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Du gehörst mir. Für den Londoner Galeristen Donald Ramsey ist Leidenschaft ein Fremdwort. Die Schönheit von Frauen bewundert er nur in Kunstwerken. Sein plötzliches Interesse an Anna, der neuen Assistentin, ist daher ungewohnt für ihn. So ungewohnt, dass Donald jemanden anheuert, um die junge Frau verführen zu lassen: Zeppo ist für diesen Job wie geschaffen – attraktiv, charmant und vollkommen skrupellos. Eine perfekte Intrige nimmt ihren Lauf. Doch Menschen sind keine Gemälde. Und ihr Preis hat nichts mit Geld zu tun … Wenn Besessenheit zum Mord führt: die Geschichte einer sexuellen Obsession.
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Seitenzahl: 432
Simon Beckett
Thriller
Übersetzt von Andree Hesse
Du gehörst mir.
Für den Londoner Galeristen Donald Ramsey ist Leidenschaft ein Fremdwort. Die Schönheit von Frauen bewundert er nur in Kunstwerken. Sein plötzliches Interesse an Anna, der neuen Assistentin, ist daher ungewohnt für ihn. So ungewohnt, dass Donald jemanden anheuert, um die junge Frau verführen zu lassen: Zeppo ist für diesen Job wie geschaffen – attraktiv, charmant und vollkommen skrupellos.
Eine perfekte Intrige nimmt ihren Lauf. Doch Menschen sind keine Gemälde. Und ihr Preis hat nichts mit Geld zu tun …
Wenn Besessenheit zum Mord führt: die Geschichte einer sexuellen Obsession.
Simon Beckett arbeitete als Hausmeister, Lehrer und Schlagzeuger, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Als Journalist hatte er Einblick in die Polizeiarbeit; dieses Wissen verarbeitet er in seinen Romanen. Die Thriller «Die Chemie des Todes», «Kalte Asche» sowie «Leichenblässe» standen monatelang auf Platz 1 der Taschenbuch-Bestsellerliste.
Simon Beckett ist verheiratet und lebt in Sheffield. Die Thriller «Obsession» sowie «Flammenbrut» nahmen die Bestsellerlisten ebenfalls im Sturm.
Weitere Veröffentlichungen:
Die Chemie des Todes
Kalte Asche
Leichenblässe
Obsession
Flammenbrut
Für Hilary
und Mom und Dad
Voyeur ist mein erster veröffentlichter Roman. Ich schrieb ihn zwischen 1991 und 1992, als ich tagsüber Häuser reparierte, nachts in einer Band spielte und dazwischen Ideen für Zeitungsartikel und Geschichten sammelte. Ich wollte Autor werden, hatte aber einige Zweifel daran, ob ich dieses Ziel jemals erreichen würde.
Die Idee für Voyeur basiert auf einem Traum, und ich wünschte, die Geschichten für meine folgenden Romane wären mir genauso mühelos eingefallen. Obwohl ich mich nur an einen Teil des Traumes erinnern konnte, ließ er mich nicht los. Während ich am folgenden Tag auf dem Baugerüst arbeitete, grübelte ich ständig darüber nach, und als ich abends in meine Dachwohnung zurückkehrte, nahm ich einen Notizblock und begann zu schreiben.
So entstand die unheilige Allianz von Donald Ramsey, dem Schöngeist und Kunsthändler, und dem amoralischen, hedonistischen Zeppo. Ich schrieb Voyeur mit der Hand und in der kürzesten Zeit, die ich jemals für einen Roman benötigte. Es war mein zweiter Versuch, ein Buch zu schreiben – der erste war auf ganzer Linie gescheitert. Aus dieser neuen Idee – einer Studie sexueller Obsession, die sowohl verstören als auch schwarzen Humor haben sollte – wollte ich einen wesentlich strafferen und klareren Text machen. Außerdem hatte ich eine ungewöhnliche Geschichte, denn der Erzähler ist nicht nur der Protagonist, sondern auch der Täter. Allerdings kein völlig unsympathischer, wie ich hoffe: Mir war es wichtig, dass Donald Ramsey trotz seiner entsetzlichen Taten menschlich erscheint.
Für das Buch einen Verleger zu finden dauerte länger, als es zu schreiben. Nachdem es alle wichtigen Verlagshäuser in Großbritannien abgelehnt hatten, machte ich mir über meine Zukunft eine Zeitlang ernsthafte Sorgen. Doch dann begann ich als freier Journalist zu arbeiten, und als ich eines Tages spät nach Hause kam und ein Interview mit einem Hundefänger hinter mir hatte, wartete eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter auf mich. Sie stammte vom Verleger von Allison & Busby, einem kleinen, unabhängigen Verlag, der Voyeur in einem Stapel der unaufgefordert bei ihm eingegangenen Manuskripte entdeckt hatte. Er hatte es nicht nur gelesen, was für die meisten unverlangt eingesandten Romane schon eine Seltenheit ist, er wollte es sogar kaufen.
Und so wurde ich ein publizierter Autor.
Voyeur war ein bescheidener Erfolg. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und sollte einige Male verfilmt werden, wozu es jedoch nie kam. Mehr noch als Obsession und Flammenbrut unterscheidet es sich von der David-Hunter-Reihe. Auch wenn ich zögern würde, es als einen «erotischen Thriller» zu bezeichnen, könnte der explizite sexuelle Inhalt manche Leser erschrecken.
Doch genau wie die detaillierten forensischen Beschreibungen in den Thrillern um David Hunter ist dieser Aspekt völlig in die Geschichte eingebettet. Denn sie soll überraschen und zum Nachdenken anregen und keinen billigen Kitzel erzeugen.
In diesem Sinne überlasse ich Sie nun Donald Ramsey …
Simon Beckett, September 2009
Anna und Marty waren ganz offensichtlich ineinander verliebt, und als ich beschloss, ihre Beziehung zu beenden, war mir klar, dass ich Hilfe brauchen würde. Für eine solche Aufgabe fehlte mir sowohl das notwendige Geschick als auch die Erfahrung.
Glücklicherweise kannte ich jemanden, der dafür wesentlich besser qualifiziert war.
Zeppo erinnerte sich nicht an mich, als ich ihn anrief, was mich nicht besonders überraschte. Wir hatten uns erst zweimal gesehen, und ich bin kein Mensch, der einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Zeppo dagegen ist das komplette Gegenteil.
Es war trübe in London und nieselte, als ich die Galerie schloss und zu dem Restaurant im West End fuhr, wo wir uns verabredet hatten. Zeppo war unpünktlich; ich hatte den Kellner schon zweimal weggeschickt, ehe er schließlich kam. Ich winkte ihm, und als er herüberschlenderte, schien er sich der Blicke der anderen Gäste nicht bewusst zu sein. Allerdings ging er ein bisschen zu langsam und bedächtig, um sie gar nicht zu bemerken.
Er begrüßte mich einigermaßen freundlich, entschuldigte sich jedoch nicht für seine Verspätung. Ich beschloss, es zu ignorieren.
«Du siehst braun gebrannt aus», sagte ich. «Warst du weg?»
«Ich bin gerade aus Italien zurückgekommen.» Sein Blick schweifte beim Sprechen durch den Raum. Er checkt sein Publikum, dachte ich.
«Arbeit oder Vergnügen?»
«Ein bisschen von beidem. Ich war wegen Aufnahmen dort, aber ich habe nebenbei ein bisschen Zeit zum Skifahren gefunden.» Er grinste. «Man muss das Beste draus machen, oder?»
«Dann läuft das Modeln also gut?»
«Für die Miete reicht’s. Und es ist besser, als zu arbeiten. Was macht das Kunstgeschäft?»
«Ach, hektisch wie immer.»
Der Kellner erschien und reichte ihm eine Speisekarte. Ich bestellte einen Wein, den ich für teuer genug hielt, um ihn zu beeindrucken. «Na schön. Du sagtest, du hättest ein Geschäftsangebot», sagte Zeppo, sobald der Kellner weg war.
Ich hatte gehofft, es würde etwas länger dauern, ehe wir zum Thema kamen. «Warum sprechen wir nicht beim Essen darüber? Es besteht keine Eile, oder?»
Er zuckte mit den Achseln. «Ich bin nur neugierig, um was es geht, das ist alles.»
Ich schlug meine Speisekarte auf. «Wollen wir nicht wenigstens erst bestellen?»
«Mir wäre es lieber, du sagst es mir gleich, wenn du nichts dagegen hast. Nimmt die Spannung weg.» Er schenkte mir ein ziemlich lustloses Lächeln. Widerwillig schlug ich die Karte zu.
«Wie du willst.» Ich korrigierte die Position meines Bestecks ein wenig. «Die Sache ist die, dass ich … äh, deine Dienste in Anspruch nehmen möchte.» Bei seinem Gesichtsausdruck wurde mir klar, dass er die falschen Schlüsse zog. «Es betrifft eine Frau», fügte ich schnell hinzu.
«Eine Frau?» Meine Verlegenheit schien ihn zu amüsieren.
«Ja.» Ich spürte ein Kratzen im Hals und hustete. «Meine Assistentin. In der Galerie. Es ist, äh … also, es ist eine ziemlich heikle Situation.» Ich räusperte mich erneut und war mir Zeppos leicht herablassenden Lächelns bewusst. Die Sache war schwer zu erklären. Ich kam gleich auf den Punkt.
«Ich möchte, dass du sie verführst.»
Ich weiß nicht, was er erwartet hatte, das jedenfalls nicht. Sein Lächeln verblasste. «Was?»
«Ich möchte, dass du sie verführst.» Ich spürte, wie mein Gesicht glühte. Dabei hatte ich nach allem, was ich über Zeppo wusste, keinen Grund, verlegen zu sein.
Er wollte gerade etwas sagen, als der Kellner kam. Ich probierte den Wein und erklärte ihn für akzeptabel, ohne ihn zu schmecken. Zeppo wartete, bis der Kellner verschwand, und beugte sich dann vor.
«Soll das ein Witz sein? Hat dich jemand auf mich angesetzt?»
«Aber nein.» Ich schüttelte vehement den Kopf, um ihn zu überzeugen. «Nein, ich meine es ernst.»
Er starrte mich an. «Verstehe ich dich richtig? Das ist das ‹Geschäftsangebot›, von dem du gesprochen hast? Du willst mich engagieren, um mit jemandem zu schlafen?»
Ich vergewisserte mich, dass uns niemand hören konnte. «Äh … ja, das ist richtig.»
«Mein Gott!»
«Ich bin bereit, gut dafür zu bezahlen.»
«Wie gut?» Ich sagte es ihm. Er sah überrascht aus. «Du willst so viel Geld ausgeben, nur damit ich mit dieser Frau ins Bett gehe?» Ich nickte. «Wieso?»
Ich versuchte ein Achselzucken. «Sagen wir einfach, ich lehne ihren gegenwärtigen Freund ab.»
«Das ist alles?»
«Äh … ja.»
Er lachte überrascht auf. «Ich glaube es nicht. Wir kennen uns kaum, und du bittest mich seelenruhig, mit einer Frau zu schlafen, nur weil dir ihr Freund nicht passt?»
«Mir ist klar, dass es eine ungewöhnliche Bitte ist. Deshalb biete ich ja eine so hohe Summe.»
«Das ist doch …» Er schüttelte schweigend den Kopf. «Warum interessiert es dich überhaupt, mit wem sie zusammen ist?»
Ich versuchte, gleichgültig zu klingen. «Anna ist eine schöne und intelligente junge Frau. Sie hat etwas Besseres verdient.»
Er schnaubte. «Ach, hör auf. Du machst das doch nicht aus reiner Herzensgüte. Was steckt wirklich dahinter?»
Ich zögerte und spürte, wie ich wieder errötete. «Ich finde Anna … sehr attraktiv. Aber mir ist klar, dass sich eine junge Frau wie sie kaum für einen Mann mittleren Alters wie mich interessieren wird. Ich akzeptiere das. Was ich nicht akzeptiere, ist, dass sie sich für jemanden vergeudet, der sie nicht verdient. Das kann ich nicht hinnehmen.»
Zeppo runzelte die Stirn. «Aber du bittest mich, mit ihr ins Bett zu gehen. Wird dich das nicht stören, wenn du selbst auf die Kleine stehst?»
«Nicht so sehr wie der Gedanke, dass sie mit ihm zusammen ist.» Da seine Miene noch immer skeptisch war, fügte ich hinzu: «Das mit dir soll ja nur eine Zwischenlösung sein. Und die würde zum Bruch zwischen den beiden führen. Das ist die Hauptsache.»
Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber es war ein Motiv, das Zeppo leicht glauben konnte. Er schien es hinzunehmen. «Du hast es echt auf den armen Kerl abgesehen, oder? Was hast du denn gegen ihn?»
«Es ist nichts Persönliches. Er ist einfach nicht die Sorte Mensch, die meiner Meinung nach geeignet für Anna ist, das ist alles.»
«Wieso? Was stimmt denn nicht mit ihm?»
«Er ist …» Ich suchte nach einer Erklärung. «Gewöhnlich.»
«Inwiefern? Gesellschaftlich? Intellektuell? Oder was?»
Ich faltete meine Serviette. «Äußerlich.»
Ein verständnisvoller Blick bemächtigte sich Zeppos Miene. «Und wenn sie schon nicht mit dir, sondern mit einem anderen zusammen ist, möchtest du wenigstens, dass es ein gutaussehender Typ ist. Ist das der Grund?»
«Ganz so hätte ich es nicht ausgedrückt, aber ja.»
Er lächelte steif. Ich trank einen Schluck Wein und war überrascht, dass mein Glas fast leer war. Ich füllte es nach. «Und wie eng ist die Beziehung zu ihrem Freund?», fragte Zeppo.
«Sehr eng, befürchte ich. Sie kennen sich noch nicht lange. Noch kein ganzes Jahr jedenfalls. Aber sie wohnen zusammen, und soweit ich das beurteilen kann, sind die beiden sehr ineinander verliebt.» Ich hielt inne. «Könnte das ein Problem sein?»
Er zuckte mit den Achseln. «Keine Ahnung. Um das zu wissen, müsste ich die beiden erst mal kennenlernen, oder?» Er schaute mich an. «Und noch habe ich nicht zugestimmt.»
«Nein, natürlich nicht», sagte ich schnell.
Er schwenkte sein Weinglas. «Aber warum fragst du ausgerechnet mich? Wir haben erst ein paarmal auf Partys miteinander gesprochen. Wie kommst du darauf, dass ich interessiert sein könnte?» Seine Stimme hatte einen misstrauischen Unterton. Aber darauf war ich vorbereitet.
«Du arbeitest als Dressman. Du lebst von deinem Aussehen. Und hier geht es im Grunde um etwas Ähnliches. Außerdem warst du der Einzige, der mir eingefallen ist. Ich kenne nicht viele Menschen, die für so etwas geeignet sind. Ich bin nur ein Kunsthändler. Ich bewege mich nicht in solchen Kreisen.»
Es gab noch einen anderen Grund. Aber den behielt ich für mich. Vorerst.
Er beobachtete, wie der Wein in seinem Glas einen Strudel bildete. «Und wenn ich nein sage?»
«Dann muss ich wohl einen anderen finden.» Ich hoffte, dass ich unbekümmert klang. «Ich habe dir gesagt, was ich zu zahlen bereit bin. Und der Job ist ja nicht gerade grauenvoll. Es wird bestimmt nicht besonders schwer sein, jemand anderen dafür zu finden. Aber es wäre einfacher, wenn du es tun würdest.»
Zeppo nahm das kommentarlos hin. Ich versuchte, seine Miene einzuschätzen, allerdings erfolglos. «Wie schnell kannst du mir eine Antwort geben?», fragte ich.
«Ist es so eilig?»
«Nein», log ich. «Aber wenn du kein Interesse hast, muss ich mich nach einem anderen umsehen. Je schneller ich weiß, wo wir stehen, desto besser.»
Er betrachtete wieder sein Glas. Als ich den in der Nähe lauernden Kellner bemerkte, winkte ich ihn weg. «Wo sind die Toiletten?», fragte Zeppo mit einem Mal.
«Äh … ich glaube, durch die Tür dort hinten.»
Er schob seinen Stuhl zurück und ging davon. Ich nahm die Speisekarte und las sie mechanisch, ohne ein einziges Wort zu erkennen. Ich legte sie wieder hin und nahm einen Schluck Wein. Zeppo schien eine Ewigkeit weg zu sein. Als er wieder durch die Tür kam, war ich froh. Dieses Mal sah er sich unverblümt um, als er das Restaurant durchquerte.
«Wie alt ist die Kleine überhaupt?», fragte er, sobald er sich hingesetzt hatte. «Anna, richtig?»
«Ja, Anna. Sie ist Anfang zwanzig.»
«Und du sagst, sie sieht gut aus.»
«O ja. Sehr gut. Jedenfalls meiner Meinung nach.»
Zeppo nickte. Seine rechte Hand lag auf dem Tisch, die Finger trommelten einen unregelmäßigen Rhythmus. Er wirkte ein wenig verändert, entschlossener als zuvor. Aber ich versuchte, mir nicht zu große Hoffnungen zu machen.
«Und du bezahlst in bar?»
«Bar, Scheck, wie du willst.»
Er verfiel wieder in Schweigen und trommelte weiter unruhig mit den Fingern. Ich wartete. Plötzlich grinste er.
«Okay. Warum nicht?»
«Das heißt, du wirst es tun?»
«Darum ging es doch, oder?»
Ich hoffte, dass man mir nicht ansah, wie erleichtert ich war. «Gut», sagte ich und atmete langsam aus. Ich lächelte ihn an. «Noch etwas Wein?»
Anna arbeitete seit fast vier Monaten in der Galerie. In den ersten drei hatte ich sie kaum wahrgenommen. Ich hatte sie angestellt, nachdem ihre Vorgängerin, deren Namen ich vergessen habe, blöd genug gewesen war, sich ausgerechnet von einem Bus überfahren zu lassen. Anna war einfach eine weitere Assistentin gewesen, die letzte in einer langen Reihe junger Frauen, die ich über die Jahre als Aushilfe engagiert hatte. Solange sie pünktlich und einigermaßen kompetent waren, interessierte ich mich nicht weiter für sie. Die Tatsache, dass Anna attraktiv war, war Zufall und hatte keine Bedeutung.
Sex war mir schon immer ziemlich gleichgültig gewesen. Selbst als junger Mann hatte ich kein großes Interesse an dem Thema gehabt, und das bisschen Neugier, das ich hatte, wurde erst mit Mitte zwanzig befriedigt, als ich mich dazu verleiten ließ, die Dienste einer Prostituierten in Anspruch zu nehmen. Die Erfahrung war unangenehm, und ich verspürte keinerlei Bedürfnis, sie zu wiederholen. Stattdessen verdrängte ich den Vorfall und konzentrierte mich auf ein würdevolleres Ventil für meine Energien: Kunst.
Eine Zeitlang wollte ich selbst Künstler werden. Leider schien mein Talent jedoch eher darin zu bestehen, Kunstwerke einzuschätzen, als zu erschaffen, eine Tatsache, die mich glücklicherweise dazu brachte, von meinen Versuchen abzulassen, ehe sie zu peinlich wurden. Ich war enttäuscht, aber realistisch. Wenn mir meine eigene Arbeit keine Karriere ermöglichen kann, so schlussfolgerte ich, könnte ich es wenigstens durch die Arbeit anderer Leute zu etwas bringen. Ich besaß bereits eine bescheidene Sammlung von Ölgemälden und Aquarellen, sodass der nächste Schritt auf der Hand zu liegen schien. Ich wurde Händler.
Mein Interesse an erotischer Kunst entfaltete sich allerdings erst mit dem Erwerb meines ersten Artefaktes. Es handelte sich um eine französische Schnupftabaksdose aus dem achtzehnten Jahrhundert, deren Wert sich nicht offenbart, bevor man sie öffnet. Auf der Innenseite des Deckels befindet sich das Bild einer jungen Frau, die kokett ihre Röcke hebt, um zu zeigen, dass sie darunter nichts trägt. Ich war sofort verzaubert. Ich musste die Dose haben und war gekränkt, als sich der Besitzer, ein älterer Mann, den ich wegen einer anderen Angelegenheit aufgesucht hatte, beharrlich weigerte, sie zu verkaufen. Erst als er starb, konnte ich seine Witwe davon überzeugen, dass ihr Ehemann eine Vereinbarung mit mir getroffen hatte, und so die Dose für mein ursprüngliches Angebot erwerben.
Die Schnupftabaksdose wurde das erste Stück meiner speziellen Privatsammlung. Natürlich war mir bewusst, welche Ironie darin steckte, von Erotika fasziniert zu sein, während der eigentliche Vollzug keinen Reiz auf mich ausübt. Doch dieses und auch die folgenden Kunstwerke schienen eine Feinheit und eine Anmut zu besitzen, welche dem körperlichen Akt völlig fehlen. Sie erfüllten mich auf eine Weise, wie es der bloße Geschlechtsverkehr nie getan hatte.
Zufrieden mit meinem Leben, kam ich in die Jahre. Ich hatte alles, was ich wollte: ein florierendes Geschäft und eine private, harmlose Leidenschaft, die zu befriedigen ich mir leisten konnte. Ich wollte meine Situation weder verändern, noch sah ich irgendeinen Grund, warum sie anders sein sollte. Und wäre ich nicht eines Abends geistesabwesend gewesen, wäre das wohl auch immer so geblieben.
Anna hatte die Galerie schließen sollen, da ich auf dem Weg zu einer Auktion war. Die Veranstaltung war nur für geladene Gäste, und ich war schon fast dort, als mir einfiel, dass ich meine Einladung im Büro vergessen hatte. Verärgert fuhr ich zurück, um sie zu holen.
Ich rechnete damit, die Galerie leer vorzufinden. Es war nach Geschäftsschluss, als ich zurückkehrte, sodass ich annahm, dass Anna bereits nach Hause gegangen war. Ich parkte in der Gasse auf der Rückseite und schloss auf. Im Gebäude war alles dunkel. Zwei Treppen führen hinauf ins Büro, eine von der Galerie im vorderen Bereich, die andere vom hinteren Lagerraum. Am Fuße der letzteren schaltete ich das Licht an. Die Birne flackerte und ging dann aus. Wütend stieg ich die Stufen im Dunkeln hinauf, und erst als ich schon fast oben war, fiel mir auf, dass im Büro Licht brannte.
Meine spontane Reaktion war, zurück zum Wagen zu gehen und die Polizei zu rufen. Im Falle eines Einbruchs wollte ich nicht dazwischengeraten. Doch die Angst, mich durch einen falschen Alarm lächerlich zu machen, hielt mich davon ab. Ich zögerte. Dann, überrascht von meinem Mut, stieg ich die Treppe bis zum Ende hoch.
Die Bürotür war ein Stückchen geöffnet. Durch den Spalt fiel Licht auf den dunklen Flur. Auf Zehenspitzen schlich ich langsam näher, sodass ich weiter ins Zimmer schauen konnte. Und als ich nur noch wenige Schritte entfernt war, hörte ich Anna husten.
Ich entspannte mich. Erleichtert und etwas verärgert machte ich einen weiteren Schritt nach vorn, um mich bemerkbar zu machen, blieb dann aber stehen.
Durch den Türspalt konnte ich jetzt den großen Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen sehen, der an der gegenüberliegenden Wand hängt. Darin erkannte ich den Teil des Büros, der hinter der Tür versteckt lag. Das Bücherregal, meinen Schreibtisch, die Tischlampe, die einen goldenen Schimmer ins Zimmer warf. Und Anna.
Abgesehen von einem weißen BH und einem weißen Slip, war sie nackt. Sie hatte ihr Gewicht auf ein Bein verlagert und das andere leicht angewinkelt, während sie mit beiden Händen auf ihren Rücken griff. Für einen Augenblick rührte sie sich nicht. Im Rahmen des Spiegels an der leeren Wand wirkte die Szene so vollkommen wie ein Gemälde. Als der BH dann geöffnet war, bewegten sich ihre Brüste plötzlich nach vorn. Anna schob ihre Schultern vor und streifte ihn ab. Während der BH außerhalb meines Sichtfeldes zu Boden fiel, klemmte sie ihre Daumen unter den Bund des Slips und schob ihn hinunter. Als sie sich nach vorn beugte, schaukelten ihre Brüste, und das dunkle Haar fiel ihr auf die Schulter. Dann drehte sie sich zum Spiegel um. Und zu mir.
Instinktiv schreckte ich zurück. Doch der Flur war dunkel: Ich war unsichtbar. Vorsichtig bewegte ich mich wieder nach vorn. Jetzt war Annas Spiegelbild genau in meine Richtung gewandt. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar und band es mit einem schwarzen Gummi zu einem Pferdeschwanz. Ihr Kopf war leicht geneigt, ihre Brüste strafften sich und bebten. Sie hatte einen flachen Bauch, der unten leicht gewölbt war und einen wohlgeformten, tiefen Nabel hatte. Das dichte, dunkle Schamhaar darunter war von der Unterwäsche noch platt gedrückt.
Dann drehte sie sich um und bückte sich nach etwas auf dem Boden, sodass ich ihren vorgebeugten Rücken sehen konnte. Dort, wo das Licht ihn traf, schimmerte er, während ihre Wirbelsäule sich als dunkle Furche abzeichnete. Sie bückte sich tiefer, Hände und Schulter tauchten hinab, bis ihr Hintern beinahe herzförmig wurde. Zwischen ihren Oberschenkeln bildete sich eine kleine, dunkle Raute. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, streifte sie sich einen neuen, dieses Mal schwarzen Slip über und nahm eine Strumpfhose. Sie zog sie über die Beine und den Bauch bis zum Nabel, sodass der untere Teil ihres Körpers ganz schwarz und der obere noch nackt und weiß war.
Als sie sich plötzlich vom Spiegel entfernte, konnte ich sie nicht mehr sehen. Panik kam in mir auf. Doch fast augenblicklich kehrte ihr Spiegelbild zurück, ein schwarzes Kleid in den Händen. Mit Bedauern beobachtete ich, wie ihr Körper darin verschwand, und erhaschte einen letzten Blick auf ihre Brüste, die sie behutsam ins Oberteil schob. Dann machte sie das Kleid auf dem Rücken zu und war wieder verhüllt.
Ich blieb im Flur stehen und konnte mich nicht damit abfinden, dass es vorbei war. Erst als Anna Lippenstift auftrug, wurde mir bewusst, wo ich war und was ich tat. Ich schlich von der Tür weg und ging zitternd und schwindlig die Treppe hinab. Unten lehnte ich mich gegen die kühle Wand und schloss die Augen. Als mir sofort das Bild der nackten Anna im Spiegel erschien, machte ich sie schnell wieder auf. Ich wartete, bis der Druck auf meine Brust und der Kloß in meiner Kehle verschwunden waren, und stieg dann die Treppe wieder hoch.
«Anna? Sind Sie das?», rief ich.
«Mr. Ramsey?» Aus dem Büro waren hektische Geräusche zu hören. Dann kam Anna an die Tür. Sie sah verlegen aus. «Entschuldigen Sie, ich habe mich gerade umgezogen. Ich habe Sie nicht zurückerwartet.»
«Schon in Ordnung. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich habe ein paar Papiere vergessen.» Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, warum ich eigentlich zurückgefahren war.
«Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich das Büro als Umkleideraum benutze.»
«Überhaupt nicht.» Ich folgte ihr hinein. Nichts erinnerte mehr an die Szene, deren Zeuge ich geworden war. Das Deckenlicht war an und warf ein grelles Licht ins Zimmer. Ich versuchte, nicht zum Spiegel zu schauen. «Wollen Sie fein ausgehen?»
«Ich treffe mich mit meinem Freund zum Essen, danach wollen wir ins Theater. Es wird ein Stück von Alan Ayckbourn gespielt.»
«Aha.» Ich konnte nicht anders, als an den Körper unter dem Kleid zu denken. Der jetzt von einem dünnen Stoff verhüllt war. Mir fiel ein, dass sie einen BH ausgezogen, aber keinen neuen angezogen hatte. Ich fragte mich, ob sie nur zur Arbeit einen trug. In meiner Anwesenheit. Der Gedanke verwirrte mich. «Na, dann hoffe ich, dass Sie sich amüsieren.»
Sie lächelte. Zum ersten Mal sah ich sie richtig an und bemerkte die dunklen Augenbrauen und die gerade, ziemlich lange Nase. Den großen Mund mit den, wie ich jetzt sah, sinnlichen Lippen. Ich beneidete ihren Freund. «Ja, hoffentlich. Die Karten haben ein Vermögen gekostet.» Sie drehte sich um und nahm eine Umhängetasche vom Boden. Für einen kurzen Moment zeichnete sich ihr Po unter dem Stoff des Kleides ab. Ich erinnerte mich an die sanfte, blasse Herzform, die er gebildet hatte.
«Mögen Sie Ayckbourn?», fragte ich.
«Keine Ahnung. Ich habe bisher noch nichts von ihm gesehen. Aber Marty – das ist mein Freund – hält ihn für genial.» Sie grinste. «Eigentlich traurig. Da muss mich erst ein Amerikaner dazu bringen, ein Stück eines englischen Autors zu sehen.»
«Ihr Freund ist Amerikaner?» Plötzlich wurde mir klar, wie wenig ich von ihr wusste. Bisher hatte es mich nicht interessiert.
«Er ist aus New York. Na ja, eigentlich aus Boston. Er ist hier an der Uni.» Sie rückte ihre Umhängetasche zurecht, ein Zeichen dafür, dass sie sich verabschieden wollte. Doch ich konnte sie noch nicht gehen lassen.
«Tatsächlich? Welches Fach?»
«Humanethologie. Er schreibt an seiner Doktorarbeit.»
«Wie kommt es, dass er sich für London entschieden hat? Das ist doch ganz schön weit weg für ihn, oder?»
«Also, ich glaube, ein wichtiger Grund war, dass er England kennenlernen wollte. Aber er sagt, dass der Fachbereich hier ziemlich gut ist.»
Sie schaute auf ihre Uhr. Mir war klar, dass ich sie aufhielt, aber ich hatte das Gefühl, ich müsste meine frühere Ignoranz gutmachen. Ich versuchte, ungezwungen zu klingen. «Sind Sie schon lange zusammen?»
«Fast ein Jahr.» Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
«Sie scheinen ihn sehr zu mögen.» Sie errötete. «Entschuldigen Sie, ich sollte nicht so neugierig sein.»
«Schon in Ordnung. Sie sind nicht neugierig.»
Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Eine Weile standen wir beide unsicher schweigend da.
«Tja, dann gehe ich mal», sagte Anna. «Oder brauchen Sie mich noch?»
«Nein, nein, ich glaube nicht.» Ich wollte nicht, dass sie geht, mir fiel aber auch keine Ausrede ein, um sie dazubehalten. Ich machte ihr Platz und bemerkte entsetzt, dass ich eine Erektion hatte. Nervös trat ich hinter den Schreibtisch. Zum Glück hatte ich noch meinen Mantel an.
«Dann bis morgen. Tschüs.» Anna verließ den Raum, und ich hörte sie nach unten gehen. Einen Moment später fiel die Tür ins Schloss.
Ich rührte mich nicht. Ich war völlig verwirrt. Ich schaute hinüber zum Spiegel. Jetzt sah man darin nur das Büro und mich: grauhaarig, mittleren Alters und unattraktiv. Ich schaltete das Deckenlicht aus, sodass der Raum wie zuvor nur von der Schreibtischlampe erleuchtet wurde. Dann stellte ich einen Stuhl so hin, dass mein Blick ungefähr dem entsprach, den ich zuvor von draußen hatte, und starrte auf den Spiegel. Es war nichts zu sehen, doch mit ein wenig Konzentration konnte ich mir Anna darin vorstellen. Ich schloss die Augen. Das Bild blieb bestehen. Noch einmal sah ich ihre Brüste vor mir und verfolgte im Geiste jede Kurve und jede Wölbung ihres Körpers. Ich sah ihren flachen Bauch, ihren Nabel, das schwarze Schamhaar. Sie beugte sich wieder nach vorn, und ich sah ihren straffen und runden Hintern, der von einem harmlosen, doch aufreizenden Schatten geteilt wurde. Mit geschlossenen Augen spielte ich alles in Zeitlupe ab und konnte bei manchen Szenen nach Belieben verweilen oder sie erneut anschauen.
Von da an war ich besessen. Ich konnte Anna nicht mehr anschauen wie zuvor. Oder, besser gesagt, ich schaute sie zum ersten Mal richtig an. Ich bemerkte Dinge, die mir vorher nie aufgefallen waren, weder an ihr noch an anderen Menschen. Jeden Morgen wartete ich gespannt darauf, dass sie in die Galerie kam, und fragte mich, was sie anhaben würde und ob sie ihr Haar zurückgebunden hatte oder offen trug. Mir fiel auf, wie sich ihre Kleider an ihren Körper schmiegten, wenn sie sich bewegte, und dass sie einen ganz besonderen, eigenen Geruch hatte. Alles an ihr schien vollkommen zu sein.
Doch es war eine harmlose Besessenheit. Ich kannte meine Grenzen und hatte keinerlei Ambitionen, sie zu meiner Geliebten zu machen. Ein solcher Gedanke lag so weit außerhalb meines Erfahrungsbereiches, dass er praktisch unvorstellbar war. Das Beste, was ich jemals zu erhoffen wagte, war, ihr Freund zu werden, und zu diesem Zweck bemühte ich mich darum, die Zurückhaltung aufzubrechen, die zwischen uns bestanden hatte. Es war erstaunlich einfach. Das Schwerste daran war, mein plötzliches Interesse nicht zu offensichtlich erscheinen zu lassen. Ich hätte sie stundenlang beobachten und mich an jeder ihrer unbewussten Bewegungen erfreuen können, um sie für spätere, private Nachbetrachtungen im Geiste zu bewahren. Die feine Struktur ihres Halses oder ein paar Zentimeter nackter Haut konnten mich für Stunden in den Bann ziehen. Ständig war ich mir ihres Körpers unter der Kleidung bewusst, die nur das zu betonen schien, was sie verhüllte. Als sie eines Tages ganz offensichtlich keinen BH trug, konnte ich meinen Blick kaum von dem Vibrieren und Schaukeln ihre Brüste abwenden. Ich redete mir ein, es wäre ein Zeichen dafür, dass sie sich wohler zu fühlen begann. Tatsächlich hatte ich in der Vergangenheit aber nie darauf geachtet, ob sie einen BH trug oder nicht.
Während sie in meiner Gegenwart entspannter wurde, erfuhr ich mehr über ihr Privatleben. Und besonders über Marty, ihren Freund. Ihre Gefühle für ihn lagen auf der Hand, und je mehr ich erfuhr, desto neidischer wurde ich auf diesen mir unbekannten Mann. Und neugieriger. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er aussah, und machte mir im Geiste ein Bild von ihm: groß, dunkelhaarig und gutaussehend. Ein männliches Ebenbild von Anna. Allein die Tatsache, dass er Amerikaner war, trübte dieses Bild, aber das war wahrscheinlich nur meinen Vorurteilen zuzuschreiben. Der Mensch, den Anna liebte, musste etwas Besonderes sein. Ich war mir sicher, dass sie sich nicht mit weniger zufriedengeben würde.
Dann bot sich die Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Eines Nachmittags kam Anna zu mir. «Haben Sie heute Abend schon etwas vor?», fragte sie.
Ich versuchte, meine plötzliche Aufregung zu verbergen. «Nein, eigentlich nicht. Weshalb?»
«Also, dann könnten Sie mir einen schrecklich großen Gefallen tun. Aber nur, wenn es keine Umstände macht.»
«Bestimmt nicht. Worum geht es denn?»
«Eine Freundin von mir ist Künstlerin, und heute Abend ist ihre erste Ausstellung. Ich habe mich gefragt, ob Sie nicht vielleicht vorbeischauen könnten, wenn Sie nichts anderes vorhaben? Sie ist echt nervös, deshalb wäre es gut, wenn möglichst viele Leute kommen. Und da Sie ja ziemlich einflussreich sind, würde sie sich bestimmt freuen, wenn Sie da wären.»
Ich zitterte vor Freude. «Es wäre mir ein Vergnügen.»
«Es wäre wirklich kein Problem? Ich weiß, dass es sehr spontan ist.»
«Nein, wirklich, ich komme gern.»
Anna strahlte mich an. «Danke, das ist großartig! Marty hat gleich gesagt, dass Sie nichts dagegen haben würden.» Ich war mir nicht sicher, ob mir die Bedeutung dessen gefiel oder nicht. Dann kam mir ein anderer Gedanke. «Wird Marty heute Abend auch mitkommen?»
«Ja. Wir werden so gegen acht Uhr da sein. Aber Sie müssen nicht so früh kommen.»
Ich versicherte ihr, dass es nicht zu früh für mich wäre, und versuchte, aufmerksam ihrer Wegbeschreibung zum Ausstellungsort zu folgen. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich würde Annas Freund kennenlernen. Ihren Liebhaber.
Mit einem Mal war ich von großer Unruhe erfüllt.
Die Ausstellung fand in einer kleinen Galerie in Camden statt. Ich kam kurz vor acht dort an. In meinem Magen rumorte es. Seit dem Mittag hatte ich nichts gegessen, aber ich war zu nervös, um Hunger zu verspüren. Die Galerie wirkte einladend, und als ich näher kam, konnte ich drinnen die Leute herumlaufen sehen. Ich spähte durch die Fenster und versuchte, Anna zu erkennen und meine Nerven zu beruhigen, bevor ich hineinging, hatte aber mit beidem keinen Erfolg. Ich holte tief Luft und öffnete die Tür.
Sofort wurde mir von einem spindeldürren jungen Mann in einem weiten Pullover ein Glas Wein in die Hand gedrückt. Der Wein stammte offensichtlich aus einem billigen Tetrapack, doch ich nahm ihn dankbar an und sah mich nach Anna um. Sie war nirgends zu sehen. Ich schaute auf meine Uhr. Es war noch nicht ganz acht, und während sich in mir Enttäuschung mit Erleichterung vermischte, wandte ich meine Aufmerksamkeit der Ausstellung zu.
Die Schmierereien waren noch amateurhafter, als ich befürchtet hatte. Selbst auf hohem Niveau habe ich nichts für abstrakte Kunst übrig, und davon waren diese Machwerke meilenweit entfernt. Ich erkannte einen Kritiker in der Menge, und der Blick, den er mir zuwarf, bestätigte meine Meinung. Die meisten Gäste schienen hauptsächlich an dem gratis ausgeschenkten Wein interessiert zu sein, was ich ihnen nicht verübeln konnte. Ich überlegte gerade, ob ich mir noch ein zweites Glas genehmigen sollte, als ich hinter mir Annas Stimme hörte.
«Hallo. Sind Sie schon lange hier?»
Überrascht und aufgeregt drehte ich mich um. «Nein, nein. Ich bin gerade gekommen.»
Ich sog ihr Parfüm ein. Sie trug noch ihren Mantel und hatte einen Schal um den Hals gewickelt. Ihr Gesicht war von der Kälte gerötet. «Entschuldigen Sie, dass wir erst jetzt kommen. Die U-Bahn hatte wieder Verspätung, und wir konnten kein Taxi kriegen. Wir sind von der Station zu Fuß gegangen.» Sie trat einen Schritt zur Seite. «Marty haben Sie noch nicht kennengelernt, oder?»
Mir war zwar aufgefallen, dass jemand direkt hinter ihr stand, aber nur am Rande. Er war meiner Vorstellung von Marty so unähnlich, dass ich ihm keine Beachtung geschenkt hatte. Als er nun einen Schritt vortrat und seine Hand ausstreckte, war ich derart geschockt, dass ich kaum reagieren konnte.
Der große, gutaussehende Marty meiner Phantasie existierte nicht. Die Kreatur, die Anna mir vorstellte, war klein, schmächtig und gnomenhaft. Die Kleidung schlotterte um seine dürre Gestalt, eine Hornbrille ließ die Augen in dem schmalen Gesicht überproportional groß erscheinen. Sein Haar war ungekämmt und straßenköterblond, was das Bild eines stubenhockenden Schuljungen vervollständigte.
Während ich ihm die Hand gab, rang ich mir ein Lächeln ab. «Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.»
«Gutes oder Schlechtes?» Sein amerikanischer Akzent war relativ dezent. Aber seine Nationalität war mittlerweile das geringste Übel.
Ich erholte mich von meinem anfänglichen Schock. «Oh, keine Sorge. Nur Gutes natürlich.»
«Ich habe ihm nur von deinen guten Seiten erzählt», sagte Anna. Die beiden lächelten sich an.
«Gib mir deinen Mantel, ich werde irgendwo einen Platz dafür finden», sagte er. «Möchten Sie noch ein Glas Wein, Mr. Ramsey?»
Ich hatte das Gefühl, einen zu brauchen. «Wenn es keine Umstände macht.» Ich biss die Zähne zusammen. «Und sagen Sie doch Donald zu mir.»
Marty nahm Annas Mantel und verschwand in der Menge. Er stach in keiner Weise daraus hervor.
«Und, was denken Sie?», fragte Anna. Ich schaute sie verwirrt an.
«Entschuldigung?»
«Die Ausstellung. Hatten Sie schon Gelegenheit, sich die Bilder anzuschauen?»
Für einen Moment hatte ich gedacht, sie wollte meine Meinung über ihren Freund hören. «Alle habe ich noch nicht gesehen», antwortete ich ausweichend.
«Ach, da ist ja Teresa», sagte Anna und schaute an mir vorbei. «Sie ist die Künstlerin. Ich gehe schnell zu ihr und begrüße sie. Soll ich Sie vorstellen?»
Mir fiel kaum etwas ein, was ich weniger wollte. Aber so blieb ich immerhin in Annas Nähe. «Ja, gerne.»
Teresa war ein dünne, angespannte Frau, die vollständig in Schwarz gekleidet war. Ihr Augen-Make-up war beinahe so beängstigend wie ihre Kunst. Um Annas willen gab ich mir alle Mühe, ermutigend zu klingen, ohne mich festzulegen. Wenige Augenblicke später gesellte sich Marty zu uns. Dann erreichte der Abend seinen Tiefpunkt, denn die Künstlerin bestand darauf, uns persönlich durch die Ausstellung zu führen, und erläuterte ihre Absichten und Methoden in zermürbenden Einzelheiten. Doch da mittlerweile ein starker Widerwille beim Anblick von Marty in mir aufkam, war ich froh, dass die junge Frau den Klang ihrer Stimme so sehr liebte, dass ich den Gebrauch meiner eigenen auf ein Minimum reduzieren konnte.
Schließlich zog sie auf der Suche nach anderen Opfern von dannen. Ich stand mit Anna und Marty vor einer riesigen Leinwand, die aussah, als hätte ein Kind seinen Pudding verschmiert.
«Ich glaube, Teresa ist ziemlich nervös», sagte Anna nach einem Moment. «Sie ist sonst nicht so aufdringlich.»
«Ich nehme an, so eine erste Ausstellung zehrt an den Nerven», sagte ich, um Anna zu beruhigen.
Marty betrachtete das Gemälde. «Es zehrt schon an den Nerven, wenn man sich das anguckt.»
«Marty!» Anna versuchte, ihn streng anzuschauen.
Er zuckte entschuldigend mit den Achseln. «Tut mir leid, aber warum soll ich drum herumreden? Ich sage es nur ungern, aber meiner Meinung nach sind die Sachen einfach nicht gut.» Mit einer Hand schob er seine Brille zurück. «Was meinen Sie, Donald?»
Mir gefiel es nicht, in Verlegenheit gebracht zu werden. «Nun ja, mein Geschmack ist es jedenfalls nicht. Ich habe nie viel für abstrakte Kunst übriggehabt.»
«Aber würden Sie sagen, dass die Bilder gut gemacht sind?», fragte Anna. «Auch wenn sie Ihnen nicht gefallen, finden Sie, dass … äh, Talent dahintersteckt?»
Ich bemühte mich, diplomatisch zu sein. «Tja, sie sind offenbar mit großer Hingabe gemalt worden. Außerdem ist es erst ihre erste Ausstellung. Aber …» Ich scheute mich vor direkter Kritik.
«Aber Sie finden sie eigentlich nicht gut», beendete Anna den Satz für mich.
Ich seufzte. «Nein, eigentlich nicht. Aber das ist natürlich nur meine Meinung.»
«Ich weiß, dass Teresa eine alte Freundin ist und du ihre Gefühle nicht verletzen willst», sagte Marty, «aber du musst zugeben, dass das hier ein Fehler ist. Sie hätte dabei bleiben sollen, in Covent Garden Porträts zu malen. Dadurch wäre zwar kein Kritiker auf sie aufmerksam geworden, aber sie hätte wenigstens etwas verdient. Mit diesen Sachen verschwendet sie ihre Zeit.»
Anna schaute auf das Bild vor ihr und nickte widerstrebend. «Arme Teresa. Sie hat alles, was sie hat, in diese Arbeiten gesteckt.»
«Das spricht nicht gerade für Teresa», brummte Marty. Anna knuffte ihn leicht und wandte sich mit einem reuevollen Lächeln an mich.
«Tut mir leid, dass ich Sie hierhergebeten habe, Donald. Mir war nicht klar, wie schlecht die Sachen sind.»
Es klang immer noch komisch, wenn sie meinen Vornamen benutzte. «Sie müssen sich nicht entschuldigen. Abgesehen von den Kunstwerken hat es mir gefallen.»
Marty schaute auf seine Uhr. «Okay, wir haben unsere Pflicht getan. Aber länger müssen wir nicht bleiben, oder?»
Bei dem Gedanken, dass die beiden aufbrachen, fühlte ich mich plötzlich leer. Mir fiel ein, dass ich noch nichts gegessen hatte, und ich überlegte, ob ich es wagen sollte, sie in ein Restaurant einzuladen. Doch während ich noch den Mut sammelte, um sie zu fragen, war die Gelegenheit vertan.
«Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir gehen, oder?», fragte Anna. «Wir hatten noch keine Möglichkeit, etwas zu essen, und wollen uns jetzt eine Pizza holen oder so.»
Ich lächelte. «Nein, natürlich nicht.»
Während Anna sich von der Künstlerin verabschiedete und Marty ihre Mäntel holte, wartete ich an der Tür. Diese paar Minuten allein reichten aus, um meine Depression in einen dumpfen Schmerz zu verwandeln. Wir gingen zusammen nach draußen. Jetzt konnte uns nichts mehr davon abhalten, getrennte Wege zu gehen. Ich in mein einsames Haus und die beiden zu ihrem unbekannten Ziel. Und schließlich ins Bett.
«Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?», fragte ich.
Anna schüttelte den Kopf. «Nein danke, das ist nicht nötig.»
«Es wäre kein Problem. Heute Abend ist es zu kalt, um zu Fuß zu gehen.»
«Nein, ehrlich, es ist okay.» Sie wandte sich an Marty. «Wir haben noch gar nicht entschieden, wohin wir gehen wollen, oder?»
«Nein. Wir müssen noch ausdiskutieren, ob wir zum Italiener oder zum Chinesen gehen. Aber trotzdem danke.» Er streckte lächelnd seine Hand aus, die in einem Handschuh steckte. «War nett, Sie kennenzulernen.»
Ich schüttelte sie. Sie verabschiedeten sich und gingen davon. Als ich ihnen hinterherschaute, fiel mir auf, dass seine schmächtige Gestalt nicht größer war als ihre. Er umarmte sie, und ich spürte ein bitteres, bleiernes Gefühl im Magen. Der Gedanke, dass sie sich einer solch erbärmlichen Kreatur hingab, war unerträglich. Nun traf mich die volle Wucht meiner Enttäuschung. Als ich nach Hause fuhr, stellte ich mir die beiden zusammen vor. Erst in einem Restaurant. Dann, später, zu Hause. Und zuletzt – wie sie nackt beieinanderlagen. Die Bilder waren so lebendig, als würde ich zuschauen, was dieses Mal aber unangenehm war. Plötzlich sah ich vor mir, wie er auf ihr lag, und verdrängte dieses Bild schnell wieder. Es war sinnlos, mich zu quälen. So unwürdig Marty auch war, Anna hatte sich schließlich für ihn entschieden. Ich konnte nichts dagegen tun.
Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich ihr immerhin nähergekommen war als jemals zuvor. Jetzt, wo das Eis gebrochen war und ich sie in Gesellschaft erlebt hatte, konnte ich auf etwas aufbauen. Das war nicht viel, aber es war alles, was ich hatte. Ich würde mich damit zufriedengeben müssen.
Erst als mir selbst dieser schwache Trost genommen werden sollte, fühlte ich mich zum Handeln gezwungen.
Ich fand es zufällig heraus. Es war kurz nach der Ausstellung. Ich war oben im Büro und Anna unten in der Galerie. Ich hatte nicht gewusst, dass sie gerade telefoniert, bis ich den Hörer des Büroanschlusses abnahm.
Es war nicht meine Absicht gewesen, sie zu belauschen. Doch es war verlockend, ihr zuhören zu können, ohne dass sie es wusste. Und nachdem ich gezögert hatte, blieb mir keine andere Wahl mehr. Als ich den Hörer abgenommen hatte, hatte sie das Klicken nicht bemerkt; wenn sie aber hörte, wie ich wieder auflegte, würde sie wissen, dass ich am anderen Ende gewesen war. Ich musste also zuhören.
Zuerst war mir nicht klar, worum sich das Gespräch drehte. Dann sagte Anna: «Ich weiß, dass es ein großer Schritt ist, aber ich will gehen», und da wurde ich noch hellhöriger. Das Wort «gehen» schien mit furchtbaren Bedeutungen beladen zu sein.
«Solange du dir sicher bist, ist ja alles in Ordnung», sagte die Person am anderen Ende, eine junge Frau. «Aber hast du dir schon mal überlegt, was passiert, wenn es nicht funktioniert? Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber so lange kennt ihr beide euch noch nicht, oder?»
«Ach, fang nicht damit an, Debbie. Das habe ich schon alles von meinen Eltern gehört. Du kennst doch meine Mutter.»
«Ja, aber in diesem Fall kann ich sie verstehen. Ich meine, ich mag Marty wirklich, aber es ist trotzdem ein unglaubliches Risiko, oder?»
«Das ist mir klar, aber ich muss es in Kauf nehmen. Es ist ja nicht so, dass ich es auf die leichte Schulter nehme. Manchmal habe ich Angst, wenn ich daran denke, aber ich kann doch nicht einfach hierbleiben und ihn allein gehen lassen, oder?»
«Könntest du nicht später nachkommen?»
«Und was bringt das? Wenn ich schon gehe, dann kann ich auch gleich mit ihm gehen. Sollen wir erst so lange getrennt sein, bis ich mir sicher bin, das Richtige zu tun? Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden, oder?»
Die andere Frau seufzte. «Ich weiß. Und ich würde wahrscheinlich genau das Gleiche tun, wenn ich du wäre. Ich bin einfach nur neidisch, dass nicht ich nach Amerika entführt werde.»
Das Zimmer begann sich zu drehen. Ich versuchte mir zu sagen, dass sie vielleicht nur darüber redeten, dass Anna in Urlaub fuhr, aber dann wurde mir selbst dieser Strohhalm entrissen.
«Hast du schon mit deinem Chef gesprochen?», fragte die Frau.
Annas Stimme wurde leiser. «Nein, noch nicht. Es soll ja erst in ein paar Monaten losgehen, da habe ich noch genug Zeit, um es ihm zu sagen. Wir werden so viel Geld brauchen, wie wir kriegen können, bis ich dort drüben einen Job finde, und ich will nicht, dass er mich rausschmeißt. Ich glaube kaum, dass er sauer wäre, aber ich will es nicht riskieren.»
Ich schloss die Augen. Ich wünschte, ich hätte den Hörer nicht abgenommen. Anna wollte weg. Wollte mit diesem erbärmlichen Gnom von einem Mann nach Amerika. Nicht genug, dass er sie nicht verdient hatte, jetzt wollte er sie mir auch noch wegnehmen. Und sie traute sich nicht einmal, es mir zu sagen. Den Rest des Gespräches nahm ich kaum noch wahr. Ich war gerade noch geistesgegenwärtig genug, um den Hörer aufzulegen, als es endete.
Während ich dasaß und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, kam bereits ein Verlustgefühl in mir auf. Und eine anschwellende Wut. Das war alles Martys Schuld. Anna würde mit ihm nach Amerika gehen, und ich würde sie nie wiedersehen. Ich konnte nichts tun, um sie davon abzuhalten: So ein erbärmliches Exemplar Marty auch war, ich war ein noch erbärmlicherer Rivale.
Es war im Grunde das erste Mal, dass ich mich als solchen sah. Doch jetzt war mit klar, dass wir genau das waren: Rivalen. Während sich diese Tatsache in meinem Kopf festsetzte, überlegte ich bereits, welche Vorteile ich ihm gegenüber hatte. Es war genauso traurig wie offensichtlich, dass es nur einen gab: seine Ahnungslosigkeit. Weder er noch Anna betrachteten mich als Bedrohung für ihre Beziehung. Und bis zu diesem Moment hatte ich mich selbst nicht als solche gesehen. Jetzt wusste ich jedoch, dass ich keine andere Wahl hatte: Ich würde alles dafür tun, dass sie nicht bei ihm blieb. Alles.
Die Frage lautete allerdings, was ich tatsächlich tun konnte. Der gesunde Menschenverstand sagte mir, dass ich allein sehr wenig würde ausrichten können. In diesem Moment kam ich auf die Idee, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen.
Zwei Tage später rief ich Zeppo an.
In der Nacht nach meinem Treffen mit Zeppo hatte ich einen seltsamen Traum. Normalerweise habe ich einen tiefen und schweren Schlaf: Falls ich dennoch träumen sollte, wie Psychologen behaupten, dann kann ich mich nicht daran erinnern. Doch dieser Traum war äußerst lebhaft. Ich befand mich in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich lag auf einem Sofa, und ich nehme an, dass ich ein Kind war, denn alles in dem Raum war größer, als es sein sollte. In der Nähe brannte ein Feuer, und mir war warm und behaglich zumute. Meine Mutter saß mit dem Rücken zu mir und bürstete sich vor einem Spiegel ihr Haar, während ich friedlich und sorglos dalag und zuschaute, wie es durch die Glut des Feuers bei jeder Bewegung der Bürste schimmerte.
Das war alles. Zumindest alles, woran ich mich erinnern konnte. Warum ich mich überhaupt daran erinnerte, weiß ich nicht. Nichts an dem Traum erschien außergewöhnlich. Doch die Erinnerung daran verfolgte mich, nachdem ich mich rasiert und gefrühstückt hatte, und sie schwirrte mir immer noch durch den Kopf, als ich zur Galerie fuhr.
Meine Ablenkung führe ich darauf und auf mein Treffen mit Zeppo am vergangenen Abend zurück. Als ich ins Zentrum von London kam, waren die Straßen vom üblichen Berufsverkehr verstopft, und ich kam nur langsam voran. Ich näherte mich einer Kreuzung und passierte die Ampel, und dann gab es plötzlich einen knirschenden Stoß.
Während der Wagen abrupt zum Stehen kam, wurde ich heftig durchgeschüttelt. Ein Range Rover war mir in den linken Kotflügel geknallt. Ich hatte kaum Zeit, um mich von dem Schock zu erholen, denn sofort plärrten die Hupen der Wagen hinter mir los. Verärgert starrte ich in den Range Rover und wollte der Frau am Steuer gerade ein Zeichen geben, dass sie ein Stück weiterfahren und auf mich warten sollte, als sie mit herrischen Gesten das Gleiche tat und dann zurücksetzte. Durch die unterschiedliche Höhe der Fahrzeuge hatten sich die Stoßstangen nicht verkeilt, sodass es nur leise quietschte. Sie fuhr um mich herum und hielt kurz hinter der Kreuzung am Straßenrand an.
Mein Wagen war bei dem Aufprall ausgegangen, und als ich den Motor wieder starten wollte, merkte ich, dass meine Hände zitterten. Das Geplärre der Hupen machte alles nur schlimmer, und der Motor sprang erst nach drei Versuchen an.
Mein linker Kotflügel erzeugte ein kratzendes Schleifgeräusch, als ich hinter dem Range Rover hielt. Ich zog die Handbremse an und stieg wütend aus. Während ich mir noch den ersten gepfefferten Satz überlegte, sprang die Frau schon aus ihrem Wagen und kam mir zuvor.
«Sind Sie blind? Die Ampel war rot!»
Ihre Anschuldigung verdutzte mich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie die Frechheit besaß, mir einen Fehler vorzuwerfen. «Ihre vielleicht. Meine war grün.»
«Das ist doch lächerlich. Ich bin bei Grün abgebogen. Sie sind einfach über die Kreuzung gefahren!» Sie betrachtete die Seite ihres Wagens. «O nein, schauen Sie sich das an! Er ist gerade aus der Werkstatt gekommen, und jetzt haben Sie das verdammte Seitenlicht kaputt gemacht.»
«Ich habe es kaputt gemacht?» Ich war fast sprachlos. «Sie sind in mich reingefahren!» Ich bückte mich, um den Schaden an meinem Wagen zu begutachten. Der linke Kotflügel war eingebeult und an einer Stelle bis auf den Reifen gedrückt worden. Im Vergleich dazu hatte der Range Rover kaum einen Kratzer abbekommen.
«Geben Sie mir Ihre Telefonnummer», verlangte die Frau. «Idioten wie Sie sollte man gar nicht auf die Straße lassen. Stellen Sie sich mal vor, ich hätte ein Kind dabeigehabt.»
«Das hätte Ihnen vielleicht gesagt, dass man nicht bei Rot über eine Ampel fährt!»
«Na schön!» Sie drehte sich plötzlich zu den Leuten um, die auf dem Bürgersteig vorbeigingen. «Entschuldigen Sie, hat jemand von Ihnen gesehen, wie mir dieser Mann reingefahren ist?» Ein paar Passanten starrten herüber. Ein oder zwei Leute wurden langsamer, aber keiner blieb stehen. Meine Wangen glühten. Sie wandte sich an einen älteren Mann, der langsamer als die anderen geworden war. «Haben Sie gesehen, was passiert ist? Dieser Mann ist einfach bei Rot über die Ampel gefahren und hat mich gerammt. Ich brauche einen Zeugen.»
«Ich habe nur gesehen, wie Sie angehalten haben. Dass er Sie gerammt hat, habe ich nicht gesehen.»
Es war lächerlich. «Ich habe sie nicht gerammt! Sie hat mich gerammt!» Ich schaute mich nach eigenen Zeugen um. Der Verkehr strömte zügig vorbei. Die Autos, die hinter mir gewesen waren, waren weg.
«Aber haben Sie denn nicht gesehen, was passiert ist?», fuhr die Frau unbeirrt fort. Der Mann war stehen geblieben. Er schüttelte unschlüssig den Kopf. Andere Passanten gingen mit neugierigen Blicken vorbei.
«Er hat bereits gesagt, dass er nichts gesehen hat», sagte ich.
«Ich rede nicht mit Ihnen, ich rede mit ihm. Haben Sie gesehen, wie er bei Rot über die Kreuzung gefahren ist? Sie müssen es gesehen haben, wenn Sie vorbeigegangen sind.»
Der Mann schüttelte den Kopf und schlich sich schon langsam davon. «Nein, nein. Tut mir leid.»
«Warten Sie», rief die Frau hinter ihm her, aber er hatte seinen Schritt beschleunigt und schüttelte nur noch einmal mit dem Kopf, um sich aus der Affäre zu ziehen. «Oh, verdammt, das ist typisch!» Sie wandte sich wieder an mich. «Na schön, geben Sie mir den Namen Ihrer Versicherung. Ich werde mich hier nicht mit Ihnen herumstreiten. Und ich brauche Ihren Namen und Ihre Adresse. Sollen die Versicherungen die Sache klären.»
Sie stürmte zu ihrem Wagen zurück und wühlte im Handschuhfach herum. «Hier.» Sie kritzelte ihre Angaben auf ein Stück Papier und reichte es mir. Ich tat das Gleiche. «Ich hoffe nur, Sie haben letztlich doch genug Anstand und geben zu, dass es Ihr Fehler war.»
«Das Gleiche könnte ich …», begann ich, aber sie hörte nicht zu. Der Zettel wurde mir aus der Hand gerissen.
«Und zu allem Überfluss komme ich jetzt auch noch zu spät», blaffte sie, stieg wieder in ihren Wagen und knallte die Tür zu. Ich trat einen Schritt zurück, als sie eilig auf die Straße scherte und einen anderen Wagen zum Abbremsen zwang. Sie ignorierte sein zorniges Gehupe und war in Sekunden im dichten Verkehr verschwunden.
Ich ging zurück, um den Schaden an meinem Wagen zu untersuchen. Selbst mir war klar, dass er nicht mehr fahrtüchtig war. Schäumend vor Wut klemmte ich eine Nachricht für die Polizei an die Windschutzscheibe und rief meine Werkstatt an, damit der Wagen abgeschleppt wurde. Dann stellte ich mich an die Bordsteinkante, um ein Taxi anzuhalten.
Typischerweise waren die einzigen, die ich sah, besetzt. Ich wartete zehn Minuten, in denen sich meine Laune mit jeder Sekunde verschlechterte, bis ich schließlich frustriert aufgab. Ein Hinweisschild zeigte mir den Weg zur nächsten U-Bahn-Station.
Ich war seit Jahren nicht mehr mit der U-Bahn gefahren. Ich erinnerte mich, dass sie immer voll war, doch auf das Chaos, das mich am Fuße der Rolltreppe erwartete, war ich nicht vorbereitet. Als ich versuchte, mich zu orientieren, wurde ich von hinten geschubst und von vorne angerempelt. Jeder außer mir schien sich auszukennen. Ich schaute mich nach jemandem um, den ich fragen könnte, sah aber nur die zahllosen, dahineilenden Köpfe der anderen Pendler. Während ich unschlüssig dastand, teilte sich die Menge und strömte an mir vorbei. An der Wand erkannte ich einen Plan und kämpfte mich dorthin vor, nur um ihm schließlich zu entnehmen, dass ich eine andere Linie nehmen musste. Ich schloss mich dem Strom der Leute an, die in diese Richtung unterwegs waren, und ließ mich durch einen gefliesten, hallenden Tunnel treiben, bis ich mich plötzlich auf einem Bahnsteig befand.
Verglichen mit dem Tunnel, war er relativ leer. Aber schnell begann sich die Betonfläche zu füllen. Am Anfang hatte ich vorne an der Bahnsteigkante gestanden. Dann war ich kontinuierlich zurückgedrängelt worden, bis vor mir eine dichte Wand aus Menschen stand. Ich war eingekeilt zwischen einer dunkelhäutigen Frau mit einem Koffer und einem großen kahlköpfigen Jugendlichen in einer Lederjacke.
Ein plötzlicher Luftzug kündigte die Ankunft der U-Bahn an. Kaum war sie stehen geblieben, öffneten sich die Türen, und die Leute auf dem Bahnsteig drängten sich gegen die Leute, die ausstiegen. Über dem ganzen Chaos erklang die mechanische Ansage: «Vorsicht an der Bahnsteigkante.» Panik kam in mir auf, als ich mich auf die nächste Tür zukämpfte, scheinbar ohne einen Schritt voranzukommen. Gerade als ich dachte, ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen, saugte mich eine jähe Welle praktisch in den Zug. Einen Moment später gingen die Türen zischend zu, wurden wieder geöffnet, dann wieder verriegelt, bis die Bahn endlich ruckelnd anfuhr und Geschwindigkeit aufnahm.
Ich war auf dem Gang zwischen den Türen abgeladen worden. Der Bahnsteig war mir schon überfüllt erschienen, doch jetzt drückten sich Fremde auf eine ungerührt intime Weise von allen Seiten gegen mich. Als die U-Bahn unversehens wackelte, wurde ich gegen eine junge Frau neben mir geworfen. Ich stammelte leise eine Entschuldigung und wich schnell ihrem kalten Blick aus. Grelle Lichter draußen deuteten darauf hin, dass wir die nächste Station erreicht hatten. Der Zug hielt, und ich wurde von den Leuten, die auf den Bahnsteig stürmten, fast mit nach draußen gerissen. Die hereinströmenden neuen Passagiere zwangen mich wiederum weiter hinein, bis ich mitten im Abteil eingeklemmt war und mich weder rühren noch atmen konnte. Die Luft war mit penetranten, unangenehmen Gerüchen erfüllt: Diesel, feuchte Haare und Schweiß. Als wir uns wieder in Bewegung setzten, tastete ich nach einem Haltegriff. Kaum hatte uns die Dunkelheit des Tunnels verschlungen, wurde die Bahn langsamer, rumpelte störrisch weiter und blieb dann stehen.
Niemand schien sich darum zu scheren. Die Dunkelheit hinter den Fenstern war undurchdringlich. Drinnen saßen oder standen die Leute gleichgültig da. Ich versuchte, es genauso zu machen, doch die Situation war mir fremd. Ich fühlte mich erdrückt und eingesperrt. Als der Zug wieder einen Satz nach vorn machte, zuckte auch mein Herz. Wir schlichen durch den Tunnel, wurden einige Male langsamer, blieben zum Glück aber nicht mehr stehen. Dann waren draußen Lichter und Gesichter zu sehen. Die Türen öffneten sich, und ich ließ mich, ohne zu wissen, in welcher Station wir waren, hinaus auf den Bahnsteig stoßen.