Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Warum sind bestimmte Gruppen, Teams, Organisationen kooperativer, belastbarer und innovativer als andere? Weil sie so wie einzelne Individuen ein unterschiedliches Mindset haben, einige ein starres, andere ein bewegliches. Die Sozialpsychologin Mary Murphy hat erforscht, wie die uns umgebende Kultur unsere Denkweise, Motivation und Leistung beeinflussen und verbessern kann. Ihre bahnbrechenden Erkenntnisse zeigen, dass Organisationen und Teams, die über ein auf Wachstum ausgerichtetes Mindset verfügen, eher zum Lernen inspirieren, die Zusammenarbeit fördern und das für Risikobereitschaft notwendige Vertrauen aufbauen. Es ist wahrscheinlicher, dass sie Spitzenergebnisse erzielen und sie helfen gleichzeitig jedem Einzelnen, sein Potenzial zu entfalten. Mary Murphy veranschaulicht die Zusammenhänge zwischen individueller Leistung, Teamleistung und Unternehmenskultur mit einer Kombination aus Beispielen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Geschichten aus ihrer Beratung vieler der bekanntesten Unternehmen der Welt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 528
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
MARY C. MURPHY
WACHTUMSKULTUR
Wie die neue Mindset-Theorie Menschen, Teams und Organisationen verändern kann
Mit einem Vorwort von Carol Dweck
AUS DEM ENGLISCHEN VON JAN W. HAAS
Campus Verlag Frankfurt / New York
Über das Buch
Warum sind bestimmte Gruppen Teams, Organisationen kooperativer, belastbarer und innovativer als andere? Weil sie so wie einzelne Individuen ein unterschiedliches Mindset haben, einige ein starres, andere ein bewegliches. Die Sozialpsychologin Mary Murphy hat erforscht, wie die uns umgebende Kultur unsere Denkweise, Motivation und Leistung beeinflussen und verbessern kann. Ihre bahnbrechenden Erkenntnisse zeigen, dass Organisationen und Teams, die über ein auf Wachstum ausgerichtetes Mindset verfügen, eher zum Lernen inspirieren, die Zusammenarbeit fördern und das für Risikobereitschaft notwendige Vertrauen aufbauen. Es ist wahrscheinlicher, dass sie Spitzenergebnisse erzielen und sie helfen gleichzeitig jedem Einzelnen, sein Potenzial zu entfalten.Mary Murphy veranschaulicht die Zusammenhänge zwischen individueller Leistung, Teamleistung und Unternehmenskultur mit einer Kombination aus Beispielen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Geschichten aus ihrer Beratung vieler der bekanntesten Unternehmen der Welt.
Vita
Mary C. Murphy ist Professorin für Psychologie und Neurowissenschaften an der Indiana University. Sie ist Gründerin des Summer Institute on Diversity at the Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences der Stanford University und Gründerin und CEO des Equity Accelators, einer Forschungs- und Consulting-Organisation, die mit Schulen und Unternehmen zusammenarbeitet, um mithilfe sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Methoden gleichberechtigtere Arbeits- und Lernumgebungen herzustellen.
Murphy leistet Pionierarbeit in der Motivations- und Leistungsforschung sowie in der Forschung zu Intergruppenbeziehungen. Ihr Hauptinteresse gilt der Frage, wie Kontexte und Situationen unser Denken, unsere Gefühlswelt und unser Verhalten prägen. Sie hat mehr als 100 Artikel in führenden wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, und ihre Arbeit wurde unter anderem in der New York Times, in Forbes, der Harvard Business Review, im Scientific American und im National Public Radio besprochen. Murphy hat zahllose staatliche und private Fördergelder und Auszeichnungen erhalten und wurde 2019 mit dem Presidential Early Career Award für Wissenschaftler und Ingenieure ausgezeichnet, der höchsten staatlichen Auszeichnung für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Neben ihrer Tätigkeit in verschiedenen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gremien und Kommissionen ist sie auch gewähltes Mitglied des US-amerikanischen Verbandes für Wissenschaftsförderung.
Für Arya, Conner, Ella, Everett, Friday, Jackson, Miles, River und Tyberius.
Für Victor, meine große Liebe.
Für euch, die Kulturgestaltenden.
Lasst uns gemeinsam Wachstumskulturen aufbauen.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
INHALT
Impressum
VORWORT
EINLEITUNG
Teil I
Mindsets: eine Neubetrachtung
Kapitel 1
Das Mindset-Kontinuum
Zwischen statisch und dynamisch
Mindset-Kulturen
Geniekulturen und Wachstumskulturen
Kapitel 2
Mindsets von Organisationen
Wie Organisationen ihre Mindset-Kultur verraten
Der Mindset-Kulturzyklus
Auswirkungen von Mindset-Kulturen
Teil II
Mindset-Kulturen
Kapitel 3
Zusammenarbeit
Wie interner Konkurrenzkampf Verlierer produziert – und wie wir es besser machen können
Wie Wachstumskulturen Zusammenarbeit befördern und einen Wettbewerbsvorteil generieren
Wie man eine kollaborative Wachstumskultur aufbaut
Kapitel 4
Innovation und Kreativität
Wie Mindsets Innovation befeuern oder verhindern
Wie Shell der Wandel seiner Mindset-Kultur gelang
Wie man Innovation befördert und ermutigt
Kapitel 5
Risikobereitschaft und Resilienz
Risiken neu bewerten
Risiken reduzieren durch Datenanalyse
Welche Faktoren beeinflussen die Risikobereitschaft in Wachstumskulturen?
So entwickelt Ihre Organisation (intelligente) Risikobereitschaft und wird resilienter
Kapitel 6
Redlichkeit und ethisches Verhalten
Ethisches Verhalten und Redlichkeit durch die Mindset-Brille betrachtet
Wie Mindsets von Organisationen die Grundlage für ethisches oder unethisches Verhalten legen
Wie interpersonelle Konkurrenz ethisches Verhalten beeinflusst
Auf ethisches Fehlverhalten achten und darauf reagieren
Wie Sie ethisch einwandfreies Verhalten und hohe Integrität in Ihrer Organisation fördern
Kapitel 7
Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion
DEI in Geniekulturen
Warum DEI?
DEI in Genie- und Wachstumskulturen: ein Vergleich
Was uns die Forschung über DEI und organisationale Mindsets verrät
Wie Sie das Mindset Ihrer Organisation auf die Unterstützung von Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion trimmen
Teil III
Die eigenen Mindset-Trigger erkennen
Kapitel 8
Mindset-Mikrokulturen
Die vier Mindset-Trigger
Wie sich Mindsets anfühlen
Wie unser statisches Mindset funktioniert
Kapitel 9
Beurteilungssituationen
Wie man ein dynamisches Mindset in Beurteilungssituationen fördert
Fragen zur Vertiefung
Kapitel 10
Hochleistungssituationen
Herausforderungen schulen das Gehirn
Wie falsche Überzeugungen über Anstrengungen und Fähigkeiten genährt werden
Warum es nicht hilfreich ist, allein auf Stärken zu setzen
Die falsche Mär von den Unternehmerinnen und Unternehmern
Wie man Lernende (und Lehrkräfte) bei der Bewältigung von Hochleistungssituationen unterstützt
Wie man in Hochleistungssituationen ein dynamisches Mindset fördert
Fragen zur Vertiefung
Kapitel 11
Kritisches Feedback
Das Rucksack-Kind (und der Rucksack-Erwachsene)
Wie unser Mindset unsere Reaktion auf Feedback beeinflusst
Feedback empfangen: Wie man von einem statischen in ein dynamisches Mindset gelangt
Wertvolles Feedback geben: Wie wir vermeiden können, andere in Richtung ihres starren Mindsets zu treiben
Wie man ein dynamisches Mindset auch bei kritischem Feedback kultiviert
Fragen zur Vertiefung
Kapitel 12
Erfolge anderer
Von oben verordneter Mangel
Konkurrenzkampf im Klassenzimmer
Herausforderungen versus Bedrohungen
Erfolge anderer als Inspiration statt als Ärgernis betrachten: eine Anleitung
Fragen zur Vertiefung
AUSKLANG
DANKSAGUNG
ANMERKUNGEN
Einleitung
1.
Das Mindset-Kontinuum
2.
Mindsets von Organisationen
3.
Zusammenarbeit
4.
Innovation und Kreativität
5.
Risikobereitschaft und Resilienz
6.
Redlichkeit und ethisches Verhalten
7.
Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion
8.
Mindset-Mikrokulturen
9.
Beurteilungssituationen
10.
Hochleistungssituationen
11.
Kritisches Feedback
12.
Erfolge anderer
Ausklang
Eines denkwürdigen Tages im Jahr 2006 betrat Mary Murphy mein Büro. Sie war damals eine von vielen bewunderte Doktorandin an unserem Fachbereich an der Stanford University. Ich freute mich daher, als sie einen Gesprächstermin mit mir vereinbarte, und war gespannt, zu hören, was sie zu sagen hatte. Damals ahnte ich noch nicht, dass es nach diesem Gespräch kein Zurück mehr geben würde.
Erlauben Sie mir, Ihnen einige Hintergrundinformationen aus der Zeit vor Mary zu geben. Die jahrzehntelange Mindset-Forschung hatte belegt, dass viele Menschen ihre Grundfähigkeiten, etwa ihre Intelligenz, als gegeben und unveränderlich betrachten. Wir bezeichnen dies als starres oder statisches Mindset, und wir haben gezeigt, dass diese Einstellung Menschen oft dazu bringt, vor Herausforderungen zurückzuschrecken, die eine niedrige eigene Kompetenz offenbaren könnten, und Fehler oder Rückschläge als Ergebnis mangelnder Fähigkeiten zu interpretieren. Sie geben daher in schwierigen Situationen schneller auf. Andere Menschen dagegen haben ein eher dynamisches, auf Wachstum ausgerichtetes Mindset – sie glauben, dass Fähigkeiten sich mit der Zeit entwickeln lassen, etwa durch harte Arbeit, gute Strategien und viel Hilfe und Unterstützung von anderen. Und wir konnten belegen, dass dieser Glaube Menschen die Kraft gibt, Herausforderungen zu ergreifen, die ihre Fähigkeiten steigern, und aus Fehlern und Rückschlägen zu lernen. Dadurch können sie ihre Ziele wirksamer verfolgen und langfristig mehr erreichen.
Als Mary an jenem Tag mein Büro betrat, sagte sie etwa Folgendes: Ich schätze Ihre Arbeit sehr und halte sie für wichtig, aber Sie gehen davon aus, dass eine Einstellung immer nur im Kopf eines Menschen existiert. Es stimmt, Menschen neigen einer bestimmten Denkweise zu, und das kann eine große Rolle spielen. Doch auch die Umwelt, der soziale Kontext, die Organisation, in der sich ein Mensch bewegt, können eine Grundeinstellung – ein Mindset – besitzen. Dieses kann in den vorherrschenden Glaubenssätzen oder Praktiken der Gruppe oder Organisation verankert sein, und es kann deren Mitglieder stark beeinflussen, ganz unabhängig von ihren jeweiligen persönlichen Grundeinstellungen.
Nun wussten wir bereits, dass Menschen zwar oft dem einen oder anderen Mindset zuneigen, jedoch nicht unter allen Umständen. So kann beispielsweise ein großer Rückschlag oder Misserfolg dazu führen, dass Menschen in ein starres Mindset hineingeraten, obwohl sie eigentlich zu einem dynamischen Mindset tendieren. Doch Marys Idee war tiefgreifender: Sie behauptete, dass sich das Arbeits- oder Ausbildungsumfeld eines Menschen stark auf ihn auswirkt, ganz unabhängig von seiner persönlichen Grundeinstellung. Mit anderen Worten: Auch Menschen mit einem ausgeprägten dynamischen Mindset können auf Orte treffen, wo dieses ihnen nichts nützt. Diese Orte sind Umfelder mit starrer Denkweise oder – wie sie es nennt – »Geniekulturen«.
Doch wie genau kann ein schulisches oder Arbeitsumfeld ein starres Mindset haben? Nun, ihr Denken und Tun kann von der Idee durchsetzt sein, dass Fähigkeiten statisch und unveränderlich sind – demnach wären einige Menschen von Natur aus intelligent und andere nicht. Ein solches Umfeld mag eine unmittelbar perfekte Leistung schätzen, die scheinbar mühelos und ohne Irritationen erbracht wurde. Es mag Genialität höher bewerten als Lernen und Wachstum. Es mag Menschen, die augenscheinlich über geniale Fähigkeiten verfügen, höher schätzen als jene, die diese nach seiner Meinung nicht besitzen. Und unabhängig von der persönlichen Grundeinstellung wird diejenige der Umwelt oft den Sieg davontragen. Es ist schwer, große Herausforderungen anzunehmen oder Rückschläge wertzuschätzen und aus ihnen zu lernen, wenn man als intelligent oder unintelligent, würdig oder unwürdig bewertet wird.
Kurz gesagt lautete Marys Botschaft: Das Umfeld, in dem man sich bewegt, kann seine eigene Mindset-Kultur besitzen. Es kann eine Kultur sein, die davon überzeugt ist, dass alle Menschen sich entwickeln können, und diese Entwicklung wertschätzt. Oder aber eine Kultur, die an unveränderliche Fähigkeiten glaubt und diese hoch bewertet – eine Kultur, die davon ausgeht, dass manche Menschen fähiger sind und andere (dauerhaft) weniger fähig.
Wie habe ich auf Marys Ausführungen reagiert? Nun, mit heller Begeisterung. Ich erkannte sofort, dass dies eine wirklich neue und sehr bedeutsame Idee war – ein wichtiges Forschungsthema und vor allem eine gesellschaftlich bedeutsame Idee. Also sagte ich: »Packen wir’s an!« Und im Handumdrehen hatte Mary ihr mittlerweile renommiertes Forschungsprojekt ins Leben gerufen.
Im Zuge ihrer Forschung hat Mary immer wieder gezeigt, dass Organisationen und Teams, die eine Wachstumskultur besitzen und diese in ihre Strategien und Praktiken einfließen lassen, Mitarbeitende haben, die motivierter und engagierter, solidarischer, kreativer und innovativer sind. Diese Mitarbeitenden neigen auch weniger zu Täuschungsmanövern, unzulässigen Abkürzungen oder Ideendiebstählen. Universitätsdozentinnen und -dozenten, denen es gelingt, ein auf Wachstum ausgerichtetes Mindset zu etablieren, haben Studierende, die motivierter sind, mehr lernen und bessere Noten erzielen. Eine solche Wachstumskultur wertschätzt jeden einzelnen Menschen, unterstützt ihn bei der Entwicklung seiner Fähigkeiten und schafft die nötigen Bedingungen dafür, dass er einen wertvollen Beitrag leisten kann. In einer solchen Kultur kommen großartige Ideen und Beiträge von zahlreichen Menschen auf allen Hierarchieebenen und aus allen Bereichen einer Organisation – und nicht nur von jenen, die als brillant, talentiert oder »High Potentials« identifiziert wurden.
Ich kann gar nicht genug betonen, wie neu und wertvoll diese Perspektive war. Sie bedeutete, dass es nicht mehr genügte, Mitgliedern einer Organisation oder eines Kurses die Vorzüge eines dynamischen Mindsets zu vermitteln. Es lag nicht mehr ausschließlich in ihrer persönlichen Verantwortung, so zu handeln, wie ein auf Wachstum orientiertes Mindset es erfordert. Vielmehr war es nun Aufgabe der Organisations- oder Kursleitung, eine Wachstumskultur zu errichten; eine Kultur, deren Praktiken alle Beteiligten motiviert und unterstützt und ihre Lern- und Entwicklungsanstrengungen belohnt. Doch Marys Einfluss ging über diese Erkenntnis noch hinaus. Sie inspirierte uns alle, die wir über Mindsets forschen, herauszufinden, wie wir dazu beitragen könnten, solche Kulturen zu erschaffen – indem wir nämlich geeignete Praktiken, die Lehrende oder Führungskräfte wirksam einsetzen können, entwickeln und gründlich testen. Meine anfängliche Begeisterung über Marys Idee ist mit der Zeit nur gewachsen.
Inzwischen hat Mary zahllose Organisationen weltweit untersucht und mit ihnen zusammengearbeitet, darunter sowohl »Geniekulturen« als auch »Wachstumskulturen«. Sie hat erfahren, was diese Kulturen im Einzelnen charakterisiert, wie sie funktionieren und wie sich jedes der beiden Mindsets auswirkt. In diesem Buch teilt sie uns diese faszinierenden und unglaublich wertvollen Erkenntnisse mit, mit deren Hilfe Organisationen und Gruppen jeder Art auf den Wachstumspfad gelangen können – und so Kulturen errichten können, die alle Mitglieder darin unterstützen, ihr volles Potenzial zu entfalten und zur Produktivität, Entwicklung und zum Erfolg des großen Ganzen beizutragen. Wäre es nicht toll, wenn das auf nationaler oder gar weltweiter Ebene geschähe? Dieses Buch gibt die Anleitung dazu.
Prof. Dr. Carol S. Dweck
Fachbereich Psychologie, Stanford University
Autorin von Mindset (Selbstbild: Wie unser Denken Erfolge oder Niederlagen bewirkt)
Stanford, Kalifornien
Stellen Sie sich die folgende Situation vor: Es ist Ihr erster Tag im neuen Job, und Sie sind voller Energie. Jahrelang haben Sie sich vorgestellt, wie es wohl wäre, hier zu arbeiten, und nun haben Sie es geschafft – Sie haben eine der begehrten Positionen in einem der angesagtesten Unternehmen Ihrer Branche ergattert. Natürlich wird es eine Herausforderung sein, aber Sie fühlen sich gut gerüstet. Darüber hinaus bietet der Job fantastische Lernchancen – Sie können es gar nicht erwarten, endlich loszulegen!
Sie blicken auf die Uhr und stellen fest, dass es Zeit für Ihre erste montägliche Teamkonferenz ist. Der Konferenzraum füllt sich langsam, und ein geschäftiges Raunen erfüllt die Luft. Der Mann neben Ihnen stellt sich vor. »Sie sind also die neue Mitarbeiterin/der neue Mitarbeiter, an welcher Uni haben Sie studiert?« Sie sagen es ihm und er nickt. »Nicht schlecht. Ich habe einen Doppelabschluss vom MIT.« Das Meeting beginnt, und als der Chef die Projektleiter um ein Status-Update bittet, gibt jeder mit seinen Erfolgen an. Als sich herausstellt, dass eine wichtige Deadline verpasst wurde, stellt sich eine angespannte Stimmung ein; es gibt viele Schuldzuweisungen, aber keine klare Begründung. Schließlich bittet der Chef um Vorschläge, wie ein heikles Problem, welches das Team aufgehalten hat, gelöst werden kann. Sie sind versucht, sich zu melden, da Sie glauben, einen guten Vorschlag zu haben, doch Sie halten sich zurück. Angesichts dessen, was Sie soeben erlebt haben, befürchten Sie, womöglich danebenzuliegen. Was wäre, wenn Ihre Idee gar nicht so gut ist? Was werden Ihr Chef und die anderen von Ihnen denken? Sie beschließen, dass es vielleicht besser ist, einfach den Mund zu halten.
Am Ende des Meetings haben Sie ein komisches Gefühl in der Magengrube. Vielleicht haben Sie einen Fehler gemacht. Vielleicht haben Sie doch nicht die nötigen Kompetenzen.
Spulen wir nun einmal zurück und betrachten ein anderes Szenario.
An ihrem ersten Arbeitstag sind Sie voller Energie und blicken auf die Uhr. Es ist Zeit für die montägliche Teamkonferenz. Nachdem sich alle vorgestellt haben, sagt der Chef: »Ich weiß, dass Sie wertvolle Kompetenzen und Erfahrungen ins Team einbringen werden. Wir freuen uns, dass Sie dabei sind.« Es folgen die Status-Updates, und die Projektleiter berichten über ihre Erfolge, aber auch über eine Herausforderung, mit der sie gerade kämpfen, und das Team macht Vorschläge, wie diese bewältigt werden könnten. Eine wichtige Deadline wurde verpasst, und anstelle von Schuldzuweisungen bespricht das Team, was man daraus lernen kann, wie die Prozesse umgestellt werden könnten, damit Ähnliches nicht wieder passiert, und was man tun möchte, um den nächsten Meilenstein zu erreichen. Schließlich bittet der Chef um Vorschläge, wie ein heikles Problem, welches das Team aufgehalten hat, gelöst werden kann. Sie lassen erst die anderen reden, aber als Sie erkennen, dass Sie einen Vorschlag haben, der noch nicht zur Sprache kam, melden Sie sich, und Ihre Idee trifft auf begeisterte Zustimmung.
Am Ende des Meetings haben Sie das Gefühl, dass Sie Teil eines großen Ganzen sind. Sie erkennen, wie das Team miteinander Probleme bearbeitet, innovative Lösungen findet und Risiken eingeht. Sie freuen sich auf die künftigen Herausforderungen und Chancen!
So sehen zwei unterschiedliche Kulturen aus: eine von einem starren Mindset geprägte Kultur – ich nenne sie Geniekultur – und eine von einem dynamischen Mindset geprägte Kultur – mit anderen Worten, eine Wachstumskultur. Wie Sie bereits anhand dieser beiden kurzen Beispiele erkennen können, ist es, was individuelle, Team- und Unternehmensleistung betrifft, bedeutsam, in welcher Kultur man sich bewegt. Von Anfang an.
Im Verlauf dieses Buches werde ich den Unterschied zwischen diesen beiden Kulturen eingehend erläutern, möchte aber schon hier erwähnen, dass Satya Nadella sich gleich nach seinem Amtsantritt als CEO von Microsoft öffentlich dazu verpflichtete, die Kultur des Unternehmens umzugestalten. Er wusste, dass der Erfolg von Microsoft von dessen Fähigkeit abhing, die innovativsten und kreativsten Produkte zu entwickeln, und fragte sich: »Wie kann ein auf Wachstum ausgerichtetes Mindset uns dabei helfen, das zu schaffen?«1 Mit anderen Worten: Wie können Unternehmen eine solche Grundeinstellung nicht nur in die Praxis umsetzen, sondern sie auch dazu nutzen, einige ihrer größten Herausforderungen zu meistern?
Als Nadella 2014 Microsoft übernahm, lag der Aktienkurs des Unternehmens bei rund 36 Dollar.2 Im November 2021 erreichte er einen Spitzenwert von 340 Dollar, und auch beim Crash an den Technologiebörsen im Folgejahr hielt er sich wacker.3 Microsoft löste sich von seiner starken Abhängigkeit von Windows und entwickelte sich zu einem Konkurrenten des Giganten Amazon Web Services um Marktanteile im Cloud-Computing-Segment. 2021 erreichte es als zweites US-Unternehmen (nach Apple) einen Marktwert von 2 Billionen Dollar.4 Microsoft wird oft als Fallbeispiel für die Anwendung dieser oder jener Strategie herangezogen, und wenn es hier in einem weiteren Buch geschieht, mag das bei manch einem vielleicht ein Gähnen auslösen. Doch die meisten Erfolge, für die das Unternehmen gelobt worden ist, beruhen auf einem einzigen Ideal: Nadellas Entschlossenheit, eine auf einem dynamischen Mindset beruhende Kultur im Unternehmen zu verankern. Heute dreht sich in der Welt der Datenverarbeitung alles um die Verheißungen der künstlichen Intelligenz, und Microsoft versucht, die allgemeine Arbeitsplatzkultur zu verbessern, indem es der Technologie die Aufgabe stellt, uns dabei zu helfen, unser auf Wachstum ausgerichtetes Mindset öfter auszuleben. Nach einigen hochnotpeinlichen Schnitzern ihres Chatbots Tay5 (und später Bing)6 wies Nadella sein Technikerteam an, geeignete Methoden zu entwickeln, um ihre Produkte inklusiver und wachstumsorientierter zu machen. Meine Mitarbeitenden und ich nehmen an diesen Anstrengungen teil und arbeiten gemeinsam an der Entwicklung KI-basierter Werkzeuge, mithilfe deren Lehrende sowie Managerinnen und Manager in ihren Kursen und Teams Kulturen entwickeln können, die auf einer Wachstumshaltung beruhen.
Doch was genau macht eine solche Kultur aus? Welche Verheißung verbirgt sich dahinter, wie sieht sie in der Praxis aus und wie stellt sich der Übergang zu einer solchen Kultur dar? In diesem Buch beantworte ich diese Fragen. Darüber hinaus zeige ich Ihnen, dass Kulturen, die auf einem dynamischen Mindset fußen, nicht nur in großen Unternehmen die Leistungen steigern, sondern auch in Schulen und Universitäten, gemeinnützigen Stiftungen oder Sportmannschaften … im Grunde überall dort, wo zwei oder mehr Menschen zusammenarbeiten. (Nebenbei: Drei der vier Teams, die 2023 die Endspielserie der US-Basketballmeisterschaften erreichten, waren wachstumsorientiert; mit anderen Worten, ihre Trainer oder Mannschaftskapitäne hatten öffentlich für einen auf Wachstum ausgerichteten Ansatz plädiert.)7 Wir betrachten auch die neuesten Forschungsergebnisse zu individuellen Mindsets und deren Berührungspunkte mit unseren Erkenntnissen zu Mindset-Kulturen.
Die von Microsoft durchlaufene Transformation verdankt sich zu großen Teilen der Tatsache, dass Nadella das Buch Mindset von Carol Dweck gelesen hat. Es erschien zuerst 2006, hat inzwischen mehr als sieben Millionen Leserinnen und Leser gefunden und wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Der Begriff bezieht sich auf unsere Vorstellungen bezüglich der Formbarkeit von Intelligenz: ob diese im Wesentlichen statisch oder aber entwicklungsfähig ist. Das Konzept des Mindsets hat unser Verständnis des menschlichen Geistes revolutioniert. Wer die Grundeinstellung eines Menschen kennt, kann vorhersagen, wie er auf Herausforderungen und Angriffe reagiert, welche Ziele er vermutlich verfolgt und wie er sich verhalten wird. Menschen mit starrem Mindset geben oft auf, wenn sie frustriert sind, gehen beim Lernen und in ihrer Entwicklung geringere Risiken ein und neigen dazu, Fehler zu vertuschen.
Ich lernte Carol 2006 als Doktorandin kennen. Die Erkenntnis, dass Mindsets nicht nur individuell, sondern auch im Umgang mit anderen Menschen – und insbesondere in Gruppen – bedeutsam sind, verblüffte mich. Ob man zu einem gegebenen Zeitpunkt auf Basis einer starren oder einer auf Wachstum ausgerichteten Grundeinstellung handelt, entscheidet sich nicht unbedingt in erster Linie zwischen den beiden Ohren – sondern außerhalb des Körpers. Sie haben richtig gelesen: Mindsets sind nicht nur ein Ausfluss des eigenen Denkens. Inzwischen bin ich Carols Kollegin und forsche seit mehr als einem Jahrzehnt gemeinsam mit ihr zu der Frage, wie Mindsets sich auf Gruppen und Organisationen auswirken. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen sind transformativ und verändern grundlegend unser Verständnis der Funktionsweise von Systemen und Teams. Und sie zeigen, wie stark wir einander beeinflussen.
Denken Sie einmal an einen Fisch, der in einem See herumschwimmt. Zu behaupten, dass Mindsets rein individuelle Eigenschaften sind, hieße, zu behaupten, dass das Verhalten dieses Fisches nur von ihm allein abhängt. Eine solche Sichtweise ignoriert vollständig, was im Wasser geschieht (etwa die Bewegungen der anderen Fische). Übertragen bedeutet dies, dass die Mindset-Kultur, in der wir Menschen »schwimmen«, unsere Gedanken, unsere Motivation und unser Verhalten tiefgreifend beeinflusst.
Mir ist bewusst, dass heutzutage vor allem in westlichen Kulturen alles um persönliche Handlungsfähigkeit kreist. Egal, was um uns herum geschieht: Wir können lernen, unser Denken so zu beherrschen, dass wir am Ende alles unter Kontrolle haben – so jedenfalls lautet die verbreitete Ansicht. Diese Vorstellung dient oft dazu, Individuen die Schuld zuzuweisen und vom Versagen von Organisationen abzulenken. Mein Ziel ist es nicht, irgendjemandem seine Handlungsfähigkeit oder seine Fähigkeiten abzusprechen, doch ich möchte die bedeutenden Einflüsse herausstellen, die von außen auf uns einwirken. Wir prüfen unser Umfeld, um dessen Normen und die an uns gerichteten Erwartungen festzustellen und zu erkennen, wie wir erfolgreich sein und Bewunderung auf uns ziehen können. Diese Informationen leiten wir aus der Kultur ab.
Unternehmen können eine Kultur haben, die statische Fähigkeiten preist und belohnt. In der Folge bewundern und loben solche Unternehmen Menschen, die als brillant gelten, und tadeln solche, die da nicht mithalten können. Wie würden Sie in einer solchen Kultur handeln? Was wäre Ihr Ziel? Gegen die Kultur anzukämpfen wäre wie gegen den Strom zu schwimmen. Natürlich kann man das tun, doch wahrscheinlich ist es nicht.
Eine auf einem dynamischen Mindset fußende Kultur schätzt, fördert und belohnt persönliches Wachstum und Entwicklung aller ihrer Mitglieder. Natürlich dürfen auch solche Unternehmen die Zahlen nicht aus dem Blick verlieren, doch sie eint folgender Glaubenssatz: Erfolg und Gedeihen hängen davon ab, dass Menschen auf eine Weise lernen, wachsen und sich entwickeln, die sie und das Unternehmen voranbringt.
Die Mindset-Kultur, in der wir uns bewegen, prägt uns auch auf einer tieferen Ebene: Sie verändert unser Selbstbild. So übernehmen wir vielleicht schleichend und oft unbewusst das Mindset unserer Organisation, und das wirkt sich wiederum darauf aus, wie wir andere Menschen wahrnehmen und beurteilen. Dies setzt einen sich selbst verstärkenden Kreislauf in Gang, innerhalb dessen wir die Mindset-Kultur immer nachdrücklicher in uns verankern.
Jede Ansammlung von Menschen ist von einer Mindset-Kultur geprägt. Tatsächlich haben aber die meisten Organisationen nicht die geringste Vorstellung davon, wie ihre Mindset-Kultur aussieht und wie sie die Gruppe und deren Ergebnisse beeinflusst. Im Verlauf dieses Buches werde ich zeigen, wie Mindset-Kulturen Gruppen jeder Art prägen, sei es am Arbeitsplatz, in Schulen, Familien, Sportgruppen oder auch anderswo. Dabei verwende ich aus Gründen der Lesefreundlichkeit jeweils die Begriffe »Organisation«, »Führungskräfte« und »Beschäftigte« oder »Angestellte«. Sie sollten aber wissen, dass sich eine auf einem dynamischen Mindset beruhende Kultur in nahezu jedem Umfeld fördern lässt, nicht nur am Arbeitsplatz.
Mindsets sind nicht etwas, das in unserem Körper gefangen ist, sondern sie lassen sich am besten als Interaktionssystem zwischen drei konzentrischen Kreisen begreifen: Ihr persönliches Mindset wird oft durch die lokale Mindset-Kultur Ihrer Gruppe oder Ihres Teams beeinflusst, welche wiederum durch die Mindset-Kultur der Gesamtorganisation beeinflusst wird. Wie auch bei Individuen sind diese Kulturen nicht entweder statisch oder wachstumsorientiert, sondern bewegen sich entlang eines Kontinuums. Im Verlauf unserer zehnjährigen Forschungsarbeiten haben mein Team und ich die beiden Extreme dieses Kontinuums der Mindset-Kulturen identifiziert: Wir bezeichnen sie als Geniekultur und Wachstumskultur.
Der Begriff »Geniekultur« klingt reizvoll, nicht wahr? Doch denken Sie an verschiedene Führungskräfte, die sinnbildlich für eine solche Kultur stehen. Da wäre zunächst Elizabeth Holmes, CEO von Theranos, die ihr Studium an der Stanford University abbrach, um mit Unterstützung einiger dortiger Lehrkräfte, die glaubten, die nächste Silicon-Valley-Revolutionärin entdeckt zu haben, ein mittlerweile berüchtigtes Bluttest-Unternehmen zu gründen. Als sich herausstellte, dass Holmes nicht nur ihr Versprechen nicht einlösen konnte, sondern auch über die Probleme des Unternehmens gelogen hatte, wurde sie wegen Betrugs und Verschwörung angeklagt und für schuldig befunden.8 Dann wäre da Arif Naqvi, der in ähnlicher Weise als Impact-Investor auftrat und dessen Private-Equity-Fonds Abraaj sich vorgeblich für einen »verantwortungsbewussten Kapitalismus« einsetzte, der zum Allgemeinwohl beitrage. Wie Holmes blendete Naqvi Investoren, die er mit seiner scheinbaren Genialität beeindruckte, doch tatsächlich war alles nur Schall und Rauch: Naqvi erleichterte den Fonds um 780 Millionen Dollar.9 Ein drittes Beispiel ist Charlie Javice, CEO von Frank, einem Unternehmen, das Studierenden Finanzhilfe anbot und von Javice als »Amazon der Hochschulbildung« bezeichnet wurde. Javice gelang es, einige Investoren von ihrem Vorhaben zu begeistern, und sie stieg rasch zum Darling der Tech-Medien auf. Später jedoch verklagte das US-Justizministerium sie aufgrund »falscher und dramatischer Aufblähung der Kundenzahlen« mit dem Ziel, JPMorgan Chase zum Erwerb des Unternehmens für eine stolze Summe zu bewegen.10
Eine Geniekultur ist Resultat einer statischen Denkweise. Sie ist geprägt von dem Glauben, dass Talente und Fähigkeiten angeboren sind – entweder hat man sie oder nicht. Eine Geniekultur bewertet Scharfsinn und Intelligenz am höchsten, insbesondere, wenn beides natürlich angelegt zu sein scheint. Sie blickt nahezu ausschließlich auf hohe statische Intelligenz. Wer sich um einen Job in einer derartigen Organisation bewirbt, stellt daher seinen IQ, seine Testergebnisse sowie seine akademischen und intellektuellen Auszeichnungen und Leistungen heraus, in der Hoffnung, als würdig und als Mitglied des kleinen Kreises von Auserwählten betrachtet zu werden.11
Wachstumskulturen hingegen suchen zwar auch nach klugen Köpfen, wollen aber, dass diese hoch motiviert sind und sich darauf freuen, ihre Fähigkeiten durch Lernen, das Ausprobieren neuer Strategien und die bedarfsweise Inanspruchnahme von Unterstützung zu entwickeln. Folglich stellen Bewerberinnen und Bewerber nicht nur ihre Erfolge heraus, sondern auch die Herausforderungen, die sie auf dem Weg dorthin gemeistert haben, ihr Engagement und ihren Wunsch, sich weiterzuentwickeln. Im Mittelpunkt einer Wachstumskultur steht der Glaube, dass Talente und Fähigkeiten mithilfe geeigneter Strategien, Mentoring und Unterstützung seitens der Organisation entwickelt und aufgewertet werden können.
Genauso wie individuelle Denkweisen klare Rückschlüsse auf künftige Verhaltensweisen und Ergebnisse zulassen, gilt dies auch für Mindset-Kulturen. Die Forschung belegt eindeutig, dass sich anhand des Mindsets einer Organisation der Erfolg ihrer Mitglieder, Teams und der Gesamtorganisation vorhersagen lässt. Es beeinflusst, ob Menschen zusammenarbeiten; ob sie innovative Ideen und Lösungen entwickeln; ob sie bereit sind, Risiken einzugehen; ob sie ethisch problematische Verhaltensweisen wie das Horten von Informationen, das Vertuschen von Fehlern oder den Diebstahl von Ideen an den Tag legen; und schließlich, ob das Unternehmen von den Einsichten und Talenten von Menschen aus diversen Gruppen profitiert oder nur über eine beschränkte Perspektive verfügt. In diesem Buch werden Sie erfahren, wie Satya Nadella eine Wachstumskultur etabliert hat, welche die Anlagestrategie von Microsoft ebenso prägt wie die Fähigkeit des Unternehmens, mit Apple und anderen Wettbewerbern zusammenzuarbeiten sowie technische Fehlschläge zu überwinden. Sie werden zudem weitere Erfolgsgeschichten von Wachstumskulturen kennenlernen, etwa jene von den zwei Schwestern, die mithilfe eines lösungsorientierten Ansatzes den Weinmarkt revolutionierten, um hochwertige Produkte einem größeren und breiter gefächerten Kundenkreis zugänglich zu machen, oder jene darüber, wie der Glaube an die Lernfähigkeit aller Studierenden die Lehre an einem Community College revolutionierte und die Leistungen dramatisch verbesserte.
Zum Glück lässt sich das Mindset einer Organisation bewusst formen. In meiner Arbeit mit Führungskräften, Managern und Mitarbeitern habe ich das Vermögen von Wachstumskulturen, Menschen zu motivieren und den Erfolg von Individuen und Organisationen zu steigern, mit eigenen Augen gesehen. Wir haben herausgefunden, wie man Organisationen dabei unterstützen kann, ein auf Wachstum ausgerichtetes Mindset in eine konkrete Form zu gießen und zu fördern. Wir haben entdeckt, was die Mindset-Kultur eines Unternehmens formt und wie man Strategien, Praktiken und Normen so verändert, dass Menschen in eine dynamische Grundeinstellung hineinwachsen.
Darüber hinaus haben wir die Verbindung zwischen Mindset-Kultur und Diversität sowie Inklusion entdeckt: Das Mindset einer Organisation entscheidet darüber, ob es ihr gelingt, aus einer Vielzahl von Gruppen Menschen zu identifizieren, zu rekrutieren und an sich zu binden. Diese Erkenntnis hat uns zur Gründung des Equity Accelerators bewegt, der ersten Forschungseinrichtung in den USA, die ihre Anstrengungen gezielt darauf richtet, sozialwissenschaftliche und Verhaltensforschung zur Herstellung – und Sicherung – von gleichberechtigteren Lern- und Arbeitsumgebungen einzusetzen. Die Förderung inklusiver Kulturen, die von einem auf Wachstum ausgerichteten Mindset geprägt sind, ist eine Hauptaufgabe dieser Einrichtung, und ich werde Ihnen zeigen, wie Sie dies in Ihren eigenen Teams umsetzen können.
In diesem Buch stelle ich Ihnen die wegweisenden Forschungsergebnisse vor, die Ihnen zeigen, wie Sie und Ihr Team gemeinsam ein auf Wachstum ausgerichtetes Mindset entwickeln können. Wir beschreiben, wie bekannte Unternehmen und Organisationen in einer Vielzahl von Branchen die Art und Weise, wie ihre Mitarbeiter zusammenarbeiten, verändert und Wachstumskulturen geschmiedet haben. Wir tauchen ein in die Welt der Bildung, der gemeinnützigen Organisationen, des Sports und anderer Bereiche, um zu zeigen, dass Wachstumskulturen überall florieren können – etwa im US-Bundesstaat New York, wo ein Schulinspektor die Mindset-Kultur seines Schuldistrikts neu justierte und dadurch massive Ungerechtigkeiten, denen nichtweiße Kinder seines Distrikts ausgesetzt waren, beseitigen konnte. Oder in einer als Stiftung gegründeten Bäckerei, welche die Prinzipien eines dynamischen Mindsets auf ihre Personalrekrutierung und -entwicklung anwandte und so berufliche Aufstiegsmöglichkeiten für ehemalige Häftlinge geschaffen hat, während sie gleichzeitig ein hoch erfolgreiches Geschäft betreibt.
Das Wichtigste zum Schluss: Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie sich selbst dazu anregen können, in ein dynamisches Mindset zu gelangen und auch Ihr Umfeld damit zu inspirieren, sodass Ihr Team eine Wachstumskultur entwickelt. Dieses Buch steckt voller Übungen, Werkzeuge und Praktiken, mit deren Hilfe Sie gleich heute loslegen und die Zusammenarbeit innerhalb Ihrer Organisation verändern können. Sie werden erkennen, welche Auslösereize Sie in Richtung Ihres starren beziehungsweise dynamischen Mindsets treiben (kleiner Hinweis: Wir alle tragen beide Mindsets in uns). Darüber hinaus werden Sie lernen, wie Sie die Reize, die Sie in ein starres Mindset hineintreiben, umkehren und in Situationen verwandeln können, die Sie inspirieren und in denen Sie sich entwickeln können. Von dieser hohen Warte aus werden Sie anderen dabei helfen können, dasselbe zu erreichen – und so die gewünschte Wachstumskultur zu entwickeln.
Dieses Buch wird Ihr Wissen über Mindsets verändern und schärfen. Sie werden neue, evidenzbasierte Einsichten und Strategien kennenlernen, von denen Sie persönlich, Ihr Team und Ihre Organisation profitieren können. In Teil I nehmen wir einen Mindset-Neustart vor und werfen einen frischen Blick auf die Funktionsweise von Mindsets. In Teil II betrachten wir Mindsets von Organisationen und untersuchen, wie sich diese auf fünf zentrale Bereiche auswirken:
Zusammenarbeit: Möchten wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen eher konkurrieren oder kollaborieren?
Innovation: Gelingt es uns, neue Ideen zu entwickeln, oder sind wir gezwungen, das Alte beständig zu wiederholen?
Risikobereitschaft und Resilienz: Sind wir bereit, etwas zu riskieren, oder wollen wir lieber auf Nummer sicher gehen?
Redlichkeit und ethisches Verhalten: Sind Abkürzungen und Regelbrüche erlaubt, um Leistungserwartungen zu erfüllen, Fehler zu vertuschen oder den eigenen Ruf aufzubessern?
Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion: Wollen wir eine Belegschaft rekrutieren und an uns binden, die sich durch eine Vielzahl von Talenten und Sichtweisen auszeichnet, oder möchten wir unsere Einstellungspolitik auf einen eng gefassten Erfolgsprototypen gründen?
Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie das Mindset Ihrer Organisation und dessen Einflussfaktoren identifizieren können, um anschließend den Hebel dauerhaft in Richtung Wachstum umzulegen. In Teil III betrachten wir, wie Auslösereize unser individuelles Mindset beeinflussen. Ich stelle Ihnen dort die vier typischen situativen Reize vor, die uns in Richtung unseres statischen beziehungsweise dynamischen Mindsets bewegen:
Situationen, in denen unsere Anstrengungen beurteilt werden;
Situationen, in denen wir auf schwierige Herausforderungen treffen;
Situationen, in denen wir kritisches Feedback erhalten;
Situationen, in denen wir mit den Erfolgen anderer konfrontiert werden.
Sie werden lernen, zu erkennen, welche Situationen Sie zumeist in eine bestimmte Richtung entlang des Kontinuums treiben und wie Sie Ihr dynamisches Mindset öfter aktivieren können.
Doch obwohl jeder Einzelne viel tun kann, können wir nicht alles allein schaffen. Unsere besten und größten Leistungen entstehen aus der Zusammenarbeit mit anderen, denn nur gemeinsam können wir unser volles Potenzial abrufen. Mindsets sind eine Teamaufgabe, und ich möchte Sie ermutigen, das Gelernte mit anderen zu teilen. Eine Wachstumskultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie allen Beteiligten zu Wachstum verhelfen will. Das gelingt nur, wenn wir uns in unser dynamisches Mindset begeben, die Ärmel hochkrempeln und es gemeinsam anpacken.
Teil I
Mindsets: eine Neubetrachtung
Wir haben Mindsets bislang völlig missverstanden. Nun gut, nicht völlig, aber wir haben das Konzept allzu sehr vereinfacht – zu unserem Nachteil.
»Mindset« scheint ein leicht verständliches Konzept zu sein: Entweder glaubt man, dass Intelligenz und Begabung weitgehend festgelegt und unveränderlich sind, oder man ist davon überzeugt, dass sich beides nähren und entwickeln lässt. Doch wenn Sie an Ihre eigenen Erfahrungen denken, spüren Sie vielleicht, dass dieses Gegensatzpaar, dieses Entweder-oder, unterkomplex ist.
Erinnern Sie sich einmal an eine Situation, in der Sie vor einer Herausforderung standen. Wie haben Sie darauf reagiert? Nehmen wir an, dass Ihre Vorgesetzte Sie um Vorschläge für die Beschaffung von Geldmitteln bat, um ein erwartetes Defizit auszugleichen. Vielleicht sind Sie auf Nummer sicher gegangen und haben nur Initiativen vorgeschlagen, die sich mit dem deckten, was die Organisation in der Vergangenheit bereits gemacht hatte. Vielleicht erkannten Sie in der Bitte aber auch die Chance, etwas Neues auszuprobieren, und gaben sich Mühe, ungewöhnliche Lösungen zu entwickeln, die über herkömmliche Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen hinausgingen. Oder Sie listeten zunächst die üblichen Ideen auf, beschlossen aber dann, über den Tellerrand hinauszublicken.
Tatsächlich hat niemand ausschließlich ein starres oder ein dynamisches Mindset. Zwar mögen wir das eine oder andere Mindset bevorzugen, doch wir besitzen beide – und jeder von uns wechselt zwischen beiden hin und her. Zudem gilt: Wenn wir uns von einem starren zu einem dynamischen Mindset hinbewegen, fühlt sich das nicht unbedingt so an, als würde ein Schalter umgelegt; oft gleicht es mehr dem Drehen an einem Dimmer.
Das Mindset bewegt sich entlang eines Kontinuums. Wo wir uns zu einem gegebenen Zeitpunkt auf diesem Kontinuum befinden, entscheidet sich oft anhand unserer aktuellen Situation und der Menschen in unserem Umfeld.1
Doch unser herkömmliches Denken über Mindsets spiegelt diese Komplexität nicht wider. Seit Carol Dweck das Konzept erstmals vorgestellt hat,2 ist in Hörsälen und in den sozialen Medien immer wieder folgende Darstellung zu sehen:3
Abbildung 1: Welches Mindset haben Sie?
Woran krankt diese Abbildung? Es stimmt, Menschen neigen von Natur aus unterschiedlichen Mindsets zu, doch der reine Blick auf unsere Köpfe impliziert, dass sich Mindsets ausschließlich dort entwickeln. Zudem beschränken wir uns auf ein Entweder-oder. Wir sollen bestimmen, welches Mindset wir haben – mit anderen Worten, es kann nur das eine oder das andere sein. Erkennen Sie die Ironie? Zu glauben, dass wir immer entweder das starre oder das dynamische Mindset verkörpern, ist eine sehr starre Sichtweise auf das Mindset-Konzept!
Das obige Bild beinhaltet auch eine klare Präferenz: Dynamisch ist gut und starr ist schlecht. Zwar haben Menschen und Kulturen, die ein eher dynamisches Mindset besitzen, viele bewundernswerte Qualitäten, wie wir noch sehen werden. Doch dieses Missverständnis hat zu einer Moralisierung des Mindset-Begriffs geführt; das gilt vor allem für das US-amerikanische Bildungssystem und für Unternehmen, die sich diesem Konzept verschrieben haben. Wenn wir Mindsets als starre Eigenschaft betrachten, die einem Individuum innewohnt, und wenn wir glauben, dass eine Person mit Mindset A ein besserer Mensch ist als eine Person mit Mindset B, dann lässt sich das Konzept leicht dazu missbrauchen, Menschen in Schubladen einzusortieren. Es bedeutet auch, dass wir dem Einzelnen die Pflicht aufbürden, sich zu ändern, anstatt den Kontext und die Kultur zu berücksichtigen, die Mindsets hervorbringen und verstetigen.4
Mindset-Kulturen entstehen außerhalb von Individuen als aktive, gemeinschaftliche Entwicklung. Dennoch konzentrieren sich Führungskräfte oft auf individuelle Mindsets, so als ob es genügte, Angestellte mit »dynamischem Mindset« zu rekrutieren und an sich zu binden, um eine auf Wachstum ausgerichtete Unternehmenskultur zu etablieren. Viele Schulsysteme haben meine Kollegen und mich gefragt, ob es Beurteilungsverfahren gebe, die es ihnen ermöglichen würden, Lehrkräfte auf ihr starres beziehungsweise dynamisches Mindset hin zu überprüfen. Investmentfirmen haben mich gebeten, derartige Beurteilungsverfahren zu entwickeln, anhand deren sie entscheiden wollten, in welche Unternehmungen sie investieren. Oft möchten Organisationen solche Bewertungen bei der Personalauswahl heranziehen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass (a) Mindsets statisch sind, (b) Mindsets rein individuell sind und (c) solche Beurteilungsverfahren die »Wahrheit« über das Mindset des Individuums ans Licht bringen werden – ob also er oder sie ein dynamisches (oder starres) Mindset besitzt und somit eine gute (oder schlechte) Arbeitskraft sein wird. Und wenn wir diese Überzeugungen auf Menschen anwenden, werden sie dasselbe bei anderen Menschen tun.
In dem Fortbildungswerk für Lehrkräfte, das ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen gegründet habe,5 erleben wir immer wieder, wie Pädagoginnen und Pädagogen auf dieses falsche Gegensatzpaar zurückgreifen, um Schüler und Schülerinnen abzustempeln, die unter Motivations- oder Leistungsproblemen leiden. Sie sagen dann etwa: »Tut mir leid, aber dieses Kind hat nun mal ein starres Mindset, da kann ich nicht viel dran ändern«, oder: »Diese Schülergeneration hat einfach ein starres Mindset«. Wenn wir die Lehrkräfte fragen, wie sie die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, sich auf ihr dynamisches Mindset zuzubewegen, antworten sie manchmal: »Das ist nicht meine Aufgabe. Entweder müssen sie einfach ein dynamisches Mindset haben oder ihre Eltern müssen mit ihnen an dessen Entwicklung arbeiten.« Doch das Abstempeln von Kindern als veränderungsunfähig ist die Definition eines starren Mindsets – aufseiten der Lehrkraft. Und da manche Lehrkräfte sich wünschen, dass der Lernerfolg rasch und mühelos eintritt (eine weitere Haltung, die auf einem starren Mindset beruht), kürzen sie manchmal die Anstrengungen – und damit das Lernen – des Kindes ab, indem sie sofort die richtige Antwort anbieten oder das Kind mit den Worten beruhigen: »Macht nichts, es kann ja nicht jeder ein Mathegenie sein.«6
All dies spiegelt ein falsches Verständnis sowohl von Mindsets wider als auch von den Faktoren, die in einem gegebenen Moment unser Mindset beeinflussen. Selbst diejenigen unter uns, die sich beruflich mit Mindsets befassen, neigen nicht stets einem dynamischen Mindset zu. Je nach Situation kann unser starres oder unser auf Wachstum ausgerichtetes Mindset vorherrschen.
Willkommen im Mindset-Kontinuum.
Wir werden je nach Situation in die eine oder andere Richtung getrieben. Doch auf diesem Kontinuum haben wir einen vorgegebenen Ausgangspunkt.7 Vielleicht neigen Sie von Natur aus eher dem dynamischen Ende des Kontinuums zu oder reagieren auf Herausforderungen zunächst eher starr. (Bitte klammern Sie sich auch hieran nicht allzu sehr fest, denn unser Ausgangspunkt kann sich im Zeitverlauf und in unterschiedlichen Situationen ändern.)
Abbildung 2: Das Mindset-Kontinuum
Wie Carol Dwecks klassische Forschung belegt,8 kann es hilfreich sein, seinen Ausgangspunkt zu kennen, doch niemand lebt in einem Vakuum. Tatsächlich lautet eines unserer erstaunlichsten Forschungsergebnisse, dass sich Menschen aufgrund von prognostizierbaren, erkennbaren Auslösereizen entlang des Kontinuums bewegen. Mindset-Beurteilungen, die darauf angelegt sind, unser eines, »wahres« Mindset zu erkennen, laufen daher oft ins Leere.9
Die uns umgebende Mindset-Kultur ist einer der bedeutendsten Einflussfaktoren auf unsere Überzeugungen, unsere Motivation und unser Verhalten. Diese Mindset-Kultur existiert auf Gruppen- und auf Organisationsebene.10
Mindset-Kulturen sind so wirkmächtig, dass sie sogar das dynamische Mindset des Einzelnen blockieren können.11 Wenn Führungskräfte sich auf die Entwicklung einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konzentrieren, übersehen sie fast immer den Einfluss der Mindset-Kultur, die sie selbst geschaffen haben. Oft wissen sie gar nicht, welche Kultur das ist! So glaubte beispielsweise Sadie Lincoln, die CEO von Barre3, ein Fitness-Unternehmen aufgebaut zu haben, das sich ganz einem auf Wachstum ausgerichteten Mindset verschrieb. Doch eine anonyme unternehmensweite Umfrage erschütterte das Selbstbild, das sie mühevoll zu errichten versucht hatte – das einer perfekten Führungskraft, die den Eindruck erweckte, dass ihr alles leicht von der Hand ging. »Ich habe mich bemüht, diese Rolle zu spielen, auch wenn ich dabei nicht immer ehrlich war«, berichtet Lincoln. »Ich erkannte nicht, dass ich eine Kultur des Perfektionismus etabliert hatte. Und die Folge war, dass wir weniger authentisch wurden und Vertrauen sowie Innovationsfähigkeit verloren.«12 Perfektionismus ist ein Kennzeichen einer statischen Mindset-Kultur. In einem Umfeld, das ihnen scheinbar mühelos erbrachte perfekte Arbeitsleistungen abverlangte (nach dem Vorbild der Unternehmensleitung), fühlten sich die Mitarbeitenden demotiviert und entmutigt anstatt gestärkt und dazu animiert, Herausforderungen anzunehmen. Selbst eine so aufmerksame Führungskraft wie Sadie Lincoln musste schockiert feststellen, dass sie unwissentlich statt einer Wachstumskultur das geschaffen hatte, was ich als Geniekultur bezeichne – ein Unternehmen, dessen Strategien, Praktiken und Normen die Glaubenssätze eines starren Mindsets widerspiegeln.
Lincoln begriff, dass sie und ihr Team ihre Unternehmenskultur generalüberholen mussten. Der erste Schritt bestand darin, sich ihre eigene Verantwortung für das Entstehen eines schädlichen Arbeitsklimas einzugestehen. (In Kapitel 11 betrachten wir, wie sie dabei vorging.) Es war nicht leicht und blieb auch nicht ohne Folgen. »Ich verlor etliche Teammitglieder in dieser schwierigen Zeit«, verriet Lincoln der Zeitschrift Marie Claire.13
Einige Leute, denen die statische Mindset-Kultur der mühelos erbrachten Perfektion zusagte, waren verunsichert, als Lincoln ihr Versagen öffentlich eingestand. Doch die verbleibenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützten sie beim Aufbau einer neuen dynamischen Mindset-Kultur. Und wie Lincoln dem Moderator Guy Raz in einem Interview in seinem Podcast How I Built This erläuterte, halfen ihr die Erkenntnisse aus jenen Tagen, die Corona-Pandemie erfolgreich zu überstehen – eine Zeit, in der zahllose andere Fitness-Unternehmen ihre Tore für immer schließen mussten. Schon wenige Tage nach Schließung aller seiner Standorte ging Barre3 als Online-Fitnessplattform an den Start.14
Doch Lockdowns waren nur die erste von vielen Herausforderungen, denen Barre3 sich stellen musste. Als Reaktion auf die »Black Lives Matter«-Bewegung berieten sich Lincoln und ihr Team mit Expertinnen und Experten und begannen einen Plan zu entwerfen, um Problemen mit strukturellem Rassismus sowie mit Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion (engl. diversity, equity, and inclusion, DEI), die sie innerhalb ihres Unternehmens ausgemacht hatten, zu begegnen. Wie Lincoln Raz verriet: »Dies ist einer der schwierigsten, tiefgreifendsten und wichtigsten Momente unserer Firmengeschichte. (…) Ich bin eine weiße Frau in einer hoch privilegierten Führungsposition, und [ich habe unbewusst] ein Unternehmen mit Führungskräften aufgebaut, die mir äußerlich sehr ähnlich sind«15 – einschließlich Franchisenehmern und Ausbildern. In den letzten Jahren hat das Unternehmen gemeinsam mit seinem DEI-Partner seine Führungskräfte und Franchisenehmer entsprechend fortgebildet und seine Öffentlichkeitsarbeit und Einstellungspraktiken überarbeitet. Es hat seine Vorhaben auf dem firmeneigenen Blog publiziert sowie interne Kennzahlen zur Erfolgsmessung entwickelt. Zudem bemüht es sich, seine Strukturen so anzupassen, dass DEI-Gesichtspunkte künftig im Mittelpunkt sämtlicher Unternehmenspraktiken und -strategien stehen.16
Organisationale Mindsets sind Überzeugungen hinsichtlich Intelligenz, Talent und Begabung, die von einer Gruppe von Menschen innerhalb einer Organisation geteilt werden. Diese Mindsets offenbaren sich anhand der kulturellen Ausdrucksformen oder Artefakte dieser Gruppe – ihrer Strategien, Praktiken, Verfahren und Verhaltensnormen, der Botschaften der Führungsebene und anderer mächtiger Personen, der öffentlichkeitswirksamen Publikationen (wie etwa die Website, das Leitbild und andere Grundlagendokumente) und so weiter.17
Auch organisationsbezogene Mindsets sind entlang des Kontinuums von starr bis dynamisch angesiedelt.18 Teams haben nicht einfach ein starres Mindset, sondern bewegen sich je nach aktuellen Chancen und Herausforderungen sowie den Angeboten der Gesamtorganisation zwischen diesen beiden Polen. Die Überzeugungen, die sich im Mindset der Organisation ausdrücken – also wie starr oder veränderlich Intelligenz, Begabungen und Fähigkeiten nach Meinung der jeweiligen Gruppe sind –, beeinflussen nicht nur unser Verhalten und unser öffentliches Auftreten, sondern leiten auch unsere Interaktionen mit anderen Menschen und unsere Erwartungen ihnen gegenüber.19 Diese Grundüberzeugungen bestimmen, wie die Mitglieder einer Gruppe denken, fühlen und auftreten. Am Arbeitsplatz hat die Mindset-Kultur einen Dominoeffekt, der sich auf sämtliche Bereiche auswirkt: Zusammenarbeit und Innovation; Einstellungs-, Entlassungs- und Beförderungsverfahren; ethisches (oder unethisches) Verhalten; Diversität und Inklusion; und den wirtschaftlichen Erfolg. In Lehranstalten bestimmt die Mindset-Kultur die Erfahrungen, das Engagement und die Leistungen der Lernenden. Zudem beeinflusst sie die Ansichten von Lehrkräften und Verwaltung darüber, welche Schülerinnen und Schüler anspruchsvolles Lernmaterial sowie zusätzliche Förderung erhalten sollen.
Organisationen mit statischem Mindset – mit anderen Worten, Geniekulturen – glauben und vertreten öffentlich, dass menschliche Fähigkeiten unveränderlich, also statisch sind.20 Wenn die Führung glaubt, dass manche »es« haben und andere nicht, verlagert sich der Schwerpunkt ganz von allein auf die Suche nach »Stars« und deren Rekrutierung und Förderung, während alle anderen entweder ignoriert oder entlassen werden. In Geniekulturen sind die Strukturen dergestalt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu ermutigt werden, miteinander zu konkurrieren, um sich zu beweisen und um zu sehen, wer sich durchsetzt (wobei oft sämtliche Mittel erlaubt sind).
Wenn Menschen das Wort »Geniekultur« ohne Kontext hören, bekommen sie ironischerweise große Augen. »Oh, das klingt toll!«, sagen sie dann. Unsere Gesellschaft hegt eine kulturell bedingte Faszination für alles Geniale und für die Vorstellung, dass es einige besondere Menschen mit angeborenen Eigenschaften und Fähigkeiten gibt, die allen anderen nicht zugänglich sind. Wir verdrehen sogar die historischen Tatsachen, um ein Genie oder einen einsamen Helden in den Vordergrund zu rücken, der dank eines angeborenen Talents einen brillanten »Aha-Moment« erlebt, der die Welt verändert. Paradoxerweise ist es sogar so, dass wir uns umso stärker an derartigen Genie-Erzählungen festhalten, je mehr unser tägliches Leben von gegenseitiger Abhängigkeit, Zusammenarbeit und Teamarbeit geprägt ist. Wie die Harvard-Professorin Marjorie Garber in der Zeitschrift The Atlantic schrieb: »Je weiter sich unsere Gesellschaft von individueller Handlungsfähigkeit entfernt – je weniger also das Individuum in der Lage zu sein scheint, Dinge zu verändern –, desto stärker idealisieren wir das Genie, das nach dieser Definition das Gegenteil einer Arbeitsgemeinschaft oder einer gemeinsamen Anstrengung ist. Tatsächlich lässt sich die Abneigung gegenüber der Vorstellung, dass Shakespeare seine Bühnenwerke in Zusammenarbeit mit anderen Dramatikern und sogar Schauspielern seiner Kompanie schrieb, teilweise daraus erklären, dass wir noch immer und bisweilen verzweifelt versuchen, dieses Idealbild eines individuellen Genies zu verteidigen.«21
Wie Garber weiter ausführt, beschrieb Joseph Addison, ein im 18. Jahrhundert lebender Chronist der Geschichte des Genies, zwei Genie-Typen, die zu Beginn jenes Jahrhunderts populär waren: das natürliche im Gegensatz zum Bildungsgenie. Man konnte schon im frühen Alter Scharfsinn besitzen, aber diesen auch durch Fleiß (oder das, was ich »wirksame Anstrengung« nenne) erlangen. Heutzutage konzentrieren wir uns fast ausschließlich auf die zuerst genannte Ausprägung, und derartige Genies werden nahezu vergöttert. Deshalb klingt der Begriff »Geniekultur« zunächst so verlockend.
Als ich Carol Dweck fragte, woher unsere Verehrung von Genies wohl komme, antwortete sie: »Ich glaube, zu einem Großteil rührt sie aus unserem hierarchischen Erbe.« Sie erklärte mir, dass die Mächtigen mit ihren ererbten Privilegien und ihrer Ausbildung an Eliteschulen oft nach Rechtfertigungen dafür suchten, dass es ihnen besser gehe.22 Claude Steele, Psychologieprofessorin an der Stanford University, äußerte eine ähnliche Idee: »Es ist vermutlich ein Standbein einer Ideologie, die zur Festigung von Macht und Privilegien dient. Wer es einmal hat, der hat es, und wer es nicht hat, der hat halt Pech. Wenn ich ein Genie bin und über eine bestimmte Begabung verfüge, dann garantiert mir das einen bestimmten Status – ein Gefühl von Exklusivität, wonach andere Leute es vielleicht nicht dorthin schaffen werden und dies einfach die natürliche Ordnung der Dinge ist.«23 Steele fügt hinzu, dass solches Denken »Privilegien legitimiert und reinwäscht. Tatsächlich geht es mir gut, weil ich mit einem ordentlichen Grundgerüst ausgestattet wurde, aber die Genie-Vorstellung erlaubt es mir, es anders zu sehen – ich kann dann denken: ›Das ist meine Begabung.‹« Meine Untersuchungen unterstützen diese Analyse, denn sie zeigen, dass die Genie-Mentalität dazu beiträgt, den Status quo zu erhalten. Jene, die am meisten vom Status quo profitieren – die wenigen, die als Stars angesehen werden –, sind bewusst oder unbewusst daran interessiert, ihn zu bewahren. Gleichzeitig nimmt es den Druck von den Ungesalbten, die nun denken können: Da ich keiner von denen bin, die »es« haben, erwartet man von mir auch nicht so viel.24
Vielleicht ist es also nur logisch, dass wir zum Aufbau von Geniekulturen neigen. Wenn wir von einem Genie geführt werden – und außerdem möglichst viele weitere in der Organisation verstreuen –, können wir doch eigentlich nur äußerst erfolgreich sein, oder etwa nicht? Doch das widerspricht meinen Forschungsergebnissen. Wie Sie in den späteren Kapiteln sehen werden, produzieren Geniekulturen paradoxerweise oft weniger Genialität – mit anderen Worten, sie sind in der Regel von deutlich weniger Innovation, Kreativität, nachhaltigem Wachstum, gleich bleibenden Ergebnissen und so weiter gekennzeichnet. Tatendrang; die nötige Risikobereitschaft, um die nächste große Idee zu entwickeln oder den nächsten Durchbruch zu erzielen; der Wunsch, mit Kolleginnen oder Menschen in anderen Bereichen zusammenzuarbeiten: All dies wird in einer Kultur, in der es darum geht, mühelos erreichte Perfektion vorzutäuschen, wie es in Geniekulturen der Fall ist, meist gedämpft.
Umgekehrt gilt, dass Kulturen, die von einem dynamischen Mindset geprägt sind und Komplexität, Möglichkeitsräume und engagierte Bemühungen wertschätzen – eben Wachstumskulturen –, gelegentlich als anstrengender erscheinen. In Organisationen, wo beständig gelernt wird, gibt es immer Möglichkeiten, sich zu verbessern und zu neuen Ufern zu streben.
Dennoch wird ein auf Wachstum ausgerichtetes Mindset oft als weicher und weniger streng betrachtet. Wachstumskulturen gelten dann als solche, in denen Führungskräfte uneingeschränkt Wärme, Positivität und endlose Bestätigungen anbieten und Anstrengungen höher bewerten als Ergebnisse. Doch meine Forschungsergebnisse widersprechen dem diametral. Sie zeigen, dass Studierende, deren Lehrkräfte eine von einem dynamischen Mindset geprägte Lernkultur etablieren, diesen Unterricht nicht als leichter oder weniger streng erleben. Stattdessen beschreiben sie den Unterricht als sehr fordernd und gelegentlich sogar als irritierend. Eine Lehrkraft, die sich während des Kurses in ihrem dynamischen Mindset befindet, wird die Studierenden laufend herausfordern, um sie zum Lernen und zum Wachstum anzuregen. Solche Lehrkräfte sind unzufrieden, wenn auch nur ein Student oder eine Studentin auf einem Lernplateau stehen bleibt. Sie streben nach ständiger Verbesserung, auch bei Studierenden, die schon gute Leistungen zeigen. Aus Sicht der Studierenden ist das nicht immer angenehm. Doch langfristig wissen sie es meist zu schätzen, denn sie erbringen dadurch bessere Leistungen und lernen mehr.25
Menschen in Wachstumskulturen glauben, dass Begabungen und Fähigkeiten entwicklungsfähig sind. Erforderlich seien hierfür Anstrengungen, Beharrlichkeit, gute Strategien, die Bereitschaft, Hilfe in Anspruch zu nehmen, und Unterstützung. Diese Menschen werden oft dazu aufgefordert, über ihre Fortschritte und ihre Entwicklung zu reflektieren, anstatt nur zu berichten, ob sie ihr Ziel erreicht haben. Sie werden zudem gebeten, jene Faktoren zu benennen, die diesen Prozess ausgelöst haben (darunter auch Dinge, die schiefgelaufen sind, nicht nur die erfolgreichen). Und schließlich fordert man sie auf, die Organisation mithilfe dieses Wissens voranzubringen. Wachstumskulturen bieten konkrete Strategien und Strukturen an, um Innovation zu fördern und die Kompetenzen ihrer Belegschaft zu erweitern. Mit anderen Worten: Wachstumskulturen verschreiben sich ganz der Entwicklung, und das ist herausfordernd – es erfordert Anstrengungen, Aufmerksamkeit und vollen Einsatz, um Verbesserungsmöglichkeiten proaktiv aufzuspüren. Doch entscheidend ist, dass der Einzelne auf diesem Weg nicht alleingelassen wird; vielmehr unterstützt ihn die Organisation und stellt ihm die nötigen Ressourcen zur Verfügung.
Meine Untersuchungen belegen, dass die Mindset-Kultur einer Organisation sich beständig auf fünf Feldern auswirkt, in denen Menschen gut kollaborieren (oder auch nicht):26 Zusammenarbeit; Innovation; Risikobereitschaft und Resilienz; Redlichkeit und ethisches Verhalten; sowie Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion (DEI). Diese Verhaltensnormen (darunter versteht man ungeschriebene Regeln darüber, welches Verhalten in einer Gruppe als akzeptabel oder wünschenswert gilt) greifen oft ineinander. Wenn ein Team beispielsweise Schwierigkeiten in puncto Zusammenarbeit und Innovation hat, hapert es meist auch bei der Risikofreudigkeit, dem ethischen Verhalten und bei DEI. In Teil II zeige ich, wie Mindset-Kulturen jede dieser Normen beeinflussen und wie Sie diese Normen dazu nutzen können, eine Organisation aufzubauen, in der Vertrauen, Arbeitnehmerzufriedenheit und Engagement herrschen – und dabei noch Gewinne zu erwirtschaften. Das ist eine ganze Menge, und die Frage, warum wir so sicher sein können, dass Mindset-Kulturen eine so große Rolle dabei spielen, ist daher völlig berechtigt.
Das Mindset einer Organisation kann auf gemeinsamen Überzeugungen gründen, doch es hat zahlreiche Auswirkungen auf die anderen Überzeugungen und Ziele ihrer Mitglieder sowie auf deren Verhalten.27 Wenn wir Rückschläge erleiden, dazu aufgefordert werden, erhebliche Anstrengungen in unsere Arbeit zu investieren, oder uns ein neues Wissensgebiet erschließen müssen, reagieren wir darauf entsprechend den Grundüberzeugungen unserer Organisation. Wachstumskulturen verleiten uns dazu, diese Herausforderungen als Chance zu betrachten, unsere Fähigkeiten zu erweitern und uns beruflich und persönlich zu entwickeln. In Geniekulturen besteht die Gefahr, dass uns wir in solchen Situationen verteidigen und beweisen wollen, auch auf Kosten anderer. Anstatt zu lernen, bemühen wir uns, unseren Status und unser Ansehen aufzuwerten.
Organisationen sind nicht monolithisch: Sie verkörpern nicht jederzeit und in jedem Kontext eine Genie- oder eine Wachstumskultur. Ebenso wie persönliche Mindsets bewegen sich auch organisationale Mindsets entlang eines Kontinuums.28 Zwar ist häufig ein übergreifendes Mindset auf Organisationsebene (der kulturelle Ausgangspunkt) erkennbar, doch gleichzeitig gibt es oft eine Vielzahl von Mindset-Mikrokulturen. So kann beispielsweise eine Organisation als Ganzes überwiegend ein statisches Mindset aufweisen, während einzelne Bereiche, Abteilungen oder Teams stärker wachstumsorientiert sind.
Dann gibt es auch noch das individuelle Mindset. Durch unsere Forschungsarbeit haben wir vier häufig auftretende, vorhersagbare Situationen identifiziert, die uns dazu bringen, unser persönliches starres oder dynamisches Mindset zu verkörpern. Diese Situationen werden als Mindset-Trigger bezeichnet. (Sie oder andere Menschen mögen Trigger haben, die hier nicht aufgeführt sind, doch diese vier sind nach Maßgabe der Literatur und unserer anekdotischen Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit verschiedenen Organisationen die häufigsten.)29 Es lohnt sich, diese Situationen zu verstehen, denn man kann aus ihnen Erkenntnisse darüber ableiten, wann wir dazu neigen, in unser starres Mindset zurückzufallen, und wie wir uns selbst auf den Wachstumspfad bringen können. Alle Informationen hierzu folgen in Teil III. (Und falls Sie sich immer noch fragen sollten, wie das alles zusammenpasst: keine Sorge, im Laufe des Buches werde ich es erläutern.)
Lassen Sie uns an dieser Stelle nur kurz auf die Darstellung des persönlichen Mindsets zu Beginn dieses Kapitels zurückkommen. Anstatt der beiden miteinander konkurrierenden Köpfe sei hier aufgezeigt, wie es sich in Wirklichkeit verhält. Die folgende Grafik berücksichtigt den Einfluss sowohl der Mindset-Kultur als auch der Mindset-Trigger, die uns entlang des Kontinuums zwischen unserem persönlichen starren und dynamischen Mindset bewegen.
Der einzelne Mensch kann sein eigenes Mindset zwar durchaus beeinflussen, doch externe Faktoren wie die Mindset-Kultur einer Organisation spielen eine große und unterschätzte Rolle bei der Ausformung unserer Gedanken, unserer Motivation und unseres Verhaltens.
Ihre Organisation hat eine Mindset-Kultur – die Frage lautet: Kennen Sie diese und wissen Sie, inwiefern sie sich auf Sie selbst und die anderen Mitglieder Ihrer Organisation auswirkt?
Abbildung 3: Wie unser Mindset wirklich funktioniert
William James, der oft als einer der Gründer der US-amerikanischen Psychologie bezeichnet wird, schrieb, dass ein Mensch »so viele Varianten des sozialen Selbst hat, wie es unterschiedliche Gruppen gibt, auf deren Meinung er Wert legt«.1 Um die Praxistauglichkeit dieses Konzepts zu überprüfen, überlegen Sie einmal, wie Sie sich in verschiedenen beruflichen und sozialen Situationen verhalten. Wenn ich beispielsweise an der kirchlichen Trauung meiner Freundin oder meines Freundes teilnehme, verhalte ich mich entsprechend diesem Kontext und damit anders als in einer Vorlesung oder bei einer abendlichen Verabredung mit Freunden. Je nach Situation kommen unterschiedliche Teile unserer Identität zum Vorschein und verhalten wir uns unterschiedlich. Die Mindset-Kultur der jeweiligen Gruppe ist Bestandteil der Situation, die unterschiedliche Teile unseres Selbst hervorlockt.
Eines der ersten Male, dass ich den Einfluss von Mindset-Kulturen auf menschliches Verhalten erkannte, war ein Erlebnis während meines Promotionsstudiums. Wie die meisten Fachbereiche für Psychologie ist auch jener der Stanford University in verschiedene Institute gegliedert: soziale Psychologie, kognitive Psychologie, Entwicklungspsychologie, Neurowissenschaften. Am Ende jedes Studienjahres werden die Doktorandinnen und Doktoranden gebeten, ihr Promotionsprojekt und dessen Fortschritte im Rahmen eines Vortrags vorzustellen. Viele Studierende empfinden diese Anforderung als nervenaufreibend; das gilt insbesondere für Studierende im ersten oder zweiten Jahr, die vor Lehrkräften vortragen müssen.
Eines Nachmittags besuchte ich Carol Dweck in ihrem Büro und teilte ihr meine Beobachtung mit, wonach die Studierenden aus zwei der Seminare sehr unterschiedlich vorgegangen waren. Das erste Seminar hatte eindeutig eine starre Mindset-Kultur, in der es darauf ankam, sich zu beweisen. Hier lehrten einige der angesehensten und am höchsten dekorierten Lehrkräfte des Fachbereichs, viele davon Mitglieder der National Academy of Sciences, der prestigeträchtigsten Wissenschaftsorganisation des Landes. Man konkurrierte miteinander darum, den ersten schweren Fehler zu entdecken, die erste vernichtende Kritik anzubringen oder den schneidendsten Kommentar abzugeben. Jede Lehrkraft wollte gerne der Star der Veranstaltung sein, und die Studierenden litten. Sie hatten das ganze Jahr über an ihrem jeweiligen Projekt gearbeitet und waren Experten darin, doch angesichts der vielen Ähms und Hmms erlitten viele einen teilweisen Blackout. Es schnürte ihnen die Kehle zu, obwohl sie ihre Arbeit doch in- und auswendig kannten. Danach waren sie frustriert und entmutigt: »Warum habe ich dies oder jenes nicht gesagt? Es hätte so viele Möglichkeiten gegeben, diese Frage zu kontern. Die Daten unterstützen die Interpretation jener Lehrkraft gar nicht!«
Obwohl auch im zweiten Seminar angesehene Lehrkräfte wirkten, war das Klima viel eher durch eine Wachstumskultur gekennzeichnet. Das Umfeld war zwar ebenfalls kritisch und die Lehrkräfte wiesen auf Schwachstellen und Probleme hin, doch anstatt miteinander um die klügste Bemerkung zu rangeln, lautete der Ansatz »analysieren, um aufzubauen«. Die Dozentinnen und Dozenten waren der Meinung, dass man in einem Seminar lernen sollte, welche Hindernisse sich bei Forschungsprojekten auftun und wie man sie überwindet. Sie nahmen ihre gegenseitigen Bemerkungen auf und gaben den Studierenden Hinweise, wie sie ihr Forschungsdesign und ihren analytischen Ansatz verbessern und so ihr Projekt stärken könnten. Zwar waren die Studierenden angesichts der renommierten Lehrkräfte, die ihnen zuhörten, immer noch nervös, aber sie stolperten oder erstarrten nicht in der gleichen Weise wie die Studierenden im Seminar mit statischem Mindset. Sie konnten die gestellten Fragen beantworten und gemeinsam mit den Lehrkräften ein Brainstorming zur Verbesserung ihrer Arbeit durchführen. Sie verließen den Raum motiviert und mit der festen Absicht, die Veränderungen vorzunehmen, die ihre Arbeit verbessern würden.
Nachdem ich beschrieben hatte, wie diese Seminare das Verhalten der Studierenden beeinflusst hatten, fragte ich Carol: »Hat irgendjemand jemals Mindset als kulturellen Einflussfaktor untersucht? Als Eigenschaft einer ganzen Gruppe oder eines Umfelds?« Ihre Augen leuchteten auf, und mit einem breiten Lächeln schüttelte sie den Kopf und sagte: »Nein! Das hat noch niemand geprüft. Aber, Mary … wir sollten das gemeinsam angehen!« Und so war das Konzept der Mindset-Kultur geboren.
In den vorangegangenen drei Jahrzehnten dachte man, dass Mindsets fast ausschließlich individueller Natur seien. Zahlreiche Untersuchungen hatten gezeigt, was geschieht, wenn Individuen aus einem starren oder dynamischen Mindset heraus agieren,2 doch niemand hatte erforscht, wie wir denken, fühlen und uns verhalten, wenn wir auf das Mindset einer Organisation stoßen. Wir wussten noch nicht einmal, dass es so etwas überhaupt gibt.
Um zu erkennen, wie Menschen auf Mindset-Kulturen reagieren, legt mein Team ihnen unter anderem Unternehmensleitbilder vor, die zu einer Genie- beziehungsweise einer Wachstumskultur passen.3 Doch nicht nur Unternehmensleitbilder, sondern auch andere kulturelle Artefakte wie Websites, Gründungsdokumente, Onboarding-Verfahren oder Beurteilungs- und Beförderungspraktiken lassen Rückschlüsse auf die Mindset-Kultur eines Unternehmens zu. In der Gesamtschau ergibt sich ein Porträt. Unternehmen, die ihren Blick auf die Ergebnisse verengen – die ihren Angestellten Gelegenheiten anbieten, sich »zu beweisen« und »Höchstleistungen abzurufen«; die damit angeben, wie »erfolgsorientiert« sie seien; oder die explizit erwähnen, dass sie die »besten Leute« und deren »natürlichen Talente und Erfolge« schätzten, ohne ihr Wachstum und ihre Entwicklung auf dem Weg dorthin zu erwähnen –, vermittelten eher eine starre Mindset-Kultur. Diese Artefakte zeichnen das Bild einer Schwarz-Weiß-Kultur: Entweder man ist erfolgreich oder man versagt; die Mitarbeiter sind entweder Stars oder aber nicht; es zählt nur das Endergebnis, nicht der Weg dorthin.
Die meisten Organisationen mit statischem und dynamischem Mindset haben einige gemeinsame Eigenschaften. Alle wünschen sich eine Top-Performance – wer auch nicht? –, damit die Gewinnmarge stimmt. Der Unterschied liegt darin, wie dieser Erfolg erreicht werden soll. Organisationen mit einer Wachstumskultur konzentrieren sich auf Fortschritte und sorgen für die nötige Unterstützung, damit diese erreicht werden können. Sie bieten ihren Mitarbeitern Wachstumschancen anstatt »Chancen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen«. Sie setzen sich leidenschaftlich für Verbesserungen und Entwicklung ein – natürlich auch ihrer Gewinnmarge, aber ebenso stark auch ihrer Mitarbeiter. Organisationen mit einer Wachstumskultur glauben, dass ihr Erfolg nicht nur von gegebenen Fähigkeiten, Begabung und Intelligenz abhängt, sondern auch von Faktoren wie Motivation, Kreativität, Problemlösungskompetenz und der Bereitschaft zur ständigen Weiterentwicklung.
Meine Untersuchungen zeigen, dass Organisationen mit einer Wachstumskultur erfolgreichere Unternehmenskulturen hervorbringen und zufriedenere, leistungsstärkere Mitarbeiter besitzen.4
Abbildung 4 fasst einige der Unterschiede zwischen den beiden Kulturen zusammen, die sich aus der Analyse von Unternehmensartefakten wie Leitbildern und Stellenanzeigen ableiten lassen.
Abbildung 4: Organisationale Mindsets5
Wenn Sie mittlerweile vermuten, dass Ihre Organisation überwiegend einer Geniekultur zuneigt, sollten Sie wissen, dass es möglich ist, Mindset-Kulturen zu ändern. Der Wandel ist allerdings ebenso mühevoll, wie ein großes Schiff zu wenden. Viele Unternehmen fallen direkt wieder in dieses verzwickte falsche Gegensatzpaar zurück. Doch seien Sie versichert: Es ist machbar, und in Teil II zeige ich Ihnen einige Möglichkeiten, den Wandel einzuleiten, darunter einige konkrete Maßnahmen, die Sie sofort umsetzen können.