Der Weg aller Wellen - Philipp Schönthaler - E-Book

Der Weg aller Wellen E-Book

Philipp Schönthaler

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Beschreibung

Im Silicon Valley herrscht flirrende Hitze. Der Erzähler findet sich vor den Toren des Hightechunternehmens wieder, für das er arbeitet. Überraschend und scheinbar ohne Grund erhält er keinen Zutritt zum Campus. Während er noch dabei ist, der biometrischen Fehlidentifikation auf die Spur zu kommen, verliert er die Kontrolle über seine digitale Identität. Als er realisiert, dass ihm mit ihr auch sein Leben entgleitet, strandet er in einer Tech-Community in der Wüste. Auf ihrem Gegencampus haben sich die Aussteiger um einen charismatischen Anführer versammelt. Ihr Ziel: Die globale Macht der Internetkonzerne zu brechen. "Wir müssen den Dingen einen Namen geben. Das wird eine der vorrangigen Aufgaben des 21. Jahrhunderts sein. Nur wenn es uns gelingt, Menschen und Dinge verlässlich adressierbar zu machen und in die Struktur globaler Netzwerke zu integrieren, werden wir die Grundlage schaffen, um das Zusammenleben auf dem Planeten freiheitlich zu regulieren." - Philipp Schönthaler

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Philipp Schönthaler

Der Weg aller Wellen

Leben und Dienste II

Roman

– denn wir sind alle Wellen.

Paul Virilio

Inhalt

Erster Teil Campus

1 Vor der Schleuse

2 Der Ring

3 Im Shuttle

4 Glitch

5 Nabelschnurblut

6 Der Sprung

7 Ein Zwillingskopf

8 Auf Exkursion

9 Palm Secure

Zweiter Teil City

1 Nebel

2 Signs

3 Nachtsehen

4 Der Anwalt

5 Party

6 Das Apartment

Dritter Teil Wüste

1 Traum einer amerikanischen Rivera

2 Kojoten

3 Lose Kabelenden

Erster Teil

Campus

1Vor der Schleuse

Ohne dass etwas Bemerkenswertes vorgefallen wäre, hatte ich von einem auf den anderen Tag keinen Zutritt zum Campus mehr. Zunächst machte ich mir keine weiteren Gedanken. Es war unangenehm, etwas ärgerlich, aber im Grunde eher peinlich. Die Infrarotstrahlen illuminierten die Hand an den Rändern, ließen sie wie ein artifizielles Organ erscheinen, das soeben im Begriff war, belebt zu werden. Mehrmals hielt ich sie über den Scanner. Die Dioden leuchteten rot auf, und ein dumpfes, entfernt guttural brodelndes Warnsignal ertönte. Obwohl sofort klar war, dass die Geste banal wirken musste, wischte ich mit dem Handteller über die Hose. Der Sensor tastet die Handvenen ab, äußere Verunreinigungen oder Verletzungen sind für die Identifizierung ohne Bedeutung. Warum schlug die Erkennung fehl? Ich unterdrückte den Impuls, hinter mich zu blicken, um die Reaktionen der anderen zu prüfen, führte die Handlung entspannt zu Ende. Das akustische Signal war mir jedenfalls neu, obwohl ich es sicher schon gehört hatte, ohne es bewusst wahrgenommen oder mich nach seiner Herkunft gefragt zu haben. Zudem war mir bisher nicht aufgefallen, dass es gar kein Personal gab, das die Terminals beaufsichtigte. Normalerweise verschwinden die transparenten Tore weitgehend lautlos im Gehäuse. Ich hatte sie noch nie berührt, zögerte jetzt einen Sekundenbruchteil, bevor ich die Hand auf das an den abgerundeten Kanten ätherisch changierende Sicherheitsglas legte, daran rüttelte; das Gate war arretiert, nicht anders wie erwartet. Ich hätte einfach darübersteigen können, ließ den Gedanken aber im selben Moment, in dem ich ihn gefasst hatte, wieder fallen. Die Oberkante reichte mir bis zum Nabel, ich würde keine gute Figur machen; registriert wäre ich noch immer nicht. In meinem Rücken verloren die anderen die Geduld, drängten zum Weitergehen.

Vitali Sedar, den alle nur V oder Vita, selten Radar oder Schaum nannten (er war in Schaumburg, Illinois, geboren und aufgewachsen), überholte mich in der Nebenschlange, schlug mir buddyhaft auf die Schulter; wir hatten im selben Shuttle gesessen. Er trug das bedruckte Short-Sleeve, mit dem ich ihn schon tags zuvor gesehen hatte, vielleicht war es nur ein ähnliches Modell mit einem ähnlich konfusen Muster, im offenen Kragen eine elfenbeinfarbene Tribal-Bone-Spirale: »Game over«, er imitierte eine Computergamestimme aus den mittleren oder späten Neunzigern, deutete auf das Auge des Scanners, als müsse er mich erst darauf hinweisen, dass die Authentifizierung fehlgeschlagen war. Schaum grinste unverbindlich, die Komplikation schien ihn zu amüsieren. Ich mimte ein Lachen, gab vor, den Polycarbonat-Dom zu punchen, als säße ich vor dem Riesenbuzzer einer trashigen Vorabend-TV-Quizshow, die Antwort fieberhaft auf der Zunge. Eine lange Sekunde beobachtete ich, wie er mit halb nachlässigem, halb sorglosem Schritt davonlatschte, die Fußspitzen seitwärts minimal ausgestellt, das über dem behaarten Nacken pendelnde Zöpfchen, mit einem einfachen Haushaltsgummi zusammengehalten, sah kacke aus. Ich machte kehrt, bahnte mir einen Weg zurück zum Eingang, einen Arm wie zum Eingeständnis einer sportlichen Niederlage erhoben. Es war besser zu warten, bis der gröbste Ansturm vorüber war.

Anfangs war ich neugierig, ob der Alarm auch bei einem anderen anschlüge, behielt die Terminals im Auge. Wie würde sich ein anderer verhalten? Auf sich aufmerksam machen, abwarten? – Alles blieb ruhig, und ich verlor das Interesse, ließ meinen Blick fast schon gelangweilt durch die hypertrophe Halle mit ihrer bemüht antiästhetischen Ästhetik wandern. Die anderen wirkten heiter, eine Kakophonie enthusiasmierter Stimmen. Was würde ein Außenstehender tippen? Eventpublikum oder Angestellte auf dem Weg zum Job? Die meisten begannen bereits im Shuttle zu arbeiten. Nach der Ankunft auf dem Firmencampus gingen sie direkt in das Company Café oder die »Küche«, holten sich ein Wellness-Breakfast oder eine individuelle Rühreivariation, zelebrierten den Tagesbeginn noch einmal im teilüberdachten Square, der sich auf das Innere des Rings mit seinem Urban-Street-Feel unter freiem Himmel öffnete.

Ich hatte Hunger, überflog meinen Newsfeed, die Headlines scannte ich ohne bestimmtes Muster – »News: Sturm hinterlässt Spur der Verwüstung«; »Wissenschaft: Wer stärker hüpft, läuft schneller«; »Maniküre-Trend: Warum wir jetzt auf Zebra stehen«. Ich beschloss, dass ich mir als Erstes ein larges Sandwich auf die Hand holen würde, dazu Kaffee. Das Wetter war heiter, das Schauerrisiko lag bis zum späten Nachmittag bei unter drei Prozent, die Höchstwerte zwischen 30 und 33 Grad. Ich kontaktierte Rheimer, kalauerte mit Loïc, kontrollierte noch einmal die Schleusen.

Die Einströmenden sammelten sich wie zu einer Prozession, bevor die Gates die Leute isolierten. Zum ersten Mal dachte ich darüber nach, dass die Geste durch die Redundanz, mit der jeder seinen abwärtsgekehrten Handteller in identischer Manier präsentierte, in einem präzisen Sinn rituell wirkte, ein wenig wie Gläubige beim Empfangen der Hostie. Nur dass man nichts empfing, man musste sich darbieten. Ich wandte mich ab, blickte hinaus. Durch die getönte Glasfront schimmerte der wolkenlose Himmel noch straffer als sonst, zu einem hohen Grad gesättigt. Die Shuttles bildeten eine schnörkellose Linie entlang der gelb markierten Walking-Zone, verliehen dem Vorplatz ein latentes Flughafenflair. Jedem musste klar sein, dass der Fehler im System und nicht bei mir lag.

Das Problem ist, dass um acht Uhr mindestens 20 Doppeldecker-Shuttles gleichzeitig eintreffen, weitere folgen in dichtem Abstand, dazu kommen die PKW-Fahrer, um die 1500 Menschen auf einen Schlag, die durch die Schleusen drängen. »Fußballstadion«, kommentierte Helen die Situation, intern hatte sie sich mit ihren süffisanten bis tendenziell skandalösen Kommentaren rasch als Agent Provocateur einen Namen gemacht. Die kontraintuitive Konzeption des neuen Headquarters hatte sich bereits bei der Großen Premiere eingestellt. Allein optisch gleicht der Zugang eher einem Schlupfloch als einem Portal, merkwürdig disproportional zu der hohen Schlauchfassade, die sofort zu einem weiteren Markenzeichen von uns geworden war. Die Gründer sprechen beharrlich vom »Ring« oder »Imperial Ring«, unter uns hat sich dagegen »Krone« oder »Halo« durchgesetzt, manche sagen einfach »Schlauch«. Helen spricht vom »Nadelöhr« oder »Hole«. Bereits die dreidimensionalen Animationsmodelle hatten erahnen lassen, dass der Campus stark fotogen sein würde, besonders aus der Luft drängt sich eine Sci-Fi-Assoziation auf, als wäre der Bau für die Existenz auf einem anderen Planeten gemacht. (»Landet es, hebt es ab?«, der ironische Satz stammt ebenfalls von Helen.) Auf dem hochgrünen Rasen, zu zwei Dritteln von neuen Sträuchern und Bäumen eingefasst, die den Campus von der angrenzenden Nachbarschaft abschirmen, scheint der Ring buchstäblich zu schweben.

Noch immer strömten Menschen ins Gebäude, aber es war schon zu viel Zeit verstrichen, und ich wurde allmählich unruhig. Das erste Meeting war um Viertel nach, davor musste ich meine Visuals vorbereiten und die Zahlen prüfen. Der Haken war, dass man die Arbeitsinseln erst reservieren kann, wenn man im Gebäude ist. Da ich nicht registriert war, konnte ich die Buchungsapplikation nicht bedienen. Es gibt genügend Stationen, aber die Favoriten auf Toplevel und Groundfloor werden immer zeitnah reserviert. Die Aussicht, dass ich möglicherweise keinen meiner bevorzugten Spaces mehr ergattern würde, verstimmte mich. Obwohl uns regelmäßig nahegelegt wurde, die Stationen periodisch zu wechseln, allein um die Chance auf glückliche Zufallsbegegnungen zu erhöhen, ohne dass im Detail nachzuvollziehen war, ob die Empfehlungen standardisiert an alle oder personalisiert erfolgten. Ich hatte die das Serendipitätsprinzip betreffenden Chats bisher nicht verfolgt, mein Bewegungsprofil sprach vermutlich aber sowieso nicht für mich, glich eher dem eines Beamten; oder dem eines Säugetiers im Gehege, nur dass ich auch ohne Gitterstäbe nicht von meinen fest gefügten Bahnen abwich. Ich rätselte, ob andere im Durchschnitt wesentlich mehr Neugier auf ihre Umwelt bekundeten als ich?

Für den zweiten Anlauf wählte ich ein anderes Gate. Erst im letzten Moment stockte ich, den Handteller wenige Zentimeter über meiner Hose. Ich hätte kaum sagen können, ob ich die Geste jeden Morgen unbewusst gleich ausführte. Es schien mir eher unwahrscheinlich, zumindest konnte ich mich spontan nicht entsinnen, je mit schwitzigen Händen gekämpft zu haben. Ich ballte eine Faust, öffnete sie erst unmittelbar über dem Dom. Diesmal antizipierte ich den Alarm, grüne LEDs hätten mich mehr überrascht als rote. Dennoch fragte ich mich im Nachhinein, was passiert wäre, wenn ich in diesem Moment fest an das grüne Licht geglaubt hätte? Der Gedanke war unsinnig. Immerhin reagierte ich diesmal gelassener, drehte mich um und klärte die hinter mir Stehenden über den Lesefehler auf.

Ich kam mit drei Kollegen ins Gespräch, die eher nach High-School als College aussahen. Das Phänomen war ihnen fremd, umso angeregter tauschten sie sich über diverse Abtastverfahren und mögliche Systemfehler aus. Das Gerät, wussten sie, arbeitet mit Handvenenerkennung, bei der Infrarotstrahlung handelt es sich um Spektralwellen zwischen sichtbarem Licht und längerwelliger Tetrahertzstrahlung. Das venöse Blut absorbiert die elektromagnetischen Wellen stärker als das umliegende Gewebe, und erlaubt es daher, die Venen zu visualisieren. Das Venenmuster wird in ein Template umgewandelt und auf einer Datenbank hinterlegt. Stimmt das gespeicherte mit dem aktuell erfassten Pattern überein, wird der Zugang freigeschaltet.

»Im Grunde ganz einfach. Die False-Acception-Rate ist unwesentlich besser als bei der herkömmlichen Fingerprinterkennung. Nur bei der False-Rejection-Rate gibt es einen wirklich krassen Unterschied. Sie liegt bei 0,01 Prozent. Das ist ein Optimierungsfaktor von zehn. Das ist alles andere als unwesentlich.«

Ohne dass ich die Zahlen hätte nennen können, meinte ich, Ähnliches irgendwo gelesen oder gehört zu haben, deutete ein Nicken an.

»Hinzu kommt, dass der Fingerabdruck bei mindestens einem Prozent der Bevölkerung unlesbar ist, rein rechnerisch sind das derzeit um die 800 Millionen Menschen. Und nicht zu vergessen: Die Haut kann man beschädigen und abziehen. Wie bei diesem Journalisten, kürzlich, dem sie in der Botschaft die Finger abgeschnitten haben, um sein Device zu entriegeln. Aber auch Abgüsse sind natürlich gut denkbar. Die Venen sind dagegen einigermaßen sicher im Körperinneren hinterlegt. Bei Weitem nicht so manipulationsanfällig.« Illustrativ hatte der Sprecher eine Hand erhoben und mir entgegengestreckt. Mir blieb kaum etwas anderes übrig, als die offene Hand, die nichts weiter zeigen wollte, als dass sie nichts zu erkennen gab, leicht dümmlich anzustarren. Das vollständige Fehlen von Haaren auf seinem Handrücken, das ich automatisch registrierte, war nicht weiter bemerkenswert.

Die drei waren im Cloud-Management tätig. Zwar konnten sie mir nicht helfen, aber sie zeigten ein ungewöhnliches Interesse an dem Ereignis, brüteten mit ungeheurem Ehrgeiz über Lösungsmöglichkeiten. Irgendwann führte die Unterhaltung dazu, dass ich beide Arme parallel ausstreckte, und meine Handteller präsentierte, als stünde ich einer Wahrsagerin gegenüber. Die Komik der Geste entging keinem von uns – unsere Blicke trafen sich, und auf unseren Gesichtern breitete sich ein geringfügig unkontrolliertes Grinsen aus. Im Anschluss entstand eine Verlegenheitspause, die ich nutzte, um die drei mit einem Wink auf die Uhr aufzufordern, sich endlich einzuloggen. »Ihr holt euch bestimmt erst mal ein Sandwich.« Sie hatten schon genug Zeit auf das Problem verwendet. Als wir uns verabschiedeten, stellte sich Kim vor. Auf ihn war der höchste Redeanteil gefallen, er gab mir seinen Kontakt. Angeblich kannte er jemanden im Facility-Management.

»Ich kann euch jederzeit bekannt machen. Vielleicht weiß er etwas.«

»Facility-Management? Meinst du, das ist die richtige Adresse?«

»Ich dachte nur.« Er rieb sich das Kinn, über seinem Kieferknochen schimmerte die Haut biopolymer, nahezu wächsern.

»Ich hätte eher an die Systemadministration gedacht. Oder Workforce-Solutions. Der Hersteller wird jedenfalls erst mal nichts damit zu tun haben, denke ich.«

»Ja, vielleicht hast du recht. Ich dachte nur. Manchmal sind sie dort ganz gut informiert. Wissen, was gerade so ansteht. Keine Ahnung.«

»Betreiben die nicht dieses tendenziell humoreske Chatforum?«

»FacChat?«

»Irgendwas in der Art. Ja.«

»Glaub schon.«

»Aber es gibt doch bestimmt eine Hotline?«

»Für User sicher.«

Wir bestärkten uns, dass man sich die Tage mit Sicherheit über den Weg liefe.

»Und –«, zwanglos führte Kim den Austausch über das Gate hinweg fort: »Ich klopf mal bei der Security. Die soll dich erst mal durchlassen, dann kannst du dich in Ruhe um das Schlamassel kümmern.«

Es gab also doch jemanden, der für die Gates zuständig war, alles andere wäre auch seltsam gewesen. Ich nickte, spähte gleichzeitig ins Atrium, fragte mich, wie mir bislang hatte entgehen können, dass es eine Security gab.

Das Sicherheitspersonal saß nur dreißig Schritte von der Schleuse entfernt in einem fensterlosen Raum, die Tür war unscheinbar, sie war mir nie aufgefallen. Kim klopfte. Als er nach drei Sekunden wieder erschien, spreizte er seinen Daumen – roger. Bevor die drei im Aufzug verschwanden, hoben sie ihre Fingerspitzen minimal, ihre extrem dünnen Arme ragten aus extragroßen T-Shirt-Ärmeln, baumelten ohne Spannung unterhalb der Hüfte, die Beugemuskeln zu einem latenten Rundrücken kontrahiert, deuteten einen allerletzten Abschiedsgruß an. Ich zog meine Mundwinkel wenige Millimeter in die Breite, hob und senkte das Kinn in rascher Abfolge.

Die Begegnung hatte mich motiviert und ich gab mich dem dominanten Gefühl hin, das Problem sei schon wieder aus der Welt, in Gedanken beim Begleittext meiner Präsentation. Ich sah zu, wie der Wachmann vor die Tür trat, die Lider zu drei Vierteln geschlossen, als hätte man ihn in seinem Schlafzimmer überfallen und ohne Angabe von Gründen aus dem Bett gezerrt. Die schwarze Uniform spannte um die Brust, die aufgepumpten, leicht verkürzten Oberarme, wirkten fast schon ein wenig klischeehaft; mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen erweckte der Aufzug den Eindruck eines Erbstücks aus einer reichlich analogen Epoche. Mein Phone meldete den Eingang neuer Nachrichten; jemand hatte meinen letzten Profileintrag geteilt. Ich kontrollierte die Uhrzeit, überschlug die verlorenen Minuten. Als ich wieder aufsah, war der Wachmann auf halbem Weg zwischen Büro und Schranke stehen geblieben. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, nach dem Problem zu fragen:

»Mit den Geräten habe ich nichts zu schaffen.«

»Sie kennen das Problem bestimmt von anderen. Sie müssen doch wissen, was zu tun ist?« Sein ausgestelltes Desinteresse reizte mich, ich hielt meine Stimme absichtsvoll auf einem niedrigen Lautstärkepegel, als könnte ich ihn auf diese Weise zwingen, näher zu treten.

»Tut mir leid, damit habe ich nichts zu tun. Keine Ahnung, wer für die Apparate in so einem Fall zuständig ist.«

Seine Hand fuhr ungerichtet durch die Luft, sein Tonfall in hohem Maß unengagiert. Dennoch wurden einige der Umstehenden auf das Gespräch aufmerksam. Ich fühlte mich sofort bestärkt, trat näher an die Schranke:

»Was meinen Sie mit so einem Fall? Was soll das? Sie bewachen das doch?«

Fordernd legte ich meine Fingerspitzen auf das Gate. Langsam spreizte er seine Beine, indem er die Füße alternierend über Ferse und Ballen in winzigen Ausfallbewegungen seitwärts so weit ausstellte, bis sie ein auf dem Kopf stehendes V bildeten, im Kontrast zu den makellosen Fliesen des Atriums wirkten seine grob genoppten Sicherheitsschuhe theatral.

»Das machen die Dinger doch alles selber. Die kommunizieren doch. Was sagen sie denn? Die sind doch schlau. Mich lassen Sie da besser in Ruhe. Ich verstehe nichts davon.«

»Und was machen Sie dort?« Herablassend deutete ich auf sein Kabuff.

»Ich denke nicht, dass ich auskunftspflichtig bin. Aber da Sie so freundlich fragen: nach dem Rechten sehen.«

»Aha. Und die Gates? Die überlassen Sie sich selbst? Die fallen nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich?«

»Da müssen Sie schon mit Ihren Leuten sprechen. Dem Konzern.«

»Dem Konzern? Interessant. Und Sie? – Sie sind doch das Unternehmen! So wie wir alle hier.«

Mein ausgestreckter Arm deutete einen Halbkreis an, die anderen schienen jetzt ebenfalls gespannt auf seine Reaktion zu warten. Der Wachmann nutzte die Aufmerksamkeit, nahm sich übertrieben viel Zeit, vergrub seine Daumen beidseitig unter seinem Gürtel, umfasste das Gewebe mit zwei tätowierten Fäusten und zog den Gürtel aufwärts, bis die Hose im Schritt empfindlich spannte und sein Geschlecht zu erkennen gab: »– Subunternehmen.« Er schnaubte mit gespielter Kurzatmigkeit. »Ich arbeite für einen Subkontraktor. Extern.«

Offenbar klingelte sein Phone, seine Hand fuhr in eine seiner Gürteltaschen und kramte das Gerät hervor. Die Unterhaltung war für ihn beendet, und er zeigte mir die Schulter, als wäre alles, was es zu sagen gab, gesagt. Ich wusste, dass es Dienstleister mit eingeschränkten Zutrittsrechten und Privilegien gab, aber selbst das konnte sein Verhalten nicht rechtfertigen. Dennoch hatten mit dem Wachmann auch die anderen ihr Interesse an der Konfrontation verloren, setzten ihren Weg ohne weitere Nachfragen fort.

»Dann steige ich über die Schleuse!« Ich hatte meine Stimme um mehrere Skalenstriche gehoben, schrie: »– Du Eule.« Während ich ihm die halbherzige Beleidigung hinterherschleuderte, lauschte ich meiner eigenen Stimme wie der eines Fremden, was durch die schallschluckende Akustik des weitläufigen Atriums zusätzlich begünstigt wurde. Der Ausbruch besänftigte mich noch im selben Moment, ließ mich der albernen Vorstellung nachhängen, mir selbst für den Ausruf zu gratulieren. Nur dass ich nicht gleich über die Schleuse gestiegen war, bereute ich. Ich wäre jetzt im Gebäude, hätte ganz andere Möglichkeiten.

»Dann muss ich die Ordnungskräfte rufen.«

Die Security war stehen geblieben, das Phone zwei Handbreit vom Ohr entfernt, eine Hand um einen Brustriemen geschlungen, ich konnte nicht erkennen, ob dort ein weiteres Gadget steckte. Aber seine Stimme hatte nichts Abweisendes mehr, klang eher zuvorkommend, allenfalls eine Spur algorithmisiert. Ein Sonnenstrahl fiel auf sein kurz geschorenes Haupt, illuminierte seine dunkle Gestalt vom Kopf bis zu den wie in bold markierten Sohlen. Im Nachhinein kam es mir sogar so vor, als hätte ich die Wörter gar nicht gehört, sondern nur von seinen Lippen abgelesen. Es war durchaus denkbar, dass er etwas ganz anderes gesagt hatte. Zumindest stand er, wann immer ich die Szene später mental abspielte, viel zu weit entfernt, die Distanz zwischen uns kam mir gewaltig vor, der Schemen des muskulösen Körpers in meiner Vorstellung seltsam miniaturisiert, als dass ich ihn auf die Entfernung vollkommen mühelos hätte verstehen können.

Ich kontrollierte den Dom, die LEDs hatten in den Passivmodus geschaltet, glommen gletscherblau, mittig im Kranz das schwarz schillernde Sensorauge gänzlich unbewegt. Benommen, fast schon eine leichte Spur verstört, wendete ich mich ab, trat hinaus ins Freie.

Draußen blendete das Licht, die Luft war extrem trocken. Ich blieb stehen, wie bei einem Hustenreiz zog sich meine Brust zweimal heftig zusammen und ließ mich nach Luft schnappen. Das Licht, das am Morgen noch wie durch einen homogen über die Bildfläche gelegten Filter körnig geschimmert hatte, war jetzt grell und hart, gab dem Vorplatz die klaren Konturen einer Platine. Die Schatten projizierten geometrische Figuren auf den Asphalt, interpolierende Linien, scharf umrissene Bahnen und verzerrte Trapeze akzentuierten die weiße Fassade. Ich schloss die Augen, hielt mein Gesicht in die Sonne, bis die Wärme ein belebendes, dann kitzelndes Kribbeln unter der Haut hervorrief. Ich grimassierte, entspannte meine Züge. Im Hintergrund, zur Hälfte durch zwei künstliche Grashügel verdeckt (Helen: »Unser grüner Busen«), die primär dem Schall- und Sichtschutz dienten, verlief der Highway. Ich sann darüber nach, dass es nicht allzu viel Vorstellungskraft bedurfte, um im Verkehrsrauschen die in Luftlinie nur fünfundzwanzig Kilometer entfernte Meeresbrandung im Westen zu hören. Vereinzelt oder in Gruppen kamen Mitarbeiter aus der Tiefgarage, die auf natürliche Art und Weise unter den polsterartigen Erdaufschüttungen versteckt war, oder vom großen Parkplatz her. In langen Diagonalen strebten sie gleichförmig auf den Eingang zu, halb unbewusst hielt ich nach einer Person Ausschau, die ähnlich wie ich dastand, herausgelöst aus dem Strom. Möglicherweise hätte man sich verbünden können. Der Gedanke, dass ich einen toten Pixel auf der Bildfläche darstellen könnte, ließ ein undefiniertes Gefühl zurück. Ich kontrollierte die Uhrzeit, erschrak. Sechsunddreißig. Seit meiner Ankunft war ich keinen Schritt weitergekommen. Ich musste so schnell wie möglich ins Gebäude gelangen. Am Nebeneingang würde sich die Szene vermutlich nur wiederholen, ich beschloss daher, zum Besucherzentrum zu gehen, setzte zwei Nachrichten ab. Rheimer reagierte mit einem euphorischen »Bis gleich. Meeting auf dem Green Floor.« Vermutlich hatte er meine Nachricht gar nicht gelesen, lediglich ihren Eingang bestätigt – was mich vorerst nicht kümmern musste, vielleicht war es sogar von Vorteil. Noch immer strömten einzelne Mitarbeiter in den Ring, auf halber Strecke zwischen Parkhaus und Entrance meinte ich Tarryn an der Seite eines hoch aufgeschossenen Typen zu identifizieren. Ich hob die Tasche auf die freie Schulter, unter dem Gurt ein erster Streifen Schweiß. Das Sandwich musste vorerst warten. Ich schluckte, lief mit deutlich mehr zur Schau gestelltem Elan angesichts der Panne, als es meiner Affektlage entsprochen hätte, los.

2Der Ring

Unter der weißen Sonne flimmerte der Asphalt tiefschwarz, wie frisch aus Zellophan gelöst. Nur stellenweise trübte der vom angrenzenden Brachland verwehte Sand die Oberfläche. Aus der aufgeplatzten Erde, die den Vorplatz säumte, schoss das Unkraut exzessiv – helle Scharfgarben, hohe Melden, antennenförmiges Zyperngras, Quecken, Beifuß, radiärsymmetrischer Mohn mit seinen retroadretten Blütenkelchen. Ich besah den Imperial Ring. Die Silhouette schnitt eine flache Parabel in den Himmel, oberhalb der Ortslinie der Dachkonstruktion punktförmige Möwen. Im frontalen Gegenlicht der Sonne verschwanden ihre Leiber, als würden sie von der Bildfläche weggeklickt, um kurz darauf an einer theoretisch gut kalkulierbaren Stelle wieder aufzutauchen.

Unsere Abteilung, Ads & Sales, war als Letzte von den alten Räumlichkeiten auf den neuen Campus gezogen, bisher war ich noch nicht zu Fuß im Außenbereich unterwegs gewesen. Auch deshalb ließ ich mich bereitwillig vom Anblick der Fassade in den Bann ziehen. Ihre futuristische Statik orientierte sich gemäß einer naturnahen Architektur angeblich am Schachtelhalm. (»Klasse Equisetum, auch horsetail oder puzzlegrass genannt«, klärte Helen auf, wir hatten gerätselt, ob der Beitrag ironisch gemeint war, und falls ja, worin genau die Ironie lag). Besonders gut war der Skywalk im vierten Obergeschoss einsehbar. Die gläserne Gangway war als Jogging- und Flanierstrecke konzipiert, die in einem weitläufigen Loop um den gesamten Bau führte. Trotz der frühen Tageszeit war der Walk bevölkert, man musste lediglich die Augen zusammenkneifen, und die Läufer begannen schwerelos unter der Decke zu floaten. Von außen ließ sich nur erahnen, dass das Gebäude innen auf natürliche Weise hell erleuchtet war, unzählige Sichtachsen boten überraschende Perspektiven, Lichtschächte schnitten tiefe Cuts ins Herz des Schlauchs. Wenn die Sonne im Zenit stand, erreichten einzelne Strahlen wie Laserpointer den Groundfloor, projizierten ein mandalaartiges Muster auf die Fliesen, das viele als ein Kunstwerk respektierten, es umliefen, anstatt gradlinig darüber hinwegzugehen. Besonders für Fotografen hatte das Gebäude sieben Monate nach seiner offiziellen Eröffnung noch nichts von seiner Faszination verloren. Nach außen öffneten sich die Arbeitsbereiche auf die bukolische Parklandschaft mit ihrem großzügigen Baumbewuchs, der Innenbereich war mit Flagshipstores, Fitnessstudios, Bikeshops und Community-Garden dagegen absichtsvoll urban gestaltet; minimal versetzt zum geometrischen Mittelpunkt des Rings bildete der öffentliche Brunnen einen informellen Meeting-Point für diverse Aktivitäten. (Helen: »Die Company ist dein neues Home, der Campus deine Hometown. Yo!«) Von der Straße blieb das Gebäude dagegen wie jeder andere innerstädtische Glaskomplex opak. Ich konnte nicht einmal sagen, wo ich mich zwischen den einzelnen Gebäudeelementen befand, es gab kaum Anhaltspunkte, um vom Äußeren auf das Innere zu schließen, was nicht zuletzt von der abstrakten Gleichförmigkeit der Fassade herrührte, deren Rundung sich auf beiden Seiten dem Blick entzog, egal ob man vor- oder zurückschritt. Zwischendurch wirkte es fast so, als ob das Gebäude mit jedem Schritt, den ich vorwärtsging, um exakt einen Schritt zurückwich. Gerne hätte ich dem Effekt nachgespürt, wäre mehrmals vor- und zurückgegangen, unterdrückte den Impuls jedoch. Kurz darauf verlor ich mich in der Vorstellung, dort draußen unterwegs zu sein, das Gebäude wie ein Satellit auf einer berechenbaren Bahn zu umkreisen, ohne irgendwo anzukommen. Vorsichtshalber gab ich die Koordinaten des Visitor Centers ein, kontrollierte die Laufdistanz. Erst dann rief ich in Gedanken meinen Text für das Meeting auf.

Unmittelbar darauf entdeckte ich einen Mann. Er stand an der Glasfront eines der Büros auf Ebene drei, kommunizierte über ein unsichtbares Gerät, die freie Hand mit gespreizten Fingern auf der Scheibe aufgelegt. Sein Körper lehnte steil nach vorne, fiel mir förmlich entgegen, fast so, als hätte er dort oben nach mir Ausschau gehalten, vom langen Warten über die Maßen erschöpft. Ich stockte; Rheimer? – Der Mann hatte einen äquivalenten Körperbau von mindergroßem Wuchs, das Haar in farbloser Eichenfurniertönung, dieselbe nondeskriptive Frisur. Ich hob die Hand, verschattete die Augen, um besser zu sehen. Im selben Moment, in dem ich meinem Chef zuwinken wollte, hatte er sich von der Scheibe zurückgezogen, in meiner Vorstellung poppte das Bild eines Fischs auf, der starr am Glas des Aquariums steht und im nächsten Augenblick geräuschlos im Dunkel des Wassertanks verschwunden ist, nicht einmal einen Wirbel ließ der Flossenschlag zurück. Betont langsam fuhr ich mir über die Stirn, atmete geräuschvoll aus, mit dem dumpfen Gefühl, von Scheinwerfern geblendet in einem abgedunkelten Saal zu stehen, unfähig, die potenziell Anwesenden zu sehen oder frei nach Belieben in ihren Mienen zu lesen. Der Gedanke, dass Rheimer mich dort oben erwartet haben könnte, war natürlich irrsinnig. Ich schüttelte den Kopf, setzte die Tasche ab, verweilte eine dreiviertel Minute, ohne dass sich die Person nochmals gezeigt hätte. Es war sowieso kaum möglich, von hier unten einzelne Menschen in einem oberen Stockwerk verlässlich zu identifizieren, zudem wäre selbst die Gewissheit nutzlos gewesen. Die Fenster ließen sich in dem voll klimatisierten Gebäude gar nicht öffnen. Ich rief Rheimers Nummer auf, erhielt die Nachricht, dass der Gesprächsteilnehmer momentan nicht verfügbar sei.

Ich prüfte die Strecke, die ich bereits zurückgelegt hatte. Der Eingangsbereich einschließlich des Vorplatzes war hinter der Gebäudeflucht verschwunden, nirgends eine Spur von Leben. Nur mein Phone meldete den Eingang einer Nachricht. Das Company Café führte eine Umfrage durch, »Dein perfekter Morning Drink: Smoothie, Kaffeeprodukt deiner Wahl oder Kräutertee mit Mandelmilch?« Ich schloss den Tab. Eine Eilmeldung verkündete den Rücktritt des stellvertretenden Finanzministers. Ob ich im Anschluss an das Meeting fünf Minuten Zeit hätte? Die Anfrage kam von Cesar. Im Weitergehen hielt ich das Phone in Erwartung weiterer Nachrichten, die in der Regel kurz vor einem Meeting gehäuft eintrudeln, in der Hand.

Fünfzig Meter weiter wurde ich von Kinderstimmen aufgeschreckt, sie schrien, als flüchteten sie vor einem kleinen bis mittleren Unglück. Aufmerksam beobachtete ich, wie sie in Begleitung zweier Erwachsener aus dem toten Winkel der Fassadenrundung auftauchten. Sie hielten sich an den Händen, bildeten eine Zweierformation, die entfernt soldatisch wirkte. Der Gesang war unkoordiniert, es musste sich um eine Kitagruppe des Konzerns handeln. Sie marschierten zur nahe gelegenen Ruderalfläche, auf der im Verlauf des Jahres der Park um einen klimafreundlichen Hain erweitert werden sollte. Ich verlangsamte meine Schritte, rätselte, ob es einen für Außenstehende nachvollziehbaren Grund gab, sich alleine im unerschlossenen Teilbereich des Campus aufzuhalten. Die Gesichtsbilder der Kinder waren aufgrund der geringen Tonabstufung unter den Basecaps, Schirmmützen und Sonnenhüte, – mindestens zwei Kinder trugen einen bunten Hartschalenhelm – auf die Distanz kaum zu entschlüsseln. Die exaltiert winkenden Arme zeugten jedoch von hohem Zutrauen; ich gab mich erstaunt, rief ein motivierendes »Viel Spaß«.

Im Weitergehen überlegte ich, wie die anderen reagierten, wenn sie mich hier draußen sähen. Mein Verhalten kam mir plötzlich hoch erratisch vor, und ich war froh, Rheimer nicht erreicht zu haben. Ich hätte einfach an der Zugangsschleuse warten sollen, bis man einen zuständigen Techniker oder Verantwortlichen schickte, alles andere ergab keinen Sinn. Nicht einmal ein Foto oder eine Videosequenz hatte ich gemacht, um den Fehler zu dokumentieren. Ich war plötzlich deprimiert, nahm mir vor, die Odyssee vorerst lieber zu verschweigen.

Im Besucherzentrum war das Publikumsaufkommen hoch. Der Ring hat dort in etwa jenen repräsentativen Charakter, den ich vom Haupteingang erwartet hätte. Primärfarbene Picknickbänke in kreisförmigen Inseln arrangiert, das Café mit erhöhter Außenterrasse, außerdem zwei Felder mit modular angelegten Beachvolleyball- und Tenniscourts. Neben dem Retail-Store war der Selfie-Skulpturenpark mit lebensgroßen Emoijs die Hauptattraktion. Mein Phone meldete, dass ich die Destination erreicht hatte. Die Besucherschlangen sah ich, bevor ich das Zentrum betrat, lief, ohne mich darum zu kümmern, direkt an einen der Ticket- und Infotresen, auf ihrem Tag trug die Frau den Titel »Assistent Event Manager«.

»Event Management? Bei Ihnen passiert wenigstens was. Ich bin zum ersten Mal hier. Das ist ja unglaublich. Ist hier immer so viel los? Und das um diese Uhrzeit.« Ich signalisierte Verwunderung, deutete auf die Menschen, erklärte in modifiziertem, leicht gedämpftem Tonfall, ich sei Mitarbeiter und benötigte möglichst rasch Zutritt zum Gebäude. Die Frau war gut gelaunt, nickte. Ich war erleichtert, offenbar rief meine Anfrage ein vertrautes Protokoll auf.

»Wenn Sie Mitarbeiter sind, müssen Sie einen der Mitarbeitereingänge wählen.«

Ihre Hand tastete nach dem laminierten Lageplan auf dem Counter. »Ich empfehle diesen Nebeneingang. Ist näher.«

»Bloß nicht!« Ich schüttelte den Kopf, lachte eher vertraulich als kollegial. »Ich habe schon eine Walking-Tour hinter mir.«

»Ganz wie Sie wollen, Sie können auch zum Haupteingang gehen.«

Ich behielt den leicht scherzenden Unterton in meiner Stimme bei: »Von dort komme ich. Ich habe mich wohl undeutlich ausgedrückt.«

»Oh! Wenn das so ist, dann hätten Sie dort bleiben sollen.«

Als sie auflachte, schaltete ich mein Lächeln ab. Bevor ich mich weiter erklären konnte, entschuldigte sie sich: »Wenn Sie einen Moment –. Ich befinde mich in einem Kundengespräch.«

Ich durfte mich nicht abwimmeln lassen, stützte beide Hände auf den Tresen, beugte mich vor.

»Sie mögen durchaus recht haben. Aber da ich nun mal hier bin: Die Sache ist folgende. Es gibt ein Problem mit den Schleusen.«

»Tut mir leid, da sind Sie bei mir falsch.«

»Das ist mir auch klar. Darum geht es nicht –« Sie ließ mich nicht weiterreden.

»Ich klopfe mal bei meiner Kollegin. Vielleicht kann Sie Ihnen weiterhelfen.«

Sie trat zwei Schritte zurück, ich hörte lediglich das Wort »Mitarbeiter« und ein kurzes Gelächter, das unmittelbar daraufhin einsetzte. Gern hätte ich die Kollegin gesehen, der Blick war jedoch von Besuchern verstellt. Ich trat zwei Schritte vor. Als ich sie ausmachte, war sie bereits mit der nächsten Besucherin im Gespräch. Mein Satelliten-Detektor meldete den Vorbeiflug der Transnationalen Raumstation in 400 Kilometern Höhe und mit einer Geschwindigkeit von 28 800 km/h. Ob ich mit dem Service zufrieden wäre? Die App hatte einen Spendenaufruf gestartet. Ich sah auf die Uhr, überschlug, wie viel Zeit mir abzüglich der Laufzeit noch übrig blieb. Neue Nachrichten hatte ich nicht erhalten. Missmutig wechselte ich zum Nachbartresen. »Sie entschuldigen«, ich schob mich erneut an den Kopf der Schlange, ignorierte die feindseligen Blicke der wartenden Besucher. »Ihre Kollegin schickt mich.«

»Einen Augenblick.«

»Es eilt. Ich habe einen Termin.«

Wieder hatte ich meine Hände fordernd auf den Tresen aufgestützt, ließ sie nicht aus den Augen.

»– Mitarbeiter sagen Sie?«

Sie sprach, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen oder mich anzusehen.

»Korrekt.«

»Sie hat Ihnen gesagt, dass ich Sie nur als Gast registrieren kann?«

»Nein.«

»Dann hören sie es jetzt. Ich kann Sie nur als Gast registrieren.«

Erst jetzt wendete sie sich mir ganz zu.

»Aber es wird doch eine Möglichkeit geben? Ich muss zur Arbeit, mehr nicht.«

Ich durfte mich nicht künstlich kleiner machen, als ich war, richtete mich auf.

»Nun ja –« Sie neigte ihren Kopf zur Seite, setzte ein entwaffnendes Lächeln auf, dunkle Farbflecken waren auf ihrem Gesicht wie eine Maserung verteilt. »Auch ich kann nicht anders, als der Datenmaske zu folgen.«

»Aber ich bin doch im System.«

»Sie sind kein Journalist oder etwas in der Art?«

»Wie gesagt, Mitarbeiter, Ads & Sales.«

»Einen Ausweis? Sie haben nicht zufällig ein Dokument mit sich?«

Ich erschrak. Obwohl ich wusste, dass ich nichts eingesteckt hatte (wozu auch?), tastete meine Hand nach meiner Hosentasche. Ich hatte gehofft, um eine Erklärung herumzukommen, musste nun offenbar doch ausholen. Während ich das Problem schilderte, starrte sie mit deutlich vorgestrecktem Kopf auf den Monitor. Sie erweckte den Eindruck, dass ihr alles, was ich erzählte, bereits vertraut war. Oder vielmehr schien sie meine Worte zeitgleich vom Monitor ablesen zu können, als stünde dort alles, was ich sagte, bereits geschrieben.

»Und jetzt? Was sollen wir machen?«

Sie hatte ihre Stirn noch dichter an den Bildschirm herangebracht.

»Das frage ich Sie. Sie müssen doch –«

»Wie gesagt, ich kann Sie nur als Gast registrieren. Sie müssen mir sagen, was Sie wollen.«

Mein Device erinnerte mich, dass das Meeting in fünfzehn Minuten startete. Schon jetzt hatte ich keine Zeit mehr, noch irgendetwas vorzubereiten.

»Können Sie nicht irgendjemanden anrufen? Die Sache klären?«

»An wen denken Sie?«

»Gut. Dann bin ich heute eben Gast. Soll mir auch recht sein.« Wenn ich schnell ins Gebäude gelangen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als zu kooperieren.

»Dann benötige ich Namen und Adresse. Hotel, Verwandte ist alles ok.«

Ich buchstabierte meinen Namen.

»Dann bitte einmal die rechte Hand über den Scanner.« Plötzlich ging alles flott, ich atmete auf.

»Drei bis acht Zentimeter Abstand, nicht berühren. Alles zu hundert Prozent hygienisch. Die Daten –«

»Ich weiß, schon gut.«

Lediglich als mein Handteller über dem Scanner schwebte, zögerte ich, überlegte, ob etwas passierte? – Es geschah nichts. Nur ein Ellbogen bohrte sich in meinen Rücken. Ich hatte schon bemerkt, dass die anderen Besucher dichter an mich herangerückt waren, jetzt brachte mich ein unerwarteter Stoß fast aus dem Gleichgewicht. Ich schnellte herum, vor mir das gerötete Gesicht eines Familienvaters. »Was soll das?«

Ohne sich zu entschuldigen, sah er mich feindselig an.

»Schon mal etwas von Anstellen gehört?« Die Frau in seinem Rücken mischte sich ein, er brachte sein Gesicht so nah an meines, dass ich seinen Mundgeruch registrierte.

»Elf Uhr fünfundvierzig. Ansonsten ist der nächste Slot, einen Moment –. Um halb eins.«

»Elf Uhr? Unmöglich!« Ich wirbelte herum.

»Elf Uhr fünfundvierzig. – Tut mir leid. Sie sehen selbst, heute ist viel los.«

»Ich meine, es ist doch etwas anderes, ich muss nur –«

»Keine Sorge, gegen Abend entspannt es sich wieder, falls Ihnen das lieber ist. Drei Blöcke weiter gibt es sonst auch ein beliebtes Computermuseum, falls Sie die Zeit überbrücken wollen.«

Ich war perplex, wandte mich irritiert ab. Im Fortgehen stieß ich den Vater zur Seite, hoffte fast, dass er mich festhalten und herausfordern würde.

Kaum war ich aus dem Gebäude getreten, zeigte mein Device einen erhöhten Puls. Ich schwitzte, es waren gleich mehrere Nachrichten eingegangen. Am liebsten hätte ich mir das Shirt vom Leib gerissen. – Wo ich steckte? Rheimer hatte mir ein Memo für das Meeting geschickt. Ich überflog die Anweisung, nannte in knappen Worten den Grund meiner Verspätung, löschte die Antwort aber wieder, nachdem sie zu lang und unverständlich geraten war, diktierte stattdessen ein schlecht gelauntes »komme«. Erneut poppte die Umfrage des Company Cafés auf. Wahrscheinlich sollte ich mich entschuldigen? Aber wofür? Ich war kaum bereit, die Sache in vorauseilendem Gehorsam auf mich zu nehmen. Zum ersten Mal an diesem Morgen meinte ich, so etwas wie Ohnmacht zu spüren. Ich wusste, dass ich dem Affekt besser keinen Raum geben durfte.

3Im Shuttle

Diverse Bereiche des Schlauchs wiesen gestaffelte Zutrittsbeschränkungen auf, die Clearance folgte einem simplen, elektronisch kodierten Farbschema, nur die wenigsten Mitarbeiter hatten freien Zugang zu allen Bereichen, einschließlich Geschäftsführung und »War Room«. Ich überlegte, dass es neben den offiziellen Zugängen noch andere geben musste. Ich stand auf dem Sidewalk, starrte in den Retail-Store, neuerdings waren die Firmenläden in Town Squares umbenannt worden. Wie und wo betreten die Gründer den Ring? Was ist mit Lieferzugängen? Notausgängen? Auf dem Verkaufstresen stapelten sich Kappen mit dem Imperial-Logo. Die ersten Besucher hatten sich an den Picknickstationen niedergelassen, andere saßen auf alubeschichteten Polyesterdecken, bedienten sich aus poolblauen Kühlboxen, in den Händen geriffelte Hartplastikbecher. Offenbar warteten sie auf den Beginn ihrer Führung, möglicherweise hatten sie das Ganze als Day Trip geplant. Auf dem Rasen Kinder, von den Courts die dumpfen Ploppgeräusche von Bällen, die mechanisch von Händen und Schlägern abprallten. In wechselnden Kombinationen gab ich Suchbegriffe wie »Schleuse«, »Problem«, »fehlgeschlagen«, »Verifikation«, »alternative Zugänge« ein, suchte anschließend nach Foren, die das Thema behandelten. Die Nummer einer Firmenhotline war auf die Schnelle nicht zu finden. Die Suchkombination »Service«, »Hotline« und »Ring« rief innerhalb von 0,13 Sekunden eine Trefferzahl im niedrigen einstelligen Millionenbereich auf. Mir blieb vorerst kaum etwas anderes übrig, als zurück zum Haupteingang zu gehen. Die Außentemperatur war unangenehm, erst später überlegte ich, ob die Empfindung daher rührte, dass ich mich um diese Uhrzeit gewöhnlich in voll klimatisierten Räumlichkeiten aufhielt.

Das Meeting startete jeden Moment, mein Phone meldete den Eingang neuer Nachrichten mittlerweile im Viertelminutentakt. Ich ignorierte das pulsierende Summen des Vibrationsalarms, vermutlich war es egal, ob ich mich beeilte oder nicht. Aber ich war aufgewühlt, lief schon deshalb zügig, verarbeitete die unerwartete Abfolge der Ereignisse mental. Das Fenster, hinter dem ich Rheimer vermutet hatte, war blank. Er war mittlerweile im Meeting, aber vermutlich täuschte ich mich im Fensterpanel, es gab kaum Anhaltspunkte, die einzelnen Segmente voneinander zu unterscheiden. In ihrer Gesichtslosigkeit erschien mir die Fassade plötzlich monumental, als ragte sie deutlich höher auf, als es noch auf dem Hinweg der Fall gewesen war. Die Strecke kam mir dagegen signifikant kürzer vor, ließ mich an eine Virtual-Reality-Anordnung denken, über die ich unlängst gelesen hatte. Die Forscher hatten entdeckt, dass Menschen, die ohne Orientierung auf sich selbst gestellt sind, dazu neigen, im Kreis statt geradeaus zu gehen. In dem Experiment mussten die Probanden VR-Brillen aufsetzen und wurden entlang einer Wand geschickt, die in einem weitläufigen Zirkel verlief; gleichzeitig hatten sie die Anweisung erhalten, ihrem inneren Sinn folgend auf einer gedachten Linie geradeaus zu gehen. Nachdem sie wieder am Ausgangspunkt A angelangt waren, waren sie überzeugt, sich auf einer Geraden von A nach B bewegt zu haben. Es entsprach ihrem inneren Orientierungssinn. Als ich dem Kurvenverlauf des Imperials jetzt folgte, schien mir die Selbstwahrnehmung auch ohne VR-Brille plausibel, obwohl sie falsch war. Intuitiv hätte ich nicht sagen können, ob ich gradlinig oder im Bogen gelaufen war, die Krümmung wirkte so natürlich wie eine Gerade. Dies ließ mich wiederum an den Rat denken, den man früher Verirrten im Wald mitgab. Anstatt im Zickzack umherzuirren, solle man sich an eine gedachte Gerade halten. Dadurch gelangte man zwar nicht genau dorthin, wohin man wollte, aber man kam zumindest am Ende irgendwo an, wo man wahrscheinlich besser aufgehoben war als mitten im Wald.

Als ich den Vorplatz des Haupteingangs erreichte, stand mein Device auf Normalpuls, der Blutdruck auf 128 / 83; die Laktatwerte grün. Die Koordinaten meines Standpunkts waren 37°25'19.1'' nördlicher Breite und 122°05'06.3'' westlicher Länge. Bis auf zwei Shuttles verkehrten nur einzelne Menschen zwischen dem grünen Busen und Halo. Fehlte nur, dass ich mir einen Sonnenbrand geholt hatte und bei den Kollegen den Verdacht erregen würde, den Vormittag am Strand verbracht zu haben. Ich betastete meinen Arm, unter den Achseln leichter Schweiß. Noch bevor ich mit der Arbeit beginnen würde, wäre ich am liebsten unter die Dusche gestiegen.

Ich war soeben im Begriff, zurück ins Gebäude zu gehen, als ich Vitali entdeckte. An seiner Seite ein Kerl, sie durchquerten das Atrium, steuerten geradewegs auf mich zu. Mein Arm schnellte in die Höhe, erstarrte aber auf halber Strecke. Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, dass ich, seit wir uns am Morgen über den Weg gelaufen waren, noch immer um den Zutritt ins Gebäude kämpfte? Unter vier Augen hätten wir uns darüber amüsiert, zumal er gewusst hätte, was zu tun war. Der Typ an seiner Seite wirkte dagegen merkwürdig offiziell, verunsicherte mich. Er steckte in einem tonerblauen Blazer, das blondbraune Haar zwanghaft zurückgekämmt, definitiv ein Anwalt oder Investor. Ich musste an die Gerüchte denken, dass die Gründer vor einiger Zeit einen Staranwalt von der Ostküste gefeuert hatten, nachdem er zum wiederholten Mal in einem italienischen Markenanzug auf dem Campus erschienen war. Vermutlich war der Wahrheitswert des Gerüchts gering, dennoch waren die Gründer, wenn es um Fragen des Establishments ging, auf eine Weise humorfrei, die selbst schon wieder humorvoll war. Sogar Helen hatte ihren diesbezüglichen Kommentar wieder kommentarlos gelöscht.

Die beiden passierten die Schleusen. Ich konnte Schaum unmöglich mit dem Schleusenproblem konfrontieren, nicht in dieser Konstellation. Ich machte kehrt, lief in die Richtung, aus der ich gekommen war. Mein Magen verkrampfte sich, und für eine Sekunde, die sich nach einer geschlagenen Minute anfühlte, herrschte die Ohnmacht, die mich schon beim Verlassen des Besucherzentrums erfasst hatte. Vor mir scherte ein Shuttle aus, ich sprang zur Seite; eine Hupe ertönte; jemand schrie. Mein Device setzte einen hysterischen Signalton ab. Im Nachhinein hätte ich nicht einmal sagen können, ob ich die Shuttlenummer registriert hatte, nur der Fahrer war mir vertraut, ein kurz gewachsener Mexikaner mit einem Fu Manchu, den er in den Ampelpausen und Staus obsessiv pflegte. Die Bartwichse lagerte auf dem Armaturenbrett, während der Fahrt schlitterte die Dose über dessen gesamte Breite, prallte gegen die Seitenverschalung, ließ Passagiere in den ersten Reihen periodisch zusammenzucken.