(vorzüglich) bedient - René Bote - E-Book

(vorzüglich) bedient E-Book

René Bote

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Beschreibung

Johannes' erste Begegnung mit Rahel ist für beide mehr als peinlich: Rahels Großmutter lobt seine Mitarbeit im elterlichen Café und fragt ihn, ob er sich mit Rahel anfreunden will. Wenigstens ahnt weder Rahel noch ihre Großmutter, dass Johannes nicht zufällig an ihren Tisch gekommen ist. Es lässt sich ja auch gut an mit Johannes und Rahel - bis Rahel ohne Vorwarnung auf Abstand geht. Oder doch nicht? Johannes wird nicht mehr schlau aus ihr, und je länger er darüber nachdenkt, desto mehr verwirrt sie ihn.

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Das Bäckereicafé Schnur war leicht zu übersehen: Es lag am Rand der Altstadt in einer engen Gasse, die vom Strom der Passanten weitestgehend unberührt blieb. Das einzige Schaufenster war nicht sehr groß, weil die Fachwerkkonstruktion des Hauses mehr nicht zuließ, und es gab auch kein weithin sichtbares Schild. Natürlich stand der Name des Cafés in großen, dunklen Lettern über Schaufenster und Eingangstür, aber das sah man erst, wenn man fast schon davor stand. Ein Schild, das von der Hauswand in die Gasse hineinragte und auch von der Einmündung am Ende der Gasse aus zu sehen gewesen wäre, hatte die Stadtverwaltung untersagt: Es hätte die Durchfahrt blockiert für die wenigen Fahrzeuge, die überhaupt hier fahren durften.

Wie lange an diesem Ort schon Backwaren verkauft wurden, wusste niemand so genau. Die jetzige Inhaberfamilie betrieb die Bäckerei bereits in der vierten Generation, und gegeben hatte es sie schon davor. Vielleicht reichte die Geschichte bis ins Mittelalter zurück.

Die Möglichkeit, sich hinzusetzen, um ein Stück Kuchen zu essen und einen Kaffee dazu zu trinken, gab es noch nicht ganz so lange. Erst die Eltern der derzeitigen Inhaber hatten zwei Räume dafür hergerichtet und ungefähr zeitgleich auch das Angebot erweitert. Seitdem gab es dort nicht nur Brot, Brötchen und Stuten, sondern auch Kuchen und Torte. In jüngerer Zeit waren auch noch belegte Brötchen und Snacks dazugekommen, das wurde von einer Bäckerei heute einfach erwartet.

Weil die Qualität stimmte und immer Zeit war für ein freundliches Wort, kamen die Leute gerne. Die Einheimischen wussten natürlich, dass es das Schnur in der Seitengasse gab, und viele nahmen lange Wege in Kauf, um hier ihren Bedarf an Backwaren zu decken. Das war bemerkenswert, auch, weil es unmittelbar vor dem Haus überhaupt keine und auch im näheren Umfeld nur begrenzt Parkmöglichkeiten gab. Alles in allem brauchte sich der aktuelle Chef am Ofen trotz Konkurrenz durch große Ketten keine Sorgen zu machen, dass seine Generation die letzte sein würden.

Matthias Schnur war Ende dreißig und hatte zusammen mit seiner Frau vor zwei Jahren die Leitung der Bäckerei von seinen Eltern übernommen. Mutter und Vater arbeiteten trotzdem noch mit, und für die Kunden änderte sich gar nichts.

Matthias‘ Kinder waren noch zu jung, um in der Bäckerei mitarbeiten zu können, aber er war trotzdem zuversichtlich, eines Tages den Staffelstab an eines von ihnen weiterreichen zu können. Johannes, der Älteste, war dreizehn und huschte schon mal schnell hinter den Verkaufstresen, wenn er sah, dass im Laden gerade „Land unter“ war. Auch in der Backstube half er manchmal, aber nur kurz, weil die Gesetze da sehr streng waren; außerhalb des elterlichen Betriebs hätte er noch gar nicht arbeiten dürfen. Seine jüngeren Geschwister, Jesper und Caroline, waren erst acht und sechs und durften deshalb nur zuschauen. Sie interessierten sich aber sichtlich für den Beruf der Eltern und freuten sich immer riesig, wenn Mutter oder Vater privat backte und sie mitmachen durften.

Die Kundschaft im Laden war bunt gemischt: Jüngere und Ältere, Männer und Frauen, Betuchte und finanzielle weniger gut Gestellte, ein Schnitt durch alles, was die Gesellschaft hergab. Im Café war es dagegen anders, der Altersschnitt der Gäste wohl nicht so viel unter dem Rentenalter. Ältere Damen trafen sich gern zum Kaffeekränzchen im Schnur, und Herr Fink, der dreimal in der Woche morgens seinen koffeinfreien Kaffee trank, musste schon an die achtzig sein. Auch die Touristen, die ein gutes Gespür dafür hatten, die Cafés abseits der Touristenautobahnen zu finden, waren meist nicht mehr in den Zwanzigern.

Das Mädchen, das Johannes an einem Montag im Mai an einem der Tische entdeckte, passte in diese Gesellschaft wie ein Segelboot in einen Hafen voller Containerschiffe. Er sah es durch die Tür, die das Café mit dem Treppenhaus verband, und blieb überrascht stehen. Das Alter war nicht so leicht zu schätzen, weil das Mädchen ihm das Profil zuwandte und auch Größe und Statur nur zu erahnen waren, solange es saß. Johannes war aber sicher, dass es allenfalls minimal älter war als er selbst und wahrscheinlich eher etwas jünger. Es hatte langes, dunkelblondes Haar, das zu einem praktischen Pferdeschwanz gebunden war, und trug eine Brille. Bekleidet war es mit Jeans, T-Shirt und Sneakers, also nicht besonders herausgeputzt für den Cafébesuch, was auch nicht nötig war.

Ihre Begleitung war zu dritt und mindestens ein halbes Jahrhundert älter: drei ältere Damen, die sich recht gut zu kennen schienen. „Seltsame Kombination!“, dachte Johannes bei sich. Eine Großmutter oder Patentante, die ihre Enkelin oder Patentochter zu Kaffee und Kuchen einlud, wäre ihm noch eingegangen. Aber drei Rentnerinnen und eine Schülerin? Das konnte er sich allenfalls als Vorhut einer Familienfeier vorstellen, die noch auf den Rest der Festgesellschaft wartete. Allerdings war der Tisch mit vier Personen voll besetzt, und gerade kam Christopher, ein Ghanaer, der seit einem halben Jahr im Café Schnur arbeitete, mit einem Tablett an den Tisch. Nachdem er dreimal Kaffee oder Tee und eine Cola serviert hatte, brachte er wenig später noch vier Kuchenteller; das Quartett hatte also nicht bloß ein Getränk zum Überbrücken der Wartezeit bestellt.

Für mehr Betrachtungen hatte Johannes keine Zeit, er war nur nach unten gekommen, um seinen besten Freund reinzulassen, mit dem er verabredet war. Steve war schon halb die Treppe oben und drehte sich gerade um. „Was ist?“, fragte er. „Kommst du?“ Johannes riss sich los und beeilte sich, dem Freund nach oben zu folgen. Steve hatte zum Glück nicht gemerkt, warum er stehen geblieben war, und fragte auch nicht weiter nach, aber irgendwie schaffte Johannes es nicht ganz, die Beobachtung aus dem Gedächtnis zu streichen.

Eine Woche später, inzwischen war es Ende Mai, hatte Johannes ein Déjà-vu. Wieder war es eher zufällig, dass er ins Café schaute und das gleiche merkwürdige Quartett wie in der Vorwoche entdeckte. Es saß wieder am Vierertisch in der Ecke neben dem Durchgang zu Laden und war schon bedient worden. Johannes musste weiter, wenn er nicht zu spät zum Leichtathletik-Training kommen wollte, aber er nahm sich vor, seine Mutter zu fragen, ob sie das Mädchen kannte.

Nach dem Training machte er noch einen Umweg, um Ersatz für sein Geodreieck zu besorgen, das ihm zerbrochen war. Bis er wieder zu Hause war, war das Café geschlossen; es schloss wie der Laden abends um sieben. Seine Mutter war aber noch dabei, Tischdecken einzusammeln, um sie zu waschen, und neue aufzulegen. Indem er ihr dabei spontan zur Hand ging, verschaffte Johannes sich die Gelegenheit, halbwegs unauffällig nach den Gästen vom Nachmittag zu fragen.