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Rahn aus dem Hintergrund - klar, das kennt fast jeder. Aber was geschah eigentlich in den restlichen 89 Minuten im WM-Finale 1954, beim »Wunder von Bern«? Warum kam es 1990 zur großen Rivalität mit den Niederlanden, als Frank Rijkaard Rudi Völler zweimal anspuckte? Wie fühlte es sich an, als Deutschland 1974 gegen Deutschland spielte? Durch welche Taktik kam Günter Netzer 1972 aus der »Tiefe des Raumes«, und wie herausragend war das deutsche Champions-League-Finale 2013 wirklich? Niklas Baumgart, kicker-Redakteur und Spezialist für Sportgeschichte, schildert gemeinsam mit damaligen Protagonisten 11 magische Begegnungen aus der deutschen Fußballhistorie. Ein Muss für jeden Fußballfan. »Niklas Baumgarts Berichte über legendäre deutsche Spiele sind präzise, erhellend, spannend. So muss man über Fußball schreiben.« Toni Schumacher
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Von Wundern und Weltmeistern: Die 11 größten Spiele des deutschen Fußballs
NIKLAS BAUMGART, Jahrgang 1995, schreibt am liebsten über Fußball von vor seiner Geburt. 2014 startete er »Baumgarts Fußballblog«, der inzwischen knapp 10.000 Abonnenten zählt, seit 2017 schreibt der studierte Sportjournalist auch für den kicker. Vor allem über historische Spiele.
Das Jahrhundertspiel 1970 gegen Italien. Das Wunder von der Grotenburg im Europapokal der Pokalsieger 1986. Das Champions-League-Finale von 2013, Dortmund gegen Bayern. Dies sind nur drei von 11 legendären deutschen Spielen, die Niklas Baumgart in seinem Buch hintergründig analysiert. Wer hätte 1982 in der Nacht von Sevilla verhindern können, dass Patrick Battiston überhaupt eingewechselt wird? Wie fielen im DFB-Pokal-Halbfinale 1984 ganze 26 Tore? Und warum warfen die deutschen Spieler 2014 beim 7:1 gegen Brasilien Joachim Löws Taktik über den Haufen? Hinter nackten Statistiken und den zwei, drei Szenen, an die wir uns aus diesen Spielen alle erinnern, gibt es immer noch viele Dinge mehr zu erzählen, ohne die unsere deutsche Fußballgeschichte einfach nicht vollständig wäre.
Niklas Baumgart
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage März 2024Umschlaggestaltung: zero-media.net, München.Titelabbildung: © imago imagesGrafiken im Innenteil: kickerAutorenfoto: © Janek BrunnerE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN: 978-3-8437-3126-3
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Das Buch
Titelseite
Impressum
PROLOG
1 WIE DAS WUNDER NACH BERN KAM
2 DAS JAHRHUNDERTSPIEL
3 FUSSBALL 2000
4 GÖTTERDÄMMERUNG AUF DEM TEUFELSBERG
5 DEUTSCHLAND GEGEN DEUTSCHLAND
6 DIE UNBELIEBTESTE MANNSCHAFT DER WELT
7 KLEINER MANN GANZ GROSS
8 DIE MACHT DES DREHBUCHS
9 WIE EL CLASICO
10 DER NABEL DER FUSSBALLWELT
11 SIEBEN ZU EINS
DANKSAGUNG
QUELLENVERZEICHNIS
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
PROLOG
Bei der EM 1984 in Frankreich hat Preben Elkjaer Larsen, damals Dänemarks großer Stürmer, in der Erinnerung meines Vaters ein unglaubliches Tor geschossen. Sprint über den halben Platz, den brutalen Grätschen sämtlicher Verteidiger enteilt, im Fallen sogar noch den Torwart überwunden. Mit einem Heber. Das ganze Paket.
Als wir beide vor ein paar Jahren auf der Suche nach diesem Treffer in den großen Weiten des Internets schließlich fündig wurden, musste mein Vater feststellen, dass dieses Tor – in der Gruppenphase gegen Belgien – gar nicht so unglaublich gewesen war. Mit seinen Erzählungen konnte es jedenfalls nicht mithalten. Ein bisschen Sprint war schon dabei, okay, ein bisschen attackiert worden war Elkjaer Larsen auch. Aber vor allem war das Ganze viel verstaubte Verklärung.
Damit ist mein Vater nicht allein. Mal ehrlich, wer von uns hat es noch nicht erlebt, dass bestimmte Szenen eines Spiels im Rückblick überhöht werden? Dass etwa nur ein genialer Moment eines Stürmerstars für unsere Wahrnehmung einer Partie steht, obwohl eine unscheinbare, aber viel wichtigere Aktion eines Verteidigers ihn erst möglich gemacht hat? Oder gar ein Schachzug des Trainers?
Die emotionale Kraft des Fußballs macht es uns leicht, dass wir uns an gewisse Dinge verzerrt erinnern. Die Erfindung der sozialen Medien verstärkt dies noch, wo neunzig Minuten in der Regel auf wenige Sekunden komprimiert werden. Weil die vollständige Aufbereitung eines Spiels eben nicht so gut geklickt wird wie der Kurzclip eines Dribblings von Lionel Messi.
Aber schon 1984 sind es mehrere Momente und Szenen gewesen, die die Geschichte eines Spiels erst richtig erzählen. Das habe ich in der Entstehung dieses Buches am eigenen Leib erfahren. Solche Eingeständnisse machen dann zwar keinen Spaß, sind aber nötig: weil alles andere dem Weitergeben der großen Geschichte des Fußballs weder zuträglich ist noch gerecht wird.
Ich habe mir also die Frage gestellt, was die Geschichten hinter den sogenannten Highlights sind. Was beim Erzählen oftmals vergessen wird, aber dennoch wichtig war. Um Antworten darauf zu finden, habe ich mir viele Spiele noch einmal vollständig angehört und angeschaut. Ich habe Berichte gelesen und mit zahlreichen Beteiligten gesprochen. Und anschließend habe ich dieses Buch geschrieben, das die elf größten Spiele des deutschen Fußballs im Kontext ihrer Zeit weder belächeln noch beschönigen soll. Obwohl das Cover vom EM-Viertelfinale 1972 nicht das spektakuläre Hinspiel, sondern das langweilige Rückspiel zeigt. Die erste und letzte Ausnahme, versprochen!
Rahn aus dem Hintergrund, klar, das weiß fast jeder noch. Was aber passierte eigentlich in den anderen 89 Minuten im WM-Finale 1954, beim »Wunder von Bern«? Und war es überhaupt ein Wunder? Wie kam es vor Frank Rijkaards Spuckattacke gegen Rudi Völler im Achtelfinale 1990 zu dieser großen Rivalität mit den Niederlanden? Wie war das eigentlich, als Deutschland 1974 gegen Deutschland spielte? Welche Taktik ließ Günter Netzer und Co. 1972 in England zur vermeintlich besten aller deutschen Nationalmannschaften werden – und wie sensationell gut war 2013 das bisher einzige Champions-League-Finale, in dem sich zwei Teams aus der Bundesliga gegenüberstanden?
Hinter meist nackten Zahlen und den zwei, drei Szenen, an die wir uns aus diesen Spielen irgendwie alle erinnern, gibt es von vorher, währenddessen und danach immer noch so viele Dinge mehr zu erzählen. An die sich teilweise falsch und noch viel öfter gar nicht mehr erinnert wird. Oder hattet ihr auf dem Schirm, dass die unbesiegbaren Ungarn nach Rahns 3:2 aus dem Hintergrund noch ein vermutlich regelgerechtes 3:3 geschossen haben?
Letztendlich ist auch die Auswahl dieser elf Spiele subjektiv. Sie sind die elf größten Spiele des deutschen Fußballs – für mich. Damit ihr euch für eure Wahrnehmung zumindest nicht an einzelnen Szenen entlanghangeln müsst, habe ich versucht, möglichst alles über diese elf Spiele aufzuschreiben. Gemeinsam mit denen, die damals dabei waren.
Deutschland gegen Ungarn, WM-Finale 1954
Seinen ersten WM-Titel gewann Deutschland 1954 überraschend – gegen eine Mannschaft, die vier Jahre lang nicht mehr verloren hatte. Aber war das »Wunder von Bern« wirklich eines?
4. Juli 1954 im Wankdorf-Stadion, Bern; Tore: 0:1 Puskás (6.), 0:2 Czibor (9.), 1:2 Morlock (10.), 2:2 Rahn (18.), 3:2 Rahn (85.)
Wie es 1954, nur neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in den meisten deutschen Köpfen ausgesehen haben muss, können wohl nur die authentisch beantworten, die das miterlebt haben. Oder die, die es weitertragen. Wolfgang Overath, großer deutscher Mittelfeldspieler der 1960er und 1970er Jahre, war im WM-Sommer damals zehn und ergötzte sich in erster Linie an den Freuden des Fußballs. Große gesellschaftliche Auswüchse vermochte der Junge laut eigener Aussage noch kaum zu verstehen.
An den Menschen um sich herum habe er allerdings gemerkt, meint Overath im Gespräch, wie sich Außenwahrnehmung und Selbstwertgefühl einer ganzen Nation, die mindestens moralisch noch am Boden lag, an einem unerwarteten Erfolg der Fußball-Nationalmannschaft hatten aufrichten können. Voller Erleichterung. Dieses floskelhafte »Wir sind wieder wer« – aus tiefster Dankbarkeit und Überzeugung sei es in der Erinnerung des jungen Overath immer wieder ausgesprochen worden.
»Der erste WM-Titel war der wichtigste«, erklärt er, der für Deutschland später den zweiten erspielen sollte. »Weil wir dadurch irgendwo wieder in den Kreis der Europäer aufgenommen wurden.« Indem Deutschland etwas geleistet hatte, »worauf man endlich wieder stolz sein konnte«, wie Horst Eckel, der jüngste der mittlerweile allesamt verstorbenen 54er-Weltmeister, seiner Tochter Dagmar weitererzählte. So erzählt es nun auch sie. Denn großen Stolz hatte es in Deutschland vorher nicht mehr gegeben, nachdem von deutschem Boden nur ein paar Jahre zuvor noch so viel Leid und Tod ausgegangen war.
Im Zweiten Weltkrieg, den Deutschland unter der Diktatur des Nationalsozialisten Adolf Hitler begonnen hatte, waren auch einige Nationalspieler gefallen. Andere hatten das Glück, dass sich Bundestrainer Josef »Sepp« Herberger intensiv dafür einsetzte, seine Schützlinge durch manche Ausrede oder Notlüge in Einheiten zu versetzen, die nicht an der Front gebraucht wurden – oder sie im Lazarett zu verstecken. »Operation Soldatenklau« ging vielfach auf, lange Zeit auch bei Deutschlands bestem Fußballspieler. Fritz Walter, genialer Gestalter des 1. FC Kaiserslautern, überlebte den Krieg – auch dank einer schicksalhaften Fügung.
Wenige Wochen nach Kriegsende war der damals 24-Jährige in Rumänien eigentlich schon auf dem Weg, in ein sowjetisches Arbeitslager abtransportiert zu werden, als slowakische Aufseher einen Ball auf die Erde warfen und ein Fußballspiel begannen. Obwohl er durch den Krieg ausgezehrt war und auf geeignetes Schuhwerk verzichten musste, begeisterte Walter die Slowaken durch seine Fähigkeiten so sehr, dass sie ihn darauf ansprachen – und er sich als deutscher Nationalspieler outen konnte. Das rettete ihn schließlich vor der ungewissen Reise nach Sibirien. Im Oktober 1945 durfte Walter nach Deutschland zurückkehren.
Um den sensiblen, hochintelligenten Spielmacher baut Herberger behutsam eine Mannschaft auf, die zur WM 1950, der ersten in der Nachkriegszeit, noch nicht eingeladen wird. Auch in den Folgejahren, in denen der Bundestrainer vor allem darauf bedacht ist, dass sich seine Elf findet und einspielt – für die WM 1954 wird er keinen Spieler des aktuellen Meisters Hannover 96 berufen –, treten fast nur die Nationalmannschaften ehemaliger Kriegsverbündeter oder neutraler Staaten gegen die DFB-Auswahl an.
Bei der WM 1954 in der Schweiz, die im November 1950 Deutschlands erster Länderspielgegner der Nachkriegszeit geworden war, sollte sich der WM-Dritte von 1934 dann wieder mit der Fußballwelt messen dürfen. In der Heimat schürte das Hoffnung und Angst.
Der Pessimismus überwiegt. Viele befürchten, dass sich die deutschen Fußballer blamieren werden, dass man sich durch eine sportliche Schmach dann noch mieser fühlen müsste als sowieso schon. Teile dieser Schwarzmalerei liegen in der deutschen WM-Qualifikation begründet, in der es die Herberger-Elf mit dem damals noch separaten und vom späteren DFB-Trainer Helmut Schön betreuten Saarland zu tun bekommt. Und sich gegen den kleinen Gegner außerordentlich schwertut.
»Nur durch Sololeistungen kamen wir zu unseren Torerfolgen, nicht durch Mannschaftsarbeit«, mahnt etwa der kicker, obwohl sich Herbergers Auswahl schließlich durchsetzen kann – auch gegen den anderen Quali-Gegner Norwegen. »Die jüngsten Ergebnisse«, so wird allerdings geschrieben, »geben ein falsches Bild unserer Spielstärke ab.«
Das war 1954 Ende März. Doch während die restliche deutsche Fußball-Öffentlichkeit größtenteils in derlei Klagelieder einstimmt, ändert sich beim kicker in den wenigen Monaten bis zur WM der Ton. Vor allem durch einen 5:3-Sieg gegen die Schweiz Ende April. Nur Deutschland könne Weltmeister werden, tönt das Fachmagazin – vor allem bezogen auf die famos aufspielende Sturmreihe um Fritz Walter – plötzlich in einem Ansturm von Optimismus. Die »in der Heimat so beschimpfte« deutsche Nationalmannschaft würde vom Ausland ohnehin viel höher eingeschätzt werden als von »der Mehrzahl der deutschen Zeitungen«.
Doch auch wenn der kicker da etwas Großem auf der Spur zu sein schien, hatte die deutsche Mannschaft – und nicht nur sie – vor der WM 1954 ein gewaltiges Problem: Ungarn.
Man konnte statt von der ungarischen Nationalmannschaft auch von der »goldenen Elf« oder von den »magischen Magyaren« sprechen, in jedem Fall war beim Turnier in der Schweiz scheinbar höchstens noch der zweite Platz zu vergeben. Denn mehr als vier Jahre lang hatte dieses geniale Team, das zum Großteil beim Armeeklub Honved Budapest auch im Verein zusammen trainierte und -spielte, kein Länderspiel mehr verloren. Keines.
Die Engländer, also jene stolze Mannschaft aus dem vor allem selbst zitierten »Mutterland des Fußballs«, hatten den Olympiasieger von 1952 im November 1953 extra ins Wembley-Stadion nach London eingeladen, wo sie bis dato noch von keiner Mannschaft vom europäischen Festland hatten geschlagen werden können. Um die Ungarn mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Doch diese beendeten durch einen vom Ergebnis her sogar noch schmeichelhaften 6:3-Sieg nicht nur in großem Stil Englands Serie. Sie führten die in ihren veralteten Strukturen gefangenen »Three Lions« durch fortschrittliche taktische Konzepte nach Strich und Faden vor.
Diese Konzepte hatte in den 1910er Jahren Jimmy Hogan installiert, der als Vertreter der schottischen Schule, die für technisch feines Flachpassspiel stand, in Budapest nachhaltig wirkte. Mit herausragender Technik, eingespielten Positionsrochaden und Nandor Hidegkuti, einem der ersten prominenten Vertreter in der Rolle einer sogenannten falschen Neun, pflügten die Ungarn um Ausnahmekönner Ferenc Puskás auch durch das WM-Turnier. Fußballzwerg Südkorea wurde in der Gruppenphase mit 9:0 abgefiedelt, anschließend kassierte eine deutsche 1b-Auswahl – dazu später mehr – eine schallende 8:3-Abreibung.
Die magischen Magyaren konnten sogar den Ausfall von Puskás kompensieren, der beim Aufeinandertreffen mit Deutschland seinen Gegenspieler Werner Liebrich provoziert hatte und von diesem anschließend am Knöchel verletzt worden war. Epische Fußballschlachten im Viertelfinale gegen Brasilien und im Halbfinale gegen Titelverteidiger Uruguay gewann Ungarn ohne Puskás jeweils mit 4:2. Wohl der Mannschaft, die solch einen Verlust wegstecken konnte.
Ungarn, das waren nicht einfach nur große Namen. Das war ein unwiderstehliches Kollektiv. Es überraschte keinen, dass die unbesiegbare Übermacht am 4. Juli 1954 im Finale stand.
Für Deutschland war der Weg dorthin weit. Ihr Auftaktspiel hatten Herbergers Mannen trotz eines frühen Gegentreffers gegen die Türkei zwar noch mit 4:1 gewonnen. Doch dann betraf auch sie der ziemlich seltsame Modus der WM 1954 – weshalb sich der Bundestrainer etwas einfallen ließ.
Die Vierergruppen bestanden in der Schweiz aus zwei gesetzten und zwei ungesetzten Mannschaften, die jeweils nur gegen die beiden Nationen aus der anderen Kategorie antraten. Für die Setzliste hatte die FIFA gesorgt, wobei die Türkei lediglich Nachrücker für das gesetzte Spanien war, das sich gar nicht qualifizieren konnte. Wild. Durch diesen Modus bekam es Deutschland beispielsweise nicht mit Südkorea zu tun, und Ungarn nicht mit den Türken. Von dieser skurrilen Idee erhoffte sich die FIFA, einem frühen Favoritensterben vorzubeugen. Wäre nämlich schlecht fürs Geschäft gewesen.
Nun Herbergers Kniff: Weil er ahnte, dass die Türken Südkorea schlagen, während Deutschland gegen Ungarn wohl verlieren würde, stellte der Bundestrainer gegen die Übermannschaft lediglich eine 1b-Elf auf. Gar nicht mal um sich für ein potenzielles Wiedersehen mit den Ungarn nicht zu tief in die Karten schauen zu lassen. Sondern vielmehr aus Fitnessgründen, um einige wichtige Spieler für das drohende Wiederholungsspiel gegen die Türkei zu schonen, das es bei Punktgleichheit geben würde. Dafür zahlte er einen Preis.
Auf die 3:8-Klatsche folgten aus der Heimat Häme und regelrechter Hass, der sich in erster Linie gegen Herberger richtete. Manche der Verleumdungen, die ihn per Post erreichten, würde der Bundestrainer seinen Spielern sogar vorlesen, um den großen Zusammenhalt im Team weiter zu stärken. Und Herberger behielt recht: Platz zwei und damit ein Platz im Viertelfinale wurde in besagtem Wiederholungsspiel entschieden, das das DFB-Team gegen die Türkei deutlich mit 7:2 gewann. Viertelfinale erreicht. Das war das ausgegebene Ziel gewesen. Aber warum nicht noch mehr?
»Wir sind nicht zur WM gefahren und haben gedacht, wir fahren gleich wieder zurück«, zitiert Dagmar Eckel ihren Vater, wie er über die Ambitionen der Mannschaft vor dem Turnier sprach. Sie, die quasi das sportliche Erbe ihres Vaters verwaltet, besteht darauf, dass sich unter Herbergers Spielern keiner als Underdog fühlte. Der tolle Sturm, all die geschossenen Tore, das konnte schon Mut machen. Auch die Vielseitigkeit des deutschen Spiels. Im Viertelfinale gegen Jugoslawien, als Herberger auf der Rechtsaußenposition den spielintelligenteren Schalker Bernhard Klodt aus der Mannschaft nahm und erstmals den heißblütigen Essener Helmut Rahn einsetzte, war Deutschland fast ausschließlich zum Verteidigen gezwungen. Und anschließend zum Kontern. Beides klappte, Rahn traf, die Deutschen siegten 2:0.
Aber diese Mannschaft konnte auch aktiv glänzen, was das Halbfinale gegen Österreich bewies. Auch weil die Österreicher die »Hitzeschlacht von Lausanne« in den Knochen hatten – das 7:5 gegen die Schweiz ist bis heute das torreichste Spiel der WM-Geschichte –, spielten Fritz Walter und seine Mitstreiter groß auf, gewannen in der Vorschlussrunde sage und schreibe mit 6:1. Ein überragender Auftritt. Eine Ansage.
»Deutschland lebt von der Kunst des Fritz Walter und der idealen Mischung aus verblüffender Kombinationssicherheit und dem erwachten Kampfgeist«, analysierte der kicker beide Facetten des Herberger-Fußballs. Radio-Reporter Herbert Zimmermann unterschied einen »großartigen Kampf gegen Jugoslawien« und »ein wundervolles Spiel gegen Österreich«, als er die deutsche Mannschaft tatsächlich in das große Finale gegen die noch größeren Ungarn begleitete.
Der Pessimismus in der Heimat hatte inzwischen einer regelrechten WM-Euphorie weichen müssen. Während und nach dem Turnier stieg die Verkaufsrate von TV-Geräten um rund 80 Prozent an, vor allem der kicker schmückte sich selbstredend mit seiner gewagten Titel-Prognose, die plötzlich greifbar erschien.
Zwar fordert er vor dem Finale, dass Herberger rechts vorne wieder auf den solideren Klodt setzt, was der Bundestrainer in weiser Vorsicht zurückweist: »Klodt ist der raffiniertere Fußballer, aber für ein Endspiel brauchen wir einen Spieler, der auf eigene Faust ein Finale entscheiden kann.« An Rahns Durchschlagskraft reicht Klodt nicht heran. Aber der kicker weiß, dass es beim großen Showdown gegen Ungarn kein neuerliches 3:8 geben würde. Das weiß er von Herberger höchstselbst.
Der Bundestrainer war bei Ungarns Gala in Wembley im Herbst 1953 im Stadion gewesen, hatte dort die richtigen Schlüsse gezogen und sicherte sich zwei Monate vor der WM ab. Am 11. April 1954, Ungarn schlug Österreich durch ein Eigentor von Ernst Happel mit 1:0, verriet er ein paar ausgewählten Zeitungen seine Erkenntnisse und seinen damit einhergehenden Plan. Laut kicker, der zu diesen Medien gehörte, wurde nach diesem Spiel die Taktik für ein mögliches Aufeinandertreffen mit Ungarn bei der WM entworfen, die mehrerlei beinhaltete.
Vor allem ging es darum, »nicht die Fehler der Engländer zu machen«, die sich durch Ungarns Tausch der Rollen permanent hatten von ihren Positionen locken lassen. Herbergers Plan war, mit Eckel einen Läufer gegen den tiefen Mittelstürmer Hidegkuti zu stellen, keinen Verteidiger. Und mit einem Verteidiger gegen den in die Spitze stoßenden Halbstürmer Puskás zu spielen, nicht mit einem Läufer. Und einen »Überfall« vorzunehmen, gleich in den Anfangsminuten.
Anders als die Engländer, deren Verantwortliche sich für taktische Entwicklungen auf dem Festland nicht interessiert hatten, wussten die Deutschen zumindest, was diesbezüglich auf sie zukam. Das half, auch wenn sie nicht alles verhindern konnten. »Dank Herberger wusste er alles über ihn«, bestätigt Dagmar Eckel mit diebischer Freude den Sonderauftrag ihres Vaters gegen Schlüsselspieler Hidegkuti. Die eigene Einstellung half auch. »Sie haben sich nicht als Außenseiter gesehen«, gibt Tochter Eckel einmal mehr von Vater Eckel weiter. Klar, vor dem Finale brauchte man damit jetzt auch nicht mehr anfangen.
Außenseiter war die deutsche Mannschaft ohnehin nicht in dem Maße, wie seither vielerorts zu lesen ist oder erzählt wird. Dafür war Deutschlands eingespielte 1a-Elf, die es immerhin bis ins WM-Finale geschafft hatte, von Herberger viel zu gut vorbereitet worden. Mit Erfolg. Schon sein geplanter Überfall geht erst einmal auf – begünstigt von dem Umstand, dass vor dem Mannschaftshotel der Ungarn, wie Verteidiger Jeno Buzanszky in der ZDF-Doku »Das Wunder von Bern – die wahre Geschichte« berichtete, in der Nacht vor dem Finale bis 4 Uhr morgens ein Volksfest getobt hatte. Viel Schlaf hatten die magischen Magyaren nicht gefunden.
Entsprechend wacher startet Deutschland in dieses Endspiel an einem Sonntag, das laut Reporter Zimmermann »mit sieben Minuten Frühzündung« beginnt. Also um 16.53 Uhr, bei strömendem Regen. In den ersten Minuten stürmt überfallartig der Außenseiter, der sich ähnlich flexibel präsentiert wie die Ungarn: Kaiserslauterns Mittelstürmer Ottmar Walter weicht häufig auf die Flügel aus, um dort für Überzahl zu sorgen, während Halbstürmer Max Morlock vom 1. FC Nürnberg aus der zweiten Reihe in die Spitze stößt.
Es ist vor allem das direkte Spiel über außen, durch das die Deutschen ihren favorisierten Gegner früh unter Druck setzen. Dort erzeugen sie Tempo, dort sind Linksaußen Hans Schäfer vom 1. FC Köln und Rechtsaußen Rahn von Rot-Weiss Essen schussgewaltige Eins-gegen-eins-Spieler, von hier aus entsteht Gefahr.
Die Fäden im deutschen Angriffsspiel laufen bei Fritz Walter zusammen, der links wie rechts in den Halbräumen auftaucht und von dort aus – von links – in der 3. Minute in die Mitte flankt. Zwischen zwei Verteidigern kommt Morlock frei zum Kopfball, den er hoch auf das ungarische Tor befördert – Schlussmann Gyula Grosics lenkt den Ball über die Querlatte. Ansonsten hätte der wahrscheinlich gepasst. Der englische Schiedsrichter William Ling – er hatte schon das 3:8 in der Gruppenphase geleitet, bekam als letztes großes Spiel seiner Karriere aber auch das Finale »geschenkt« –, übersieht Grosics’ Fingerspitzen. Abstoß.
Zimmermann übersieht derweil beim Vorlesen der Aufstellungen, dass beide Mannschaften nicht mehr in einer 2-3-5-Grundordnung antreten, sondern im sogenannten WM-System, einem 3-2-5. Der Mittelläufer war mittlerweile zurückgezogen worden und nun zentraler Abwehrchef. Hüben wie drüben deuten Werner Liebrich und Gyula Lorant schon früh an, dass sie ihre Defensiven in dieser Rolle zusammenhalten werden. Der ungarische Radio-Kommentator György Szepesi trägt die Formationen übrigens richtig vor.
Szepesi entgeht dabei nicht, dass seine Landsleute weiterhin kaum einen Fuß auf den nassen und tiefen Rasen im Wankdorf-Stadion bekommen, auf dem Deutschland nicht nur einen Vorteil hat, weil der »riesige Regen« (Zimmermann) dem Techniker Fritz Walter und seinem Spiel so entgegenkommt. Denn einige Ungarn waren der deutschen Nummer 16 in diesem Punkt sicherlich ebenbürtig. Allerdings verfügen sie nicht über die wetterfesten Adidas-Schuhe mit den in der Länge austauschbaren Schraubstollen, sodass sie in ihren relativ einfachen Halbschuhen, die ihnen ihr Spiel sonst erleichterten, im wahrsten Sinne des Wortes einen schweren Stand haben.
Mit ihrem Kurzpassfußball, der normalerweise nur wenige Kontakte benötigt, kommen sie auf diesem Untergrund auch nicht weit: Bereits in der Anfangsphase spielen Aufbauspieler József Bozsik und seine Teamkollegen ungewöhnlich viele lange und hohe Bälle. Not macht erfinderisch.
Doch zunächst ist für den großen Favoriten Verteidigungsarbeit angesagt. Die Deutschen kommen richtig ins Rollen, sind von der ersten Minute an komplett in diesem Endspiel angekommen. »Die ersten drei Spielminuten gehören dem Außenseiter«, stellt Zimmermann fest, während sich die später einmal bis zu 67 000 Zuschauer erst nach und nach im Wankdorf-Stadion einfinden. Noch ist es nicht voll. Und noch haben die Ungarn die deutsche Anfangsoffensive nicht überstanden.
Hinten wirken sie mit ihrer Raumdeckung einmal mehr nicht hundertprozentig sattelfest, Schäfer bekommen sie links am Strafraum überhaupt nicht zu greifen. Ein scharfer Schrägschuss des Kölners rauscht in der 5. Minute nur Zentimeter am langen Eck vorbei – da wäre Grosics wohl vergeblich geflogen. Ein Traumstart der Herberger-Elf liegt in der Luft. Mit ein wenig mehr Glück bei ihren beiden Großchancen hätte sie sogar schon führen können. Deutschland überrascht.
Ungarn, mit dem von Eckel gut bewachten Hidegkuti, ist im Angriffsdrittel noch gar nicht wirklich vorstellig geworden, als die sechste Spielminute beginnt. Bozsik bekommt im Mittelkreis wenig Druck, spielt aber trotzdem gleich mit dem ersten Kontakt einen scharfen Steilpass in die Spitze, wo Hidegkuti diesmal so positioniert ist, wie man das von einem Mittelstürmer eigentlich erwarten würde. Bozsiks Zuspiel kommt so geschickt, dass sein Mitspieler sich vom eigentlich schnelleren Eckel lösen kann und im Begriff ist, das Laufduell für sich zu entscheiden – doch Turek hat aufgepasst, einen kurzen Spurt aus seinem Kasten gemacht und den Ball vor Hidegkuti weggeschossen. Aber die Szene ist noch nicht vorbei.
Der Ball landet ein wenig glücklich bei Liebrich, der sich noch in der eigenen Hälfte einen unkonzentrierten Abspielfehler leistet und das Leder ausgerechnet Bozsik in die Füße spielt, der sofort wieder den Blick nach vorne hat. Und in Liebrichs Rücken Kocsis bedient, den mit elf Toren aus vier Einsätzen Führenden der WM-Torschützenliste. Ein brandgefährlicher Mann. Kocsis hält sich geschickt Liebrich vom Leib, dringt rechts in den Strafraum ein und zieht sofort ab. Ein bisschen überhastet.
Sein Abschluss wäre wohl am langen Eck vorbeigegangen, doch Eckel wirft sich in die Schussbahn und lenkt den Ball dadurch unglücklich vor die Füße von Puskás ab, der mit sieben Metern Torentfernung frei vor Turek steht und diesen mit einem scharfen Flachschuss überwindet. Ein Schuss, ein Tor – 1:0 für Ungarn.
»Schlechtes Abspiel von Liebrich«, bemängelt Zimmermann, der damit den Knackpunkt dieses frühen Gegentores erkannt hatte und direkt etwas Zuversicht einbüßt: »Was wir befürchtet haben, ist eingetreten.« Geht das jetzt so wie im Gruppenspiel? Dabei ist der Führungstreffer eigentlich vollkommen gegen den Spielverlauf gefallen.
Der Reporter scheint sich trotzdem an das 3:8 zu erinnern und beschwichtigt sein Publikum angesichts einer drohenden weiteren Schmach: »Vergessen wir nicht«, bittet Zimmermann, »Deutschland hat noch nie einen ähnlichen Erfolg errungen. Es ist ein großer Tag, es ist ein stolzer Tag. Seien wir nicht so vermessen, dass wir glauben, er müsste erfolgreich ausgehen.«
Ein deutscher Erfolg deutet sich infolge des ersten Tores ohnehin deutlich weniger an, weil nun auch Ungarn im Finale angekommen ist und damit beginnt, sein gefürchtetes Spiel aufzuziehen. Puskás, der links verbindet, kurbelt die Kombinationen mit kurzen Ablagen per Hacke an oder startet Tiefenläufe, von denen sein Kindheitsfreund Bozsik Gebrauch machen soll.
Bozsik, der im 3-2-5 als offensiverer Part einer Art Doppel-Sechs agiert, hat im Rücken der streng bewachten Hidegkuti und Puskás viele Freiheiten, darf größtenteils relativ ungestört schalten und walten. Eine anhaltende Nachlässigkeit der deutschen Mannschaft.
Der Außenseiter gefällt sich aber auch in lauernder Rolle, wirft nach Ballgewinnen blitzschnell seinen Konterapparat an. Dann fällt immer wieder der Name Fritz Walter, weil der im deutschen Vortrag eigentlich immer seine Füße im Spiel hat und dort auftaucht, wo gerade der Ball ist. Auch er beherrscht das Hackenspiel bei hohem Tempo, sogar hinter dem Standbein. Und nicht nur für die Galerie: Seine Pässe kommen an.
Endstation ist für die DFB-Elf oft beim baumlangen Innenverteidiger Lorant, der hohe Bälle souverän wegköpft und als harter, aber fairer Zweikämpfer keine Kompromisse macht. Sein Gegenpart Liebrich läuft ähnlich heiß, befördert eine Flanke von Hidegkuti eindrucksvoll in der Luft stehend weit aus der Gefahrenzone.
Doch die Ungarn spielen jetzt deutlich dynamischer, von ganz hinten bis ganz vorne, wo Kocsis den im Vergleich zu Nebenmann Jupp Posipal weniger ballfertigen Werner Kohlmeyer unter Druck setzt. Hektisch gibt der Verteidiger zu Schlussmann Turek zurück, der den Ball beim Zu-Boden-Sinken in einer Drehbewegung auf ganz seltsame Weise aus den Händen gleiten lässt. Ein Geschenk für den mitgelaufenen Zoltán Czibor, der erst Turek und dann Kohlmeyer gemütlich umkurvt, ehe er schon in der 9. Minute zum 2:0 einschiebt und jubelnd abdreht. Womöglich wähnt er sich in diesem Moment schon mit einer Hand an der Jules-Rimet-Trophäe – und wer könnte es ihm verdenken?
»Unsere Hintermannschaft ist nervös, sie macht sich gegenseitig Vorwürfe«, hadert Zimmermann, während Fritz Walter nicht laute, aber ein paar bestimmte Worte an ein paar seiner Mitspieler richtet. In diesen Minuten würde sich aller Voraussicht nach entscheiden, ob Deutschland im WM-Finale gänzlich vorgeführt wird oder sich doch noch irgendwie im Spiel hält. Das Selbstvertrauen der Deutschen besteht diese Probe.
Ungarischer Einbahnstraßenfußball ist auch jetzt nicht zu bestaunen. Beiden Mannschaften gelingt es, mehr und mehr ihr Spiel zu etablieren. Auf der einen Seite schlägt Bozsik Steilpass um Steilpass, während auf der anderen Seite die überladenden Walter-Brüder Deutschlands Flügelspiel befeuern.
Dabei ziehen auch die Außenstürmer mal mit auf den anderen Flügel. So taucht etwa eineinhalb Minuten nach dem 0:2 Rechtsaußen Rahn am linken Strafraumeck auf und jagt eine scharfe Schussflanke durch den sogenannten Korridor der Ungewissheit. Der so heißt, weil sich der Ball dann mittig durch den Raum zwischen Verteidigern und Torhüter bewegt, sodass keiner richtig weiß, wer gerade eigentlich zuständig ist.
Das Leder rauscht an mehreren Verteidigerbeinen vorbei, bis schließlich Zakarias in die Schussbahn grätscht und den Ball dadurch zu Rückhalt Grosics lenkt. Doch er trifft den Ball nur leicht, was dem antizipierenden Morlock die Chance gibt, sich mit letzter Kraft noch zwischen Zakarias und Grosics zu werfen und der Kugel den entscheidenden Kontakt mitzugeben, der sie am herauseilenden Schlussmann vorbei in die Maschen kullern lässt. Wie in Zeitlupe. Aber unhaltbar.
In der 10. Minute steht es nur noch 1:2 – dank eines Mannes, der für Anfang Juli eigentlich schon Urlaub gebucht hatte. Weil es Morlock zu unrealistisch erschienen war, das WM-Finale zu erreichen. Deutschland hält Anschluss.
Verglichen mit dem deutschen läuft das ungarische Flügelspiel noch alles andere als rund, ein wenig notgedrungen spielen die Magyaren vor allem durch die Mitte. Denn Teamchef Gusztáv Sebes hat seine Außenstürmerpositionen im Finale gleich beide neu besetzt. Ungarns Angriffsstruktur, wie bei der Gala in Wembley prächtig vorgeführt, lief mit dem eingespielten Duo Kocsis und Rechtsaußen Laszlo Budai normalerweise hauptsächlich über den rechten Flügel ab. Von links, meist ballfern, zog mit viel Tempo gerne Czibor in die Mitte – oder mit auf rechts, um alles durcheinanderzuwirbeln. Kaum zu verteidigende Abläufe.
Doch ausgerechnet im größten aller Spiele verzichtete Sebes auf Budai, der sich im grandiosen Halbfinale gegen Uruguay – inklusive Verlängerung – verausgabt hatte und nicht im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen sein soll. Doch nicht nur das. Außerdem nahm Sebes Czibor von seiner angestammten Position auf dem linken Flügel und stellte ihn rechts auf, während links überraschend Ersatzmann Mihály Tóth startete. Damit hatte der Teamchef seiner goldenen Elf keinen Gefallen getan.
Neben dem schnellen Anschlusstreffer hilft auch die Ungewissheit in den ungarischen Abläufen den Deutschen, wieder zu ihrer anfänglichen Zuversicht zurückzufinden – und Ungarn auf Augenhöhe zu begegnen. Gefährlicher wird auf einem Boden, den Zimmermann als »glatt« und »rutschig« beschreibt, zwar der Favorit, doch Liebrich verhindert einen aussichtsreichen Puskás-Schuss in der zwölften Minute bereits in der Entstehung. Er und Lorant eifern, beinahe in frühen Libero-Rollen, mit ihren gelungenen Defensivaktionen regelrecht um die Wette. Türme in der Schlacht.
Deutschland richtet sich in dieser Phase zunehmend auf Konter aus, was freiwillig mit den eigenen Trümpfen, aber auch etwas unfreiwillig mit der ungarischen Spielstärke zu tun hat. Als »verwirrendes Passspiel auf engem Raum« würdigt Zimmermann die Stafetten der Ungarn, die gleichwohl, was diesen Schlagabtausch umso interessanter macht, auch das Umschaltspiel beherrschen.
Nach 16 Minuten spielt Hidegkuti rechts im Strafraum Czibor frei, jenseits von Liebrichs Wirkungskreis. Völlig ungedeckt kommt der Rechtsfuß mit seinem Außenrist zum Abschluss – einen Meter dreht Czibor einen Ball, den er eigentlich aufs Tor bringen muss, am langen Eck vorbei. Turek wäre wohl chancenlos gewesen.
Mund abputzen, weitermachen. Das deutsche Angriffsspiel wirkt unverwüstlich, wie eine Maschine. Angetrieben wieder und wieder von Fritz Walter, der die Dynamiken einer Partie so ausgezeichnet lesen kann. Morlock dribbelt in den ungarischen Strafraum und holt eine Ecke heraus, die natürlich Chefsache ist. Fritz Walter zieht sie beinahe direkt aufs Tor, vor dem Buzanszky am ersten Pfosten klären muss, weil der Ball sonst womöglich reingegangen wäre. Auf Kosten einer weiteren Ecke.
Diesmal schlägt Fritz Walter die Kugel in Richtung zweiter Pfosten, während der zuvor noch mahnende Zimmermann die beachtliche Ausgeglichenheit dieses Endspiels hervorhebt: »Heute ist es kein 3:8, heute ist es keine B-Mannschaft, heute spielt Deutschland stärkstes Aufgebot … Tor!«
Hinten im Fünfmeterraum war Rahn eingelaufen, der den Ball kompromisslos per Dropkick in die Maschen schoss – was ihm allerdings nur möglich gewesen war, weil Schäfer weiter vorne im Fünfer in Grosics gesprungen war, dessen Versuch des Wegfaustens daraufhin misslang. Diesen Einsatz hätte man auch abpfeifen können. Vielleicht sogar müssen. Ungeschickt von Schäfer? Nein, vielmehr hatte ihm Herberger das Stören Grosics’ aufgetragen, wie der Kölner später einmal verriet. Ein Kniff im Graubereich, der aufgegangen war.
Keine zehn Minuten hatte es gedauert, bis Deutschland den frühen 0:2-Rückstand gegen die Übermannschaft des Weltfußballs ausgeglichen hatte. Im WM-Finale. Das hatte wohl keiner vorhergesehen. Schon gar nicht die Ungarn.
»Und wieder stürmt Deutschland«, schreit Zimmermann mit unverkennbarer Stimme in sein Mikrofon, weil die Entschlossenheit des Außenseiters das große Ungarn in regelmäßigen Abständen überrumpelt. Doch die Magyaren sind jetzt angestachelt. Haben endgültig begriffen, dass es kein 8:3 geben würde, dass ihnen nun das stärkste Aufgebot einer Mannschaft gegenübersteht, die ihr WM-Halbfinale mit 6:1 gewonnen hatte. Liebrich muss sich in den nächsten Puskás-Schuss werfen, während sich Kocsis und Czibor auf dem rechten Flügel allmählich einspielen. Gefährlich. Eckels Schnelligkeit ist auch an dieser Stelle ein wichtiger Faktor.
Doch wenn Eckel als Linksverteidiger auftritt, bedeutet das immer auch, dass die Ungarn ihre Gegenspieler von deren angestammten Positionen gezogen haben – was ganz besonders den Engländern zum Verhängnis geworden war. Plötzlich ist Vorsicht angesagt, Ungarn erzeugt eine erste Druckphase. Czibor will den Ball aus spitzem Winkel über Turek heben, der groß genug bleibt und sich in der 20. Minute endlich mal auszeichnen kann. »Kinder, ist das eine Aufregung«, begleitet Zimmermann die Steigerung einer Mannschaft, die jetzt auch immer wieder ihre Geheimwaffe einsetzt.
Mit »Goldköpfchen« Kocsis, der Name ist Programm, verfügt Ungarn über den wahrscheinlich gefährlichsten Kopfballspieler seiner Zeit. Diese Gefährlichkeit setzt der Rechtsfuß aber nicht nur ein, um etwa mit zwei unwiderstehlichen Kopfballtoren die Verlängerung gegen Uruguay zu entscheiden. Immer wieder lässt sich Kocsis auch etwas fallen, um hohe Zuspiele punktgenau zu seinen Sturmkollegen zu verlängern, die er auf diese Weise in glänzende Abschlusspositionen bringt. So geschehen in der 24. Minute des Endspiels, als Kocsis butterweich Hidegkuti einsetzt und dessen Bewacher Eckel damit auf dem falschen Fuß erwischt.
Viele der inzwischen vollzählig anwesenden Zuschauer hatten die stramme Direktabnahme des Mittelstürmers aus sechs Metern wahrscheinlich schon im Tor gesehen. Doch urplötzlich schnellt die linke Faust des Toni Turek zur Seite und lenkt den Ball noch über die Querlatte. Eckel und Co. nehmen die Glanztat ihres Schlussmannes übrigens einfach hin und konzentrieren sich pflichtbewusst auf den folgenden Eckball. Für den Helden dieses Moments ist nicht einmal ein Schulterklopfer drin.
Zimmermann hingegen ist völlig aus dem Häuschen. »Turek, du bist ein Teufelskerl; Turek, du bist ein Fußballgott«, proklamiert er schon nach der ersten Hälfte der ersten Hälfte und entschuldigt sich sogleich für seine Begeisterung. »Die Fußballlaien werden uns für verrückt erklären«, rügt sich der damals 36-Jährige – doch er konnte ja auch nichts dafür, dass Turek »einen sogenannten unmöglichen Ball gehalten hat«. Bei dem einen würde es nicht bleiben.
Schon nach der folgenden Ecke muss Turek gegen Hidegkutis Kopfball wieder zupacken, wenig später befördert Kocsis einen Rückzieher, den der kicker als »Gala-Einlage« adeln würde, nur einen Meter über den Querbalken. »Schon wieder sind die Ungarn an der Reihe«, informiert Zimmermann sein Publikum. Das würde es jetzt öfter zu hören kriegen.
Entlastung ist in dieser Phase ein seltenes Gut für die deutsche Mannschaft, die keinen echten Mittelstürmer auf dem Platz hat. Ottmar Walter ist zwar eigentlich einer und seine Torquote stets beachtlich, doch unter Herberger agiert er selten so. Vielmehr ist er Verstärkung, Raumaufreißer, Zuspieler – und bringt Zimmermann damit schier zur Verzweiflung: »Ottmar, schieß, schieß doch bitte – nein, er spielt ab«, grummelt Deutschlands Stimme dieses Endspiels wohl auch deshalb, weil ein Tor für die Herberger-Elf in diesem Moment so wichtig gewesen wäre. Der Treffer liegt fast ausschließlich auf der Gegenseite in der Luft.
Aus dieser Luft nimmt sich Hidegkuti die Kugel in der 27. Minute in aller Ruhe herunter, weil er 14 Meter vor Tureks Tor reichlich Zeit und Platz dafür hat – und jagt das regengetränkte Spielgerät ansatzlos an den linken Pfosten. Zimmermann hat Schnappatmung. Nur mit viel Glück übersteht die DFB-Elf diese Minuten ohne Gegentor.
Anschließend, die eigene Ballfertigkeit erlaubt es, finden die Deutschen durch längere Ballbesitzpassagen in dieses Finale zurück. In Tempoangriffen lag ihre größte Stärke, doch ein rohes Hin und Her, das hatte sich gezeigt, würden sie wohl nicht gewinnen. Dafür kombinieren die Gegner zu schnell, zu gut, dafür haben sie zu viele Spieler des Kalibers Fritz Walter.
»Das waren Fußballgötter«, schwärmt Overath wie ein kleiner Junge von den Ungarn; »das waren ja keine Spieler wie Puskás oder so«, stuft er hingegen einige seiner deutschen Kindheitshelden ein. »Wenn diese beiden Mannschaften zehnmal aufeinandertreffen«, behauptet er überzeugt, »können wir zufrieden sein, wenn wir einmal gewinnen.« Damit ausgerechnet das Endspiel zu diesem einen Mal werden konnte, wirft Overath Begriffe wie »Teamleistung« und »Kampf« in den Raum. Daran sollte es nicht scheitern.
»Ich habe spitze Ellbogen gehabt und spitze Knie«, erklärte Horst Eckel einst mit Augenzwinkern seiner Tochter Dagmar, wie er zur Not auch spielen konnte – was gegen die Ungarn hier und da nötig ist. Speziell Puskás lässt sich entnerven – »Liebrich mit hochgezogenen Beinen« –, dem man anmerkt, dass er noch nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Seinen Namen nennt Zimmermann kaum. Fritz Walters ruft er weiterhin deutlich öfter, sogar in manch unerwartetem Kontext: »Fritz Walter, Sonderapplaus, im eigenen Strafraum als letztes Bollwerk!« Jeder für den anderen, wie es Herberger stets vorgelebt hatte. Die Ungarn sollten bloß nicht glauben, dass ihre spielerische Überlegenheit für einen Sieg schon ausreichen würde.
Doch längst hatten sich die Magyaren auch defensiv stabilisiert, hatte sich ihre teilweise entstehende Viererkette, die im Raum verteidigte, gefunden. Weil das zentrale Duo im 3-2-5, Zakarias und Bozsik, sich so unterschiedlich orientierte, formte sich durch Zakarias’ defensives Denken – zudem kam Hidegkuti gelegentlich in den Bereich von Bozsik zurück – manchmal beinahe ein 4-2-4. Das war die Formation, mit der Brasilien 1958 Weltmeister werden sollte. Ungarn ist ein einflussreicher taktischer Vorreiter.
Als trotzige Antwort auf die zunehmende Einseitigkeit gibt Schäfer mal einen Fernschuss ab, »aus 25 Metern«, ruft Zimmermann. Grosics steht gut.
Die ungarischen Angreifer erleben einen unterschiedlichen Spätnachmittag. »Puskás, Mensch, wenn ich das sehe, wenn er so loslegt, von links nach rechts hinüberwandert«, schwärmt Zimmermann. Doch zu Ende gespielt bekommt der »galoppierende Major«, so sein militärischer Grad, wenig. Hidegkuti, wohl um Eckel zu entkommen, fällt gar nicht so oft tief und besetzt regelmäßig die Mittelstürmerposition, während Kocsis hauptsächlich Verbindungs- und Passspieler ist. Vielleicht auch, weil er von Fürths Karl Mai so gut von Tureks Tor ferngehalten wird.
In der 38. Minute aber setzt sich der Torjäger mal mit einem Haken gegen seinen Schatten durch und kommt im Strafraum zu Fall – zögerlich beschwert er sich. Vergeblich. Zimmermann will gesehen haben, dass Kocsis selbst gestolpert war. Danach hatte es nicht unbedingt ausgesehen. Aber kein Elfmeter.
Sobald Deutschland mal richtig ins Kontern kommt, kombiniert die Mannschaft mit dem Bundesadler auf der Brust noch flüssiger als die Ballkünstler aus Budapest. Kurz vor der Pause berichtet Zimmermann im Umschaltspiel von einer Aktion, »die man heute wahrscheinlich nur von den Ungarn erwartet hätte«. Das Spielverständnis von Morlock und Eckel hebt er besonders hervor.
Die Kombination im deutschen Vortrag aus robuster Physis und geradlinigem Angriffsspiel lässt Herbergers Mannen selbst in Ungarns besten Phasen konkurrenzfähig bleiben. Auf diese Weise wird die ungarische Dominanz immer mal wieder unterbunden. Notwendiges Luftholen.
Im ersten Durchgang bricht die Schlussphase an. Mit einem 2:2-Halbzeitstand wäre Deutschland definitiv gut bedient, damit hatten sich allerdings nur die Ungarn bereits abgefunden. Der Underdog hingegen zieht durch und begehrt in einer Phase auf, in der sich sein Gegner gedanklich vielleicht schon in der Kabine befindet. Schäfer löst sich am linken Strafraumeck, dribbelt entschlossen in die Mitte und zwingt den auf sich gestellten Grosics zu einer Glanzparade. Dieser wehrt den Ball dabei jedoch vor die Füße von Rahn ab, der sofort abzieht und nur an Buzanszky scheitert, der für seinen geschlagenen Schlussmann auf der Linie rettet.
»Liebe Ungarn, jetzt habt ihr Glück gehabt«, merkt Zimmermann an, der nach einem fahrigen Ballverlust von Lorant in gefährlichster Zone sogar »dicke Luft im Strafraum der Ungarn« vermelden darf. Er vermeldet gegen Ende der ersten Hälfte auch, dass »das Spiel durchaus ausgeglichen« ist. Über weite Strecken der ersten 45 Minuten stimmte das. Es gab auch andere Phasen.
Bis zum Gang in die Katakomben muss Liebrich noch zweimal »mit seinem berühmten Spagatschritt« klären, Lorant »ein ungeheures Arbeitspensum« erledigen. Der etwas unglücklich agierende Kocsis köpft in der 45. Minute aus guter Position knapp vorbei. Wieder atmet Deutschland durch. Es gibt auch eine kurze Unterbrechung, weil sich Eckel gegen Lorant »eine klaffende Fleischwunde« (kicker) zuzieht. Aber Auswechslungen sind noch Zukunftsmusik. Eckel wird auf die Zähne beißen. Der Halbzeitpfiff ertönt. Was für ein Finale. Bestimmt kein 3:8.