Vor Anbruch der Morgenröte - Philipp Schönthaler - E-Book

Vor Anbruch der Morgenröte E-Book

Philipp Schönthaler

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Beschreibung

Als Joseph Paul Jernigan am 5. August 1993 hingerichtet wird – vor Sonnenaufgang, wie es das texanische Gesetz vorschreibt –, ahnt noch niemand, dass dies seine Wiedergeburt einläutet, die ewiges Leben bedeutet. Denn Jernigans Körper besitzt ideale Eigenschaften, um als erster Mensch digital rekonstruiert zu werden. Und so betritt der als Mörder Verurteilte 2002 als sein eigener Avatar den Cyberspace und wird damit zum ersten digitalen Untoten der Geschichte. Dies ist eine von sieben faszinierenden Erzählungen, in denen uns Philipp Schönthaler in eine Welt führt, die gerade im Entstehen begriffen ist. Auf seinen ersten Erzählband, der u. a. mit dem Clemens-Brentano-Preis ausgezeichnet wurde, folgt nun dieser groß angelegte Erzählzyklus, in dem er eine literarische Recherche nach den Ursprüngen unserer Gegenwart und Zukunft unternimmt. Jede der raffiniert gewebten Erzählungen ist Teil einer Archäologie des neuen Menschen, mit der Schönthaler die umwälzenden Veränderungen unserer Zeit und der ihr zugehörigen Digitalität zu verstehen versucht.

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Vor Anbruch der Morgenröte

Leben und Dienste I

Für Kati, in Erinnerung an zwei Jahre, vier Städte, sechs Wohnungen

Vor Anbruch der Morgenröte

Am Interstate 45, keine 90 Kilometer südlich von Dallas, liegt Corsicana, nach der französischen Mittelmeerinsel benannt. Auf der Karte bildet die Überlandstraße eine Falllinie ins 180 Kilometer entfernte Huntsville, von wo sie weiter nach Houston und – als folge sie tatsächlich einer Gravitationskraft – bis hinunter an den Golf von Mexico führt. Von Osten, von Athens und Longview kommend, kreuzt der Highway 31 den Interstate 45 auf Höhe Corsicanas, dem Verwaltungssitz des Navarro Countys, das Justizgebäude im verspielten Beaux-Art-Stil gehört zu den monumentalsten im Ort, gleichzeitig macht der Highway dort einen sanften Knick und fällt in südwestlicher Richtung ab. Auf dem letzten Abschnitt führt er in Höhe des Navarro Mills Lake an Dawson vorbei, kurz darauf verjüngen sich die vier Spuren auf zwei, bevor sein Westwärtsvorstoß kurz vor Waco auf Höhe von Mount Carmel mit der Einmündung auf die Route 84 endet. Mit ihren 100 000 Einwohnern gehört die Stadt am Zusammenfluss von Brazo und Bosque River bereits zum McLennon County und damit zu Zentraltexas.

Die Weitläufigkeit der Umgebung lässt sich hier, im mittleren Nordosten der texanischen Prärie, besser vom Himmel als im Blick auf die Landschaft ablesen, die von zahlreichen Bäumen durchsetzt ist, vereinzelt oder in kleinen Gruppen säumen sie das Grasland über beträchtliche Entfernungen und beschränken die Sicht aus Windschutzscheibe und Seitenfenster auf das Offene der Gegend, das den Blick von jedem erhöhten Standpunkt sofort für sich einnimmt. Die Vegetation ist mit ihren Ulmen, Eichen, Pekan-, Schwarznuss-, Zürgel- und Mesquitebäumen vielfältig, das Wasseraufkommen hoch, selbst im Mittelstreifen des Highways, eine kleine Senke zwischen den gradlinigen Asphaltbändern, kann sich der krause Graswuchs in Nestern bis in den Sommer hinein lebendig halten, wenn die Weiden ringsherum ausbleichen und sich allmählich braun und grau verfärben. Der Juli ist trocken, die Tageshöchsttemperaturen erreichen jetzt im Durchschnitt 36 Grad und werden auch im August nur noch unwesentlich übertroffen. Die längste Zeit lebte man in der Region von Baumwolle, Getreide und Rindern und nach wie vor sieht man dies der parzellierten Landschaft, von kilometerlangen Zäunen gradlinig durchschnitten, auf jedem Schritt an. Und noch immer trifft man auf Männer aus einer längst versunken geglaubten Epoche, die sich mit Einheitsgesten auskragende Strohhüte in die Stirn schieben, die Gürtel mit zinklegierten Schnallen zusammengehalten, an den Füßen ziernahtverarbeitete Rindslederstiefel, hochschaftig und mit konisch zulaufenden Spitzen, die mit ihren abgeschrägten Absätzen auf den gefliesten Korridoren der Supermärkte, in Tankstellenshops oder Spirituosenläden hart aufschlagen wie sonst nur Frauenschuhe. In den Häusern und unter den Sitzbänken in der Kabine der Pickup Trucks verstaut man Schusswaffen wie andernorts Taschenschirme. Auf dem Highway 31 sind gewöhnlich nur wenige Menschen unterwegs, die Hauptverkehrsachsen verlaufen östlich mit dem Interstate 45 und westlich mit dem Interstate 35, Letzterer führt von Oklahoma über Dallas und Austin nach San Antonio im Süden. In unregelmäßigen Abständen zweigen schlecht oder gänzlich unasphaltierte Straßen vom Highway ab, hin und wieder baufällige Fertighäuser direkt an der Straße, einige verlassen, im Vorgarten die verblichenen Stahlrohrgestelle von freistehenden Kinderschaukeln, meist liegen die Grundstücke jedoch weit zurückgesetzt und sind selbst am Tag zwischen den Gräsern und Bäumen vom Highway aus kaum zu sehen. Dann verraten allenfalls Gatter oder mit wettergebeizten Planken überwölbte Zufahrten, eine Mülltonne oder ein an einem schrägstehenden Pflock am Straßenrand montierter Briefkasten, dass dort im Grünen versteckt Menschen wohnen. Dawson, nahezu mittig am Highway 31 zwischen Corsicana und Waco gelegen, zählt keine tausend Einwohner.

Im Sommer 1981 hat Joseph Paul Jernigan bereits die meiste Zeit seines Lebens in Navarro und den angrenzenden Gemeinden verbracht, nachdem er als Junge mit seiner Mutter und deren neuem Mann, einem Truckfahrer, der mehr Zeit auf der Straße als daheim verbringt, nach Corsicana gezogen ist. Geboren wird er in Illinois, asthmakrank als letztes von sechs Kindern. Jernigan ist zwei Jahre alt, als der Vater die Familie mit der Freundin der Mutter verlässt. Die Familie zieht nach Chicago, die Mutter, den Bedürfnissen der Kinder stets drei Schritte hinterher, versucht sich in sämtlichen Rollen, Tootsie Toys-Verkäuferin, Gefängnissekretärin, Barkellnerin, Inspektorin auf einer Geflügelfarm. Zeitweise putzt Jernigan Schuhe, das erworbene Geld nimmt die Mutter an sich. Noch als Dreizehnjähriger nässt Jernigan das Bett ein, als die Mutter nach einem Schlaganfall für Monate einseitig gelähmt im Krankenhaus von Corsicana liegt. Der älteste Bruder, der sich bisher um die Familie und seinen jüngsten Bruder gekümmert hat, ist kurz zuvor der Armee beigetreten und wird fortan eigene Wege gehen. Jernigan trinkt, seit er fünfzehn ist. Dem Leben kann er seit seiner Jugend nur noch mit Drogen begegnen, kaum etwas, das er unversucht lassen wird, Gras, Morphin, Preludin, Kokain, Meskalin, LSD, Methadrin, Methamphetamine, Heroin, Leim schnüffelt er nur, wenn nichts anderes zu haben ist.

Im Juli 1971 verpflichtet sich Jernigan, dem Vorbild seines Bruders folgend, als Soldat, er ist jetzt siebzehn, einmal ist er in der Schule sitzengeblieben. Damalige Freunde beschreiben ihn als ruhig und zurückhaltend, in Gesprächskreisen steht er am Rand, schließt sich anderen an, statt selbst das Wort zu ergreifen. Früher musste ihn sein Bruder hin und wieder zurückhalten, sich von anderen keine leichtsinnigen Mutproben aufschwatzen zu lassen, die außer ihm jeder sofort ausgeschlagen hätte. Die Militärleitung sendet ihn nach Ford Sills, er wird als Automechaniker angelernt und später nach Aschaffenburg in Deutschland versetzt. Er versucht sich das Leben zu nehmen, schneidet sich die Adern an den Handgelenken auf und schluckt eine Überdosis Beruhigungstabletten, die für Pferde, nicht für Menschen gemacht sind. Mit 19 Jahren wird er vorzeitig aus der Armee entlassen, nicht unehrenhaft, in den Unterlagen steht lediglich kein Kommentar, an anderer Stelle findet sich ein Vermerk due to unfitness. Im Krankenhaus für Veteranen, in das man ihn einweist, bescheinigt der Arzt dem gerade erst Volljährigen eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung.

Jernigan kehrt nach Corsicana zurück, handwerklich ist er geschickt, aber er hat kaum Vorstellungen davon, was er mit seinem Leben anfangen soll. In seinem Auto installiert er eine Kühlbox für Eis und Bier. Das Fahrzeug ist ein mobiler Zufluchtsort, es hält ihn, selbst als es mit seinem Leben nicht vorangeht, beweglich. Jernigan ist im gesamten Navarro County unterwegs, aber er hat nur selten ein klares Ziel, oftmals könnte er ebenso gut in diese wie in die entgegengesetzte Richtung fahren. Dann sitzt er wieder zuhause, raucht und trinkt. Ein Jahr nach seiner Entlassung aus der Armee und später dem Krankenhaus wird er schließlich das erste Mal den Richtern im Bezirksgericht Corsicanas mit seinen ionischen Säulen und dem hohen Glockenturm vorgeführt. Das Gebäude befindet sich in derselben Straße, in der er damals wohnt, West Third Avenue, man muss nur eineinhalb Kilometer der Straße, die parallel zum Highway 31 verläuft, stadteinwärts folgen, wo der Bau zurückgesetzt von der Straße thront, er ist von gepflegten Rasenflächen und alten Bäumen mit weit auskragenden Kronen eingefasst, der Haupteingang von mannshohen Skulpturen flankiert. In den ersten fünf Jahren ist das 1848 gegründete Bezirksgericht in einem Holzschuppen untergebracht, in der Folgezeit wird es mehrmals neu aufgezogen, von Mal zu Mal wächst es, wird breiter und höher, seither wirkt das Staatsgebäude in der 20 000-Einwohner-Ortschaft, die ansonsten nur durch die Vielzahl ihrer Kirchen auffällt, merkwürdig überdimensioniert. In jenem August 1973 führt der Assistenzrichter die Verhandlung, Doug Hightower. Names are important in this tale – der Kommentar zu B. Travens Totenschiff trifft eigentümlicherweise auch auf Jernigans Geschichte zu.

Hightower verliest drei Anklagen wegen eines nächtlichen Einbruchs in McLellans Department Store in Corsicana, einer einstmals landesweiten Five and Dime-Ladenkette, die ihren Zenit seit der Großen Depression in den Dreißigerjahren schon lang überschritten hat, sich als örtliche Gemischtwarenhandlung mit neuem Investor aber dennoch hat halten können. In langen Regalreihen und Drahtkörben werden alle erdenklichen Dinge für den kleinen Geldbeutel feilgeboten, Hygieneartikel oder Süßigkeiten, Gartenzubehör oder Plastikspielzeug, elektronische Kleingeräte oder Dekorationsbedarf, aber auch Tiefkühlkost oder Schlüsselkettchen, an deren Ende Souvenirs und briefmarkengroße Fotos in Plastikschildchen baumeln.

Neben Jernigan stehen zwei Mitangeklagte vor Gericht, eine der beiden ist Jernigans Mitbewohnerin. Jernigan wird zu fünf Jahren verurteilt, man bringt ihn in die Eastham Unit, kurz the Ham, der Schinken, genannt. Folgt man dem Interstate 45 von Corsicana kommend nach Süden bis Huntsville, liegt das Männergefängnis auf dem letzten Drittel in der Einöde, es ist nur auf einer Dead End Road zu erreichen, einer Einbahnstraße, der Prison Road. Der nächstliegende Ort, Lovelady, mit 500 Einwohnern, ist 30 Kilometer entfernt. Vor seiner Einlieferung in Eastham stellt ein Gefängnisarzt eine Diagnose, Code 52B7, Anpassungsstörung, als Medikation verschreibt er Elavil und Mellaril.

Als er in jenem verhängnisvollen Sommer, am Freitag den 3. Juli 1981, auf dem Highway 31 unterwegs ist, nistet in Jernigan das Gefühl, mit seinen mittlerweile 27 Jahren vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben etwas verlieren zu können. Selten ist dieses Gefühl so greifbar, dass er es sich selbst oder anderen gegenüber artikulieren könnte, meist dämmert es nur dumpf unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, ein Unbehagen oder Unwohlsein, das sich plötzlich in der Gewissheit eines unausweichlichen Unheils Bahn bricht, nur die Form und der Zeitpunkt des Unglücks bleiben im Dunkeln. Als er an jenem Nachmittag Dawson ostwärts von Waco kommend passiert, fühlt er sich jedoch stark, die Sinne gedämpft, er ist die Strecke unzählige Male gefahren, kurz hinter dem Ortsausgang von Dawson teilt sich die Straße in zwei Spuren, Fahrbahn und Gegenfahrbahn, in der Mitte eine begrünte Senke, zu beiden Seiten des Highways weitläufige Farmen und Wiesen, die Anfang Juli mit jeder Woche zusehends austrocknen. Erst nach einem Kilometer rücken die Bäume wieder näher an den Highway heran, schirmen die Umgebung mit ihren tiefhängenden Ästen vor allzu neugierigen Blicken ab. Jernigan trägt einen getrimmten Schnauzbart, der in einem kurzen, spitzen Haken um beide Mundwinkel ausläuft. Das braune, glatte Haar trägt er seitengescheitelt, einseitig fällt es mittig in die Stirn, sein Gesicht ist länglich, gut aussehend, es könnte einem beliebten Sportler oder Collegedozenten gehören, mit hohen, ausgeprägten Wangenknochen, großen Ohren, die Lidspalten mit den zu den Schläfen hin gleichförmig abfallenden Oberlidern wirken wie mit einem Lineal gezogen, verleihen dem direkten Blick mit den grünen Augen einen unbeirrten Ausdruck. Neben Jernigan sitzt Roy Dean Lamb, der Siebzehnjährige wird später zu Protokoll geben, dass er Jernigan zu diesem Zeitpunkt vor ein oder zwei Wochen, genau kann er es nicht sagen, genau will es aber auch niemand wissen, in Corsicana kennengelernt habe. An jenem Freitag habe er ihm bei einem Umzug von Corsicana nach Waco geholfen. Gemeinsam haben die beiden Dosenstarkbier getrunken, Schlitz Malt Liquor, Gras geraucht, die Hälfte des 90 Kilometer langen Rückwegs nach Corsicana liegt bereits hinter ihnen.

Einen Kilometer hinter Dawson drosselt Jernigan die Geschwindigkeit, lässt den Wagen ausrollen, das Surren des Reifenprofils auf dem Spritzasphalt, er biegt in eine der Abzweigungen, aber es hätte ebenso gut eine andere sein können, die größte Hitze des Mittags ist kaum spürbar abgeklungen, in der Luft ein träges Flimmern. Über den weiteren Verlauf des Nachmittags liegen bis auf die schriftlichen Geständnisse Jernigans und Lambs keine Untersuchungsergebnisse oder Fakten vor, weder wurde der Tathergang rekonstruiert noch näher nach den Beweggründen der Täter gefragt. Ebenso bleibt die Beziehungsdynamik zwischen den beiden ungeklärt, auch wenn festzustehen scheint, dass der Ältere für den Lauf, den die Ereignisse im Folgenden nehmen, verantwortlich ist. Die Leiche des 75-jährigen Nachtwächters Edward Hale wird erst zwei Tage später abends am Sonntag den 5. Juli gefunden, als Hales Ehefrau gemeinsam mit ihrem Stiefsohn aus Hales erster Ehe von einem Wochenendausflug nach Hause zurückkehrt. Wie in seinem Leben bleibt der Rentner Hale, geboren im Winter 1905, auch nach seinem gewaltsamen Tod für die Öffentlichkeit unsichtbar, das erste Mal berichtet die Corsicana Weekly dreizehn Tage später von seiner Ermordung, am Donnerstag den 16. Juli, die Täter wurden eine Woche zuvor am 8. Juli gefasst, Lamb morgens um fünf vor drei in seiner Wohnung in Corsicana, Jernigan um fünf nach halb sieben in einem Entzugsheim in Waco, 1609 Lyle Road; die Regionalzeitung würdigt alle neun diensthabenden Polizisten, die ausrücken, um Jernigan festzunehmen, namentlich. Auf Hales Totenschein, der am 14. Juli ausgestellt wird, bleibt unverändert der 5. Juli als Todesdatum vermerkt, gleichermaßen ist der 5. in seinen Grabstein aus hellgrau gesprenkeltem Marmor gemeißelt, nicht der 3. Der Ermordete liegt neben seiner Frau aus erster Ehe. Als Sterbeort gibt der Totenschein eine Meile östliche von Dawson an, Todesursache: multiple shotgun wounds. Datum und Uhrzeit der tödlichen Verletzung: unknown.

Es ist der vierte Einbruch Jernigans allein in diesem Jahr. Am 27. Januar bricht er in ein Haus in Navarro County ein, am 7. März im von Waco nördlich um den Interstate 35 gelegenen Hill County und am 23. März in McLennan County, seit etwa einem Jahr ist er dort, in Waco, wohnhaft. Fraglos gehören Einbruch und Diebstahl zu diesem Zeitpunkt zu Jernigans Gewohnheit. Er, der wie seine Geschwister als Kind ohne Wechselhose mit nur einer Billigjeans aufgewachsen ist, lässt sich sehr wohl von Statussymbolen und Markenklamotten beeindrucken. Einer seiner letzten Wünsche wird ein Paar weißer Nikes sein. Die Bitte um 100 Dollar, mit denen er sich die Schuhe und eine Schreibmaschine kaufen will, richtet er an seinen Pflichtverteidiger. Jernigan wird die Sneaker noch bei seiner Hinrichtung in Huntsville tragen, als das todbringende Gift um kurz nach Mitternacht in seine Venen fließt. Aber die fabrikneuen Markenschuhe sind zu diesem Zeitpunkt, den Tod vor Augen, eine Extravaganz, die er sich zu Lebzeiten kaum je zugestehen kann. Die Motivation seiner Einbrüche wird dennoch niemals geklärt werden, das Gericht lässt keine Gutachten erstellen, die klären, ob es um Beschaffungskriminalität geht oder ob möglicherweise andere Beweggründe vorliegen. Nachdem Jernigan aus seiner ersten Haft in Eastham entlassen worden war, dauerte es nur einige Monate, bevor er neuerdings vor Gericht stand, wieder lautete die Anklage auf Einbruch und Diebstahl, diesmal bekam er zehn Jahre.

Im Sommer 1981 ist Jernigan nach seiner zweiten Haftstrafe auf Bewährung frei, und einmal mehr folgt sein Verhalten einem mittlerweile bekannten Muster: Alkohol, Drogen und Einbrüche. Und dennoch hat sich diesmal etwas verändert. Kurz nach seiner Entlassung hat er in Waco eine Frau kennengelernt. Die beiden haben sich verliebt und geheiratet. Jernigan ist nach Waco gezogen, möglicherweise bringt Jernigan am 3. Juli letzte Habseligkeiten von Corsicana nach Waco. Durch die Heirat von Vicky, die eine Ehe mit einem Drogenabhängigen hinter sich hat, ist er zudem Stiefvater zweier Töchter geworden; noch als Teenager wird die Ältere Jernigan als Vater bezeichnen, sie sei stets sein Liebling gewesen, er habe sich inniger als ihr leiblicher Vater um sie gekümmert. Als seine Frau fünf Monate krank liegt, über Tage ist sie kaum fähig, sich zu bewegen, schaut Jernigan nach den Töchtern und dem Haushalt. Er hält eine penible Ordnung, in der Schlafzimmerkommode ist eine Schublade für T-Shirts reserviert, eine weitere nur für Unterhemden und Socken, die T-Shirts dürfen ausschließlich auf eine bestimmte Art und Weise zusammengelegt werden, Gleiches gilt für die anderen Kleidungsstücke. Alles hat einen Platz, alles muss an seinem Platz sein. Seinen Alkohol- und Drogenkonsum reduziert Jernigan auf ein Minimum. Zudem beginnt er sonntags in die Kirche zu gehen und er meldet sich für einen Kurs an, der Selbsterkenntnis verspricht. Den Aushang sieht er zufällig in der Stadt; zweimal besucht er die Sitzung. Am Nachmittag des 3. Juli zerschneiden Jernigan und Lamb das Fliegengitter von Hales Schlafzimmerfenster und dringen von der Rückseite her in das Haus ein. Jernigan nimmt die Mikrowelle an sich, als die Einbrecher vom heimkehrenden Eigentümer überrascht werden.

Die Berichte gehen an dieser Stelle auseinander. Lamb schreibt in seinem Geständnis, dass die beiden soeben hinten aus dem Haus rennen, als sie vorne jemand zur Tür hereinkommen hören. In einigen Berichten, die mittlerweile auch im Internet zu finden sind, sitzen sie bereits bei laufendem Motor im Auto, auch Vicky erzählt diese Version des Tathergangs. Doch dann steigt Jernigan noch einmal aus. Zwar versucht Lamb Jernigan davon abzuhalten, aber dieser lässt sich nicht aufhalten, er hat Angst, dass der Eigentümer das Nummernschild seines Wagens identifiziert haben könnte. Sollte er ein drittes Mal gefasst werden, würde dies lebenslängliche Haft bedeuten; in Texas gilt das sogenannte Drei-Verstöße- Gesetz, bei der dritten Straftat wird der Angeklagte automatisch lebenslänglich weggesperrt. Jernigan überrascht den Rentner in dessen Haus und verpasst ihm einen Fausthieb ins Gesicht. Hale wehrt sich. Jernigan greift daraufhin einen Aschenbecher, den er Hale mehrmals auf den Kopf schmettert, aber der Rentner leistet noch immer Widerstand. Laut Jernigan ruft er an diesem Punkt Lamb herbei, der ihm ein Messer aus der Küche reicht. Jernigan sticht mehrmals zu, die Klinge ist stumpf und verbiegt sich, das Messer gleitet wiederholt von der Brust ab. Jernigan schaut sich jetzt nach einer anderen Waffe um, von Zweifeln, die ihn währenddessen überkommen, ist an keiner Stelle die Rede, erst im Rückblick wird er sich als unreif und äußerst starrköpfig charakterisieren und den Mord bereuen. Das Gewehr entdeckt er offenbar in diesem Moment, ein Kaliber 410, single shot, es liegt auf einem Stuhl. Insgesamt wird Jernigan Hales Gewehr zweimal laden und dreimal aus nächster Distanz abfeuern. Lamb schreibt in seinem Geständnis, dass er draußen im Auto sitzt, als er die drei Schüsse hört. Der erste Schuss geht aus zwölf Zentimeter Entfernung in die Brust, tötet Hale jedoch nicht. Jernigan lädt das Gewehr neu und schießt ein zweites Mal in die Brust, Teppich, Möbel und Kleidung, alles beginnt sich zu färben, selbst an Jernigans T-Shirt sind Blutspritzer. Jernigan feuert einen dritten Schuss in den Hals, die Schrotladung dringt unterhalb des Kinns und 24 Zentimeter entfernt vom Schädeldach in den Kopf, durchbohrt den Schlundkopf, zertrümmert die Schädelbasis und stößt auf seiner todbringenden Bahn weiter ins Hirn vor. Hale rührt sich nicht mehr. Laut einigen Berichten setzen die beiden ihren Raubzug nun fort, als sei der Mord in diesem Szenario ein vielleicht misslicher, aber dennoch verhandelbarer Schritt und kein Schock, der von einem Augenblick auf den anderen alle bisher geltenden Normen zersprengt hat. Nur Lamb wird in seinem Geständnis schreiben, dass er nach dem Mord zum ersten Mal Angst vor Jernigan verspürt. Später wird man von einem kaltblütigen Mord sprechen, der sich scheinbar bruchlos aus Jernigans bisherigem Lebenswandel ableitet, er sei nicht besser als ein Hund, wird es heißen. Seine Seele soll in der Hölle schmoren, erklärt der verhandlungsführende Bezirksrichter von Corsicana einem deutschen Fernsehteam Jahre später, ein großer Siegelring glänzt an einem seiner kurzen, fleischigen Finger, sein Leib ist in einen ledernen Art-Deco-Sessel gegossen, dessen wuchtige Rückenlehne auf Höhe seines kahlen Haupts abschließt. Im Hintergrund, als sei es tief gelangweilt, starrt ein lebensgroßes Skelett mit ungesundem Hohlkreuz, die beiden Schulterblätter spitz gegen ein Bücherregal gelehnt, an dem Richter vorbei ins Leere, es ist unklar, ob es sich um eine Fernsehrequisite oder die tatsächliche Bürodekoration des Richters handelt. So wenig wie die Rekonstruktion des Tathergangs wird auch das grelle Missverhältnis von gestohlenen Gütern und Tat zu keinem Zeitpunkt angesprochen, weder von den Tätern noch der Justiz oder den Medien. In der Berichterstattung werden unterschiedliche Raubgüter genannt, neben der Mikrowelle ist mancherorts von einem Radio oder einer goldenen Damenarmbanduhr aus Hales Haushalt die Rede, laut Corsicana Weekly stellt die Polizei bei der Verhaftung Jernigans ein Taschenmesser, eine Packung Jewel-T‑Instantkaffee und einen 10-Kilogramm-Beutel Zucker Super Fine der Marke Henderson sicher.

Auch die Spur Jernigans und Lambs bis zu ihrer Gefangennahme verliert sich, zu keinem Zeitpunkt gibt es Interesse, die Wege der beiden nachzuvollziehen oder zu fragen, wie sie schließlich auseinandergingen, ob schweigend, im Streit oder einig, wie sie mit der Tat umgehen werden. Die Corsicana Weekly berichtet, dass die Polizei die beiden in Zusammenhang mit einem weiteren Einbruch in Mount Calm bringt, aber auch dies wird in Zukunft weder bestätigt noch dementiert werden; sollte dieser Verdacht zutreffen, liegt es nahe, dass die beiden diesen Einbruch vor dem Mord begangen haben, Mount Calm liegt am Highway 31 nahezu mittig zwischen Waco und Dawson. Als Jernigan irgendwann am Abend wieder zu Hause eintrifft, gibt er Vicky sein blutgetränktes T-Shirt, damit sie es in die Wäsche steckt. Er erzählt ihr, dass er in Dawson eingebrochen sei und einen alten Mann umgebracht habe. Gegenüber einem Schweizer Dokumentarfilmer wird sich Vicky zwanzig Jahre später erinnern, dass er damals leichenblass zu Hause erschienen ist. Sie wäscht das T-Shirt. Aber vor allem hat sie Angst – Menschen, die einen Mord begehen, gab es für sie bisher nur im Fernsehen, nicht im wirklichen Leben. Das Geständnis ihres Ehemanns übersteigt ihre Kräfte, sie liegt nachts wach, trinkt, hat niemanden, dem sie sich anvertrauen kann. Ihr kommt jener Nachmittag in den Sinn, der im Juli 1981 erst wenige Monate zurückliegt: Wortlos war Jernigan für einige Tage verschwunden, es war der erste Vorfall dieser Art in ihrer jungen Ehe gewesen. Sie hatte nichts von ihm gehört, dann, nach drei Tagen, hatte plötzlich das Telefon geklingelt. Jernigan bittet sie, ihn an der Straßenecke vor ihrer Wohnung zu treffen, er sei noch nicht bereit, wieder nach Hause zurückzukehren. Sie geht nach draußen und steigt zu ihm ins Auto. Dort erzählt er ihr von seiner Angst, dass etwas Schreckliches passieren würde, er wisse nicht was, wolle sie und die Kinder aber nicht mit sich ins Verderben reißen. Auch die Diebstähle erwähnt er, dass er an seinem Arbeitsplatz hin und wieder Benzin klaut. Jernigan beginnt zu weinen. Vicky versucht ihn zu trösten, sie sei seine Ehefrau, es sei ihre Aufgabe, ihm zu helfen. Kurz darauf lässt sie ihn ins Krankenhaus für Veteranen einweisen. Beim Aufnahmegespräch erwähnt sie auch die Diebstähle, dass sie keine finanzielle Not leiden, ein Haus haben, Jobs. Wie eine normale Familie unternehmen sie gemeinsam Dinge – sie haben ein Leben. Jernigan verbringt drei Nächte im Krankenhaus, bevor er ohne Diagnose entlassen wird. Als Vicky vier Tage nach dem Mord das Polizeipräsidium in Waco aufsucht und ihren Ehemann anzeigt, trägt sie das gereinigte und sauber zusammengefaltete T-Shirt bei sich. Jernigan ist währenddessen in einer Klinik auf Entzug, sie muss ihm bei ihrer Rückkehr vom Präsidium nicht mehr gegenübertreten. Am nächsten Morgen wird Jernigan verhaftet. Man weist ihm keinen Anwalt zu und fordert ihn dazu auf, was jeder Anwalt sofort unterbinden würde: ein Geständnis abzulegen. Jernigan unterzeichnet seine schriftliche Aussage gegen das Versprechen, dass ihm seine Frau für eine letzte Nacht zugeführt wird. Am 4. November 1981 steht er in Corsicana vor Gericht, Fall 21, 184, es ist das letzte Mal, dass er die Stadt sieht.

In Texas wurde die Todesstrafe fünf Jahre zuvor wieder eingeführt, im Navarro County war seit 33 Jahren niemand mehr zum Tode verurteilt worden. Der Studienabschluss von Jernigans Pflichtverteidigerin liegt keine zwei Jahre zurück, es ist ihr erster Mordfall, später wird sie sagen, dass sie überfordert gewesen sei, sie habe weder Zeugen noch Gutachten von Experten zur Hand gehabt, die sich in irgendeiner Weise für Jernigan hätten aussprechen können oder an einer Wahrheitsfindung interessiert gewesen wären. Der Schuldspruch steht rasch fest, anschließend werden den Geschworenen zwei Standardfragen gestellt; beantworten sie beide positiv, muss der Richter das Todesurteil fällen: Hat der Angeklagte die Tat absichtsvoll ausgeführt? Ist mit gutem Grund zu erwarten, dass er auch in Zukunft wieder eine schwere Straftat begehen wird?

Lamb, der die Schule nach der achten Klasse verlassen hat und bisher nicht straffällig geworden ist, bekommt 30 Jahre. Jernigan wird von Corsicana nach Huntsville in die Ellis One Unit verlegt, den Todestrakt. Die unbeheizte Zelle ist klein, ein Bett – kein Stuhl, Schreibtisch oder Fenster. Die Mahlzeiten werden um drei Uhr nachts, zehn Uhr vormittags und 16 Uhr nachmittags serviert, Frühstück, Mittag- und Abendessen. Auf seine Ehefrau wird Jernigan bis zu seinem Tod nicht mehr gut zu sprechen sein, und auch sie wird versuchen, den Fall so gut wie möglich zu vergessen; dass ihr Mann hingerichtet werden könnte, hatte sie sich bei ihrer Anzeige nicht vorgestellt. Er sollte lediglich für das bestraft werden, was er verbrochen hat.

Ein erster Hinrichtungstermin wird auf den 19. März 1984 festgesetzt, Jernigans Fall erregt kaum öffentliches Interesse. Es sind andere Geschichten, die zirkulieren, sie lassen sich offenbar besser erzählen, Jernigan taucht dabei nur als Fußnote in einer Reihe weiterer Todeskandidaten auf. Als spektakulärster Fall der März-Hinrichtungen gilt der Optiker Ronald Clark O’Brian. Der sogenannte Candy-man soll seinen achtjährigen Sohn 1974 mit vergifteten Halloween-Süßigkeiten getötet haben. Die Zeitungen berichten, wie O’Brian auf einen Gehstock gestützt und ohne Gürtel im Bund seiner dunkelblauen Bügelfaltenhose, an den Füßen nagelneue Turnschuhe, sein anstehendes Todesdatum mit ungerührter Miene entgegennimmt.

Eine weitere Serie von Artikeln aus demselben Monat beschäftigt sich mit den überfälligen Renovierungsmaßnahmen der eher schäbigen Todeszelle in Huntsville, in der immerhin mehr Menschen den Tod finden als überall sonst in den Vereinigten Staaten. Früher waren Todeskandidat und Zeugen lediglich durch ein Metallgeländer getrennt, jetzt habe man den Raum für die Zeugen vergrößert und eine Glaswand eingezogen, um einen störungsfreien Ablauf der Hinrichtung zu gewährleisten, erklärt der Sprecher des Texas Department of Criminal Justice in Huntsville den Medien. Der alte elektrische Stuhl – Old Sparky