Vor dem Leben - Klaus Mann - E-Book

Vor dem Leben E-Book

Klaus Mann

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Beschreibung

Thomas Manns frühe Erzählungen, die 1925 unter dem Titel "Vor dem Leben" erschienen, vermitteln ein jugendliches Lebensgefühl, welches durchwoben von Glücksseligkeit und Unverstandenheit ist. Die Figuren seiner Prosaerzählungen begeben sich auf die Suche nach ihrem eigenen Weg und einem Leben nach ihrem Belieben.-

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Klaus Mann

Vor dem Leben

 

Saga

Vor dem Leben

 

Coverbild/Illustration: https://www.loc.gov/item/2020680022/

Copyright © 1925, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726927658

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

DIE JUNGEN

I

Denn es ist eine sonderbare Zeit Und sonderbare Kinder hat sie: uns.

Hugo von Hofmannsthal

Nach und nach hatten sich alle gesetzt.

Die Schüler saßen in einem weiten Halbkreis, der abgeschlossen wurde durch den langen Tisch, an dem das Kolleg der Lehrer und Lehrerinnen seinen Platz hatte. Den Mittelpunkt dieses Tisches bildete der Stuhl des Professors, der, ein wenig stattlicher als alle andern Stühle im Raum, gewichtig und thronartig erschien, schwer geschnitzt und aus dunklem Holz. Der Professor selbst war noch nicht anwesend, aber Frau Elsbeth, seine hagere Gemahlin, nahm bereits ihren Sessel ein, der rechts von dem des Professors stand. Sie streckte auf diese Weise, die ungehörig und allzu mondän für die Gelegenheit wirkte, ihre schmalen Rennpferdbeine in grauen Seidenstrümpfen von sich und tauschte zischelnde kleine Bemerkungen mit Dr. Fehr, der ihr anderer Nachbar war.

Die größeren Schüler saßen beieinander und spotteten.

Johann saß mit übereinandergeschlagenen Beinen, trug an seinen braunroten Negerlippen wie an einer kleinen Last und sprach, in seinem weichen, etwas gebrochenen Deutsch, gedämpft und eifrig auf Sibylle ein. „Daß du es nicht merkst, wie unwichtig das alles ist. — Was geht es uns an? Was hat es denn mit der Entwicklung der menschlichen Seele nur irgend zu tun?“ Aber Sibylle saß ein wenig gebückt in ihrem schweren gestrickten Kleid neben ihm und antwortete mit einer entfernten kühlen Herzlichkeit, die zugleich beglückte und weh tat, während ihre braungoldenen Augen stille von ihm ab und dunkelnd durch den Raum glitten. —

Neben ihr saß Martha, die sehr schlicht gekleidet war und den unbedingten Eindruck erweckte, als ob sie nach Schweiß röche — was aber nur an der biederen Uneleganz ihres Auftretens und der plumpen Form ihrer Beine in den schwarzen Wollstrümpfen lag. Blaue tiefe Augen und braunes Haar, das schwer herabhängend ihr Gesicht Umrahmte, machten sie fast schön. Zwar war ihr Gesicht reich an Pickeln und kleinen Unreinlichkeiten, aber dadurch schien sie sich nicht weiter behelligen zu lassen. — Adele brütete mit feuchten schwarzen Augen vor sich hin, war untersetzt und schwer, immer in trüben Nöten, immer in schwierigen Verwicklungen und tiefen Ängsten. — Der nächste war Harald. Er trug einen Leinenanzug von einem merkwürdigen Graugrün, gegen das die Haut seiner Wangen und seines Halses mattweiß schimmerte. Liebevoll und wie man zu einem Kinde spricht, redete er auf Maria ein, die in einem hellgrünen, kleingefalteten Kleide steif aufgerichtet und leicht zitternd neben ihm saß. Der letzte war Adolf. Er saß mit verschränkten Armen, ganz in sich zusammengekauert, das Kinn in den Hemdkragen vergraben, den er bis zum Halse eng zugeknöpft trug. Sein Haar war völlig kurzgeschoren. Marthas Augen ruhten auf seinen nackten, sehnigen Knien. Es geschah, daß sie dabei dem Blicke Sibyllens begegneten, der, im stillen Gleiten durch den Raum, eine Sekunde länger auf Adolf haften blieb.

Ihnen gegenüber saßen die kleinen Buben, ließen ihre nackten braunen Beine baumeln und lachten.

„Siehst du, Sibylle,“ sagte Johann gedämpft, „unter allen Umständen war es falsch von Dr. Fehr, diese Schulgemeinde einzuberufen. In der Situation, in der wir uns befinden, kann es nur schaden, wenn an einer einzelnen ein Exempel statuiert wird. — Es bringt uns nicht weiter. An andern Stellen müßte angepackt werden. Liebe Sibylle,“ sagte er eindringlich, „die menschliche Entwicklung —“

Aber Sibylles braungoldne Augen glitten von ihm ab, dunkelnd durch den Raum. „Ja“, sagte sie und hob leicht die eine Schulter. „Derlei bleibt peinlich —“

Harald sagte lächelnd zu der kleinen Maria: „Habe nur keine Angst. Den Kopf, weißt du, beißen sie dir nicht ab“ — — Marias seltsam inhaltsleere, bläuliche, kleine Händchen, die so hilflos in ihrem Schoße lagen, rührten ihn so sehr, daß er sich herbeiließ, sie mit solchen Redensarten zu trösten. Sie schaute mit grauen, viel zu großen Augen gerade vor sich hin. „Nein, nein“, sagte sie und lächelte mit ihrem kleinen entzündeten Munde.

Der Professor trat ein. Als allerletzter, wie der Dirigent an sein Pult tritt, wenn die Aufführung beginnen soll.

Adolf richtete sich langsam auf und sah ihn aus stahlblauen Augen durchdringend an, als wollte er ihn wägen, mit diesem Blick einen heißen, grimmigen Gerichtstag halten.

Sibylle ließ ihre stillen Augen auf ihm ruhen und lächelte ein wenig.

Johann betrachtete ihn von unten her, mit prüfendem Hundeblick.

Der Professor ging mit unklaren Augen an seinen Platz, behindert und gebückt unter den vielen Blicken. Seine Hände hingen schwer, rot und wohlmeinend aus den Manschetten.

Spott und Kritik lagen wie etwas Körperliches in der Luft.

Maria neigte sich einen Augenblick ganz nahe zu Harald hin. „Hör’ doch, wie mein Herz klopft“, sagte sie, die Hand auf der Brust und schloß für eine Sekunde tief die Augen. Aber Harald sah an ihr vorbei, zu den kleinen Jungen hinüber, die mit weit und ehrfurchtsvoll aufgerissenen Augen auf den Professor schauten. Da richtete sich Maria wieder auf, ganz kerzengerade, und, während sie mit ihren mageren Kinderschultern leicht erschauerte, lachte sie, leise und klingelnd, in die eingetretene Stille hinein, wie eine kleine, irre Silberschelle.

Der Professor hatte sich erhoben. Er stand in seinem uneleganten, schwarzen Anzug am Tisch und sah mit unklar gekränktem Blick in der Runde umher. Sein Gesicht war etwas dick, mit schweren Backen und einem kleinen blonden Schnurrbart.

„Trotzdem Doktor Fehr die Schulversammlung einberufen hat,“ sagte er langsam, während seine magere Frau lauernd die Augen über die Schüler wandern ließ, um die Wirkung seiner Worte zu erprüfen, „möchte ich vorher noch ein paar Worte an die Gemeinde richten.“ Er sprach mit schwerer Zunge und etwas stockend, immer vor sich hin auf seine Hände blickend. „Noch nie ist es mir so schwer gefallen, euren Kreis zu betreten, als heute. Der Fall, von dem wir nachher sprechen müssen, ist kein Einzelfall. Allerorten höre ich Klagen. Gerade die ,Großenʻ“, sagte er und hob jetzt den Blick, „wollen sich dem Sinne unserer Gemeinschaft nicht fügen, stehen in einer unfruchtbaren, verdammenswerten Opposition. Wißt ihr es denn nicht,“ rief er und hob ungeschickt rhetorisch die schwere Hand, „begreift ihr es denn nicht, worauf es hier ankommt? Daß ich euch in Freiheit erziehen will zur Selbstzucht, daß die Hauptmitgift, die ich der neuen Jugend, wie ich sie ersehne, mitgeben will, die Selbstverantwortung sein soll, das Wissen um das, was jedem einzelnen für sich gut ist und nützlich. Aber ihr seid ja keine Jugend. Oft kommt es mir vor, als hätte ich es gar nicht mit jungen, sondern mit ganz alten, seltsamen Leuten zu tun.“ Die Großen lauschten ihm in tiefem Schweigen. Sie hörten zu, wie er ihnen, langsam und stockend, zuweilen überraschend und kindlich rhetorisch gesteigert, die Lehre von der neuen Jugend vorsprach, von der Regeneration, von der Überzivilisation des Westens, die erlöst sein will zur neuen, großen Kultur. Auf ihren Gesichtern regte sich keine Muskel.

Endlich brach der Professor ab. Es war, als habe er einen sehr wirksamen Schluß auswendig gelernt, aber nun versagte ihm das Gedächtnis und vorzeitig müsse er seine Rede enden. Noch einmal hob er die bäuerische Rechte, als wolle er, unter gewaltigen Anstrengungen, eine wuchtige Schlußpointe in den Saal schleudern. Aber es kam nichts mehr, er setzte sich nur und sein Gesicht war ganz rot und verschwollen. Mit unklaren Augen sah er um sich.

Eine Pause entstand. Niemand regte sich. Nur Maria schauerte ab und zu leicht zusammen und lächelte irr mit dem entzündeten Munde. Adolf ließ seine Augen nicht vom Professor.

Plötzlich stand Dr. Fehr auf. Sein Altweibermund bebte vor Erregung. Er trug seinen hellen englischen Anzug wie eine Offiziersuniform, und herausfordernd sah er im Kreise umher.

Harald dachte daran, wie er hinterher, wenn solches Theater zu Ende war, zusammenklappen konnte. Weinend lief er dann von einem zum andern und kläglich, mit zitterndem Munde, klagte er aller Welt sein unwürdiges Leid. Aber die haben es wohl auch nicht am leichtesten, dachte Harald, die sich retten müssen zu solchen Albernheiten. Adolf saß, seit der Professor seine traurige Rede beendet hatte, sehr steif aufgerichtet, eng eingeknöpft in sein Hemd — seine Hemden waren so häßlich, aus dickem rauhen Flanellstoff — und beobachtete unter dicht zusammengezogenen Brauen den Doktor. — „Der kleine Napoleon“, sagte er durch die Zähne hindurch.

Kleine Gekicher wurden laut. Maria erbebte plötzlich in einem hysterischen Lachkrampf. Das Kollegium überhörte es.

Dr. Fehr begann zu sprechen. „Lange schon wollte ich Einspruch erheben“, sagte er scharf, „gegen das Unwesen, das eine der Schülerinnen unserer Gemeinschaft unter uns treibt. Ich spreche von Maria. Nicht nur, daß dieses Mädchen den Ideen gegenüber, die der Professor unter euch großziehen will und über die ich hier nicht debattieren möchte, als absolut aufnahmeunfähig sich erwiesen hat — sie verfehlte sich auch immer und immer wieder gegen die äußerlichsten Satzungen unserer Gemeinschaft. Nicht nur geht dieses Mädchen selbst niemals rechtzeitig zu Bett, nein, durch abendliches Geschrei stört sie die anderen. Fast regelmäßig erscheint sie zu spät zum Unterricht; ungemein liederlich sind ihre Schularbeiten angefertigt; träge und weichlich benimmt sie sich beim Sport. Kurzum — ihr Benehmen ist nicht derart,“ rief zornbebend der Doktor und schleuderte jedes Wort wie einen Hieb durch den Raum, „ihr Benehmen ist nicht so, wie wir es von einem Mitglied unserer Gemeinschaft fordern und erwarten dürfen. Ich stelle also einen Strafantrag“, sagte er bebend und stand hochaufgerichtet mitten im Saal. „Ich stelle einen Strafantrag für drei Tage Stubenarrest.“ Und während er sich schon setzte, fügte er noch mit einer Sachlichkeit, die sich mühsam beherrschte, zwischen den Zähnen hindurch hinzu: „Man kann zur Abstimmung übergehen.“

Maria blickte fröstelnd gerade vor sich hin. Harald sann still den Worten des Professors nach. Mit grüblerischem Hundegesicht überdachte Johann von allen Seiten den Sachverhalt.

Aber Adolf stand langsam auf und sagte mit einer seltsam belegten Stimme, während er mit runden brennenden Augen im Kreise umhersah, bis sein Blick auf dem Professor haftenblieb: „Ich bitte um das Wort.“ Da niemand antwortete, begann er zu sprechen, langsam, ingrimmig und ohne die Augen von dem tieferrötenden Antlitz des Professors zu wenden. „Was Herr Doktor Fehr von der Disziplinlosigkeit sagte, bezieht sich, wie ich als selbstverständlich annehme, wohl nicht nur auf den Fall Marias, sondern letzten Endes auf uns alle.“ Der Professor nickte ermunternd und wie bestätigend mit dem Kopf und wurde immer röter. „Ich weiß nicht,“ sagte Adolf und trug seinen kahlgeschorenen Kopf kerzengerade, „ob Doktor Fehr oder ob Sie, mein verehrter Herr Professor, imstande sind zu erfassen, worauf an sich geringfügige Symptome, wie eben diese sogenannte Disziplinlosigkeit, im Grunde zurückzuführen sind.“ — Aber hier fuhr Dr. Fehr in die Höhe. Er zischte und speichelte vor Erregung. „Geringfügige Symptome?“ fauchte er. „Mäßige deine Unverschämtheit! Wie willst du grüner Bursche — —?“ Aber da eine Erregung, wie ein zitternder elektrischer Funke, durch die Reihe der Schüler ging, hob der Professor abschließend die Hand, lächelte bestürzt und sagte stockend, daß das wohl über das unbedingt Notwendige hinausginge. Adolf setzte sich starr und mit dicht zusammengezogenen Brauen. Man nahm die Abstimmung vor.

Drüben erhob sich ein kleiner blonder Junge. Er wurde dunkelrot bis zum Haar hinauf und sagte ganz leise: „Können wir sie nicht noch einmal laufen lassen?“

Alle lachten. Nur Dr. Fehr blieb sehr ernst und sah streng ins Leere. Maria lächelte auf ihre bläulichen kleinen Hände hinunter.

Harald hatte sich weit vorgebeugt. Plötzlich war eine tiefe und weiche Dunkelheit in seine Augen gekommen.

Als die Heiterkeit sich gelegt hatte, wurde der Professor, der aus Höflichkeit auch ein wenig mitgelacht hatte, wieder sehr ernst und ließ abstimmen.

Die Großen waren selbstverständlich alle für eine Freisprache Marias, bis auf Adele, die aus einem unergründlich dunklen Pflichtbewußtsein heraus gegen die eigene Freundin stimmte, die sie sehr liebte. Auch die kleinen Jungen wollten, daß Maria ihre Strafe bekäme. Sie selbst mußten ja auch rechtzeitig zu Bett gehen und außerdem fanden sie Maria „affektiert“. Der blonde Junge allein, der vorhin die erheiternde Bemerkung gemacht hatte, gab seine Stimme für sie ab. Er hieß Uto und war 13 Jahre alt.

Dr. Fehrs Antrag wurde mit einer kleinen Stimmenmehrheit angenommen.

Der Professor sah die Stimmzettelchen durch und sagte mit einem kleinen Triumph: „Ja, Maria, nun bist du verurteilt.“ — Er lachte ein wenig, aber dann schickte er sich zu einer Moralpredigt an. „Ich hoffe,“ sagte er und stand wieder in seiner ungelenken Rednerpose am Tisch, „ich hoffe —“ Aber da stand Maria auf und verließ mit kleinen trippelnden Schritten den Saal. Sie hielt ein zierliches weißseidenes Taschentuch vor den Mund gepreßt. — Eine große Unruhe ging durch die Schüler. Adolf schüttelte erregt den kahlen Kopf und machte kleine Bewegungen, die wie Schläge waren. Sibylle sah still und aufmerksam Dr. Fehr an, der schon anfing, in sich selbst zusammenzufallen. Adele schluchzte laut in ein großes rotes Taschentuch. Nur Harald regte sich nicht. Er saß ganz still — so still, wie man nur ist, wenn einem eine große Lust geschieht oder ein großes Weh oder beides in einem — und sah Uto an. Uto erwiderte fest seinen Blick. Mitten in der nervösen Erregung des Aufbruchs trafen sich tief ihre Augen.

Der Professor sagte nur: „Na —“ und wurde wieder ganz rot. Dann löste er die Schulgemeinde auf.

Die Schüler drängten ins Freie. Als Sibylle an Dr. Fehr vorbeiging, sagte sie mit ihrer dunklen, klingenden Stimme: „Nun, Herr Doktor, das war ja sehr sympathisch, wie Sie sich vorhin benahmen.“ Dr. Fehr starrte ihr entsetzt ins Gesicht. „Wieso“, sagte er, und sein Gesicht verfiel ganz vor Angst. Aber sie ging kühl und fremd davon. Sie hatte merkwürdig magere, knabenhafte Arme. Dr. Fehr sah ihr fast weinend nach. „Wieso“, sagte er noch einmal, ohne daß Sibylle es noch hören konnte. „Wie meinen Sie das?“ Dr. Fehr liebte Sibylle.

Draußen sprach Harald leise mit Uto. „Ja,“ sagte Harald, und seine Stimme war ein wenig verschleiert, „da möchte ich wohl gern einmal hinkommen, wo du wohnst.“ — Uto sah lachend zu ihm hinauf. Er hatte überraschend große blaue Augen mit ganz schwarzen Brauen und Wimpern zu seinem hellblonden Haar. Er trug einen hellgrünen Leinenanzug mit roter Borte am Halsausschnitt. „Ich denke mir euer weißes Haus so hübsch“, sagte Harald. „Und die Mutter reitet am Morgen also spazieren?“ „Mit Großmutter zusammen reitet sie“, sagte Uto und schüttelte sich das Haar aus der Stirne, das ihm in hellen Strähnen ins Gesicht fiel. „Oh, Großmutter ist eine kluge Frau, Großmutter ist schrecklich klug.“ Harald wandte sich zum Gehen. Er pfiff eine kleine süße Melodie und ging langsam davon. Er hatte etwas von einem Jüngling aus der Zeit der Renaissance, wie er, in nicht ganz gerader Haltung, die Augen seltsam verschleiert und grau gekleidet, seines Weges ging.

Er wollte noch zu Maria.

II

Draußen auf der Landstraße vorm Haus standen die Großen beisammen. Maria fehlte, auch Adele und Harald, die bei ihr sein mochten.

Es begann zu dämmern. Weiße Nebel stiegen über den Wiesen auf, die sich weit und stille vor den Schulgebäuden ausdehnten. Ein leichtes Frösteln ging durch die Bäume, die sich zu entlauben anfingen. Vom Dorfe her läuteten Glocken durch den einbrechenden Abend.

„Wie kühl es schon ist“, sagte Sibylle leise. Sie hob leicht die Schulter. Adolf stand gerade aufgerichtet mit hochgeschlagenem Hemdkragen und verschränkten Armen. Sein Blick forschte heiß und ruhelos über die weiten, dunkler werdenden Wiesen.

Johann, der einen häßlichen Gummimantel angezogen hatte, weil ihn fror, grübelte mit feuchtem Hundeblick der Entwicklung der menschlichen Seele nach, dem, was nebensächlich war und dem, was wesentlich. Johann neigte der Anthroposophie zu, und die Bildung seines Seelenlebens beschäftigte sehr seine Gedanken. Braun und mager wuchs sein Hals mit dem stark hervortretenden Adamsapfel aus dem Klappkragen des grauen Gummimantels. An einem breiten Riemen trug er in einem ledernen Etui ein Fernglas um den Hals hängen.

Martha lehnte still und schlicht an der Mauer in ihrem blaukarierten Leinenkittel und sah Adolf an.

So standen sie beieinander.

Adolf zog die Brauen zusammen und sagte wütend: „Die ganze Schulgemeinde über wünschte ich heute eine Handgranate bei mir zu haben, um sie auf diesen Herrn, diesen Professor schleudern zu können. — Was will er?“ rief Adolf, „was will dieser Herr von uns, was sollen uns seine Redensarten?“ und zuckend hob er die Hand wie zu einem Schlage.

Sibylle lachte leise und dunkel vor sich hin.

Im Hause begann jemand Klavier zu spielen. Es war Griegs Walzer in A-Moll. Sibylle wiegte leicht den Kopf nach dem Takte der Melodie. Schmal und schön stand sie mit ihren Knabenarmen in der Dämmerung.

Aus den dunklen Fenstern tönte Lärm. Da balgten sich die kleinen Jungen, und in unentwirrbaren Knäueln wälzten sie sich auf der Erde. Eine magere Lehrerin trat aus dem Haus, den Zwicker auf der spitzigen Nase, und lief mit trippelnden Schritten die Landstraße hinunter dem Dorfe zu.

Adolf sah wie scharf nachdenkend von einem zum anderen. Er hielt den Kopf ein wenig schief und sagte ganz langsam, jedes Wort betonend, während sein blutigroter Mund sich schief verzerrte: „Ja, ja — wir Jungen — —“

Die anderen standen regungslos in der Dunkelheit.

Johann wollte augenscheinlich etwas sagen. Mühsam regte er den schwerhängenden Mund. Aber Adolf kam ihm zuvor. Er verneigte sich halb vor Sibylle, und mit einer Stimme, als wolle er sie verspotten, sagte er: „Gehen wir noch ein wenig spazieren, meine Holde?“

Sibylle war burschikos, aufgeräumt und laut. „Warum denn nicht, mein Sohn“, rief sie und lachte. Sie wandte sich noch leichthin an Johann: „Wolltest du nicht gerade etwas sagen?“ fragte sie ihn. Aber Johann blickte bekümmert und schief zur Erde. „Ich wollte dich um dasselbe bitten“, sagte er leise.

Sibylle ging mit Adolf in das Dunkel hinein.

Martha neigte still das Gesicht.

Johann grübelte in seinem unschönen Gummimantel vor sich hin.

Sibylle plauderte entfernt und lachend an Adolfs Seite. Sie erzählte Anekdoten, sie ahmte Bekannte nach und zuweilen verstellte sie ihre Stimme, so daß sie ordinär und quiekend wurde. Sie sang auch unanständige kleine Couplets, wobei sie zum Takte mit den Fingern schnalzte, so daß es wie Kastagnetten klang. Aber dazwischen schwieg sie auch und ging still neben ihm her mit ihren rührenden Armen. Es war, als müsse sie sich zu all den Kunststückchen, zu den Couplets sowohl als zu der Fremdheit ihres Schweigens retten, aus Angst, der andere könne gar zu nahe an sie herankommen. Was in ihr Sehnsucht war, verbarg sich unter solchem Spiel und solchem Schweigen. So gingen sie nebeneinander, und jeder war allein. Adolf sprach wenig. Er hatte die Hände tief in die Taschen vergraben. Er trug den Kopf aufrecht. Mit zusammengezogenen Brauen schien er über allerlei nachzusinnen.

Sie standen auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe und blickten sprachlos über das dunkle Land. Mit vielen kleinen Lichtern glänzten die Gebäude der Schule.

Plötzlich sagte Adolf und sein Mund verzerrte sich: „Ja — ich gehe jetzt noch zu Martha.“ — Und er lief rasch und grußlos den Hügel hinunter.

Sibylle sah ihm mit dunkler werdenden Augen nach. Als seine enteilende Gestalt verschwunden war, senkte sie nur den Kopf. Ihr schweres braunes Haar lastete auf ihr wie eine köstliche Krone. —

Adolf trat, noch keuchend vom Lauf, in Marthas Zimmer. Hier war es sehr sauber aufgeräumt und roch nach Feldblumen. Martha saß still am Fenster und sah dem Eintretenden durch das Halbdunkel entgegen. „Guten Abend“, sagte sie. Adolf stand hochaufgerichtet mitten im Zimmer. Ein Zittern lief seinen ganzen Körper hinunter.

Sie aber stand auf und kam ihm entgegen. Beim Gehen schwankten die schweren Brüste unter dem Leinen des Kleides. Schlicht und schön war ihr Gesicht, gerahmt von den hängenden Zöpfen. Wie im Traume griffen seine Hände nach ihr. Es war, als suchten sie tastend einen Ruhepunkt, Sie hatten beide, mitten im dunklen Zimmer sich gegenüberstehend, die Augen tief geschlossen.

III

Harald trat ins Zimmer, wo Maria und Adele zusammen hausten. Es bot einen seltsamen Anblick. Tische, Stühle, Betten und der ganze Fußboden waren bedeckt mit Kleidungsstücken aller Art, mit Bildern, Büchern, spitzenbesetzten Seidenhemdchen, und in der Mitte des Zimmers stand groß und gähnend ein offener schwarzer Koffer. Adele lief mit großen, feuchten Augen hin und wider und warf planlos, wie in einer Angst, alles, was ihr in den Weg kam, in den Koffer hinein. Sie stapfte auf dicken Sohlen durch das Zimmer, und ihre Stirne war umwölkt von allerlei tiefen und unergründlichen Sorgen.

Zwischen all dem Wust saß Maria am Schreibtisch über ein Telegrammformular gebeugt, den Kopf in die Hände gestützt. Sie trug ein zierliches rosa Ballettkleidchen, sie hatte sich die Beine weißgepudert, und das etwas spärliche Haar hing ihr in wirren Löckchen um das geschminkte Gesicht. Harald blieb an der Schwelle stehen und lachte. „Hier sieht es ja amüsant aus!“ sagte er und trat zu Maria hin.