Von Malkotsch nach Welbsleben - Mathilde Klein - E-Book

Von Malkotsch nach Welbsleben E-Book

Mathilde Klein

4,8

Beschreibung

Es gibt Biografien, die sind so angefüllt mir Begebenheiten, dass es für zwei Leben ausreichen würde. Der Lebensweg, den Mathilde Klein erzählt, gehört in diese Kategorie. Als Kind wird sie mit ihrer Familie aus Rumänien vertrieben - ein Aufbruch ins Ungewisse. Nach vielen Schrecken und Einquartierungen landen die Flüchtlinge schließlich in Sachsen-Anhalt. Dort erlebt sie als Frau eines Landwirts das DDR-Regime, den Fall der Mauer und den Wandel im wiedervereinigten Deutschland. Zu den großen politischen Umbrüchen kommen zahlreiche Schicksalsschläge im Privaten. Der traurige Verlust eines Kindes, eine Ehe, die nicht die Erfüllung bringt, und Krankheiten, die an der Lebenskraft zehren. Doch Mathilde Klein verzagt nicht. Mit bewunderungswürdigem Pflichtgefühl und aufopferungsvoller Hingabe an die Familie meistert sie ihr Schicksal - immer wieder Energie schöpfend aus ihrer innigen Heimatverbundenheit und ihrem Glauben. Das ergreifend ehrliche Resümee einer starken Frau, durch das ein bewegtes Kapitel deutscher Geschichte schimmert.

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Inhalt

Vorwort

Kindheit in Malkotsch

Vertreibung aus dem Paradies

Ein neuer Aufbruch ins Ungewisse

Der Krieg ist zu Ende

Fotografien

In der neuen Heimat angekommen

Krankheiten brechen aus

Die ersten Reisen

Hansi

Eine neue Zeit bricht an

Martin

Mein neues Leben

Noch einmal Rumänien

Schlusswort

Vorwort

Meine Vorfahren sind vor über hundert Jahren aus Elsass-Lothringen ausgewandert. Damals waren die Zeiten für die Menschen dort schlecht. Zwanzig Jahre lebten meine Verwandten in Russland, wo man sie Kolonisten nannte. Dann brachen dreiundvierzig Familien mit Erlaubnis der Regierung des neurussischen Gouvernements Bessarabien auf, um eine neue Heimat an der Donau zu finden. Sie mussten alles zurücklassen – nur mit Ross und Wagen zogen sie Richtung Balkan. Fünfundzwanzig Familien ließen sich dann in Rumänien in dem kleinen Dorf Malkotsch in der Gegend von Tultscha nieder, um dort sesshaft zu werden. Weil alles öde und verlassen war, mussten sie das Land erst urbar machen. Mit diesen Familien kamen auch meine Vorfahren nach Malkotsch.

Hinweise und Anregungen über ihren Weg habe ich der Heimatchronik »Heimat der Dobrudscha-Deutschen« entnommen.

Kindheit in Malkotsch

Wir erblickten das Licht der Welt am 3. September 1931 in Malkotsch in der Dobrudscha in Rumänien. Ich spreche von wir, weil mit mir auch mein Bruder Hans zur Welt kam. Er wurde zehn Minuten nach mir geboren. Trotz dieses kleinen Abstands verstanden wir uns immer prächtig.

Meine Eltern betrieben eine mittelgroße Landwirtschaft und Hans und ich verlebten eine schöne, unbeschwerte Kindheit. Natürlich war damals alles viel bescheidener – an das Spielzeug, das es heute gibt, war nicht zu denken. Doch uns war egal, mit was wir spielten, Hauptsache wir konnten überhaupt spielen. Wir fühlten uns völlig frei. Im Sommer waren wir immer draußen. Auf den Straßen, die damals noch nicht gepflastert waren, wirbelten wir gerne Staub auf: Wir warfen Erde in die Luft und rannten dann davon. Wir fanden das lustig – und sahen abends entsprechend aus. Mein Vati stellte dann ein kleines Fass mit Wasser in den Hof und steckte uns hinein. Ein Badezimmer, wie es heute Standard ist, gab es damals nicht.

Meistens zogen wir zu fünft durch die Gegend. Unser Quintett bestand aus Anna Tuchscherer, unserer Nachbarin, die wir das Nesthäkchen nannten, weil sie nur ältere Geschwister hatte, Josef Tuchscherer, Ullrich Schüssler und natürlich Hans und mir. Wir fünf waren ständig zu Streichen aufgelegt. Und weil das Obst in Nachbars Garten bekanntlich immer besser schmeckt, klauten wir zum Beispiel gerne bei unserem Nachbarn. Er hieß Hannes Mack. Vor allem seine Aprikosen hatten es uns in einem Sommer angetan. Einer nach dem anderen sprangen wir dazu über den Zaun. Doch unser Nachbar hatte uns schon beobachtet. Als wir uns an seinen köstlichen Aprikosen gütlich taten, schrie er wütend, wir sollten uns fortmachen. Am Abend beschwerte sich Nachbar Mack heftig bei unseren Eltern, aber mein Vati hat uns nicht bestraft, er ermahnte uns lediglich zu Ordnung und Ehrlichkeit.

In unserem Ort gab es überwiegend große Bauernhöfe und auch unserer war recht groß. Wenn man sich unserem Hof näherte, lag links von der Einfahrt das Wohnhaus, davor gedieh Muttis größter Stolz: ihr Blumengarten. Die Weinkammer schloss sich dem Wohnhaus an, dann folgten Pferde- und Kuhstall. Quer über den Hof zog sich ein Schuppen, in dem im Winter die Geräte untergestellt wurden, im Sommer suchten die Pferde dort Schatten, weil die Ställe zu warm waren. Daran grenzte der Stroh- und Heuschober.

Der Brunnen befand sich gleich rechts neben dem Toreingang, davor stand ein Trog, aus dem Kühe und Pferde tranken. Vati hat diesen Trog immer wieder mit Wasser gefüllt, damit es nicht zu kalt war. Über dem Brunnen war eine Walze angebracht mit einer Leier und einer langen Kette, an der ein Eimer befestigt war. Zum Wasser holen ließ man die Walze langsam abrollen; wenn der Eimer vollgelaufen war, drehte man die Walze wieder hoch. Im Sommer benutzten wir den Brunnen als eine Art Kühlschrank: Zur Melonenzeit ließ mein Vati einige Eimer mit Melonen hinunter ins Wasser, und so waren sie an heißen Tagen eine süße und kühle Erfrischung. Neben dem Brunnen, auf der Seite zu unserem Nachbarn, lag unser Gemüsegarten und am Ende des Gartens stand das Plumpsklo. Toiletten im Haus gab es noch nicht.

Der Hof war unser Dreschplatz. Dort legten wir das Getreide aus. Anschließend fuhr ein Dreschschlitten aus massivem Holz darüber. Er besaß Kufen mit Metallschienen, damit er leichter übers Getreide lief; damit er schwerer war, wurde er mit Steinen bepackt. Auch wir Kinder durften darauf sitzen. Wer runterfiel, musste hinterherlaufen, wenn er wieder hinaufwollte, denn Vati, der die Pferde im Kreis lenkte, konnte für uns nicht anhalten. Anschließend wurde das Stroh weggeharkt und der Rest zu einem Haufen zusammengeschoben. Um das Getreide zu reinigen, also die Spreu vom Weizen zu trennen, benutzten wir eine sogenannte Windmühle, die von Hand bedient wurde: Einer der Erwachsenen drehte den Krickel, das übernahm meistens meine Mutti, daraufhin erzeugten die Flügel im Innenraum der Windmühle Wind, der das saubere Getreide vorne rausblies, während die feine Spreu nach hinten flog. Anschließend sammelte Vati das Getreide in Säcke ein und brachte es auf den Boden oder verkaufte es auf dem Markt in Tultscha, den wir damals noch Basar nannten.

Die Anhöhe, von der wir fünf immer über Nachbars Gartenzaun stiegen, war für uns noch aus einem weiteren Grund eine tolle Sache: Mutti hatte in einiger Entfernung kleine Terrassen angelegt, auf denen sie Kürbisse pflanzte. Als die Zeit der Ernte kam, konnten wir es kaum erwarten, einen oder zwei davon durch die Gegend kullern zu lassen. Dann probierten wir, ob sie schon schmeckten. Meine Mutti bereitete aus ihnen leckeren Kürbiskuchen. Wenn einer mal aufplatzte, durften wir ihn gleich den Schweinen in den Trog werfen.

Im Winter nutzten wir die Anhöhe zum Schlittenfahren. Sie war hoch genug, dass man eine tolle Fahrt draufbekam. Und wenn das Hoftor offen stand, fuhren wir durch bis auf die Straße. Vor Autos mussten wir ja keine Angst haben, die sah man nur selten.

Doch es gab auch Dinge, die nicht so ungefährlich waren. Schon recht früh durften Hans und ich allein zu Großvater gehen, wenn wir versprachen, bis zum Abendläuten wieder zu Hause zu sein. Man erkannte uns schon von Weitem, denn Hans trug meist ein blaues und ich ein rosa Hütchen. Auf unserem Weg kamen wir an dem großen Bauernhof von Johannes Baumstark, dem reichsten Bauern im Ort, vorbei. Einmal, als wir die Zeit völlig vergessen hatten, weil wir so versunken in unser Spiel waren, begegneten wir dem Kuhhirten und seiner Herde. Und mit einem Mal merkten wir, dass auch Bullen darunter waren; vor denen hatten wir unheimliche Angst. Wir machten also auf der Stelle kehrt und liefen zum nächstgelegenen Hof, bis der Hirte mit seinem Vieh vorbeigezogen war. Später gingen wir immer über den Berg zu Großvater. Diesen Weg hatten wir gefunden, als uns auf dem Weg zu ihm ein Unwetter überraschte. Wir wohnten im Unterdorf, an der Straße nach Tultscha. Um den Weg abzukürzen, wagten wir uns durch Gestrüpp und Unkraut und krabbelten den Berg hinauf. Unterwegs stürzte plötzlich das Wasser vom Himmel, als ob alle Schleusen geöffnet worden wären. Oben sah dann alles ganz anders aus, als wir es uns vorgestellt hatten. Mit ein bisschen Nachdenken fanden wir aber den richtigen Weg und erreichten schon bald Großvaters Garten und den von Tante Bilagia Drescher, der direkt daneben lag.

Die kleine Lattentür konnten wir mühelos aufmachen, denn damals war es nicht Sitte, alles abzuschließen. Großvater besaß viele Obstbäume mit unterschiedlichen Sorten. Wenn wir ihn besuchten, kosteten wir uns von Baum zu Baum durch bis zu seinem Hof. Der große Nussbaum kam zuletzt dran. Im Hof stand noch ein Maulbeerbaum. Doch dessen Früchte waren meistens für die Hühner und Enten: Sobald sie runterfielen, schnappten die Tiere schnell zu. Maulbeeren ähneln Himbeeren, sie schmecken zuckersüß, aber sie zu pflücken war uns zu mühsam. Es gab ja genug anderes Obst.

Großvaters Hof war sehr groß. Links vom Tor aus gesehen stand das Wohnhaus, in dem Großvater, Onkel Alois und Tante Eva wohnten und auch deren Kinder Maria und Anna und die Veronika. Gegenüber wohnte Onkel Jordan. Er war nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Er war ohne Knie auf die Welt gekommen und konnte seine Beine nicht abbiegen und nicht sitzen. Trotz seiner Behinderung mochte ich ihn sehr gern. Tante Eva hatte es nicht leicht: Sie hatte zwar nur einen Mann geheiratet, aber doch noch zwei mit dazubekommen – Großvater und Onkel Jordan. Daneben musste sie sich um die Kinder und den Haushalt kümmern. Eine große Last ruhte auf ihren Schultern.

Weil ich Onkel Jordan gerne mochte und er mir immer leidtat, war ich öfter bei ihm. Ich wollte ihm helfen und das tat ich zum Beispiel beim Gerben der Felle an der Walze. Onkel Jordan war nämlich Sattler und machte Pferdegeschirre. Selbst mein Mann erzählte mir später, was für schöne Geschirre er herstellte. Besonders für hohe Anlässe wie Hochzeiten, Fronleichnam oder die Fahrten in die Stadt, wenn der Bischof zur Firmung abgeholt wurde.

Mein Onkel gerbte seine Felle selbst. Dazu legte er sie zweimal in eine Lauge. Auf diese Weise wurde das Fell weicher und die Borsten bzw. Haare lösten sich vom Leder. Dann kamen die Felle auf die Walze, damit die Flüssigkeit ablief. Die Walze wurde gedreht wie bei einem Karusell. Danach hängte er sie zum Trocknen auf. Weil ich ihm immer unbedingt helfen wollte und ihm dabei wahrscheinlich eher im Weg stand, machte er mir einen kleinen Waschtrog. Der war so niedlich, dass der Onkel gar nicht so viele schmutzige Strümpfe und Taschentücher besaß, wie ich waschen wollte.

Wir sangen auch viel und er lehrte mich das Lied »Wenn alle Brünnlein fließen«. Er erzählte mir auch viel von früher und von der Heimat unserer Vorfahren. Seine Großmutter war acht Jahre gewesen, als sie in Malkotsch ankam.

Als Hans und ich in die Schule kamen, nähte Mutti uns Schulbeutel. Ranzen oder Rucksäcke gab es damals nicht. Sie bestickte sie auch und nähte die Anfangsbuchstaben unserer Namen darauf. Aus bunten Wollfäden drehte sie eine Kordel zum Umhängen. In unserem Beutel trugen wir: eine Tafel, einen Griffelkasten, einen Schwamm, einen Lappen und ein Holzmesser. Das benötigten wir, um uns an der Treppe zum Schuleingang die Schuhe zu putzen. Ich erinnere mich noch genau, wie Vati Hans und mir den Griffelkasten mitbrachte. Wir lagen beide mit Masern im Bett, Vati war allein zum Markttag in die Stadt gefahren. Als Überraschung brachte er für jeden einen wunderschön bunt bemalten Griffelkasten mit, darin lagen Griffel, Stifte und Süßigkeiten wie Halwa und Rahat −; das ist eine geleeartige Substanz, die mit Staubzucker bestäubt ist. Bei uns gibt es das auch, aber ohne Staubzucker und mit leichter Schokolade in Form von Halbmonden oder Kugeln.

Zum Holzmesser noch eines: Unsere Schule lag etwas entfernt von der Straße, die damals noch nicht gepflastert war. Also kamen wir, besonders wenn es regnete, mit dreckigen Schuhen zur Schule. Weil die Räume aber sauber bleiben mussten, war immer ein Schüler abkommandiert, unsere Schuhe zu prüfen, ob sie sauber genug waren. Wenn nicht, musste man noch einmal vor die Tür, um den Dreck mit dem Holzmesser abzukratzen. Unsere Holzmesser hatte Vati für uns geschnitzt.

Bei meinen Eltern wohnte noch Tante Elisabeth mit unserer Großmutter. Wir nannten sie Liesbeth. Damals sagte man im Übrigen noch Besel und nicht Tante. Sie war mit sieben Jahren an Typhus erkrankt und taubstumm geworden. Da sie nichts hören und sagen konnte, verständigten wir uns mit Mimik und Gestik. Das ging gut. Sie spielte mit uns viele verschiedene Spiele, wenn die Eltern im Winter abends zum Nachbarn oder zu Freunden auf einen Plausch gingen: Mutti das Bündel Wolle unterm Arm und Vati das Spinnrad auf dem Rücken. Dann hatten wir den schönsten Spaß mit Besel Liesbeth.

Wir hatten noch ein Brüderchen, Basilius hieß er. Er starb mit etwas über einem Jahr. Die Ursache habe ich erst als Erwachsene richtig verstanden. Es geschah während der Ernte und in der Zeit, als unser Vater bei der Armee diente. Mutti, Besel Liesbeth und Hans arbeiteten auf dem Acker. Ich musste auf mein Brüderchen aufpassen. Als meine Freundin Anna mich besuchte, störte uns mein Brüderchen Basilius bald beim Spielen. Weil er Wasser so gerne mochte, setzte ich ihn kurzerhand in den Pferdetrog. Was ich als Sechsjährige nicht ahnen konnte: Das Wasser war viel zu kalt und er holte sich eine Lungenentzündung, an der er starb. Unsere Nachbarin erzählte meiner Mutti hinterher, wie alles abgelaufen war. Erst viele Jahre später, als ich meine Mutter fragte, warum Basilius sterben musste, erzählte sie mir, was vorgefallen war. Ich selbst erinnere mich nur, wie Basilius in seinem Sarg lag und unglaublich niedlich aussah. Vier ältere Mädchen aus der Nachbarschaft trugen den kleinen weißen Sarg mit zwei weißen Tüchern zur Kirche und dann zum Friedhof. Sie wechselten sich ab, denn der Friedhof war weit entfernt. Ich weiß auch noch gut, wie traurig meine Eltern waren. Ein Jahr zuvor war meine Großmutter mütterlicherseits gestorben. Ich habe heute noch ein Bildchen von dem Sarg und von meinem kleinen Brüderchen. Im Nachhinein frage ich mich allerdings manchmal, warum meine Tante Kathrin, die alles beobachtet hatte, Basilius nicht aus dem Trog nahm? Ein sechsjähriges Kind hat doch keine Vorstellung davon, was da passieren kann. Ich habe glücklicherweise nie gespürt, dass meine Eltern mir Vorwürfe machten. Auch Hans und ich waren sehr traurig, doch Kinder kommen leichter über solche Ereignisse hinweg.

Als meine Großmutter starb, rief sie alle ihre Kinder zu sich, weil es noch etwas zu klären gab. Die Kinder, das waren: Tante Felizia, ihre älteste Tochter, die mit ihrem Mann Franz in Bukarest in einem Kloster arbeitete; Tante Eva und ihr Mann Albert, die bei einer rumänischen Kuhmilchwirtschaft in Tultscha als Schweizer, d. h. Melker, angestellt waren; und Onkel Bernhard, der mit seiner Frau Chelestina in Palas lebte.

Großmutter stellte ihren Kindern die Frage, ob sie damit einverstanden seien, dass jeder die Hälfte von seinem Acker an meine Eltern abgibt. Alle stimmten zu. Onkel Bernhard verzichtete sogar ganz auf sein Erbteil, er wollte dafür aber jedes Jahr Körner für sein Kleinvieh haben. Großmutter meinte, dass meine Eltern Tante Liesbeth bis zu ihrem Lebensende pflegen sollten, das sei schwer genug.

Dann kam das Jahr, in dem Vati und Mutti zum ersten Mal nach der Ernte nach Palas fuhren und uns Kinder mitnahmen. Wir besaßen einen kleinen Ackerwagen, auf dem Vati uns ein schönes Lager bereitete. Es war dunkel, als wir losfuhren, und dunkel, als wir Palas erreichten. Die Freude war sehr groß.

Am nächsten Tag gingen mein Onkel und meine Tante mit uns spazieren. Es war weit bis zum Schwarzen Meer. An der Küste, die sehr hoch lag, beobachteten wir, wie das Wasser schäumend gegen die Felsen schlug und heulte, was uns sehr ängstigte. Auf dem Rückweg kamen wir an einem Garten vorbei, der nicht eingezäunt war. Wir Kinder tollten wild herum. Plötzlich stolperte Hans über einen Maisstängel und fiel auf einen anderen drauf, der haarscharf an seinem linken Auge vorbeiging. Der Schreck war groß. Hans blutete so heftig, dass er zu einem Arzt gebracht werden musste. Damit war uns allen die Freude verdorben und am nächsten Morgen fuhren wir wieder nach Hause. Dieses Ereignis hat mich viele Jahre verfolgt. Ich war schon längst verheiratet, als ich einmal an einem Sonntagnachmittag meine Mutter besuchte. Da musste ich plötzlich wieder an diesen Vorfall denken und ich fragte sie: »Habe ich das nur geträumt oder habe ich das mit euch und Hans wirklich erlebt?«

»Das ist alles so gewesen«, erwiderte Mutti. »Ihr wart damals fünf Jahre alt.«

Auch ein anderes Erlebnis aus meiner Kindheit erinnere ich noch lebhaft. Vati hatte groß angekündigt, dass wir am nächsten Morgen früh nach Tultscha zur Ölmühle fahren würden. Tultscha lag etwa sieben Kilometer entfernt. Bei der Ölmühle zeigte Vati uns, wo der Raps reinkam, und dann ging er mit uns den ganzen Weg entlang bis dahin, wo das schöne gelbfarbene Öl rauslief. Es roch sehr appetitlich, weil der Raps über eine Röstplatte lief, so bezeichne ich es jedenfalls. Hans und ich waren damals vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Mutti hatte uns viereckige Behälter mitgegeben, in die das Öl gleich abgefüllt wurde.

Auch die Weinlesezeit war eine tolle Zeit für uns Kinder. Nach der Schule durften wir mit zum Weintraubenschneiden und gucken, wie die Erwachsenen die Beeren in die großen Tonnen und Fässer schütteten. Wenn alles geschnitten war, ging es wieder nach Hause. Auf unserem Hof wurde dann eine große Traubenpresse aufgestellt. Darauf stand einer, der die Weintrauben in eine Presse schaufelte; unten kam anschließend der frisch gepresste Saft heraus. Was für ein Genuss, diesen Saft zu trinken! Vati achtete immer sehr streng darauf, dass keiner mit Brot an die Presse kam. Er erklärte uns, dass wenn nur ein paar Krümelchen in den Saft kämen, alle Mühe umsonst gewesen sei, denn der Saft würde in Säure übergehen. Gären musste er zwar, aber in den Fässern in der Kammer. Dort standen ein sehr großes und ein kleines Fass. Wie viele Liter hineingingen, weiß ich nicht, so etwas berührte mich nicht. Mich interessierte viel mehr, wie Mutti Weintraubenkuchen backte. Dafür nahm sie besonders kleine Beeren. Der Saft dieser Trauben gelierte auf dem Blech. Und es war mein höchstes Vergnügen, den dicken, karamellisierten Saft mit dem Messer vom Blech zu kratzen und zu essen.

Im Winter hatten die Männer eigentlich nur das Vieh zu versorgen. Das Melken und Buttern erledigte meine Mutti. Sie kümmerte sich auch um das Federvieh. Die Männer gingen dann zum Angeln und zum Rohrschneiden. In der Nähe unseres Ortes gab es einen großen See, Balte hieß er. Sobald er zugefroren war, fing das Rohrschneiden an. Jeder Schnitter hatte seinen angestammten Platz. Das Rohr wurde zum Dachdecken oder zum Beheizen des Backofens verwendet. Um es vom See abzuholen, spannte Vati den großen Schlitten an. Bis zu seinem Haufen legten wir immer einen ziemlich langen Weg zurück. Für Hans und mich war das eine Riesengaudi. Wir hatten nicht die geringste Angst. Doch ganz so harmlos war die Sache nicht: Der Schlitten wurde durch das Rohr ziemlich schwer und das Eis konnte unter seiner Last brechen. Heute glaube ich, dass Vati genau wusste, wo das Eis am dünnsten war. Denn es gab immer Momente, wo Vati uns befahl, vorneweg zu gehen. Dann warf er die Pferdeleine hinter uns her. Er folgte uns, nahm die Leine und trieb seine Pferde zum Galopp an, ja, er schlug sie sogar mit der Peitsche. Sie liefen los und wir sahen, wie der Schlitten immer mehr Wasser unter die Kufen bekam. Das Eis bog sich wie ein Brett, das sehr dünn ist. Hans und ich zitterten jedes Mal, doch es ging immer gut. Hans fragte Vati einmal, was passieren würde, wenn die Pferde es nicht schafften. Da zeigte er uns sein großes Taschenmesser und meinte, dann würde er die Leine durchschneiden, damit die Pferde nicht mit dem Schlitten untergingen.

Irgendwann gehen Mädchen und Jungen getrennte Wege. Die Mädchen wollen lieber mit Puppen spielen, die Jungen mit Pistolen. Anna Tuchscherer, das Nachbarsmädchen, war ein Jahr älter als ich. Sie war die Tante von Josef Tuchscherer und heiratete später Herrn Martin. Magdalene Frank, die drei Häuser entfernt von uns wohnte, hatte auch eine ältere Schwester. Weil die größeren Mädels sich schon selbst etwas nähten, blieben für uns immer kleine Stoffreste übrig, aus denen wir Puppenkleider schneiderten. Doch zuerst mussten wir uns Püppchen basteln, was nicht so einfach ist. Meine erste Puppe hat mir meine Mutti gemacht, sie sah sehr schön aus und man konnte gut mit ihr spielen. Mit unseren selbst gefertigten Puppen klappte das nicht so recht. Und weil es mir mit den zwei Mädchen bald zu langweilig wurde und das Puppenspiel auch nicht meine Welt war, suchte und fand ich schnell andere Freunde.

Maria Schissler zum Beispiel und meine heute noch beste Freundin, Filomine Drescher. Dann gab es noch Rosi Ehret, Liesbeth Ankert, Anna und Deonella Baumstark, Mathilde Dirk, Gretel Kukert – sie hieß bei uns nur Hopsergretel, weil sie statt zu laufen nur hopste – und Magdalene Kost. Mit ihr habe ich die tollsten Sachen unternommen, vor allem viel gelacht. Es ist sehr bitter und traurig, dass sie viel zu früh starb. Es wäre zu viel, alle aufzuzählen, mit denen ich spielte, denn ich spielte mich, ganz salopp gesagt, quer durchs Dorf.