebissen hatte. Welche Angst ich hatte, dass Mulkeh meinen Eltern verriete, dass ich einen nicht koscheren Hotdog gegessen hatte. Ich versprach ihm, alles zu tun, was er wolle, wenn er mich nur nicht verpetze. Mulkeh hielt dicht, aber ich bin niemals wieder zu dieser Hotdog-Bude gegangen. Dennoch hat das Erlebnis meine Leidenschaft für trefe Würstchen nicht gemindert. Sie zählen bis zum heutigen Tage zu meinen Leibspeisen. Wenn ich nach Zürich reise oder München, führt mich mein erster Weg in eine Nebengasse zum nächsten Hotdog-Stand.

Da meine gemeinsamen Synagogenbesuche mit Vater nur eine seltene Angelegenheit waren, bin ich mit der Reihenfolge der Gebete nicht sonderlich vertraut. Als ich Rabbi Shmuel Avidor Hacohen5 kennenlernte, der in seiner ihm eigenen angenehmen Art die Menschen näher mit Religion vertraut machte, begann ich wieder, etwas häufiger in die Synagoge zu gehen – am Sabbat und zu den Feiertagen. Vor den ehrfurchtgebietenden Tagen6 stifte ich einen Stuhl, sowohl als Platz für mich als auch, um die Synagoge zu unterstützen. Manchmal erfahre ich dann die Ehre, die Bundeslade zu öffnen oder die Thorarolle zu tragen oder andere Gebote ausführen zu dürfen, und ich bin sowohl gerührt als auch darüber besorgt, es könnte mir dabei ein Missgeschick unterlaufen.

Mein ganzes Leben lang habe ich an Jom Kippur gefastet. Das tue ich eigentlich immer noch, obwohl es mir schwerer fällt, sodass ich manchmal wenigstens ein bisschen Wasser trinke. Warum behalte ich all dies bei? Ich glaube nicht an Gott. Wie könnte ich das auch nach der Erfahrung des Holocaust? Vielleicht liegt es daran, dass ich ein Gewohnheitsmensch bin und Traditionen sehr liebe.

Wie war die Haltung meiner Eltern gegenüber der Religion? Haben sie an Gott geglaubt? Ich weiß es nicht. Damals erwarteten Eltern von ihren Kindern, dass sie sich höflich benahmen, ihre Hausaufgaben erledigten und gute Schüler waren. Die Psychologie steckte noch in den Kinderschuhen und in Kaunas hatte man vermutlich ohnehin noch nie etwas davon gehört. Wenn ich traurig war oder mal weinen musste, fragte Mutter mich: »Was ist passiert, mein Kind?« Dann berichtete ich ihr schluchzend, dass ich mich mit einem Freund gestritten oder beim Fußballspielen versagt hatte. Sie nahm mich in den Arm, gab mir einen Kuss und sagte: »Ist doch nicht so schlimm, Urinkeh. Das kann doch jedem mal passieren. Wird schon alles wieder gut.« Mit ihrem weißen Taschentuch, das sie stets bei sich trug, wischte sie mir die Tränen fort – und alles war wieder gut.

Es gab ein Lied, das Mutter uns immer vorgesungen hat. Heute kann ich mich nur noch an den Refrain erinnern: »Denn auf Regen folgt stets Sonnenschein«. Sie erklärte uns, dass das Leben genauso sei und, wenn mal etwas Schlimmes geschehe, man niemals die Hoffnung verlieren dürfe. Wir sollten immer daran glauben, dass das Leben wieder besser würde und die Sonne wieder zum Vorschein käme. Diese Botschaft habe ich mein ganzes Leben lang in mir bewahrt und hole sie in den schwersten Stunden hervor.

In jener Zeit trennte ein Schleier aus Schweigen uns Kinder von den Erwachsenen. Vermutlich waren die Erwachsenen der Ansicht, dass Kinder nicht alles wissen mussten. Zwar gab es in unserer Familie keine düsteren Geheimnisse, doch Themen wie Geld oder Beziehungen wurden in unserer Anwesenheit nicht debattiert. Das mag der Grund dafür gewesen sein, dass ich absolut keine Ahnung von Verwandten in Amerika und Südafrika hatte. Dank ihnen besitze ich heute ein paar Familienfotos, Bilder von meinem Vater, meiner Mutter und meiner Schwester und auch eine Aufnahme von mir als Baby. Denn von meinem Zuhause ist mir nichts geblieben außer meinen Erinnerungen.

Mutter hatte uns nie davon erzählt, dass ihr Vater gleich nach dem Ersten Weltkrieg nach Amerika emigriert war und sich in Brooklyn niedergelassen hatte. Dort starb er Anfang der 1940er und wurde auf der litauischen Parzelle des Friedhofs begraben, Seite an Seite mit Frau Lockatch, die er anscheinend in Amerika geheiratet hatte. Ich vermute, er war Witwer – aber wo und wann starb meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter? Ich weiß nicht einmal ihren Namen. Vermutlich starb sie bereits vor meiner Geburt. Diesen Großvater habe ich erst entdeckt, als ich das erste Mal nach Amerika reiste. Mein Cousin Seymour nahm mich mit auf den Friedhof und berichtete mir, dass Großvater, nachdem er hier Fuß gefasst hatte, seine beiden Töchter, Mutter und Tante Leah, nachholen wollte. Das war in den frühen 20ern. Die beiden hatten ihm geantwortet, dass sie jeweils kurz vor ihrer Heirat standen und dass das Leben in Litauen angenehm und friedlich sei und sie auf keinen Fall nach Amerika auswandern wollten. Hätten sie nur schon damals gewusst, wie gewaltig ihre Welt umgestürzt werden würde …

Zwei seiner bereits erwachsenen Töchter sind dem Großvater nachgefolgt. Diese meine amerikanischen Tanten wurden nach dem Krieg mit der Hilfe von »Kennen Sie …« gefunden, einer Rubrik in der jiddischen Tageszeitung »Forverts«7. In jenen Jahren wurden auf diese Weise in verschiedenen Ländern Überlebende zusammengeführt.

Wie viele litauische Juden, so wanderten auch einige meiner Onkel, Brüder meiner Mutter, um die Jahrhundertwende nach Südafrika aus. Warum ausgerechnet dorthin? Weil Schiffseigner, die auf ihren Frachtern Kohle und verschiedene andere Güter von Südafrika nach Europa brachten, nicht unbedingt mit leeren Schiffen zurückreisen wollten. Also verkauften sie sehr günstige Schiffspassagen. Auf diese Weise landeten zahlreiche Litvaks in Südafrika, wo sie geschäftlich erfolgreich wurden und vom Wohlstand profitierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg machten wir unsere südafrikanischen Verwandten ausfindig und korrespondierten mit ihnen. Noch Jahre später wussten wir, sobald ein hochgewachsener, gut aussehender Mann oder eine ebenso attraktive Frau vor unserer Tür stand, dass ein weiterer Angehöriger der Familie Ipp eingetroffen war, den wir herzlich empfingen, denn für mich sind auch weit entfernte Verwandte Familienmitglieder, die mir nah am Herzen liegen.

In Kaunas verbrachten wir viele frohe Stunden mit der Familie von Mutters Schwester Leah und mit ihrer Cousine Tante Hinda. Bei unseren Besuchen in Zosleh trafen wir Vaters Verwandte. Onkel Israel zum Beispiel, einen attraktiven Junggesellen, und Onkel Abraham, seine Frau Ita und ihren Sohn Benzion, der etwas jünger war als ich. Mit dem Einmarsch der Deutschen verloren wir den Kontakt zu ihnen. In den meisten Dörfern hielten sich die Deutschen nicht lange damit auf, Gettos abzugrenzen. Sie brachten die Juden, mithilfe von deren litauischen Nachbarn, lieber gleich an Ort und Stelle um.

Das Massaker an den Juden von Zosleh verlief ähnlich wie in den anderen litauischen Dörfern. Die Deutschen und ihre litauischen Komplizen trieben sie ein kurzes Stück aus dem Dorf hinaus, befahlen ihnen, Gruben auszuheben und sich anschließend auszuziehen. Nachdem die litauischen Dorfbewohner die Kleidung geplündert hatten, wurden die Juden erschossen und in die Gruben gestoßen, die sie zuvor selbst ausheben mussten.

Onkel Abrahams Frau und sein Sohn wurden sofort erschossen und in die Grube gestoßen. Abraham selbst war, wie alle Chanoch-Brüder, ein großer, kräftiger Mann, der die Schüsse überlebte. Im Schutz der nächtlichen Dunkelheit gelang es ihm, aus der Grube hinauszuklettern. Nackt humpelte er zurück ins Dorf. Vermutlich hoffte er, da er unter den litauischen Nachbarn gute Freunde besaß und gemeinsam mit ihnen beim Militär gedient hatte, bei einem von ihnen Hilfe und Schutz zu finden. Doch als er sich in der Morgendämmerung dem Dorf näherte, erkannte ihn ein Kamerad, zog seine Pistole und erschoss ihn.

Mein Onkel Israel hatte vor dem Krieg Olga geheiratet, eine Tochter der berühmten jüdischen Familie Cohen. Das Paar zog nach Memel (litauisch »Klaipeda«)8, eine Hafenstadt nahe der deutschen Grenze. Sie hatten zwei Töchter, Carmela und Yael. Als die Deutschen Memel im März 1939 annektierten, flohen Onkel Israel, seine Frau und die Töchter nach Zosleh. Onkel Israel arbeitete bis zum Einmarsch der Deutschen als Aufseher in einem Sägewerk. Anscheinend hatte auch er gehofft, dass seine Freunde unter den Dorfbewohnern, mit denen er aufgewachsen war und viele glückliche Stunden bei gemeinsamem Musizieren und Tanzen verbracht hatte, ihn und seine Familie schon retten würden.

Diese grausamen Details des Massakers an den Juden von Zosleh sind bekannt, weil zwei aus der Gegend stammende Lehrer über die Ereignisse geforscht, diese dokumentiert und sogar in Form eines Gedenkbuches herausgegeben haben. Es hat mich sehr bewegt, dass nichtjüdische Litauer bereit waren, sich mit diesem schmerzhaften Thema zu beschäftigen. Bei einem meiner Besuche in Litauen, im Rahmen der Verhandlungen um die Rückgabe jüdischen Besitzes, lernte ich diese beiden Lehrer kennen, welche den Mord an den Juden des Dorfes festgehalten haben. Ich spendete Geld, damit der Friedhof wiederhergestellt werden konnte. Aus Berichten von Menschen, die den Ort besucht haben, weiß ich, dass die beiden meine Bitte erfüllt haben und später ihre Schüler dafür gewannen, die Aufgabe zu übernehmen. Ich bin nie nach Zosleh zurückgekehrt. Es war einfach zu schmerzhaft.

Eine zerbrochene Geige und »Faust« mit sechs Jahren

Das Leben in Kaunas war friedlich und angenehm. Nach dem Mittagessen erledigte ich meine Hausaufgaben und danach ging ich hinaus, um mit meinen Freunden Fußball oder Korbball zu spielen. Alle meine Freunde waren Juden. Es war, als ob wir in einer Blase leben würden, umgeben von jüdischen Verwandten und Bekannten. Nur manchmal stießen wir mit einer Bande jugendlicher Rowdys zusammen, die uns »Zydas« (Juden) nannten und uns verfluchten, doch so etwas kam äußerst selten vor, denn das litauische Gesetz stellte öffentliche antisemitische Äußerungen unter Strafe. Ich vermute, dieses Gesetz hat uns blind gemacht gegenüber dem Hass, der bereits unter der Oberfläche brodelte.

Chanukka war eines meiner Lieblingsfeste. An jedem Abend traf sich die ganze große Familie bei einem von uns zuhause, um die Kerzen anzuzünden. Der große Leuchter, die Chanukkia9, wurde auf eine Fensterbank gestellt, sodass jeder sehen konnte, dass wir das Fest der Lichter feierten. Wir aßen knusprige Kartoffelpuffer, Latkes und mit Marmelade gefüllte Krapfen, wir drehten einen Kreisel aus Blech und warteten ungeduldig darauf, dass wir unser Hanukkah-Gelt, unsere Münzen, erhielten. In diesem Zusammenhang muss ich eine kleine Sünde gestehen: Da Danny die glänzenden Münzen für wertvoller hielt als die papiernen Banknoten, habe ich manchmal ein paar seiner Scheine gegen meine Münzen »eingetauscht«. Wir trugen das Geld auf unsere Sparkonten bei der Bank in der Lasves Aleja. Der Bankangestellte trug alles in unser Sparbuch ein, und wir waren riesig stolz, unser eigenes Geld auf der Bank liegen zu haben. Auf diese Weise brachten unsere Eltern uns sehr klug bei, Geld lieber zu sparen, als es zu verplempern. Vielleicht liegt es daran, dass ich mein ganzes Leben lang immer nur kaufe, was ich wirklich brauche, und nicht verstehe, was es für ein Vergnügen sein soll, auf Shoppingtour zu gehen.

Bei unserem allerersten Besuch in Litauen, 50 Jahre nach Kriegsende, suchten Danny und ich die Bank auf, die sich immer noch im gleichen Gebäude in der Lasves Aleja befand, und wollten uns das Sparguthaben auszahlen lassen, das dort seit unserer Kindheit gelegen hatte. Mit großer Geduld hörten die Bankangestellten unserem Anliegen zu und erklärten uns anschließend ausführlich, dass aufgrund des großen zeitlichen Abstands und auch noch wegen des Krieges und den vielen Regimen, die es seitdem gegeben habe, es ihnen zu ihrem allergrößten Bedauern leider nicht möglich sei, uns das Geld, das wir ihnen anvertraut hatten, jetzt noch zurückzuzahlen …

Unser Alltag war genauso klar geregelt und gleichbleibend wie die Wiederkehr der Jahreszeiten. Zu Beginn des Winters wurden ein Fass Sauerkraut und Säcke voll Kartoffeln aus dem Dorf geliefert und im Keller gelagert. Im Sommer waren es Kisten voll Äpfel und Birnen. Im kühlen Untergeschoss hielt sich das Obst und Gemüse ausgezeichnet. Zu Pessach trafen Kartons mit Matzen und Gläser voll Sahne und Butter ein. Anfangs lieferte der Milchmann uns täglich frische Milch nach Hause, später kam die Milch in Glasflaschen, versiegelt mit einem Deckel aus Aluminium.

Alle anderen Lebensmittel kauften wir in der Nähe ein. Jeden Morgen bat Vince mich, zu Kapulskis10 Bäckerei zu laufen, um frische Brötchen fürs Frühstück und die Schulbrotzeit einzukaufen. »Lauf du, Kind«, sagte sie, »du bist noch jung und deine Beine sind kräftiger als meine.«

Nachmittags saßen wir am großen Tisch und machten unsere Hausaufgaben. Mutter saß derweil auf dem Sofa unter dem Wandbehang mit dem Bild der Klagemauer und half uns bei schwierigen Fragen, während sie strickte oder las. Vater ging ins Café Monica, das am schönsten Boulevard der Stadt lag, um Freunde zu treffen und wohl auch, um Geschäftsabschlüsse zu tätigen.

Im Winter besuchten wir an jedem Sabbat nach dem Mittagessen Tante Leah und ihre Töchter Bella und Frumah sowie ihren Sohn Mulkeh. Nachdem wir uns aus den vielen Schichten von Mänteln und Hüten geschält hatten, setzten wir uns zu ihnen an einen großen Tisch, tranken Tee aus dünnen Gläsern in silbernen Haltern und aßen Lekach11 und Butterkekse. Meine Cousine Bella und ihr Ehemann Boris waren grad frisch verheiratet. Ich erinnere mich, wie neugierig Danny und ich waren, zu erfahren, was die beiden hinter der verschlossenen Tür ihres Zimmers wohl vorhatten. »Lasst sie in Ruhe«, sagte Mutter dann immer, »kommt her zu uns an den Tisch.«

An jedem freien Winternachmittag ging ich mit Freunden zum Schlittschuhlaufen am »Ye-Te-Su«, der großen Eisbahn. Ich lief ganz gut, ich konnte Pirouetten drehen oder auf einem Bein laufen, und der italienische Tango »La Chitarra Romana«, der dort immer wieder gespielt wurde, ist mir bis heute ins Gedächtnis eingraviert, als hätte ich ihn erst gestern wieder gehört. Auf dem Heimweg ging ich manchmal ins belebte, verräucherte Café Monica zu Vater, der mir ein köstliches Stück Kuchen spendierte, und anschließend machte ich mich auf den Heimweg. Unterwegs traf ich ein oder zwei Freunde, wir unterhielten uns ausführlich, und dann ging jeder nach Hause.

Die Litvaks teilten sich in zwei zionistische Gruppen, den rechten und den linken Flügel. Eines Tages kam Zeev Jabotinsky nach Kaunas, der weltberühmte Anführer des rechten Flügels, den zahlreiche Litvaks bewunderten, der bei den Mitgliedern der Arbeiterbewegung jedoch ziemlich umstritten war. Ich ging zu der Versammlung, da ich der Beitar-Jugendgruppe angehörte, die ihn als ihren großen Anführer betrachtete. Die Veranstaltung fand im Gloria Filmtheater statt, der Saal war zum Bersten voll.

Dann tauchte eine Gruppe Jugendlicher auf, vielleicht Mitglieder von Shomer Hatzair (der Arbeiterbewegung) oder einer anderen Gruppierung, die ihn ablehnte, und begann, mit Eiern auf ihn zu werfen. Die Eier trafen ihn nicht, doch sie zerbrachen am Bühnenboden und ergossen sich über seine Füße. Sofort erhob sich großer Aufruhr im Saal. Ich war zutiefst erschrocken und wütend über dieses Benehmen gegenüber einem Helden wie Jabotinsky.

Uri beim Geigespielen, 1936

Manchmal sah ich mir im Gloria Filmtheater einen Kinofilm an. Die meisten Filme waren auf Russisch oder Englisch, sodass wir sie nicht verstehen konnten. Wir konnten nur die Untertitel lesen. Eines Tages wurde ein Film gezeigt, der im Land Israel gedreht worden war. Die Schauspieler sprachen Hebräisch, und bis heute erinnere ich mich, wie fasziniert ich von den Szenen aus Tel Aviv war, dieser kleinen, weißen Stadt, umgeben von Gärten, untermalt von Joseph Golands12 wunderbarem Bariton, mit dem er den Titelsong des Filmes sang, »Tel Aviv, Ho Tel Aviv«. Jahre später, 1946, kurz nachdem ich im Land Israel angekommen war, lud mich mein Zieh-Onkel Zalo Landau (zu ihm und seiner Frau Mina werde ich später in dieser Geschichte noch kommen) in das Kabarett »Hamatateh« (der Kehrbesen) ein, das seine Vorstellungen in einer großen Baracke in der Ben Yehuda-Straße gab. Als Joseph Goland die Bühne betrat und dasselbe Lied sang, das mich in diesen glücklichen Nachmittag meiner Kindheit zurückversetzte, setzte mein Herz für einen Moment lang aus und ich konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten.

Meine erste Begegnung mit der Oper fand in Kaunas statt und war eine Katastrophe. Ich war fünf oder sechs Jahre alt und meine Eltern nahmen mich mit in dieses große, weiße, kunstvoll verzierte Gebäude zu einer Aufführung des »Faust«. Gewiss wollten sie mir die Musik nahebringen. Als Mephisto die Bühne betrat, erschrak ich mich zu Tode und schrie vor Panik, sodass meine Eltern mit mir hinausgehen mussten. Doch offensichtlich ist mir von diesem Opernabend auch irgendetwas Gutes im Gedächtnis geblieben. Denn ich liebe die Oper und würde niemals in der Pause gehen, selbst wenn die Aufführung endlos lang und langweilig sein sollte. Ich tue das aus Respekt gegenüber den Sängern und Musikern. Während der 25 Jahre meiner Mitgliedschaft im Vorstand und Aufsichtsrat der Israelischen Oper habe ich gelernt, wie viel Arbeit in dieser Kunstsparte geleistet wird. Diese öffentliche Rolle habe ich weit mehr als andere geliebt.

Als Judith zu meinem 80. Geburtstag ein Fest in der Art von »Das war Ihr Leben« organisierte, war das für mich eine Riesenüberraschung. Es war ein wunderbarer, bewegender Abend mit vielen Freunden, die ich ewig nicht gesehen hatte. Die Intendantin der Oper, Hannah Munitz, hatte einen Tenor und eine Sopranistin mitgebracht, die zwei meiner Lieblingsarien sangen. Ich war so stolz, als sie erklärte, dass ich meine Aufgabe an der Oper dafür verwendet hätte, großes Augenmerk auf die Werkstätten zu richten und darauf, dass diese ordentlich geführt würden, »wie eine Apotheke«, sodass die Opernmitarbeiter anständige und bequeme Arbeitsbedingungen hatten.

Und so verlief meine kurze Musikkarriere: Als meine Cousine, Rina Appel, Violine studierte, beschloss Mutter, dass ich dieses Instrument auch erlernen sollte. Sie engagierte einen Lehrer, der zweimal die Woche zu uns ins Haus kam. Dieser Lehrer verlangte von mir, täglich Tonleitern und einfache Stücke zu üben. Auf diese Weise vergingen zwei Jahre.

Eines Tages, es war im Sommer, hatte ich gerade die Geige in der Hand, um zu üben, als von unten meine Freunde nach mir riefen. Viel lieber wäre ich mit ihnen hinausgegangen, um Fußball zu spielen. Vince bestand darauf, dass ich weiter übte und meine Freunde fortschickte. Sie füllte einen Topf mit kaltem Wasser und goss diesen von oben über meinen Freunden aus. Von jetzt auf gleich herrschte Stille. Ich wäre vor Scham und Verlegenheit am liebsten gestorben. Heißer Zorn überkam mich, blind vor Wut warf ich die Geige von mir, die sofort zerbarst. Dann rannte ich nach draußen, meinen Freunden hinterher.

Als Mutter heimkam und die zerbrochene Geige sah, erklärte sie leise: »Schluss damit, du hörst auf mit dem Instrument.« Und das war das Ende meines Geigenunterrichts.

Zuhause wurde Jiddisch und Hebräisch gesprochen, und als ich fünf Jahre alt wurde, kam ich in den Kindergarten des Jüdischen Gymnasiums13, wo ausschließlich Hebräisch gesprochen wurde und auch der Unterricht auf Hebräisch stattfand. Es war eine mutige Entscheidung, ein Gymnasium einzurichten, dessen vorherrschende Unterrichtssprache Hebräisch war. Bis dahin war Hebräisch in erster Linie die heilige Sprache der Gebete und seine Wiederbelebung als moderne Alltagssprache steckte noch in den Kinderschuhen.

Unterricht auf Litauisch gehörte von der ersten Klasse an ebenfalls zum Lehrplan.

Der Aufbau des Gymnasiums ging auf die Initiative von Dr. Moshe Schwabe zurück, der später in das Land Israel emigrierte und seit 1925 an der Hebräischen Universität arbeitete, wo er 1939 zum Leiter des Instituts für Klassische Studien berufen wurde. Es gab keine Schuluniform, nur eine blaue Schirmmütze, verziert mit Goldstreifen und dem Schulabzeichen. Wir trugen sie voll Stolz, weil nun jeder sehen konnte, dass wir Schüler dieser angesehenen Schule waren.

Jeden Morgen machten Miriam, Danny und ich uns gemeinsam auf den Weg zum Gymnasium, das nur wenige Minuten Fußweg entfernt von zuhause war. Meine Schwester ging immer ein gutes Stück voraus. Sie war vier Jahre älter als ich und wollte nicht von anderen zusammen mit uns, diesen kleinen Brüdern, gesehen werden. Danny trödelte immer hinterher, blieb hier und dort stehen, um sich irgendetwas unterwegs anzuschauen, einen kleinen Hund zum Beispiel, der eine Katze anbellte, welche über die Straße ging. Jedes Mal musste ich ihn an der Hand hinter mir herziehen und ihn antreiben, denn ich wusste: Wenn wir zu spät kamen, setzte es Strafen.

Ich war ein guter Schüler, aber nicht unbedingt herausragend. Meine Lieblingsfächer waren Geschichte und Geografie, während mir Litauisch und Mathematik verhasst waren. Wenn mir langweilig wurde, schaute ich aus dem großen Fenster hinaus auf den Fluss, beobachtete die Schiffe, die darauf vorüberfuhren, und erst die Ermahnung des Lehrers holte mich zurück ins Klassenzimmer. Ich war so ein gutgläubiges Kind: Als Kessler, der Litauisch unterrichtete, einmal fragte, wer seine Hausaufgaben nicht gemacht hätte, und verkündete, er würde die Wahrheit an dem erkennen, was auf die Stirn der Kinder geschrieben stünde, fasste ich mich sofort an die Stirn. Kessler grinste und bestrafte mich …

Am ersten Schultag nach den großen Ferien im Jahr 1939 kam ein neuer Schüler in unsere Klasse. Er hieß David Heuer und war typisch österreichisch gekleidet: kurze Lederhosen mit Hosenträgern und knielangen Wollsocken. Kinder können so grausam sein. Kaum hatte er das Klassenzimmer betreten, wurde er ausgelacht. »Das ist unser neuer Freund, der gerade aus Österreich hergezogen ist«, stellte der Lehrer ihn vor, »und ich bitte euch alle, ihn herzlich willkommen zu heißen.« In der Pause bemerkte ich, dass der neue Schüler abseitsstand, und lud ihn ein, mit uns Fußball zu spielen. Er erzählte uns, dass sein Vater Gefäßspezialist sei und sie aus Österreich hierher, nach Litauen, hätten fliehen müssen, da sie nirgendwo sonst hätten hinziehen können. Später fügte er noch hinzu, dass einer der Patienten seines Vaters der litauische Präsident sei. Als das Deutsche Reich im März 1938 Österreich annektierte, setzte umgehend eine brutale Verfolgung der Juden ein und viele versuchten, das Land zu verlassen, was sich oftmals als schwierig erwies. In ihrer Verzweiflung entschieden die Eltern unseres neuen Mitschülers, in Litauen Zuflucht zu suchen, nachdem ihnen die Emigration in ein anderes Land nicht möglich war. Der Präsident kam ihrer Bitte sofort nach, und so landeten sie in Kaunas.

Noch ahnte die Familie Heuer nicht, wie bitter ihr Schicksal noch werden würde – wie auch viele Juden aus Polen oder anderen Ländern, die 1939 Zuflucht in Litauen fanden, nachdem ihre Länder von den Deutschen überfallen worden waren.

Nichts hasste ich mehr, als Hausaufgaben zu machen. Aber Lesen lernte ich sehr schnell und wurde rasch zur Leseratte. Die Bücher von Karl May über den Wilden Westen und das Leben der Indianer in Amerika, allen voran über ihren Helden Winnetou, verliehen meiner Fantasie Flügel und ließen mich dorthin fliegen, zu diesem so weit entfernten Kontinent. Außerdem las ich »In 80 Tagen um die Welt« von Jules Verne. Am liebsten aber waren mir die Bücher über das Land Israel. Ich verschlang die historischen Romane von Abraham Mapu14. Obwohl Mapu in Kaunas lebte und niemals in seinem Leben das Land Israel besucht hatte, stellte er das Alte Judäa so plastisch in seinen Büchern dar, dass ich die Tiger und Löwen förmlich vor mir sah, wie sie im Tal des Jordanflusses lebten, und die hoch über Jerusalem aufragenden Berge sah ich vor mir wie in einem Film.

Ich war nur sechs Jahre lang Schüler des berühmten Gymnasiums, an dem ein paar Jahre vor mir auch die Schriftstellerin und Dichterin Leah Goldberg die Schulbank gedrückt hatte, doch meine Schuljahre zählen zu meinen glücklichsten Kindheitserinnerungen.