Wächter der Morgenröte - Aaron Weigel - E-Book

Wächter der Morgenröte E-Book

Aaron Weigel

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Beschreibung

Wir sind Geschöpfe des Himmels, Abkömmlinge der Sonne, die uns den Funken des Lebens eingehaucht hat. Wir waren ein Volk. Bis alles, woran wir glaubten, zerbrach. Nach dem blutigen Krieg, der die Völker Ascans entfremdete, mussten sich die Deva der Herrschaft der Dreizehn Fürsten beugen. Gefangen in ihrer Zufluchtsstätte harren die unsterblichen Geschöpfe des Himmels aus, um das prophezeite Ende der langen Nacht abzuwarten. Als ein verheerender Angriff seine Heimat auslöscht, begibt sich der Deva Azrael auf eine schier aussichtslose Rettungsmission: Getrieben von der Angst um seine Schwester Lilith macht er sich auf den Weg ins Nest des Feindes. Auf seiner Reise begegnen ihm zwielichtige Gestalten, die es nicht gut mit ihm meinen, darunter die verschlagene Furie Eris, die Azraels tiefste Ängste zu kennen scheint. Die größte Gefahr jedoch lauert längst in unmittelbarer Nähe. Dies ist das Zeitalter der langen Nacht. Wenn sich der Blutmond über dem Antlitz der Welt erhebt, steht die Zukunft eines ganzen Königreichs auf Messers Schneide.

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»Wie ohnmächtig stehen wir da vor dem Weltgang, indem es

keine rückwärtsleitende Macht über geschehene Dinge gibt,

welche wieder herstellen könnte, was wir verloren haben. «

August Pauly (1850 - 1914 )

Inhaltsverzeichnis

DIE AUGEN DER MORGENRÖTE

AZRAEL

MÄßIGUNG UND DEMUT

DER MYSTERIÖSE EINDRINGLING

DIE NACHTIGALL UND DER RABE

DURCH QUALM UND FLAMMEN

DIE VERNICHTUNGSLINIE

SCHATTENBOTE

AZRAELS VERSPRECHEN

DAS DRITTE KIND

DIAMETRUM

VON WAHREN MÄRCHEN UND BÖSEN GUTENACHTGESCHICHTEN

ERIS ANGEBOT

INNERLICH ZERRISSEN

SCHATTENALBS ODE

DIE ELENDE

DAS VERHÄNGNIS

EINE FRAGE DES STANDPUNKTS

VOM FLÜSTERN DER DUNKLEN STIMME

DER SINGENDE QUERULANT

DER GESANDTE

DER SCHATTEN MIT DEN SCHWARZEN AUGEN

EINE HAND WÄSCHT DIE ANDERE

EZRA

DIE PLÄNE DES LEONIDAS GRIMM

DIE SAAT DER DUNKLEN STIMME

GESANDTE DES LICHTS, JÄGER DER NACHT

VAGE GERÜCHTE

BLUTROTES MONDLICHT

INNERE VERBUNDENHEIT

DER LOCKVOGEL

WILDE FLUCHT

EINGEKREIST

DER SCHWARZE HABICHT

NUR EIN. AUGENBLICK

DIE KINDER DER PROPHEZEIUNG

EIN KÜHNER PLAN

DIE SCHLACHT IM TÉUFELSSCHLUND

FAHRT INS UNGEWISSE

EINE KLEINE DANKSAGUNG

DIE LANGE NACHT IST über das Vereinigte Königreich Ascan hereingebrochen. Sie hat den ganzen Kontinent in eine immerwährende Finsternis getaucht und das Land in eine trostlose Ödnis verwandelt.

Aber wie konnte es dazu kommen? Manche von uns glauben, es sei jene fremde Macht gewesen, die uns einen verheerenden Krieg aufgezwungen hat. Andere jedoch denken, es sei die Natur der Menschen, die ein friedliches Beisammensein auf Dauer unmöglich macht. Dabei lebten wir einst in Frieden, sogar in Freundschaft. Das tapfere Volk der Ascaner und wir, die Deva – die geflügelten Halbmenschen, die über diese Welt wachten.

Über mehr als zweihundert Jahre lang war es unsere Aufgabe, das Menschengeschlecht auf seinem Weg zu begleiten. Wir waren Beschützer, Lehrer, Gefährten.

Wir brachten ihnen die Tugenden des Thalmora, unserer heiligen Schrift: Mäßigung, Demut, Treue, Mitgefühl.

Deva und Menschen waren schon immer von Grund auf verschieden. Unsere Gesichter sind feiner gezeichnet als die der Menschen, blass und beinahe elbengleich. Wir altern nicht. Unsere Bewegungen sind geschmeidig. Mit unseren prachtvollen Schwingen, die wir auf dem Rücken tragen, können wir durch die Lüfte gleiten. Wir sind Geschöpfe des Himmels, Abkömmlinge der Sonne, die uns den Funken des Lebens eingehaucht hat.

Die Menschen hingegen wirken in unseren Augen oft roh und unbeholfen. Sie sind streitlustig, jähzornig.

Trotz dieser Unterschiede lernten wir einander zu achten und zu verstehen. Wir lernten voneinander und miteinander. Sie schätzten unsere Weisheit und unsere Besonnenheit so, wie wir ihren Einfallsreichtum und ihren unerschütterlichen Mut zu schätzen wussten. Wir waren ein Volk. Bis alles, woran wir glaubten, zerbrach.

In den Tiefen der finsteren Unterwelt hegte der verstoßene Gott Erebos schon lange einen Groll gegen die Harmonie zwischen Deva und Menschen. Mit Hilfe eines jungen Kriegers namens Ba'al gelang es ihm, aus seinem Verließ im Abyss zu entkommen. Verführt durch das Geflüster des dunklen Gottes und verblendet durch sein Geschenk der Unsterblichkeit, half Ba'al ihm auch, einen blutigen Krieg gegen Ascan zu führen, der Hundertausende das Leben kostete.

Während sich die Schlinge um den Hals des Reichs immer enger zuzog, schmiedete Ba'al mit den einflussreichen Fürsten der Ostprovinzen einen teuflischen Pakt. Er versprach, den dunklen Gott zu besänftigen. Im Gegenzug verlangte er nicht weniger als die Herrschaft über das Vereinigte Königreich.

Im Angesicht der völligen Vernichtung mussten sich das Triumvirat, unsere weisen und weitsichtigen Herrscher, schließlich der Macht der Dreizehn Fürsten beugen.

Als die Banner der hegemonialen Ordnung über dem Dreigestirn wehten, verloren die Tugenden, für die wir eingestanden hatten, rasch an Bedeutung.

Zunächst rangen wir verzweifelt um den Platz an der Seite unserer neuen Herrscher und um ein Mitspracherecht. Wir versuchten es mit Worten, später mit Warnungen und zuletzt mit Stahl. Doch was wir auch versuchten, die Katastrophe ließ sich nicht mehr abwenden. Gedrängt von den verschlagenen Dreizehn Fürsten säte Ba'al Neid und Zwietracht, um die Ascaner gegen die Deva aufzuwiegeln – um uns zu zwingen, Ascan für immer den Rücken zu kehren. Doch das konnten wir nicht. Wir hatten einen Eid abgelegt, einen Eebensschwur.

Nachdem wir die Forderung der Hegemonen abgelehnt hatten, erließen sie nach und nach immer schwerere Restriktionen gegen mein Volk. Wir durften uns nicht mehr frei auf den Straßen bewegen oder öffentliche Plätze besuchen. Es war uns auch verboten, mit unseren ascanischen Landsleuten in Kontakt zu treten. Wer sich widersetzte, musste um seine Freiheit oder sogar um sein Leben fürchten. Viele Deva landeten in Kerkern. Manche verschwanden spurlos.

Ungeachtet unserer Situation hofften wir noch immer auf eine friedvolle Lösung. Wir rangen darum, in Ba'als Herz wieder Vernunft und Mitgefühl zu wecken. Stattdessen wurden unsere Tempel geschlossen und die Inquisitoren beschlagnahmten unsere Besitztümer: religiöse Reliquien, wertvolle Schriftrollen, Bücher von unschätzbarem Wert. Das gesammelte Wissen von Generationen wurde vernichtet oder fiel in die Hände der unersättlichen Dreizehn Fürsten.

Zwei Jahre vergingen, in denen wir beinahe jede Demütigung hinnahmen. Doch schwand die Leidensfähigkeit der Deva zusehends, während die Erlasse der Hegemonen von Tag zu Tag grausamer wurden.

Als sie versuchten, uns in abgeschlossene Distrikte umzusiedeln, eskalierte unser Konflikt völlig. In den gewaltsamen Unruhen, die ausbrachen, verloren wir den Rückhalt jener Ascaner, die noch auf unserer Seite gestanden hatten.

Um ein Exempel an uns zu statuieren, ließen die Hegemonen nun wahllos Hinrichtungen durchführen. Die in den Gefängnissen inhaftierten Deva mussten schwere Misshandlungen über sich ergehen lassen, und die von den Fürsten eingesetzten Prätoren raubten unsere Kinder, um sie in ihren Häusern als Zwangsarbeiter zu halten.

Schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als uns nach Zinn zurückzuziehen, der weißen Stadt der Türme. Der letzte wehrhafte Ort, an dem wir uns noch sicher fühlen konnten.

Die Menschen, die dort lebten, hielten uns nach wie vor die Treue – für eine Weile.

Ba'al errichtete einen Belagerungsring um Zinn, ehe er die Stadt stürmen ließ. Je länger die Schlacht andauerte, desto gedankenloser hieben wir aufeinander ein. In den Wirren achtete bald niemand mehr darauf, wen er in seinem Zorn erschlug. In den Straßen türmten sich bald Berge von Leichen. Wer noch zu Atem kam, stieg über sie hinweg, um weiterzukämpfen. Der schwere Geruch von Blut lag in der Luft. Jeder gefallene Freund raubte uns etwas mehr den Verstand.

Tausende kamen ums Leben. Nicht nur Deva, sondern auch Menschen. Dieses sinnlose Gemetzel machte Kinder zu Waisen, nahm Familien ihre Väter und Vätern ihre Familien. Die meisten starben durch Stahl oder den giftigen Rauch der brennenden Häuser.

Da die Lage aussichtslos wurde, schmiedete unser Anführer, der große Sura, einen letzten verzweifelten Plan. Er begab sich nach Oricum, der gefallenen Ruinenstadt unserer Vorväter, um Erebos herauszufordern und das Ende meines Volks abzuwenden. Doch der Herr des Abyss siegte.

Als Sura durch die Hand des Erebos starb, sank die rote Sonne ein letztes Mal hinter die goldenen Hügel und hinterließ nichts als Dunkelheit und einen bitterlich weinenden Abendhimmel. Die lange Nacht hatte begonnen.

Jedweder Hoffnung beraubt, legten die Verteidiger ihre Waffen nieder. Den wenigen Überlebenden gewährte Ba'al die kaiserliche Gnade. Er ließ uns am Leben. Doch das hatte seinen Preis. In dem verwüsteten Teil der Stadt, wo während der Schlacht die schwersten Brände wüteten, sollten wir unser Dasein von nun an fristen.

Seit diesem Tag leben wir als Gefangene – ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der Krieg hat den Himmel und unsere Herzen verdunkelt.

Wir haben verlernt zu vergeben.

Wir haben uns selbst vergessen.

1. DIE AUGEN DER MORGENRÖTE

VON EINER HOHEN KLIPPE aus konnte Gavin in die Ferne blicken. Seine scharfen Augen erspähten den roten Mond, der über dem gewaltigen Flusslauf erstrahlte. Dies war das Zeichen, welches er viele Jahre gleichermaßen gefürchtet wie herbeigesehnt hatte. Dies war der Beginn und das Ende einer Epoche, die im Ungewissen dunkelte. Über dem schlafenden Gewässer, das die Menschen von Ascan den Tantus nannten, glühte der Himmel wie unter einer Feuerwalze auf. Bedrohlich erhob sich der rote Mond aus der Dunkelheit. Er wuchs heran, bis sein unheilvolles Licht die Küste erreichte. Unaufhaltsam wanderte es über die Klippe, berührte schließlich Gavins Gesicht und tauchte seine kastanienbraune Haut in lodernde Flammen.

»Bald schon hat der Blutmond seinen Zenit erreicht«, raunte der alte Prophet und erschauerte angesichts der Bedeutung dieses Augenblicks.

Mit einem Mal spürte er in seinem Rücken eine kraftvolle Präsenz. Da Gavin wusste, dass er nicht länger allein war, löste er den Blick von dem roten Gestirn. »Kommt näher, Gabriel«, lud er den Himmelswächter milde lächelnd ein.

Der junge Mann trat neben ihn. Sein silberweißes Haar fiel ihm sanft über die schmalen Schultern. »Vedrfölnir«, hauchte Gabriel ernst den Ehrentitel seines Mitstreiters. »Ihr habt auf eine baldige Zusammenkunft gedrängt. Nun sind wir hier, und die Nacht ist dunkler als je zuvor.«

»Ich tat es nicht ohne Grund.«

»Ihr tut nie etwas grundlos«, lächelte Gabriel melancholisch. »Nur sind dies gefährliche Zeiten, und ein Treffen muss sorgfältig bedacht werden. Wir dürfen unsere Pläne keineswegs leichtfertig preisgeben.«

»Es waren immer gefährliche Zeiten«, erinnerte ihn Gavin. »Habt Ihr ihn gefunden?«

Gabriel nickte besonnen. »Das habe ich. Das Kind wird heute Nacht erwartet.«

Und wir erwarten den Blutmond, dachte Gavin, wobei sich seine Miene verfinsterte. Erst nachdem er sich jedes Wort sorgfältig zurechtgelegt hatte, hob er erneut die Stimme: »Ihr kennt die Offenbarung der drei Gestirne. Drei Kinder finden ihre Bestimmung, wenn der Blutmond am höchsten steht. Das erstgeborene Kind droht in der Dunkelheit zu schwinden. Das zweitgeborene findet Rettung im Schoße der Nacht. Jenes letzte Kind aber wird als Abkömmling der Morgenröte das Licht der Welt erblicken.« Er deutete auf die Wolken, auf das unverkennbare Signal am Firmament. »Dies ist die lange Nacht. Sie wird es auf immer bleiben, wenn wir jetzt nicht handeln. Ihr müsst es ihm sagen.«

Gabriel schüttelte widerstrebend den Kopf. Er wusste nur zu gut, was Gavin von ihm verlangte. »Er wird nicht auf mich hören«, entgegnete er nachdenklich. »Kein Vater, der sein Kind liebt, würde es in die Ungewissheit fortschicken. Und Arthur liebt dieses Kind.«

»Drei Kinder«, wiederholte Gavin nachdrücklich. »Es ist unsere letzte Chance, das fünfte Zeitalter zu unseren Gunsten zu wenden. Findet seinen Sohn und bringt ihn an einen sicheren Ort.« Als Gabriel sich nicht rührte, drängte er den schmächtigen Engel: »Geht nun. Ich werde mich derweil einer anderen Aufgabe zuwenden.«

»Die da wäre?«

Bevor er antwortete, wandte sich Gavin erneut dem Flusslauf zu. Der sich aufbäumende Feuermond spiegelte sich in seiner Iris wider. Und er sprach, gleichermaßen von Hoffnung und Furcht erfüllt: »Ich werde das Kind suchen, das in der Dunkelheit schwindet.«

2. AZRAEL

HOCH OBEN, AUF DER Spitze eines keilförmig zulaufenden Aussichtsturms, harrte Azrael aus. Das unheilvolle Licht des Vollmonds färbte seine winterblasse Haut rötlich. Seine Pupillen, so dunkel wie Ebenholz, wanderten wachsam über die ärmliche Siedlung, die sich unter ihm erstreckte. Ein Meer rostbrauner Wellblechhütten und ausgebrannter Scheunen. Überall erhellten winzige Lagerfeuer die Dunkelheit wie unzählige rot glimmende Augen. Das Nest, so nannten die Deva selbst ihre letzte Zufluchtsstätte, war durch hohe Mauern und stachelige Zäune von der übrigen Stadt abgeschottet. In ihrem Zentrum erhob sich ein gewaltiges kreisrundes Monument. Azraels Volk nannte diesen Ort den Sternendom. Mauern aus weißem Stein und hohen ionischen Säulen hoben sich zwischen den unzähligen Rundbögen empor, auf denen es errichtet worden war. Der Sternendom, dafür rühmten sich die Deva sogar heute noch, war beinahe so alt wie ihr Volk.

Aufmerksam verfolgte Azrael, wie mehr und mehr seiner Landsleute um das alte Rund kreisten. Sie waren in Scharen gekommen, um ihm Würde und Glanz zu verleihen. Einige schafften neue Steine herbei. Sie wollten die an vielen Stellen eingestürzten Mauern wieder aufrichten. Überall wurden Flaggen und Banner gehisst, wobei die meisten das golden gefärbte Sonnenemblem von Eos trugen, ihrer geliebten und so sehnsüchtig vermissten Schöpfergöttin.

Azrael befreite sich aus seiner Starre und kniff grimmig die Augen zusammen. Während die grauen Eisenringe an seinen nackten Oberarmen geräuschvoll klirrten, stieß er einen wüsten Fluch aus. »Wieso nur müsst ihr auf diesem Friedhof eure Hochzeit feiern? Wieso ausgerechnet dort?« Er breitete seine gewaltigen Flügel aus und ließ sein rabenschwarzes Federkleid vom kräftigen Wind aufplustern. Zwei dunkle Federn lösten sich und wurden lautlos davongetragen. »Und wieso habe ich mich überhaupt von dir überreden lassen, Schwesterherz? Ich habe doch für unsere alten Bräuche gar nichts übrig.«

Eine innere Stimme gab ihm die Antwort: Vielleicht, weil du Lilith liebst. Azrael musste melancholisch schmunzeln. Sehr wahrscheinlich aus diesem Grund. Vor allem wohl, um ihr und Tamiel nicht noch mehr Schande zu bereiten.

Über ihm klärte sich der wolkenverhangene Himmel nach und nach auf, während der erwachte Blutmond den Horizont erklomm. Der Sternendom glühte im roten Schein, als stünde er in Flammen. Der seltsam vertraute Anblick löste ein mulmiges Gefühl in seiner Magengrube aus. Azrael konnte nicht beschreiben, woran es lag.

Nervös zupfte er an seiner grauen Stoffhose herum, die an vielen Stellen notdürftig geflickt war. Von hier oben sah ihr Nest so unbescholten aus. So idyllisch. Es war ein trügerischer Eindruck, das wusste er nur zu gut. Trotz der Aufbruchsstimmung stand es doch so schlecht um sie. Die Deva hatten in der neuen Ordnung keine Perspektive – nicht als geächtete Kriegsverbrecher. Und auch nicht als sterbendes Volk, das von der Außenwelt gänzlich abgeschnitten war. Dieser Umstand würde sich nicht so schnell ändern, vor allem nicht, weil es selbst um die Sieger dieses letzten großen Konflikts mehr als schlecht stand. Solange die Sonne tags wie nachts hinter ihrem dichten Wolkenvorhang verborgen blieb, würde auch das stolze Volk der Ascaner keinen Frieden finden.

Gedankenverloren sah er hinab. Dorthin, wo die gähnende Tiefe in die Dunkelheit mündete. Eine weitere kräftige Brise berührte Azraels muskulöse Brust, die mit kleinen und großen Narben übersät war. Schließlich seufzte er, fasste sich ein Herz und sprang.

Azrael schloss die Augen. Er genoss das Gefühl, wenn der Wind sein karmesinrotes Haar hin und her wirbelte wie eine tanzende Kerzenflamme. Er genoss es, wenn der ungebremste Sturz sein Herz schneller schlagen ließ. Er genoss die Freiheit, die Unbeschwertheit, welche dieses Wagnis mit sich brachte.

Erst im letzten Moment öffnete Azrael die Augen und breitete seine Flügel aus. Gekonnt nahm er wieder Fahrt auf. Wie ein schwarz gefiederter Pfeil schoss er gen Himmel. Um ihn herum verschwamm die Kulisse zu einem gespenstischen Wirbel.

Es war stets ein erhabenes Gefühl, wenn Himmel und Erde aus ihrer Lage gerissen wurden und sich die Sterne am Firmament mit den Leuchtfeuern der Siedlung verflochten. Der Wind griff nach seinem Gesicht, rüttelte an seinem grauen Halstuch und ließ ihn vor Kälte frösteln. Azrael jagte an den tristen Häuserfronten vorbei, umkreiste den alten Kirchturm. Für wenige Augenblicke war er fern von jeder Sorge. Er war frei.

Erst als er völlig außer Atem war und ihm die vom Wind gekühlten Schweißperlen das Rückgrat herabwanderten, drosselte Azrael das Tempo. Die weißen Mauern des Sternendoms rückten näher, während er im Sinkflug über der Arena kreiste. Sein Herz raste immer noch vor Erregung, als er zur Landung ansetzte.

Er sah sich kurz um und stellte fest, dass das Innere des Hofs nach wie vor einer Ruine glich. Trümmer und vom Feuer geschwärzte Felsbrocken lagen überall verstreut. Hier und da steckten verrußte Pfeilschäfte und Speerspitzen im aufgewühlten Erdreich. Die unzähligen Krater, die über den Innenhof verteilt lagen, wurden nun von den eifrig arbeitenden Deva mit neuem Sand aufgeschüttet.

Azrael spürte, wie sich wachsendes Unbehagen rasend schnell in ihm ausbreitete. Bereits jetzt wäre er am liebsten einfach wieder davongeflogen. Hier, an diesem Ort, an dem die Deva ihre verheerendste Niederlage erlitten hatten, sollte in wenigen Stunden gefeiert und getanzt werden. Irgendwie widerstrebte ihm das. Nicht zuletzt, weil er diesen Ort mit einem Leben verband, an das er beinahe jede Erinnerung verloren hatte.

3. MÄßIGUNG UND DEMUT

AZRAELS BLICK SCHWEIFTE unruhig durch die belebte Arena. Während er versuchte, seinen alten Weggefährten Iskat unter den unzähligen Bewohnern auszumachen, entging ihm nicht, wie viele Gesichter ihm verstohlene und nicht selten auch finstere Blicke zuwarfen.

Azrael ignorierte sie, so gut es ging. Er hob stolz das Kinn und schritt mit grimmiger Miene an ihnen vorbei. Dabei bemerkte er, dass nicht wenige ihm demonstrativ den Rücken zukehrten oder sogar vor ihm zurückwichen. Obwohl er es insgeheim gehofft hatte, hatten sie ihm seinen letzten Ausfall nicht verziehen. Zwar war er als klarer Sieger aus der Prügelei mit Tamiel hervorgegangen, doch den Preis dieses Triumphs musste er nun schon seit beinahe einer Woche bezahlen. Azrael tat sein Möglichstes, um sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, den ihre Ablehnung in ihm auslöste.

Als er schließlich mit dem Gedanken spielte, die Suche nach Iskat aufzugeben, rief eine vertraute Stimme seinen Namen. Azrael wandte sich erleichtert um. Ehe er sich dagegen wehren konnte, umarmte ihn sein alter Freund auch schon brüderlich. »Schön, dich zu sehen!«, strahlte er.

Azrael erwiderte die Geste mit einem zaghaften Lächeln und schob ihn dann sanft von sich. »Ebenfalls. Ich habe dich gesucht.«

Iskat war ein stattlicher Deva mit langem blondem Haar und weichen Zügen, die sein Gesicht elbengleich wirken ließen. Er trug einen kurzen weißen Chiton, der nur eine Seite seiner Brust bedeckte, und einen breiten Gürtel um die graue Hose, an der diverse kleine Leinenbeutel hingen.

»Wo ist Lilith?«, kam Azrael ohne Umschweife auf den Punkt, während sie Seite an Seite durch den Innenhof gingen.

Iskat antwortete ihm nicht sofort. Er schien sehr nachdenklich gestimmt. Seine eisblauen Iriden glichen einer unergründlichen Winterlandschaft. »Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist.«

»Was ist passiert?«, fragte Azrael argwöhnisch, obwohl er es längst ahnte. »Haben die beiden wieder gestritten?«

Iskat verdrehte die Augen. »Götter, es bringt Unglück, wenn sich Braut und Bräutigam in der Nacht vor der Trauung an die Kehle gehen. Ich konnte sie kaum zügeln. Vor allem deine Schwester nicht. Sie ist so störrisch.«

»Das war sie schon immer«, entgegnete Azrael trocken.

Iskat schmunzelte sanft. »Das scheint sie mit ihrem Bruder gemein zu haben.«

Azrael, der dies durchaus als Kompliment verstand, unterdrückte ein schelmisches Lächeln. »Soll ich mir Tamiel vorknöpfen, bevor oder nachdem ich sie wieder zur Vernunft gebracht habe?«

»Tu das nicht, Azrael!«, bat Iskat eindringlich. »Denk an unsere Gebote. Mäßigung, Demut ...«

»Bitte, ich habe jetzt keine Zeit für deine Moralpredigten!«

Iskat griff nach Azraels Handgelenk und zog ihn energisch etwas abseits. »Du hast ihm das letzte Mal schon einen Arm gebrochen«, flüsterte er. »Was wirst du diesmal tun?«

»Vielleicht breche ich ihm heute beide, und er lernt es endlich, respektvoll mit ihr umzugehen«, entgegnete Azrael. Wütend ballte er die Fäuste, wobei sich dabei die sehnigen Muskelstränge auf seinen langen kräftigen Armen spannten.

»Azrael!«

»Er hätte es verdient«, beharrte Azrael.

»Das ist deine Meinung.« Iskat zog ungehalten die Augenbrauen zusammen. »Aber Tamiel ist ein angesehenes Mitglied der Gemeinschaft. Du stellst dich nur noch mehr ins Abseits.« Erst jetzt ließ er Azrael los und senkte seine Stimme noch etwas mehr. »Such lieber deine Schwester und bring sie wieder zurück. Sie kann nicht ständig davonlaufen, wenn es schwierig wird.«

»Mein Ruf ist mir egal«, entgegnete Azrael trotzig. »Und Lilith wird schon keine Dummheiten anstellen. Sie ist vernünftiger, als ich es bin.«

Iskat schüttelte besorgt den Kopf. »Der Blutmond steht, Azrael. Unsere Gemeinschaft wertet diese Nacht als Zeichen des neuen Zeitalters. Als das Ende der langen Nacht und das Ende unserer Gefangenschaft. Aber ich bin mir nicht sicher, was geschehen wird. Möglicherweise wird sich heute Nacht etwas Furchtbares zutragen.«

Nun wurde Azrael hellhörig. »Glaubst du, die Ascaner planen einen Angriff?«

Iskat schwieg zunächst. Azrael musterte ihn dabei genau, nun ebenfalls beunruhigt. Sein Freund war kein Schwarzmaler. Wenn ihm etwas Sorge bereitete, dann war es wirklich ernst.

Schließlich brach Iskat sein Schweigen: »Es ist ruhig heute Nacht. Zu ruhig. Etwas liegt in der Luft, ich kann es fühlen. Es wäre nicht verkehrt, wenn du Lilith in Sicherheit weißt.«

»Ich werde sie suchen«, versprach Azrael entschlossen. Die Aussicht auf eine neue Aufgabe, eine, die ihn möglicherweise fürs Erste von diesem Ort fernhielt, machte ihm Mut. Doch bevor er sich wieder in die Lüfte schwang, wandte er sich abermals an Iskat und bleckte seine spitzen Fangzähne. »Ach, noch etwas: Sag Tamiel, er wird diese Sache wieder bereinigen. Sonst breche ich ihm diesmal wirklich beide Arme! Demut und Mäßigung hin oder her.«

4. DER MYSTERIÖSE EINDRINGLING

E RST ALS DIE MAUERN des Sternendoms in weite Ferne rückten, wich Azraels Anspannung etwas. Während er die Zuflucht überflog, glitten unter ihm die Unterkünfte der Deva vorbei – notdürftig zusammengetragene Hütten aus verrottetem Holz, Lehm und schiefen Wellblechdächern. Verschlammte, übel riechende Pfützen säumten die engen Gassen. An vielen Plätzen konnte Azrael kranke oder von Einsamkeit geplagte Deva entdecken, die sich schleppend fortbewegten. Sie hüllten sich in schmutzverkrustete Decken oder wiegten ihre hungrigen Säuglinge in den Armen.

In jeder Nacht zog Azrael über diesem tristen Ort seine Kreise. Manchmal konnte er seine Augen nicht vor dem Elend verschließen. Besonders heute nicht, wo der mysteriöse rote Mond aufgetaucht war und sein unheilvolles Licht über Zinn warf. Iskat hatte bestimmt recht. Der Blutmond musste eine Bedeutung haben.

Mit zunehmender Sorge hielt Azrael nach seiner Schwester Ausschau. Es machte ihn stets etwas nervös, wenn er nicht wusste, wo sie war. Das Nest war ein gefährlicher Ort. Sie wäre nicht die erste Devafrau, die von frustrierten ascanischen Soldaten verschleppt, vergewaltigt und ermordet würde.

Noch einmal flog er einen Bogen und wandte seine Aufmerksamkeit dem Trümmerfeld am Rande des Exils zu. Eine hohe Mauer mit Stacheldraht grenzte die Fluchtstätte vom Rest der Stadt ab. Er überlegte, ob seine Schwester sich vielleicht auf der anderen Seite befand - auf jener Seite der Mauer, die die Menschen bewohnten. Er verwarf den Gedanken rasch wieder und ließ sich tiefer sinken.

Die Ruine der eingestürzten Kirche lag verlassen in der Finsternis. Nur der Glockenturm stand noch aufrecht, auch wenn die Deva schon seit Ende des Kriegs nicht mehr wagten, die schweren Messingglocken zu läuten.

Kein Mucks war zu hören, als er zwischen zwei großen Trümmerstücken aus Kalkstein aufsetzte. Mit zunehmender Unruhe sah er sich um. Wenn er Lilith hier nicht finden konnte, war es tatsächlich an der Zeit, sich Sorgen zu machen. Allein schon der Gedanke daran, was passiert sein könnte, bereitete ihm unsägliche Bauchschmerzen.

Plötzlich vernahm er ein Geräusch, das von der anderen Seite der Mauerfassade zu ihm herüberdrang. Ein Schaben, wie Haut auf Stein. Azrael zog instinktiv den Kopf ein. Dem Kratzen folgte ein Husten, ein schmerzerfülltes Keuchen.

Wie immer, wenn er eine Gefahr witterte, tastete er nach Schattenalb. Das vertraute Gewicht der gebogenen Klinge verlieh ihm Sicherheit. Seine Klauen berührten den schwarzen runden Knauf über dem in Leder gebundenen Heft, dann griff er entschlossen zu und zog es lautlos aus der Scheide. Er drückte sich eng an die Mauer und schlich ganz vorsichtig näher. Als er am anderen Ende angelangt war, riskierte er einen Blick und hielt den Atem an.

An einer winzigen, bereits ausgebrannten Feuerstelle kniete eine untersetzte Kreatur. Azrael konnte nur ihre gedrungene Silhouette erkennen. Ihre Bewegungen waren fremdartig - sie waren weder so geschmeidig weich wie die eines Deva, noch waren sie menschlich. Azrael lauschte. Er versuchte zu verstehen, was die Kreatur wisperte, während sie in der aufgewirbelten Erde herumwühlte.

»Bald, bald werden sie kommen. Sie werden kommen. Es bleibt ihm keine Zeit mehr«, hörte Azrael sie flüstern. »Schattenbote! Es eilt, es eilt so sehr!« Das Wesen schien in heller Aufregung zu sein. Seine Bewegungen wurden fahriger. Wie von Sinnen gestikulierte es mit seinen spindeldürren Armen, fluchte und schimpfte.

Nun wollte Azrael nicht länger abwarten. Gerade als er den fremden Eindringling stellen wollte, den Atem anhielt ...

»Azrael?«

... fuhr er erschrocken herum - und sah in ihr verweintes Gesicht. »Lilith!«, rief er überrascht. »Ich hätte dich fast ... Gottverflucht!« Rasch wandte er sich von ihr ab, um nach der Kreatur zu sehen. Doch im Schatten des Turms war ... nichts. Rein gar nichts. Verwirrt überlegte er, wohin der Fremde so schnell geflohen war.

»Azrael?«

»Bleib, wo du bist!«, hielt er sie mit einer schroffen Handbewegung an.

Lilith stutzte nur kurz, ehe sie seine Warnung ignorierte und neben ihn trat. Mit neugieriger Miene musterte sie die Feuerstelle und anschließend ihren Bruder. »Ist alles in Ordnung? Was suchst du denn?«

Azrael antwortete ihr nicht. Sein Herz schlug noch immer wild vor Aufregung. Wieder rief Lilith seinen Namen. Er sah in ihre bernsteinfarbenen Augen und bemerkte, wie belustigt sie funkelten. »Siehst du Gespenster, mein Bruderherz?«

»Nein«, antwortete Azrael verwirrt. »Ich habe nur eben jemanden hier gesehen. Was machst du allein so weit draußen? Du weißt, dass es ...« Er stockte. Sein Blick richtete sich auf die zusammengestürzte Turmruine. »Da oben!«, rief er plötzlich. Das rote Mondlicht fiel auf die alten Messingglocken, hinter der schwefelgelbe Augen hervorlugten.

Als Lilith sich umdrehte, um hinaufzusehen, zog die Kreatur schnell den Kopf ein. Azrael wollte jedoch noch nicht aufgeben. Mit einem beherzten Satz schwang er sich in die Lüfte, um sich auf das seltsame Wesen zu stürzen.

5. DIE NACHTIGALL UND DER RABE

MÜRRISCH SAß AZRAEL AUF einem alten umgestürzten Fuhrwagen, Schattenalb noch immer fest in seinen Klauen, und warf einen letzten Blick über die herumliegenden Trümmer. Von dem seltsamen Fremden mit den gelben Augen war weit und breit nichts mehr zu sehen. Zwar war er noch unzählige Male über die verbrannten Gebäudetrümmer und Geröllhügel geflogen, doch ohne Erfolg. Die merkwürdige Kreatur war wie vom Erdboden verschluckt.

Nun lag alles trist und grau vor ihm – eine Weite aus lebloser Hoffnungslosigkeit. Während er sein Schwert nachdenklich betrachtete, überkam ihn ein seltsames Gefühl der Leere. Seit er sich erinnern konnte, war diese Waffe, ein Krummschwert mit rubinroten Runen im Heft und langer zweischneidiger Klinge, sein Begleiter gewesen. Sie war das Einzige von Wert, das er bei sich getragen hatte, als man ihn ohne Bewusstsein in den Ruinen des Sternendoms gefunden hatte. Und schenkte er dem Glauben, was belesene Männer wie Iskat oder Astriel ihm darüber berichten konnten, war es kein Zufall, dass er Schattenalb besaß. Wer ein Schwert mit einem Namen trägt, ist für eine besondere Aufgabe bestimmt, hatte Iskat einmal zu ihm gesagt.

Nur wenige Deva hatten früher das Recht besessen, ihren Klingen Namen zu geben. Meistens war es eine Auszeichnung für herausragende Verdienste gewesen, für Krieger, Priester und Gelehrte, die ihren Mut in der Schlacht oder in der Diplomatie bewiesen. Manchmal aber gaben die Träger die Schwerter auch an ihre Söhne weiter, wenn sie es sich verdient hatten. Azrael wusste nicht, wessen Sohn er war, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er rechtens zu dieser Ehre gekommen war. Wahrscheinlich war Schattenalb während der Schlacht um Zinn einem sterbenden Deva einfach aus den Händen gefallen und durch Zufall bei ihm gelandet.

Seufzend erhob er sich. Nachdem er sich auf den Rückweg gemacht hatte, fand er Lilith auf einer ringförmigen Plattform sitzend, welche die alte Turmspitze wie eine eiserne Krone umspannte. Verdrossen kreiste er noch einige Runden über der Kuppel, während der Blutmond die Silhouette seiner Schwester in feurig glühendes Licht tauchte.

Lilith, die ihn bereits heranfliegen sah, formte mit ihren Händen einen Trichter und rief: »Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr zurückkommen. Los, auf geht’s!«

Azrael landete oberhalb der Kuppel, einer riesigen Perle aus milchweißem Stahl und verblasstem Gold. An früheren Tagen, als prachtvolle Sonnenaufgänge noch ihre Welt berührt hatten, hatte die Goldperle das Licht eingefangen, es gespeichert und in den dunklen Nächten den Himmel über Zinn erleuchtet. Die unerklärliche Kraft der Morgenmondperle war Jahrhunderte lang ein Symbol der Hoffnung gewesen, für die Deva und für die Menschen. Doch jene Tage waren vorüber. Die Nacht herrschte, und sie tat es wahrhaftig. Heute gab es keine Sonnenaufgänge mehr, und Morgenmond war in der Dunkelheit verblichen.

Azrael strich im Vorbeigehen mit einer Klaue über den kalten Stahl, ehe er heruntersprang und genau neben Lilith landete.

»Und?«, fragte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen. Das unruhige Rascheln ihres hellbraunen Federkleids verriet etwas Neugierde.

Azrael schüttelte müde den Kopf. »Ich habe seine Spur verloren. Was es auch immer war, es ist nun fort.« Tatsächlich hatte er die Kreatur nicht mehr entdecken können. Selbst mit seinen scharfen Augen nicht, die an die immerwährende Dunkelheit gewöhnt waren.

Lilith zog in gespielter Beiläufigkeit die Schultern hoch. »Sei es drum.«

»Machst du dir keine Sorgen, dass es wiederkommen könnte?«, wollte Azrael wissen. Er machte ein ratloses Gesicht. »Dieser starre Blick, den es hatte. Hast du seine Augen gesehen? Lilith?«

Erst jetzt schien sie ihm zuzuhören. »Nein«, erwiderte sie schließlich verträumt. »Warum auch? Ich glaube, es hat sich vor dir mehr gefürchtet als du vor ihm.«

»Daran tut es auch gut.« Azrael fletschte bedrohlich seine spitzen Fangzähne. »Und du tätest gut daran, dich in Acht zu nehmen, Lilith. Wir leben in einer gefährlichen Welt. Ich kann dich nicht beschützen, wenn du ständig davonläufst.«

Zu seinem Bedauern entlockte ihr sein Versuch, sie zu maßregeln, nur ein weiteres sorgloses Lächeln. »Komm endlich her und setz dich.« Lilith klopfte mit ihren dreifingrigen Klauen forsch auf den freien Platz neben sich. »Na komm! Beweg dich, sonst klebst du noch fest.«

Azrael kam sich in diesem Moment unendlich albern vor, während er aus seinen ebenholzfarbenen Augen durch sie hindurchstarrte, nach einer Gefahr suchend, die selbst für ihn kaum mehr wahrnehmbar war. Zögerlich nahm er neben ihr Platz und warf seine Beine über den Rand der Plattform.

Lilith seufzte zufrieden. »Na endlich. Dachte schon, du hörst gar nicht mehr auf, so grimmig rumzustehen und den Leibwächter zu spielen.«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen«, versuchte Azrael sich zu verteidigen. »Es ist nur ...« Er rang nach Worten. Was sollte er ihr nur sagen, ohne sie zu verängstigen? Ein dunkler Schleier schien seine Gedanken zu trüben. Andererseits war es nicht leicht, Lilith zu verunsichern. Sie war oft so unbeschwert.

»Ja?« Der erwartungsvolle Blick seiner Schwester war auf ihn gerichtet. Da fiel es ihm wie aus dem Nichts wieder ein.

»Ich bin nicht meinetwegen gekommen, sondern wegen dir.«

Liliths übermütiges Grinsen versiegte schlagartig. Sie legte ihre Hände ineinander und starrte in die Dunkelheit. »Ich hoffte, wir würden nicht darüber sprechen«, seufzte sie traurig.

»Ich weiß«, entgegnete er. »Aber es muss sein. Ihr habt gestritten?«

»Jaha«, sagte sie und machte ein widerspenstiges Gesicht.

»Weshalb?«

Er sah, wie sie ihre Lippen im Zorn zusammenpresste. »Ich möchte nicht darüber reden«, wehrte Lilith schließlich trotzig ab.

»Lilith, bitte!« Er wusste, dass sie nur zu stolz war, es zuzugeben. Eigentlich wollte sie darüber sprechen. Was das betraf, war sie ihm sehr ähnlich.

Die Enttäuschung in ihrer Stimme war wie eine traurige Melodie in nächtlicher Kälte. »Sie sagen, dass unsere Vermählung unter dem Licht des roten Monds steht, ist ein Zeichen dafür, dass das Zeitalter der langen Nacht bald zu Ende gehen wird.«

»Wer sagt das?«, hakte Azrael nach.

»Astriel«, erklärte Lilith und rollte mit den Augen.

Nun nahm Azrael überrascht Haltung an. Obwohl er mit dem Glauben an die heilige Sonnenmutter nicht viel anfangen konnte, wusste er natürlich, wer Astriel war. Einer der ältesten und weisesten noch lebenden Himmelswächter. Inoffiziell galt er als Oberhaupt der überlebenden Deva von Zinn, obwohl sie seit dem Ende des Kriegs keinen Anführer mehr gewählt hatten. »Wenn der weise Prophet das sagt«, spöttelte Azrael, »dann sollte dir das doch Mut machen.« Er wusste, wie belehrend Astriel bisweilen sein konnte. Das war ihm in der Vergangenheit selbst oft sauer aufgestoßen.

»Astriel«, stieß sie gereizt aus, und plötzlich sprudelte es nur so aus Lilith hervor: »Seitdem er vom roten Mond erzählt hat, von der Bürde unserer Verbindung, reden alle von nichts anderem mehr. Und seitdem redet auch Tamiel nur noch davon. Er hört mir überhaupt nicht mehr zu. Sie hören alle nicht mehr zu!« Ihre letzten Worte gingen in einem dumpfen Knall unter, als sie mit dem Fuß gegen das stählerne Geländer trat. Jäh schien ihr Zorn wieder Traurigkeit zu weichen. »Ich will nicht, dass meine Hochzeit eine Bürde ist. Tamiel soll mich heiraten, weil er mich liebt und nicht wegen irgendeiner dämlichen Prophezeiung.«

Azrael, der ihre Verzweiflung zu verstehen begann, überlegte kurz, bevor er zu einer Antwort ansetzte: »Du solltest mit ihm ...« Er brachte den Satz nicht zu Ende. Etwas wie das Wummern eines fernen Donnergrollens ließ ihn die Ohren spitzen.

»Was sollte ich tun?«, hakte Lilith gereizt nach. Sie schien den Lärm nicht zu bemerken.

Azrael gab ihr keine Antwort. Er runzelte die Stirn, versuchte, dem bedrohlichen Echo zu lauschen. Es klang blechern. Nicht wirklich wie das Aufziehen eines Gewitters. Doch Lilith forderte nun vehement seine ganze Aufmerksamkeit.

»Du wolltest mir sicher raten, dass wir uns versöhnen sollen«, vermutete sie schnippisch. Stolz reckte sie das Kinn in die Höhe. »Das werde ich bestimmt nicht!«

Azrael seufzte angestrengt. Manchmal, wenn er sich ihrer Sturheit gegenübersah, glaubte er, in einen Spiegel zu blicken. »Weil ihr bald eins seid«, entgegnete er schließlich, so sanft er konnte. Dann erinnerte er sich an Iskats Worte. »Außerdem bringt es Unglück, wenn sich Braut und Bräutigam in der Nacht vor der Hochzeit an die Kehle gehen.« Azrael bemerkte, wie sie nun sichtlich mit ihrem Stolz rang. Er ergriff ihre Hand und umschloss sie mit seinen. »Ich weiß, wie du dich fühlst«, versicherte er ihr.

»Vielleicht hast du recht«, gab Lilith nach einer Weile besänftigt bei. »Es ist nur so schwer.« Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Platz hin und her. Noch immer hielt er ihre winzige Hand, die in seinen großen Klauen ganz warm wurde.

»Rede mit ihm«, bat er sie erneut. Zum ersten Mal am heutigen Abend hatte er das Gefühl, dass er zu ihr durchdrang. Dann fügte er mit einem angriffslustigen Funkeln in den Augen hinzu: »Wenn du es nicht machst, tu ich es.«

Da nahm Lilith ihre Hand mit sanfter Gewalt zurück. Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Nein. Du tust ihm nur wieder weh. Das will ich nicht.«

Diesmal lösten ihre Worte eine seltsam schmerzhafte Woge in ihm aus. Erinnerungen an ihr letztes Treffen wurden wach. Bevor sie jedoch ganz und gar ihre Wirkung entfalteten, sprang Lilith plötzlich wie ausgewechselt auf.

»Wo willst du hin?«

Seine Schwester balancierte mit ausgebreiteten Armen am Rande der Plattform herum. »Noch ein wenig nachdenken.«

Azrael wollte innerlich erleichtert aufatmen, doch ein weiteres blechernes Donnergrollen erschütterte den Horizont. Fröstelnd erhob er sich, atmete die kalte Nachtluft ein.

»Was war das?« Lilith schien es diesmal ebenfalls gehört zu haben. Sie deutete mit einer Klauenhand auf den fernen Horizont. »Vielleicht zieht ein Sturm auf. Ich werde vorher noch ein wenig fliegen.«

»Es wäre mir nicht recht, wenn du jetzt gehst«, erhob er eindringlich seine Stimme. Eine starke Bö wehte ihm dabei durch das karmesinrote Haar.

»Was ist los?«, rief sie herausfordernd über ein weiteres bedrohliches Wummern hinweg. »Hast du Angst, dass ich vor meiner Hochzeit noch entführt werde?«

Komischerweise war ihm dieser Gedanke tatsächlich gekommen. Er stutzte kurz und streckte schließlich, wie sie zuvor, stolz das Kinn in die Höhe. »Das würde niemand wagen. Und wenn doch, dann werde ich dich retten.«

»Ist das ein Versprechen?« Spielerisch hüpfte sie von einem Bein auf das andere.

»Ja, das ist es«, entgegnete er ernst. Er wollte noch mehr sagen, wollte sie dazu überreden, hierzubleiben und nicht fortzugehen. Zumindest bis der rote Mond nicht länger sein unheilvolles Licht auf sie warf. Doch Lilith hatte bereits ihre schönen Nachtigallschwingen ausgebreitet. Das zarte Gefieder schimmerte im spärlichen Licht braun und in den Federspitzen schwarz. Manchmal, dachte er bei sich, war sie wirklich sein Spiegel. Eine Brise im Wind der Gezeiten, die sich nicht halten ließ.

»Ach Lilith«, flüsterte er liebevoll und schmunzelte, als sie schon außer Hörweite war. »Für dich würde ich bis ans Ende der Welt fliegen.« Bald sah er nur noch ihren zierlichen Umriss, der in der Ferne auf und ab flog.