Wächter der Morgenröte - Aaron Weigel - E-Book
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Wächter der Morgenröte E-Book

Aaron Weigel

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Beschreibung

Das Urteil lautet Tod. Nach ihrem gescheiterten Überfall sind Azrael und seine Gefährten in Gefangenschaft geraten. Arthur scheint als Einziger in der Lage zu sein, die Deva vor ihrem grausamen Schicksal zu bewahren. Aber wird sich der von Schuldgefühlen geplagte Söldner wirklich selbst in Gefahr begeben? Mit dem Auftauchen des ruchlosen Lucian eröffnet sich unverhofft ein Ausweg. Doch die Offerte des geheimnisvollen Befreiers hat ihren Preis. In einem weiteren Versuch, Lilith zu finden, entbrennt ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit. Denn während der von Folter gezeichnete Iskat um sein Leben ringt, muss Azrael entscheiden, wem seine Loyalität in Zukunft gilt. Die Zeichen stehen auf Vergeltung, und der dunkle Gott spielt längst jene verheerende Melodie des Roten Mondes, die Azraels Seele schon einmal auseinandergerissen hat. Dies ist das Zeitalter der Langen Nacht. Wenn sich der Blutmond über dem Antlitz der Welt erhebt, steht die Zukunft eines ganzen Königreichs auf Messers Schneide.

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Dunkler Schatten, Finsterfürst,

hast Unheil über uns gebracht.

Dunkler Schatten, grimmes Wesen,

wann endet diese lange Nacht?

Inhaltsverzeichnis

1. BLUTOPFER

2. DER SÖLDNER AUS IRAM

3. DIE KERKER VON EISENSTEIN

4. IN VÖLLIGER VERZWEIFLUNG

5. INTERESSENKONFLIKTE

6. EKRONISCHE HÖLLE

7. DIE WARNUNG DES PROPHETEN

8. MANEGE FREI

9. DIE WITWE IN SCHWARZ

10. SCHULDIG IM SINNE DER ANKLAGE

11. DIE PFLICHT EINES GUTEN BESCHÜTZERS

12. TRÄNENBLIND

13. VERSPRECHEN UND ENTSCHEIDUNGEN

14. LUCIAN

15. GEKREUZTE KLINGEN

16. DIE ODE VON STURM UND DUNKELHEIT

17. SEHNSÜCHTE

18. DIE ZERBROCHENE KLINGE

19. ASEANIS SHEY -EIN BRUNNEN, DER HEIßT LEID

20. DIE SCHWEIGENDEN MARSCHEN

21. IM UNERSCHÜTTERLICHEN GLAUBEN

22. VINETA IM ABENDROT

23. JENE UNSTILLBARE WUT

24. LIEBE IM ZERBERUSFEUER

25. DAS UNHEIL VOM MÖWENSTEG

26. DIE SÜNDE DER EINSAMEN PRINZESSIN

27. DER GUTE HIRTE

28. VON FINSTERNIS UND HOFFNUNG

29. EIN FATALES MISSVERSTÄNDNIS

30. DER LARENPRINZ

31. SIEH IN DEINE TRÄNEN

32. FÜR IMMER DEIN, FÜR IMMER MEIN

33. ISKATS ENTSCHEIDUNG

34. DENK NICHT AN MORGEN

35. DIE MORGENRÖTE STICHT IN SEE

36. AN DEN KLIPPEN VON SYCARUS

37. SCHLICHTE WEISHEITEN

38. ERINNERUNGEN

39. DAS ROTE LIED

40. IM HAUS DER ZERBROCHENEN TRÄUME

41. WAHRE LÜGEN UND FALSCHE WAHRHEITEN

42. JENE FINSTEREN NÄCHTE

43. VON DER KUNST, EINEN DRACHEN ZU ZÄHMEN

44. VERGELTUNG IST BITTERSÜß

45. EIN MOSAIK AUS TIEFSCHWARZEN KIESELN

46. AUGE UM AUGE

47. DER FÜRST OHNE GNADE

48. DAS PENDEL VON TA´LASCA

49. IM ANGESICHT DES ROTEN MONDES

50. TAÉLOS BERÆTH TI -DIE WORTE DER TODGEWEIHTEN

1. BLUTOPFER

DAS TIEF STEHENDE rote Auge tauchte die Prärie in gespenstisches Zwielicht. Sein Umhang bauschte sich im Wind knisternd auf. Vom gelegentlichen Protest des Tieres abgesehen, das er an einem Strang hinter sich herzog, war es das einzige Geräusch.

Der Schatten war in eine enganliegende Kluft gehüllt, so pechschwarz wie das buschige Haupthaar, das in fettigen Strähnen an seiner Stirn klebte. Der Sand zu seinen Füßen hatte sich in einen rostroten Teppich verwandelt.

Nur widerwillig folgte das Lamm seinem neuen Besitzer. Es keuchte vor Anstrengung, die zarten Flanken bebten unter dem Fell. Der Schatten nahm darauf keine Rücksicht. Die Hügelkuppe kam endlich in Sicht. Mondlicht ergoss sich in einem breiten Keil über der Anhöhe.

Um ihn herum: nichts außer Ödnis. Ein einziger Baum schmückte die Landschaft - ein entlaubtes totes Gerippe, in das der Blitz eingeschlagen und den Stamm gespalten hatte. Die Kuppe kam näher. Der Schatten beschleunigte seine Schritte. Das Lamm antwortete, indem es einen weiteren Versuch unternahm, sich loszureißen.

»Beweg dich schon«, fauchte er ungeduldig und funkelte es aus seinen stechend blauen Augen heraus an. Dieses Vieh war genauso nutzlos und dumm wie sein letzter Besitzer.

Er hatte den Schäfer freundlich gebeten, ihm das Tier freiwillig zu überlassen. Er hätte das Angebot besser annehmen sollen. Von einer tiefen Befriedigung beseelt, malte er sich die Reaktion der Dorfbewohner aus. Sie würden ihn früher oder später in der Scheune finden – aufgeschlitzt vom Hals bis zur Fußspitze.

Er verzog den Mund zu einem zufriedenen Lächeln. Bis sie begriffen, würde er längst über alle Berge sein.

Inzwischen hatte er den Hügel beinahe erklommen. Konzentriert folgte er der grauen Rauchsäule, die sich ihren Weg gen Himmel bahnte. Wie zu erwarten, loderte das Feuer unter dem bauchigen Kessel. Ohne die kohlefarbenen Drachensteine, die er unter Lebensgefahr aus den Eingeweiden des brennenden Berges nahe Pyros geborgen hatte, wäre die entfachte Glut längst erloschen. Aber wie stets war auf die dunkle Magie Verlass, die der Abyss erzeugte.

Die silberne Kette um seinen Hals baumelte hin und her.

»Komm her, hab ich gesagt!« Das Lamm heulte auf, als wüsste es, was ihm bevorstand. Ungeduldig zerrte er es in die Nähe des Kessels, den er auf der Kuppe platziert hatte. Dann riss er sich die Kette vom Hals, betrachtete zornig den schwarzen Obsidian – eingefasst in die Form einer Lilienblüte, in der sich das verhängnisvolle Licht des Blutmondes widerspiegelte. Der Kessel über dem Feuer brodelte.

Mit einem verächtlichen Laut warf er den Stein in die giftgrüne Flüssigkeit. Er hörte ein scharfes Zischen, ehe sich eine Stichflamme entzündete. Das Abbild der Blüte verschwand, die sengende Hitze blieb – flirrte vor seinen Augen und ließ das Lamm hinter ihm angstvoll blöken. Der Schatten nahm die provisorischen Zügel und brachte das verängstigte Tier mit einem Ruck zum Schweigen. Flehend hob er das Kinn, sah gen Himmel. »Ich bin gekommen, wie du es von mir verlangt hast. Aber ich kann dich nicht hören. Wieso kann ich dich nicht hören?«

Während er die Schlacke betrachtete, in der sich Luftblasen bildeten und wieder zerplatzten, begriff er plötzlich. »Aber natürlich kann ich dich nicht hören«, lachte er schrill auf. »Nicht, ohne dass der Preis bezahlt ist.« Er sah zu dem bibbernden Tier, das ihn geknickt anblökte. »Komm her!« Das junge Schaf schrie auf, als er einen Arm um seinen Hals legte, um es zu fixieren. Stoßweise ausatmend, zog er das Messer mit der anderen Hand aus dem Gürtel. »Ich bin dein Leib.«

Rotes Licht fiel in einem Keil auf das ungleiche Gespann herab. Das Lamm schrie. Die großen Augen traten in Todesangst aus den Höhlen.

»Ich bin dein Wein«, hauchte er, das Messer an die Kehle des wie von Sinnen um sich schlagenden Tieres gelegt. Die Schneide glitt über die empfindliche Haut wie durch Butter. Blut spritzte ihm ins Gesicht, besudelte seine schwarze Cotte. »Ich bin dein Wein, dein Brot, dein Leib!«

Er packte das sterbende Tier, das im Todeskampf wild hin und her zuckte – die ausblutende Kehle über den blubbernden Kessel haltend. Dunkles Rot ergoss sich zischend. »S´gtius víc´tim vi´acta u´hori«, hauchte er feierlich. »Mein Leben gehört dir. Mein Leben gehört dir!«

Der Mann verzog keine Miene, als Blutstropfen sein Gesicht bespritzten. Er leckte sich über die Lippen, kostete den metallischen Geschmack auf der Zunge. Die zuckenden Bewegungen in seinem eisernen Griff wurden schwächer, kamen zum Erliegen. Das Lamm gurgelte, zuckte, starb. Verächtlich ließ er den Kadaver neben die Feuerstelle fallen. Das Messer glitt aus seinen kraftlosen Fingern. Die pockennarbigen Wangen des Mannes glänzten, gesprenkelt vom Lebenssaft des Jungschafs, das mit weit aufgerissenem Maul zu seinen Füßen lag.

Sein gehetzter Atem beruhigte sich. Erwartungsvoll verzog sich sein Mund zu einem breiten Lächeln. »Lass mich dein Lied hören. Ich sehne mich so sehr danach.«

Dann war er derjenige, der die Augen aufriss, im Wahnsinn verhaftet. Die Erkenntnis traf ihn wie eine Ohrfeige. Nichts geschah. Panik drohte sich in ihm breitzumachen. »Dabei habe ich dir doch alles gegeben! Meinen Namen, meinen Kummer, mein …«. Ein Gedanke durchzuckte seinen Kopf. Er hatte etwas vergessen. Was hatte er nicht bedacht?

Mit zittrigen Fingern fummelte er ein Pergament aus dem Innenleben seines Umhangs. Seine Augen überflogen hektisch jede Zeile.

Als er damit fertig war, lachte er laut auf – seine Stimme glich dem Krächzen einer ausgehungerten Hyäne.

»Das verlangst du von mir, ja?« Er schrie hysterisch zum roten Mond hinauf. »Das verlangst du von mir!«

Entkräftet taumelte er zurück zur Feuerstelle. »Ich höre dein Lied«, sprach er zu sich selbst. »Ich höre es schon! Du bist mein Herr und Meister!« Er hob das tropfende Messer auf und zog seinen Ärmel zurück. Eine Schlangenbemalung auf dem Unterarm kam zum Vorschein.

Sein Arm bewegte sich wie von selbst über die kochende Flüssigkeit. Die Fingerkuppen waren rot gefärbt. Hitze versengte ihm die Haut. Er widerstand dem Drang, den Arm zurückzuziehen, widerstand dem Schmerz, der sich gefräßig ausbreitete.

Die Klinge in seiner Hand vibrierte. »Ich bin dein Wein, dein Leib!«

Mit einem entschlossenen Ruck führte er die Bewegung zu Ende. Die Schneide fraß sich tief in sein Fleisch, färbte die weiße narbige Haut tiefrot. Er unterdrückte einen Schmerzlaut, presste die Lippen zusammen. Zähe blutige Fäden bahnten sich ihren Weg, wanderten sein Handgelenk hinab, troffen lautlos in den Kessel – zu Blut, zu Feuer, zum Herrn des Abyss!

Er sank mit bebendem Oberkörper auf die Knie, wimmerte wie ein Häufchen Elend: »Me´ra vita vi´acta tibi est. Mein Leben gehört dir. Mein Leben gehört dir! Erebos!«

Er warf den Kopf in den Nacken. Grüner Rauch stieg aus den Flammen auf, umfing den Mann. Feierlich breitete er die Arme aus. Ein schweres Atmen drang an sein Ohr, Flüstern wie brennendes Herbstlaub. Das Gewisper kroch in seinen Verstand, in jede Pore seines Körpers.

»Ich kann dich hören«, jauchzte er. Er erhob sich wankend. »Ich kann dich endlich hören. Erebos, ich bin Dein!«

Die alles einnehmende Stimme des dunklen Gottes ließ ihn erzittern, bemächtigte sich seiner Zunge und ließ ihn jene Worte sprechen, die Erebos, körperlos wie er war, nicht aussprechen konnte: »Geh nach Ekron und finde das Kind, das in der Dunkelheit schwindet.«

Die Euphorie wich aus seinen Gliedern. Sein Lächeln versiegte. Jeder im Reich wusste von der bevorstehenden Verhandlung in Ekron. »Aber … was du von mir verlangst, ist unmöglich. Ich kann ihn nicht befreien.«

Erebos’ Stimme donnerte wutentbrannt in seinem Geist, ließ ihn abermals auf die Knie stürzen. »DU HOLST IHN HER!«

Der Schmerz pulsierte, einer lodernden Flamme gleich, durch seinen Schädel. Mit gequälter Miene presste er die Hände gegen seine Schläfen, wissend, dass es nichts gab, das Erebos’ Zorn schmälern würde. Wissend, dass ihn niemand daran hindern konnte, ein Gefäß in seinem Kopf zum Platzen zu bringen, wenn er es wünschte.

Seine Klangfarbe änderte sich, wurde klar und zerbrechlich, menschlich. »Bitte, ich … ich tue, was du verlangst.«

Der Schmerz verblasste nur langsam, und die Stimme verklärte sich zu einem wohligen Zischeln. »Mein Verhängnis. Mein Eigen.«

Der Schatten rang erleichtert um Atem. »Ich … ich hole ihn. Ich gehe nach Ekron und hole diesen Azrael.«

Die Präsenz des dunklen Gottes verhallte in seinem Kopf. Der Rauch verflog. Auf allen vieren kroch er an dem regungslosen Kadaver vorbei, auf die erkaltete Feuerstelle zu. Mit fahrigen Bewegungen kam er auf die Beine, sah in den Kessel und erblickte sein eigenes groteskes Spiegelbild. Der breite Mund mit den schiefen gelben Zähnen verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen. Der sanfte Blauton in seinen Iriden war für immer verblasst – war dem pechschwarzen, alles einnehmenden Geschenk gewichen, das ihm der dunkle Gott für seine Treue vermacht hatte.

2. DER SÖLDNER AUS IRAM

HELL UND KLAR STANDEN die Gestirne über dem Rand der Welt. Unter einem unermesslich weiten Abendhimmel schimmerten die gezackten Dächer der eisernen Stadt in Rot und Grau. Ihre Turmzinnen schnitten wie scharfe Dolche in den Himmel.

Der junge Söldner, der am Fuße einer rostbraunen Säule ausharrte, fühlte sich in ihrem Angesicht geradezu winzig. Sycarus war eine schiere Ansammlung gepanzerter Gebäude, Mauern und Gefechtstürme. Stählerne Wälle umringten die riesige Burg Isenfaust in ihrem Zentrum. Dahinter stieg Luna mattweiß und erhaben in ihren Zenit.

Zugegeben, die schlanken Türme in Elisia oder Zinn wirkten anmutiger. Dafür durften sich die Verteidiger dieser Stadt sicher sein, selbst einen massiven Angriff abzuwehren. Wer würde es schon wagen, gegen Mauern aus Stahl anzurennen?

Was nützt dir ein idyllisches Heim, Arthur, wenn der erste Sturm es auseinanderreißt? Ästhetik ist keine nützliche Errungenschaft. Merk dir das, mein Sohn. Die letzten Worte seines Vaters klangen ihm in den Ohren. »Nur Narren und Könige können so etwas gutheißen«, wisperte er kopfschüttelnd.

Iram war auch ein bezaubernder Ort gewesen – bis die Thyrr gekommen waren und alles dem Erdboden gleichgemacht hatten. Sie hatten keinen Stein auf dem anderen gelassen. Seine Heimat hatte sich von diesem Gräuel nie erholt.

Ehe die Wehmut in seiner Brust zu intensiv wurde, nahm er seinen Blick fort von der imposanten Kulisse. Er straffte die Schultern und überquerte mit entschlossenen Schritten den Platz des Triumphes. Links wie rechts säumten Statuen, Laternen und entlaubte Eschen seinen Weg. Die hohen Könige aus Marmor schienen verächtlich auf ihn herabzustarren.

Du bist nicht hier, um dich an Äußerlichkeiten zu erfreuen, ermahnte er sich selbst, den Blick fest auf die Straße vor sich gerichtet. Wenn er hier Arbeit bekäme, würde er endlich unabhängig sein, frei von der Knechtschaft schwerer und unliebsamer Schinderei in den Bergwerken seiner Heimat. Er wollte auf gar keinen Fall wieder nach Iram, in diesen Moloch einer einst ruhmreichen Stadt.

Unbeirrt hielt er auf die verschlossene Pforte zu. Allein der Triumphbogen mit seinen ausladenden Sockeln wirkte wie eine Festung. Eine Bastei aus Gold, Eisen und einer knotigen Krone aus scharfem Drahtverhau. Kein Wunder, dass nicht einmal die wilden Horden des Erebos diesen Ort hatten stürmen können. Die Mauern um das Tor waren mit rot gefärbten Eisenplatten überzogen. Als hätte jemand der stolzen Drachendame eine Rüstung über ihr Schuppenkleid gelegt.

Ehe er den Eingang erreicht hatte, trat ihm aus der Dunkelheit ein grimmig dreinblickender Mann entgegen. »Ich nehme an, Ihr seid der Anwärter?« Seine Stimme klang rau und kratzig. Er trug einen weißen, gefiederten Helm und ein schweres Kettenhemd. Unter einer seiner buschigen Brauen lag eine Augenklappe – und er roch scharf nach Alkohol.

»Der bin ich«, bestätigte er mit fester Stimme. »Arthur Artaios ist mein Name.« Er reichte dem alten Haudegen die Hand zur Begrüßung. Dessen Händedruck war kraftvoll und entschlossen.

»Ich bin Trajan Lycidias. Hauptmann der Palastwache. Aber Ihr dürft mich gerne Trajan nennen.« Der Hauptmann drehte seinen Kopf in Richtung der Mauer, formte seine runzeligen Hände zu einem Trichter und brüllte: »Öffnet das Tor!«

Sekunden später vernahm Arthur, wie sich der massive Stahl ächzend bewegte. Er nutzte Trajans kurze Unaufmerksamkeit, um ihn etwas näher zu mustern. Sein Gesicht war faltig und zerfurcht. Narben glänzten schwülstig auf der Stirn und unter dem Kinn. Vermutlich ein Kriegsveteran. Vielleicht hatte er gegen die Thyrr gekämpft oder später im Bürgerkrieg gegen die Deva. Diese Männer hatten oft mehr gesehen, als gut für sie war.

»Ich fürchtete schon, Ihr würdet nicht kommen«, wandte sich Trajan ihm vorwurfsvoll zu.

»Diese Stadt ist groß und etwas … nun ja, unübersichtlich. Ich hoffe, Euer Herr ist mir deshalb nicht böse.«

Der Haudegen grinste schadenfroh: »Nur, wenn er es erführe. Ihr würdet für diese Verfehlung ein oder zwei Nächte im Kerker nächtigen. Aber keine Angst. Ich werde es für mich behalten.« Ein schallendes Lachen entfuhr seiner Kehle. Zeitgleich durchquerten hinter seinem Rücken vier bewaffnete Krieger den Eingang. Sie marschierten im Gleichschritt, trugen knöchellange weiße Umhänge und vergoldete Wurfspieße.

Zu Arthurs Überraschung wurde der so freundliche Tonfall des Hauptmannes jetzt streng: »Dieses Tor darf nur passieren, wer sich zuvor einer gründlichen Leibesvisitation unterzogen hat. Keine Waffen, habt Ihr das verstanden?«

Arthur nickte knapp. »Gut.«

Zwei der Wachen blieben in Habachtstellung in der Nähe des Tors zurück, die anderen traten an den Neuankömmling heran. Die Krieger tasteten ihn zunächst grob von Kopf bis Fuß ab.

»Euer Schwert«, brummte der Hauptmann ungeduldig.

Instinktiv legte Arthur eine Hand auf den Griff seiner Waffe. »Ihr erinnert Euch, dass ich als Leibwächter anheuern will?«

Trajan verzog angesäuert den Mund. »Seit Ba´al den Deva den Krieg erklärt hat, gab es viele Unruhen in Sycarus. Die Stadt scheint innerlich zerrissen. Man kann niemandem mehr trauen.«

Arthur nickte steif. »Ich verstehe.« Sein Vater hatte ihn vor dieser Eigenheit der Sycarer gewarnt. Argwohn schien ihr zweiter Vorname zu sein. Widerwillig überreichte er dem Hauptmann sein Kurzschwert. Trajan nahm es zufrieden entgegen. Mit abschätzigem Blick betrachtete er die Klinge. »Sobald Ihr Euren Eid abgelegt habt, werdet Ihr eine neue Waffe bekommen – eine, die nicht so stumpf und … abgegriffen ist.«

Arthur unterdrückte eine bissige Entgegnung. Er ließ die weitere Prozedur geduldig über sich ergehen, bis die Männer endlich von ihm abließen. »Alles in Ordnung«, gaben sie ihrem Hauptmann Meldung. »Er darf passieren.«

»Vorzüglich.« Trajan setzte ein breites Grinsen auf und bedeutete seinem Gast mit einem Wink, ihm zu folgen. Gemeinsam betraten sie den Vorhof – die legendären Ewigen Gärten. Es hieß, dieser immer gedeihende Ort um die roten Burgmauern herum sei der schönste aller Plätze in Ascan. Die Realität war völlig anders, der Traum eine Tragödie. Die Lange Nacht hatte den Gärten ihre Jugend geraubt. Schattenefeu schlängelte sich am Mauerwerk entlang. Lilien und Begonien standen welk in zerwühltem Erdreich. Groteske Ovale aus Glas und Gold pendelten an kahlem Eichengeäst.

Arthur schluckte seine tiefe Enttäuschung schweigend herunter, während er Trajan durch die Anlage folgte. Wo waren die Bienen und Schmetterlinge geblieben, die sich in den Blüten tummeln müssten? Wo waren die Zikadenschwärme, die Sommer für Sommer ihre Liebeslieder auf den ewigen Kreis des Lebens einstimmten?

Stattdessen war alles tot und trostlos. Es roch nach Asche und nassem verwelkten Laub. Arthur fröstelte. Je tiefer er in diesen Ort vordrang, umso unbehaglicher wurde ihm in seiner Haut. Wachsende Zweifel stiegen in ihm auf. Er unterdrückte den Impuls, auf dem Absatz kehrtzumachen.

Du wirst nicht zurück nach Iram kriechen wie ein geprügelter Hund, sprach er sich selbst in Gedanken Mut zu. Das ist es doch, was sie von dir erwarten: dass du als der elende Versager zurückkehrst, als der du gegangen bist.

Darüber hinaus lagen in Sycarus nirgendwo Tote unter den Trümmern eingestürzter Häuser. Hier war das Wasser trinkbar. Es gab keine Seuchen, und es weinte nicht unentwegt jemand um seine verstorbenen Angehörigen. Selbst wenn dieser Ort trist war, wurde ihm das Herz nicht so schwer, dass er es sich am liebsten herausgeschnitten hätte.

Das angenehme Plätschern eines Wasserspiels befreite ihn von seinen düsteren Gedanken. Arthur hob das Kinn und erspähte eine Ansammlung Zierbrunnen. Mit ihren kleinen schlanken Drachenskulpturen, die Wasser anstatt Feuer spien, wirkte diese Ecke des Gartens beinahe reizend. Zu seinem Bedauern setzten sie ihren Weg fort, vorbei an vertrockneten Tulpenbeeten und kargem Gestrüpp. Seufzend ergriff Trajan das Wort: »Bitte nochmals, mein Misstrauen zu entschuldigen. Wir waren früher gastfreudlicher.«

»Schon gut«, entgegnete Arthur. »Ihr sorgt Euch um Euren Herrn. Das werde ich ebenfalls tun, wenn er mich in seine Dienste lässt. Ich werde so gut auf ihn achtgeben, wie Ihr es tut.«

Trajan hielt an. Seine Augenbrauen hoben sich überrascht. »Oh, man hat es Euch nicht gesagt?«

Arthur zog verwirrt die Stirn kraus. »Was denn?«

Der Hauptmann schmunzelte belustigt. »Nicht der Herrscher von Sycarus ist es, den Ihr beschützen werdet.«

Ehe er zu einer Erklärung ansetzen konnte, wurde ihre Unterhaltung von ausgelassenem Gelächter unterbrochen. Unter den angelegten Schwingen eines schlanken Lindwurms saßen zwei junge Frauen. Eine der beiden hatte blondes, gelocktes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte. Ihr Antlitz war von Winterblässe geküsst, mit Sommersprossen auf der kleinen Nase und einem zarten Mund. Sie trug ein blaues Kleid mit weißen Rüschen. Ihre feingliedrige Silhouette erhob sich gegen das Mondlicht, welches in hellem Schein auf den Ewigen Garten herabstrahlte. Sie wirkte so unverbraucht und fidel, wie Arthur es seit langer Zeit nicht mehr bei einem Menschen gesehen hatte. Als wären die Ängste und Nöte der vergangenen Kriegsjahre spurlos an ihr vorbeigegangen.

Auf ihre Begleiterin traf dies nicht zu. Selbst wenn sie lächelte, wirkte sie für ihr junges Alter zu ernst. Die Entbehrungen hatten sich tief in ihr sommersprossiges Gesicht gegraben. Das kupferrote Haar stach vor dem Schneeweiß des Marmors ebenso hervor wie ihr schlichtes braunes Gewand.

Sie kicherten miteinander, bis die rothaarige Frau den Kopf hob und Arthur bemerkte. Ihr Lächeln versiegte augenblicklich, grüne Augen starrten ihn voller Argwohn an. Hilflos sah er sich nach Trajan um. Dieser hielt unbeirrt auf die beiden zu.

»Prinzessin Yasmin«, begrüßte er die Frau in dem blauen Kleid und verbeugte sich demütig. »Darf ich Euch Arthur Artaios vorstellen? Der neue … Anwärter.«

Sie winkte lachend ab. »Ach, hört doch auf damit, Trajan. Ihr müsst vor Eurem Gast nicht so förmlich tun.«

»Ich halte mich nur an die Gepflogenheiten dieses Hauses«, entgegnete er brüskiert.

»Die Gepflogenheiten meines Vaters, wollt Ihr sagen«, widersprach sie keck.

»Wen habt Ihr nun wieder angeschleppt?«, fragte die Rothaarige. Sie bemaß Arthur mit geringschätzigem Blick von Kopf bis Fuß.

Daraufhin setzte der Hauptmann ein strenges Gesicht auf. »Euer Gnaden, bitte richtet Eurer … Zofe aus, sie soll ihre vorlaute Zunge im Zaum halten. Dass sie überhaupt ungefragt den Mund aufmacht, schickt sich nicht.«

»Ailis kann sagen, was sie will und wann sie es will«, entgegnete die Prinzessin resolut. »Ich dachte, das hätten wir geklärt, Trajan?«

Der Hauptmann presste ungehalten die Lippen aufeinander, beließ es dann aber dabei und wandte sich wieder Arthur zu. »Darf ich Euch vorstellen: Yasmin von Sycar. Ihr werdet der Tochter meines Herrn Antrax zukünftig als Leibwächter dienen. Das heißt, sofern Ihr Euch als geeignet erweist.«

»Wie viele Leibwächter wollt Ihr denn noch herbeischaffen?«, fragte sie und rollte mit den Augen. »Ich kann sie bald nicht mehr zählen.«

Der alte Haudegen senkte demütig das Haupt. »Euer Gnaden. Ich werde so viele Männer mitbringen, bis sich der eine findet, der sich Euch als dauerhaft würdig erweist.« Betont räuspernd richtete er das Wort an seinen Gast: »Mein Herr Antrax pflegt stets zu sagen: kein Sohn heißt kein würdiges Vermächtnis. Keine Tochter aber bedeutet, dass seine Linie endgültig ausstirbt. Nichts scheint ihn mehr zu ängstigen. Deshalb werdet Ihr die Prinzessin beschützen. Und wenn es sein muss, mit Eurem Leben. Fühlt Ihr Euch dieser Aufgabe gewachsen?«

Ohne sie aus den Augen zu lassen, nickte Arthur. »Ich wüsste nicht, was dagegenspräche.«

Trajan griff energisch nach seinem Oberarm und zog ihn ein Stück weit fort. »Unterschätzt das nicht!« Er senkte seine Stimme und warf einen Blick über die Schulter. Erst, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die beiden Frauen ihrerseits miteinander tuschelten, fuhr er fort: »Teile des einflussreichen sycarischen Adels streben nach Unabhängigkeit. Sie wollen nicht unter dem Joch der Dreizehn Fürsten ihr Dasein fristen. Gut möglich, dass sie versuchen, ihre Ziele mit Gewalt zu erreichen. Und ein besseres Druckmittel als die letzte lebende Erbin von Sycarus gibt es kaum. Und dann wären da natürlich noch die Deva.«

Arthur schaute an Trajans Schulter vorbei. Prinzessin Yasmin erwiderte seinen Blick. Ihre strahlend blauen Augen fixierten ihn regelrecht. Aber was hatte das zu bedeuten? Aus einem unerfindlichen Grund wurde ihm flau im Magen.

Er holte tief Luft und nickte knapp: »Ich verstehe. Sicherlich haben diese Biester ihre Finger im Spiel. Das haben sie doch immer.«

»Vermutlich«, pflichtete ihm der Hauptmann nachdenklich bei. »Bedauerlich, dass sie sich gegen uns gewandt haben. Aber ich für meinen Teil habe das schon lange kommen sehen.«

Arthur spürte, wie der Ärger über diese geflügelten Verräter in ihm aufstieg. Zweifelsohne sahen die gnädigen Damen das ebenso. Sich räuspernd trat er vor, woraufhin sie ihr Geflüster unterbrachen. Prinzessin Yasmin musterte ihn aufmerksam.

»Nur keine Bange, Eure Hoheit. Wenn es sein muss, schicke ich die Angreifer mit bloßen Händen ins Jenseits. Egal ob Mensch oder Deva.«

Daraufhin fiel die freudige Neugierde augenblicklich aus ihrem Gesicht, wich erst Enttäuschung, dann Zorn. Ihre blauen Augen flackerten wild. »Ihr seid nicht anders als die anderen Meuchelmörder, die mein Vater bezahlt. Schert Euch zum Teufel!«

Wütend sprang sie auf und stürmte davon. Ailis strafte ihn mit einem vernichtenden Blick und folgte ihrer Herrin mit eiligen Schritten.

Arthur öffnete perplex den Mund. Trajan hingegen nahm seinen Helm ab und klemmte ihn unter den Arm. Ein bedauerndes Seufzen entfuhr ihm, indes er Yasmin besorgt nachsah. »Irgendwann wird sie es hoffentlich verstehen.«

»Verstehen?« Arthur hob die Brauen.

»Verstehen, dass nicht wir die Täter in diesem Konflikt sind, sondern diese Kreaturen.«

Bedrückende Totenstille hatte sich über den Teufelsschlund gelegt. Die Schlacht war vorüber. Nur der Wind blies in unregelmäßigen Abständen schrill pfeifend durch die Klamm. Arthur starrte fassungslos über die vielen leblosen Körper hinweg. Was für ein sinnloses Sterben.

Die Angreifer hatten zwanzig seiner Männer getötet. Fast eine halbe Kompanie. Der sandige Boden zu seinen Füßen war mit Blut getränkt. Die rauchgeschwängerte Luft stank süßlich. Dabei waren sie ihnen zahlenmäßig haushoch überlegen gewesen.

Verstehen, dass nicht wir die Täter in diesem Konflikt sind, sondern diese Kreaturen.

Arthur erinnerte sich genau an seine erste Begegnung mit dem alten Trajan. Eine halbe Ewigkeit musste das inzwischen her sein. Dieses Gemetzel hätte ihn nur bestätigt. Aber wie würde Yasmin dazu stehen? Würde sie wie er die vielen erschlagenen Soldaten zählen? Die genommenen Leben? Oder würde sie bedauern, was die Deva für ihre Verbrechen erwartete? Sie liebte diese Wesen, das tat sie schon immer. Bis heute begriff er nicht, weshalb sie so empfand.

»Sie sind wilde Kreaturen«, sagte er trotzig zu sich selbst. »Ungestüm, gefährlich, nicht zu kontrollieren.«

Nur wenige Meter entfernt von ihm wurden die Deva vorwärtsgetrieben. Die Speere im Rücken, die Ungewissheit vor sich. Doch so unbestimmt war ihr Schicksal gar nicht. Jedenfalls nicht für Arthur. Sie waren dem Tode geweiht. Das war die logische Konsequenz, der Lauf der Dinge. Die Schlacht vom Teufelsschlund war nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Trajan recht und die Fürsten seinerzeit nicht anders hätten handeln können. Aber irgendetwas an diesem Gedanken schien nicht zu stimmen. Etwas war falsch.

Hinter ihm fluchte das Devaweibchen mit den schwarzen Haaren lautstark, während sie von seinen Soldaten unsanft abgeführt wurde. Obwohl sich etwas in ihm dagegen sträubte, zwang er sich dazu, sich zu ihr umzudrehen. Ihr Anblick erschreckte ihn. Von ihrer aufgeplatzten Lippe rann silberweißes Blut. Ihr linkes Auge war dick geschwollen. Der Blonde neben ihr konnte sich kaum mehr aufrecht halten. Nur das rothaarige Ungetüm, welches von gleich einem Dutzend Gardisten umringt war, wehrte sich nach Leibeskräften. In seiner Unbill wirkte es erhaben und kraftvoll, der Demütigung zum Trotz. Was für eine tollkühne Wut treibt ihn an?

Arthur folgte dem Tross mit behäbigen Schritten, bis er eine schwarze Feder bemerkte, die vor seinen Füßen lag. Er ging in die Hocke und nahm sie in die Hand, drehte sie nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Bedauern durchströmte seine Brust. Sie werden sie hinrichten.

Aber warum nur? Sie sind die Täter in diesem Konflikt, nicht die Opfer. Oder etwa nicht? Erneut ließ er die Ereignisse der letzten Stunden Revue passieren. Die verzweifelten Schreie der Männer klangen ihm ebenso in den Ohren wie das wilde Gebrüll des rothaarigen Devamännchens.

Schlagartig wurde ihm übel. Ich habe sie in diese Falle laufen lassen. Aus dem Bedauern darüber schwoll Verzweiflung an. Das hatte er nicht beabsichtigt. Wenn Yasmin jemals davon erfährt, oder Gavin … Dieser verdammte Halunke. Er hatte sich nichts Boshaftes dabei gedacht. Diese unheimlich anmutende Devafrau war plötzlich in der Kaserne aufgetaucht – in schwarzer Kluft, waffenlos, mit ihren klauenbehafteten Händen über dem Kopf – unschuldig dreinblickend.

Sie wolle sich ergeben, hatte sie gesagt. Allein das hätte sein Misstrauen wecken müssen. Kein Deva ergibt sich grundlos. Wer will sein Dasein schon in einem Kerker fristen? Wer übergibt sich freiwillig dem Schafott? Nachdenklich kaute Arthur auf seiner Unterlippe herum. Scheinbar war sie Hals über Kopf geflüchtet.

Hinter ihm ertönte Lärm. Das laute Aufheulen des Devaweibchens riss ihn aus seinen Gedanken. Vor Schreck ließ er die schwarze Feder fallen.

Der rothaarige Hüne hatte sich losgerissen und schlug in einem wilden Aufbäumen um sich. Zwei Männer fielen getroffen zu Boden und dann ein weiterer, ehe die übrigen Soldaten sich auf ihn warfen. Sie traktierten die wütende Kreatur mit Tritten und Schlägen, bis sie sich nicht mehr rührte. Das Weibchen vergrub sein Gesicht in den Händen, weinte.

Arthurs Herz hüpfte erschrocken in seiner Brust. »Vergib mir meine Schande, Yasmin«, flüsterte er und wandte sich beschämt ab.

3. DIE KERKER VON EISENSTEIN

ALLES AN DIESEM ORT war trostlos. Die schmutzigen Wände mit ihren fleckigen Kacheln, auf die Iskat seit Stunden starrte. Die wabernde Finsternis, deren feuchtkalte Umarmung ihn frösteln ließ. In der Luft lag ein beißender Geruch, eine säuerliche Mischung aus Ausscheidungen und Verwesung.

Iskat atmete schwer aus und versuchte, an der Fassade lehnend, sich aufzurichten. Seine Klauenfinger strichen über das moosbewachsene Mauerwerk. Reflexartig zog er die Hand zurück. Die Berührung löste einen Schauder in ihm aus. Müde seufzend legte er den Kopf in den Nacken. Seine Schultern schmerzten, die Gelenke unter dem mit Menschenblut befleckten weißen Chiton fühlten sich steif und unbeweglich an. Der erbitterte Kampf im Teufelsschlund hatte ihm alles abverlangt. Um ein Haar hätten sie den Sieg davongetragen. Aber dieser Umstand bereitete ihm keine Genugtuung. Er hatte nicht mitgezählt, wie viele Ascaner er in der Nacht vor sieben Tagen auf dem Schlachtfeld erschlagen hatte. Diese Unart seines Volkes hatte er nie verstanden. Jedes Leben war schließlich von Wert. So stand es in der Heiligen Schrift. So wurde es jahrhundertelang an die nächsten Generationen weitergegeben.

Viele der Soldaten, deren Leben er beendet hatte, mussten Familie zu Hause haben. Diese Kinder wuchsen jetzt ohne Väter auf, die Frauen mussten ohne ihre Männer leben. Zweifelsohne hatte er Schicksale besiegelt, neue Funken des Hasses und der Vorurteile entzündet. Dieses Gefühl ließ keinen Stolz zu, nur Scham und Bedauern.

Iskat legte seine Hände in den Schoß, faltete sie zum Gebet und schloss die Augen. »Mutter Stern«, wisperte er, »meine Mutter. Vergib mir die furchtbaren Verbrechen, die ich begangen habe. Lass mich das Schicksalslied hören, deine Stimme. Das Lied, das du uns am Tage der Geburt gesungen hast. Lass mich Vernunft und Mitgefühl nicht verlieren. Sei mein Leitstern, mein Gewissen. Amy´na, Eos – Heilige Eos.«

Nachdem er sein Gebet zu Ende gesprochen hatte, bemerkte er eine flüchtige Bewegung. Liorit saß ihm gegenüber. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Iskat erhob sich schwerfällig und nahm neben ihr Platz. Als sie den Kopf unter ihrer grauen Umhangkapuze in seine Richtung hob, erschrak ihr Anblick ihn zutiefst. Die Unterlippe war dick und ihre Wangen von unzähligen Prellungen und blauen Flecken übersät. Ein Lid war violett verfärbt und geschwollen.

»Ich kann al-Ta ´ir durch diese Decke nicht sehen«, vernahm er ihre heisere Stimme. »Wo mag der Wanderstern am Himmel gerade stehen?«

Iskat senkte betroffen den Kopf, starrte in seinen Schoß. »Ich weiß auch nicht, welche Tageszeit gerade ist.

»Wo mag er jetzt sein?«

Da seine Antwort nur ein betroffenes Schweigen war, fragte sie erneut: »Wo, denkst du, haben sie ihn hingebracht?«

Iskat brauchte einen Moment, bis er begriff, dass sie Azrael meinte. Ratlos zog er die Schultern hoch. »Ich weiß nicht.«

Seine Gefährtin schluchzte. Tränen wanderten über ihre geröteten Wangen. »Er wollte doch nichts weiter, als seine kleine Schwester retten. Und jetzt das. Es war alles umsonst.«

Etwas in Iskat krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er hielt kurz den Atem an. »So darfst du das nicht sehen.«

»Wie soll ich es denn sonst sehen?«, fuhr sie ihn an. Ihre Stimme vibrierte gefährlich.

»Wir wurden nach Ekron gebracht«, erinnerte Liorit ihn, als ginge sie davon aus, er habe ihre hoffnungslose Lage vergessen. »Du weißt, was das bedeutet. Heilige Mutter, du weißt es. Aus diesen Verliesen ist noch niemand entkommen. Noch nie!«

Iskat zwang sich zu einem Lächeln. »Wir dürfen unseren Glauben nicht verlieren.«

Liorit sprang auf und tigerte vor ihm auf und ab. »Sie werden uns den Prozess machen. Sie werden uns umbringen! Wahrscheinlich nageln sie uns an ein Kreuz oder Schlimmeres. Ich will so nicht sterben, verstehst du!«

»Du musst einen kühlen Kopf bewahren«, versuchte er sie zu beschwichtigen. Sein Herz raste bei dem Gedanken, was die Ascaner für sie vorgesehen hatten.

»Wie denn?« Verzweiflung stand seiner Gefährtin ins Gesicht geschrieben. Liorits Stimme wurde panisch. »Sollen wir darauf hoffen, dass uns wieder jemand aus dem Schlamassel hilft? Wie konnten wir nur so naiv sein? Wir haben eine zweite Chance erhalten, und was haben wir daraus gemacht?«

»Gavin würde sagen, wir haben nichts dazugelernt«, sprach Iskat seine Vermutung laut aus. »Aber du solltest dich deswegen nicht grämen. Wir haben getan, was von uns verlangt wurde. Es hat eben nicht gereicht.«

»Ich gräme mich nicht. Ich bin wütend!« Erneut stapfte sie vor ihm auf und ab, krallte dabei beide Hände in ihr zerzaustes schwarzes Haar, bis es in alle Richtungen zu Berge stand. »Ich … ich muss hier sitzen und auf den Tod warten. Und diese … diese sterblichen Bastarde können weiter tun und lassen, was sie wollen. Warum kann die Heilige Mutter nicht kommen und mir ein Schwert geben? Ich möchte nichts weiter, als diese Blechköpfe in zwei Hälften schneiden!« Ihr wütender Tritt gegen die Kerkertür ließ die Gitterstäbe geräuschvoll erzittern.

Da war sie wieder, stellte Iskat betroffen fest. Diese irrationale Wut, die sein Volk in den Jahren des Krieges in sich entdeckt hatte. Und die es in den Ruin trieb. Er räusperte sich. »Das ist nicht unser Weg, Liorit.«

Jetzt überschlug sich ihre Stimme: »Hör auf, mich zu belehren. Hör einfach auf damit!«

Iskats Augen wanderten besorgt an seiner Gefährtin vorbei zur Kerkertür. Niemand schien dort zu stehen und ihren Streit zu beobachten. Andererseits konnte er den Flur nicht weit genug einsehen, um sicher zu sein. Beschwichtigend legte er eine Klaue an die Lippen. »Bei der Heiligen Mutter. Ich bitte dich, mach es nicht noch schlimmer.«

Doch Liorit fuhr mit frostiger Stimme fort: »Ich habe diese Predigten so satt. Jeden Abend sitze ich wie … wie du da und bete zur Herrin. Aber es ändert sich nichts. Gar nichts! Der smaragdgrüne Stern des Friedens steht unbeirrt blass, Draconis hingegen leuchtet hell wie Feuer! Die Heilige Mutter hat uns im Stich gelassen. Eos tut nichts, um uns zu helfen. Sie hat Sura nicht geholfen, den dunklen Gott zu bezwingen. Sie hat Azrael nicht geholfen, Lilith zu finden. Und uns hilft sie auch nicht. Sie hat uns verlassen. Wir sind ihr scheißegal.«

Nun war es Iskat, der sich erhob und vehement widersprach: »Das kann unmöglich dein Ernst sein, Liorit. Was du da von dir gibst … ist Blasphemie.«

»Hat uns dein Glaube geholfen, Lilith zu befreien?«

Jetzt bemerkte er ebenfalls Wut, die sich gemächlich in seiner Brust ausbreitete. Wut auf sie, auf ihre mangelnde Selbstbeherrschung, aber ebenso auf sich, weil er ihrem Gefühlsausbruch und ihrer Verzweiflung scheinbar nicht Herr wurde. »Wir haben uns das selbst eingebrockt«, entgegnete er gefasst. »Ich habe versucht, es dir zu erklären. Und Azrael auch. Mehrfach. Aber ihr hört nicht zu. Wir können diesen Konflikt nicht mit Gewalt lösen!«

Ihre Stimme wurde schneidend: »Gewalt ist die einzige Sprache, die Menschen verstehen.«

Iskat trat nah an sie heran, sah ihr mit ernstem Tadel in die Augen. »Wie könnte eine ganze Generation versöhnlich sein, die nichts anderes in ihrem Leben kennengelernt hat als Tod und Zerstörung? Sag es mir.«

Einen Augenblick hoffte er, zu ihr durchgedrungen zu sein, denn sie schwieg betroffen. Iskat verspürte mit einem Mal das dringende Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. Doch ehe er den Mut dazu fand, kehrte eine erneute Woge des Zorns in ihr Gesicht zurück. »Nimmst du sie etwa in Schutz, ja?« Sie lachte freudlos und drehte ihm den Rücken zu, beide Hände fest um die Gitterstäbe geklammert. »Sag es ihnen doch. Sprich ein Gebet für sie, bevor sie dir Eisennägel in die Handflächen rammen.«

Mit aller Gewalt rüttelte sie an den Stäben, schrie ihre Wut schluchzend hinaus: »Ihr verdammten Blechköpfe! Kommt her. Hier sitzt einer, der eure Grausamkeit versteht.«

Unvermittelt erhoben sich Stimmen auf dem Flur. Kurz darauf erschien gleich ein halbes Dutzend Schemen, die sich ihnen im Eiltempo näherten. Liorit sprang erschrocken von der Tür zurück. Nur Sekunden später wurde sie mit Wucht aufgestoßen, und die Soldaten traten grimmig dreinblickend ein.

»Was soll der Krach?«

Iskat sah Liorit an, die wie vom Donner gerührt neben ihm stand. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren. Einer der Recken drängte sich mit dem gierigen Blick eines ausgehungerten Schakals an seinen Kameraden vorbei. »Scheiß auf den Lärm, Oswald. Lass mich diese Schönheit lieber etwas genauer ansehen.«

Der Mann, den der Schakal Oswald genannt hatte, schnaubte amüsiert. »Was willst du denn machen, Cedric? Sie für eine Nacht aus dem Kerker in dein Bett holen? Diese Strafe hat nicht mal diese Kreatur verdient.«

Die anderen Männer lachten schallend auf. Das Grinsen im ausgemergelten Gesicht des Schakals wurde nur noch breiter. »Wir können doch auch hier unseren Spaß haben. Ihr müsst sie nur festhalten, und ich nehme mir, was mir zusteht.«

»Wage es, mir zu nahe zu kommen«, fauchte die Deva mit erhobenen Klauen.

Iskat zog Liorit beherzt zurück. Schnaubend trat er auf den Mann zu, der seinen Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzusehen. »Du rührst sie nicht an.«

Das boshafte Feixen wich aus dem Gesicht des Soldaten. »Willst du mir Befehle erteilen?« Er machte Anstalten, an dem Hünen vorbeizutreten, doch Iskat streckte demonstrativ den Arm aus. Es gelang ihm, das Zittern seiner Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Ich habe gesagt, du rührst sie nicht an!«

Sein Herz raste, während er versuchte, die Lage einzuschätzen. Sie waren zu sechst und schwer bewaffnet. Und diese Zelle war einfach zu eng, um seine körperliche Überlegenheit ausspielen zu können.

»Sie gefällt mir aber«, zischte der Schakal gehässig. »Ich habe ein Recht darauf.«

Iskat ballte beide Hände zu Fäusten. Heiße Verzweiflung stieg in ihm auf, kroch in jede Faser seines Körpers.

Sie werden dich töten. Möglicherweise nimmst du ein oder zwei mit ins Jenseits. Aber am Ende stirbst du. Und die Übrigen werden ihren Zorn an Liorit auslassen.

Entschlossen trat er auf den Ascaner mit dem Namen Cedric zu. »Nur über meine Leiche.«

Das Gesicht des Schakals verzog sich zornig. Ruckartig zog er einen Dolch aus dem Gürtel und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. »Wie du wünschst. Ich schlitz dich auf wie einen Truthahn.« Die Männer rückten geschlossen in der Zelle vor, drängten die Deva fast bis an die Kerkerwand zurück. Iskat ließ den Schakal nicht aus den Augen. Mordlust flimmerte in seinen Iriden auf. Aber als er und Liorit bereits mit dem Rücken gegen die Wand stießen, schallte hinter ihnen eine alarmierte Stimme durch den Flur. »Was geht hier vor sich?«

Die Männer zuckten erschrocken zusammen. Der Schakal ließ vor lauter Schreck sein Messer fallen, wurde leichenblass.

Als sie ihren Hauptmann im Rahmen der Kerkertür erblickten, bildete die ganze Truppe sofort ein Spalier.

4. IN VÖLLIGER VERZWEIFLUNG

NEBELSCHWADEN SCHWEBEN IM eisigen Morgengrauen, ein dichter Vorhang, durchhaucht von feinem Regen. In der Ferne regte sich das wiedererwachende Tageslicht. Windböen fegten durch eine einsame Straße. Der Junge mit den karmesinroten Haaren atmete die eisige Luft ein, die ihm in der Lunge brannte. Er schmeckte den Raureif des Nebels auf seiner Zunge.

Angsterfüllt sah er sich nach allen Seiten um. Niemand hier. Er fühlte sich so allein und einsam. Überall Kälte, Sturm und Finsternis.

Er setzte einen Fuß vor den anderen. Erst zögerlich, dann immer schneller. Er hörte nichts außer seinen rasselnden Atem, der in regelmäßigen Abständen Wölkchen entstehen ließ. Bangen Blickes hob er den Kopf, wagte es, von den eigenen Zehenspitzen aufzusehen. Unmittelbar vor ihm ragten riesige Bauten auf. Weiße Türme, gewaltig wie die scharfen Zähne eines Drachen. Sie wuchsen in den Himmel. Ihre Zinnen lagen hinter Nebelschwaden.

Die unbewegten Giganten jagten ihm einen Schauder über den Rücken. Sein Herz raste. Warum nur hatte er solche Angst? Wieso zitterten ihm die Knie? Verängstigt klammerte er sich an die Hüfte eines riesigen Schattens, der unverhofft an seiner Seite stand. War er schon immer da? Beschützend legte dieser einen Arm um die schmalen Schultern des Jungen.

Wer war er? Er sah zu ihm auf, erkannte sein Gesicht nicht, das unter Dunkelheit verborgen blieb. Trotzdem gab ihm seine Präsenz das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Er bemerkte um sich herum weitere Silhouetten. Schemen hinter formlosen Masken.

»Fürchte dich nicht«, flüsterte eine Stimme neben ihm liebevoll. »Habe keine Angst, Liebling.« Ihr Klang war vertraut. Ihre Hand streichelte sanft sein Gesicht. Er spürte die mütterliche Wärme, die die Berührung in ihm auslöste.

Der Regenschauer ergoss sich prasselnd. Dampfender Nebel stieg um ihre Silhouetten in die Höhe. Das Kind griff hoffnungsvoll nach der trostspendenden Hand, die auf seiner Wange lag. Er wollte diese Berührung erwidern, wollte die Liebe erwidern, die sie ihm schenkte.

Doch sie löste sich in nichts auf, wurde ohne Vorwarnung eins mit den Nebelschwaden und dem kalten Regenguss. Der Junge schrie vor Enttäuschung entsetzt auf.

Ihr Lachen, voller Zuneigung. »Sei nicht zu streng mit ihm.«

Mit einem Mal verschwanden sie beide. Die warmherzige Frau, der trostspendende Mann. Der Junge blieb allein zurück. Und die Pfütze zu seinen Füßen verwandelte sich in eine Blutlache.

Die Kerkerwände zogen grau und schmutzig an ihm vorbei. Das spärliche Licht in den einarmigen Kandelabern ließ ihn kaum über seine Handflächen hinwegsehen. Azrael starrte in einen Tunnel aus Dunkelheit. Die Luft schmeckte alt und verwittert. Unentwegt hörte er seinen eigenen Herzschlag in der Brust wummern. Es war das einzige Geräusch neben den schweren Stiefeln der Aufseher, die ihn immer tiefer in die Finsternis des Verlieses trieben.

Zum wiederholten Mal versuchte er halbherzig, sich der engen Fesseln zu entledigen, die seine schmerzenden Handgelenke umfassten. Die kurzen Ketten erzeugten klirrende Geräusche. Mittlerweile hatte er das Gefühl, dass ihn die Wachmänner direkt in die Arme des Abyss führten – jene farben- und freudlose Unterwelt, in der nur Kälte und Tod existierten. Und aus deren Tiefe es niemals ein Zurück gab.

Vor einer winzigen Zelle machte der Tross endlich Halt. »Geh da rein«, raunzte einer der Soldaten hinter ihm. Azrael schreckte auf. Es waren die ersten Stimmen, die er seit Stunden vernommen hatte. Jedes gesprochene Wort hörte sich kalt und hohl an.

»Nein«, krächzte der Deva störrisch. Alles in ihm sträubte sich, der Aufforderung Folge zu leisten. Zwei mit Spinnweben bedeckte Gerippe starrten ihm aus der Dunkelheit entgegen. Sie kauerten eng umschlungen beieinander – wie Liebende, die ihre letzten Stunden Arm in Arm verbracht hatten.

»Nun mach schon!« Der rüde Stoß des Mannes ließ ihn unkontrolliert nach vorn taumeln. Azrael versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, doch seine Beine drohten ihm den Dienst zu versagen. Es gelang ihm knapp, sich an der kalten Mauerfassade abzustützen. Seine Knie zitterten. Mühsam wollte er sich zu seiner vollen Größe aufrichten. Dann durchfuhr ein heftiger Schmerz seinen Rücken. Der Tritt des Aufsehers ließ ihn aufheulen. Azrael fiel seitwärts und blieb stöhnend liegen. Schwerfällig dreht er sich auf den Bauch, stemmte sich auf alle viere und biss die Zähne zusammen. »Leck mich doch!«

Er sah den Stiefel zu spät kommen, der ihn mitten ins Gesicht traf. Vor seinem inneren Auge explodierten bunte Sterne. Er fiel erneut, schlug mit dem Kopf auf dem betonierten Fundament auf. Warmes Blut quoll ihm aus der Nase, schimmernd wie Quecksilber.

Erneut versuchte er sich aufzurichten. Diesmal aber erst, nachdem die Soldaten die Kerkertür mit schadenfrohem Gelächter zugeschlagen hatten. Die unzähligen Prellungen und Platzwunden, die seinen Körper übersäten, schienen unter seiner Haut zu pulsieren. Als hätte die Glut dieses letzten Trittes das Feuer des Schmerzes von Neuem entfacht. Sein Schädel pochte. Kleine rote Funken tanzten ihm vor Augen. Sein Magen war ein einziger rumorender Vulkan, der in seinen brodelnden Eingeweiden zu platzen drohte. Der saure Geschmack von Magensaft kroch seine Kehle hinauf. Doch der sich ankündigende Brechreiz blieb aus.

Azraels Gedanken führten einen Taumeltanz auf. Wo war er hier nur gelandet? Wo hatten sie Iskat und Liorit hingebracht? Was war mit Lilith geschehen? So viele Fragen. Aber er war nicht in der Lage, die unzähligen Puzzlestücke zu einer Antwort zusammenzuführen. Nach Atem ringend schloss er die Augen, rieb sich die pochenden Schläfen. Erinnerungen an die letzten Minuten vor seiner Gefangennahme kamen in ihm auf. Der Plan, Lilith zu befreien, der Hinterhalt, der erbitterte Kampf im Teufelsschlund. Dann war da diese Kutsche gewesen, die führerlos durch die Klamm schlingerte. Und Eris, die an Liliths Stelle dort gesessen hatte, ein sardonisches Lächeln auf den Lippen.

Alles fügte sich langsam wieder zu einem Bild zusammen. Sein Plan und ihre List – die Täuschung der Erinnyen. Azraels fataler Irrtum. All dies schien hinter einer verschwommenen Nebelwand zu liegen, die sich allmählich lichtete. Und durch ihren grauen Schleier sprach die Nachtschwester zu ihm, verschlagen und missgünstig. Als stünde sie ihm erneut gegenüber: »Wenn ich deine Seele nicht unversehrt haben kann, dann lege ich sie in Trümmer. Stück für Stück, bis nichts mehr von dir übrig ist.«

Am Ende hat sie gesiegt. Die Erkenntnis erzeugte einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Ein Schauder überfiel ihn. Er vernahm tief in seinem Herzen eine schwere Woge – Trauer, Zorn, Wut, Enttäuschung. Krampfhaft hielt er seine Tränen zurück, bis er wieder genügend Stärke aufbrachte, sie hinunterzuschlucken. Verzweifelt hämmerte er mit den Fäusten gegen die moosbewachsene Mauerfassade. Dann sank er frierend in sich zusammen, die Arme eng um den Körper geschlungen, in die Dunkelheit starrend. Nach einer Weile ließen schwere Schritte Azrael aufhorchen. Der Eingang seiner Zelle wurde jäh von zwei rötlich leuchtenden Pechfackeln beschienen. Die Schatten der Aufseher schoben sich durch die vom Feuer erhellten Gitterstäbe.

»Sieh dir den mal an«, lachte einer der Soldaten. »Sitzt da wie ein Wickelkind.«

Die zweite Stimme antwortete hohnspottend: »Ist ja nicht mitanzusehen!« Einer der zwei kam näher. Starrte unverwandt und mit zorniger Verachtung auf ihn herab. »Sag mal, Abschaum, wie ist das eigentlich so, wenn die eigene Rasse ausstirbt?« Er spuckte auf den Boden. »Du solltest froh sein, wenn du bald tot bist. Nutzloses Ungeziefer.«

Verbissen ballte Azrael die schmerzenden Fäuste. Seine Stimme vibrierte vor Zorn: »Gib mir ein Schwert, Ascaner. Dann werde ich dir zeigen, wie nützlich ich sein kann.«

Der Soldat trat näher, bis seine Nasenspitze die Eisenstangen berührte. Seine Hände ergriffen den kalten Stahl. »Halt’s Maul, ja? Sonst schlagen wir dich windelweich.«

»Leicht gesagt«, entgegnete Azrael gereizt. Er erhob sich mit bebender Brust und trat seinerseits knurrend auf den Aufseher zu, der sein bleiches Buttermilchgesicht gegen die Gitterstangen presste. »Wenn diese Tür nicht zwischen uns wäre, hättest du nicht mehr so eine große Schnauze, wetten?«

»Du wagst es!« Der Mann hielt den Atem an.

Azrael fuhr fort: »Na los, komm schon. Du bist ein Held deines Volkes. Wenn du mich erschlägst, werden sie ganz bestimmt Lieder darüber singen. Vielleicht errichten sie sogar ein Denkmal für dich.«

Er wankte näher an den Ascaner heran, bis nur noch die schwere Tür mit ihren dicken Gitterstäben zwischen ihnen stand. Im Licht der Fackel erkannte er seine geweiteten Iriden, in denen Furcht und verletzter Stolz gleichermaßen aufglommen. Azrael entblößte mit einem boshaften Lächeln seine raubtierhaften Zähne. »Aber wenn ich gewinne, pisse ich auf deinen Leichnam und singe meine eigenen Lobeslieder.«

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, fummelte der junge Soldat mit nervösen Fingern an seinem Gürtel herum. Seine auffällig helle Stimme bebte vor Erregung: »Das werden wir sehen. Das werden wir gleich sehen!«

Der Deva vernahm ein stählernes Klirren. Es war das Lied der Freiheit, gespielt von einem Narren. Und er sang gerade die letzte Melodie seines Lebens. Doch ehe er den richtigen Schlüssel gefunden hatte, griff sein Nebenmann energisch nach der Rolle. »Hey, lass den Blödsinn.«

Der Wachmann zog seinerseits an dem Bund, den er nicht losließ. »Ich werd´s ihm zeigen, Victor. Ich zeig ihm, aus was für einem Holz ich geschnitzt bin!«

Die Soldaten zogen und zerrten abwechselnd an dem Schlüsselbund, doch keiner von beiden gewann die Oberhand. Schließlich nahm Victor seine freie Hand zur Hilfe und verpasste Buttermilchgesicht eine schallende Ohrfeige. Dieser starrte ihn fassungslos an. Der Mann erklärte streng: »Mach keinen Scheiß, du Gipskopf. Der will dich nur austricksen, kapiert?« Mit der Faust klopfte er ihm gegen die Stirn und wandte sich dann fluchend ab. Enttäuscht stellte Azrael fest, dass er den Schlüsselbund an sich genommen hatte.

»Versucht es ruhig zu zweit«, setzte der Deva lautstark nach. »Ihr habt nicht den Mumm, es mit mir aufzunehmen.«

Victor kehrte lediglich auf dem Absatz um, einen zornigen Ausdruck im Gesicht und den Zeigefinger drohend auf ihn gerichtet. »Du hältst jetzt den Rand, Gefangener. Ansonsten hol ich einen Prügel und schlag dir eigenhändig den Schädel ein!« Mit diesen Worten packte er Buttermilchgesicht am Arm und zog ihn außer Sichtweite.

Seufzend schlurfte Azrael zurück in den stockfinsteren Teil der Zelle. Dort ließ er sich gegen die Wand hinter seinem Rücken sinken. »Das war meine letzte Chance«, murmelte er mit belegter Stimme. Müde schloss er die Augen und wartete, bis sich ein dämmriger Schleier über seine Sinne legte.

5. INTERESSENKONFLIKTE

TROMPETENLÄRM SCHALLTE DURCH die reich dekorierte Empfangshalle von Isenfaust. Arthur kämpfte sich missmutig durch das Gedränge. Wo man hinsah, standen Frauen und Männer in farbenfrohen Gewändern herum. Sie tuschelten, lachten, tranken. Er erblickte Tänzer, Gaukler und Zauberkünstler, die mit ihren Vorführungen um die Gunst der Gäste warben. Eine Armee an vielarmigen Kronleuchtern hatte diesen Ort in ein Meer aus Licht und fiebrigen Schemen verwandelt, die sich tanzend über die Wände bewegten. Selbst die Gewölberippen waren mit bunten Girlanden behangen. Arthur ließ sie unbeachtet. Der Lärm der Trompeten und die vielen Stimmen bereiteten ihm Kopfschmerzen.

Um strenger zu wirken, hatte er sein mittellanges schwarzes Haar zu einem Dutt zusammengebunden. Und unter dem essigroten Waffenrock trug er ein Kettenhemd. Dass ihn die Kämpfer seines neuen Lehnsherrn dafür ausgelacht hatten, kümmerte ihn nicht. Kurz hielt er inne, um sich auf die Zehenspitzen zu stellen. Sein Blick schweifte prüfend durch das Rund. »Wo treibt sich diese

Göre nur herum?«, brummte er ungehalten. Von der Prinzessin war weit und breit nichts zu sehen. Nach einer Weile gelang es ihm immerhin, Trajan ausfindig zu machen. Der Hauptmann stand gestikulierend inmitten einer illustren Menschentraube, in seiner rechten Hand ein wuchtiger Messingkrug.

Kopfschüttelnd arbeitete sich der junge Soldat bis zu der Gruppe vor, wobei er sich mit beiden Armen energisch Platz verschaffte.

Nachdem Trajan ihn bemerkt hatte, brüllte er lautstark seinen Namen über die Köpfe der Gäste hinweg. Die Schaumkrone seines Getränks schwappte gefährlich hin und her. »Ah, da ist er ja, mein Lieblingsleibwächter. Komm, lass uns trinken.« Er riss einem der umstehenden Gäste dessen Krug aus der Hand und drückte ihn Arthur an die Brust, wobei der Inhalt überlief und dessen Rock befleckte. »Darf ich dir den berühmten Barden Shay vorstellen? Er wird uns heute Abend Sycarus’ berühmteste Ballade vortragen: Martyrium und Dornenweg.«

Seufzend nahm Arthur das Bier entgegen, ohne einen Schluck zu trinken. Er zog eine unglückliche Miene. »Jetzt nicht, Trajan. Ich suche die Prinzessin. Habt Ihr sie gesehen?«

»Arthur«, tadelte ihn der Hauptmann mit einer volltönigen Lachsalve. »Niemand wird ihr heute etwas zuleide tun.«

»Dieses Fest ist ein schlechter Scherz«, echauffierte sich der junge Söldner. »Noch vor wenigen Wochen hättet Ihr mich am liebsten nackt ausgezogen. Und jetzt feiert die halbe Stadt hier im Palast. Ohne Einlasskontrollen! Das ergibt doch keinen Sinn.«

In einem überschwänglichen Anflug von Heiterkeit warf ihm der Hauptmann einen Arm um die Schultern, wobei erneut etwas Gerstensaft überlief und auf seiner Hose landete. »Arthur, mein lieber Arthur, habe ich dir doch schon erklärt! Das Fest der Bittsteller ist eine uralte sycarische Tradition. Wir feiern unseren Unabhängigkeitstag.«

»Eine Unabhängigkeit, die es nicht mehr gibt«, korrigierte ihn Arthur verständnislos.

Trajan breitete die Arme aus und machte ein verblüfftes Gesicht. »Tradition ist Tradition. Gibt es so etwas in Iram nicht?«

Arthur schüttelte betroffen den Kopf. »Bevor die Thyrr meine Heimat verwüsteten, haben wir kleine Feste gefeiert. Aber nie so etwas … Pompöses.«

Mit wachsendem Unbehagen bemerkte er, dass die Gruppe Adliger um den Barden Shay ihm abschätzige Blicke zuwarf. Dem Hauptmann der Palastwache entging das ebenfalls nicht, und er zog ihn fort. »Dieses Fest findet seit hundert Jahren statt«, krächzte er. »Ließen wir es ausfallen, würden wir dem Fußvolk das Gefühl geben, dass etwas nicht stimmt.«

Arthurs Stirn zog sich weiter zusammen. »Es wäre die Wahrheit. Wie sonst sollte man es nennen, wenn die Sonne monatelang nicht mehr aufgeht?«

Trajan klopfte ihm ruppig auf die Schulter. »Die Wahrheit ist immer das, was wir daraus machen. Das wirst du früher oder später noch herausfinden. Also? Was hast du vom alten Trajan gelernt?«

Arthur rollte mit den Augen, tat aber dann, was von ihm verlangt wurde: »Am Tag der Bittsteller können alle vor den König von Sycarus treten und ihre Anliegen vortragen.«

»Richtig«, nickte Trajan zufrieden. »Ganz gleich, welche Stellung oder welches Geschlecht sie haben. Natürlich muss der Wunsch erfüllbar sein. Ein Bettler kann keinen Reichtum beanspruchen, und ein Deva kann sich nicht aus der Sklaverei befreien. Aber natürlich könnte er um einen freien Tag bitten.«

»Wurde so was schon mal erbeten?«, hakte Arthur ungläubig nach. Die Vorstellung, dass ein Deva-Sklave vor seinen Herrn treten und sich etwas wünschen durfte, wie all die hart arbeitenden Männer und Frauen, erschien ihm absurd.

Trajan brach in schadenfrohes Gelächter aus. »Wo denkst du hin? Natürlich könnten sie darum bitten. Aber wir lassen dieses Ungeziefer nicht vortreten. Es ist das Vorrecht der Palastwache, zu entscheiden, wem wir dieses Privileg aus … Sicherheitsgründen verwehren. Und glaube mir, ich würde niemals zulassen, dass ein Deva den Platz eines ehrlich arbeitenden Sycarers bekommt.«

»Vollkommen zurecht«, pflichtete Arthur ihm mit einem steifen Nicken bei. »Das würde ein völlig falsches Signal senden.«

»Wie wahr, wie wahr.« Der Blick des Hauptmannes verklärte sich nachdenklich. »Schon schlimm genug, dass wir ihre Anwesenheit hier erdulden müssen. Nach allem, was passiert ist.« Er mahlte erbost mit den Kiefern, seine Aufmerksamkeit stierend auf etwas gerichtet, das sich zwischen den umstehenden Gästen abspielte. Arthur bemerkte das Devakind ebenfalls. Es trug wie alle Sklaven zerschlissene Lumpen und versuchte mit ungelenken Bewegungen, ein voll beladenes Tablett mit Bratenscheiben zu balancieren.

»Sieh es dir an, Arthur«, murmelte Trajan grimmig. »Ihr Nachwuchs ist am schlimmsten. Hölzern, unzuverlässig, zu nichts wirklich zu gebrauchen. Sie sind wie Fremdkörper in unserer Gemeinschaft, wie Tiere. Sie sollten in einem Käfig sein und nicht unter unseresgleichen hausen dürfen.«

Arthur pflichtete ihm abermals wortlos bei und gab dem Mann seinen tropfenden Messingkrug zurück. Plötzlich fühlte er sich in der Anwesenheit Trajans unbehaglich. »Ich werde jetzt mal besser nach Fräulein von und zu Macht-was-sie-Will Ausschau halten.«

»Tu das«, entgegnete der Hauptmann abwesend. Seine Augen verfolgten wachsam jede Bewegung des Jungen, während er auf seiner Unterlippe herumkaute.

Arthur entfernte sich eiligen Fußes, um erneut in das hektische Getümmel abzutauchen. Das fulminante Trompetengetöse war endlich verstummt. Stattdessen erklangen schwermütig die tiefen Klänge eines Cello-Ensembles. Diener trugen dampfende Töpfe an ihm vorbei. Der Duft würziger Kräuter stieg Arthur in die Nase. Vergeblich versuchte er, seinen knurrenden Magen zum Schweigen zu bringen. Die Pflicht war heute Morgen wichtiger gewesen, und das war sie auch jetzt. Wo zum Henker hielt sich diese Göre nur auf? Der Gedanke, dass der Prinzessin etwas zustoßen könnte, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn. »Sie werden mich hängen«, murmelte er in sich hinein und beschleunigte seine Schritte.

Er bemerkte den Sklaven zu spät, der ein Tablett über dem Kopf trug und seinen Weg kreuzte. Ungesehen prallte er mit ihm zusammen, wobei das Kind stürzte – Becher und Gläser fielen klirrend zu Boden.

»Kannst du nicht aufpassen?«, brüllte Arthur erzürnt.

Der Junge rappelte sich unbeholfen auf. Süßlich duftender Wein breitete sich zu seinen Füßen wie eine Pfütze aus Blut aus. Arthur sah den Schrecken in seinen geweiteten Augen. Es war der Devajunge, den Trajan und er zuvor beobachtet hatten. Er war dünn und im Gegensatz zu seinen ausgewachsenen Artgenossen nicht größer als ein Menschenkind. Arthur ballte zornig die Fäuste. »Wie lautet dein Name, Hausbursche?«

Der Junge öffnete den Mund, doch er brachte vor Schrecken keinen Ton heraus, währenddessen die Pfütze zu seinen Füßen immer größer wurde. Arthur schrie ihn erneut an: »Wie dein Name lautet? Bist du taub?«

»Sein Name ist Micah.« Hinter dem Kind tauchten zwei hünenhafte Kreaturen auf. Sie trugen ebenfalls abgetragene Lumpen, doch ihre Bewegungen waren außerordentlich geschmeidig. Der Junge war dem Männchen wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gleichen ausdrucksstarken grünen Augen, dieselben elbengleichen Gesichtszüge. Arthur fühlte sich im Angesicht dieses Wesens plötzlich unerhört klein. Er konnte es sich nicht erklären. Kein Mensch besaß diese Erhabenheit und Ausstrahlung, von der Körpergröße ganz zu schweigen.

Dennoch sind sie Sklaven, nur Sklaven, versuchte er sich selbst Mut zuzusprechen. Arthur trat entschlossen vor und legte den Kopf in den Nacken. »Habt Ihr Eurem Sohn nichts beigebracht, Sklave?«

Dieser antwortete bedacht, wobei seiner Stimme der Klang einer warmen Melodie innewohnte: »Ich habe ihm beigebracht, sich Euch gegenüber respektvoll zu verhalten. Bedauerlich, dass Ihr dies nicht zu erwidern wisst.«

»Hütet Eure Zunge, Sklave«, knurrte Arthur zähneknirschend.

Der Deva ließ sich nicht aus der Reserve locken. Stattdessen entgegnete er stoisch: »Mein Name ist Tanael. Ich war der erste Ve´lar von Sura dem Großen. Seine rechte Hand, wenn man so will.«

Arthur wischte die Antwort mit einer entschiedenen Geste fort. »Ist mir völlig gleich! Jetzt seid Ihr ein Sklave und solltet Euch auch so verhalten.«

»Ihr seid ein böser Mann«, geriet das Weibchen neben Tanael außer sich. Ihre hellblauen Augen schimmerten wie Teiche im Frühdämmer. Arthur war sich nicht sicher, ob sie gleich weinen oder schreien würde.

Der junge Söldner war bereits im Begriff, zornig aufzufahren, doch Tanael kam ihm zuvor. Beschwichtigend legte er ihr einen Arm um die Schulter. »Lass es gut sein, Cecil. Er hat natürlich recht. Er trägt die Peitsche, wir die Ketten. Wünschen wir ihm, dass es ihm niemals genauso ergehen wird wie uns.« Mit diesen Worten nahmen sie den jungen Micah schützend in ihre Mitte.

Arthur kehrte seinerseits schimpfend auf dem Absatz um … und erstarrte. Ihm gegenüber stand Prinzessin Yasmin. Wie zumeist war ihre Zofe Ailis bei ihr. Das Herz drohte ihm in die Hose zu rutschen. Ihren vernichtenden Gesichtsausdrücken nach zu urteilen, hatten sie die ganze Posse mitangesehen. Unvermittelt verstummten die Cellos und hinterließen ein nicht weniger erdrückendes Schweigen.

»Euer Gnaden.« Arthur verbeugte sich unbeholfen. »Ich muss Euch im Auge behalten. Ihr macht mir meine Arbeit nicht leichter, wenn Ihr andauernd –«

Yasmin schnitt ihm das Wort ab: »Bereitet es Euch Vergnügen, ein Kind so entwürdigend zu behandeln?«

»Euer Gnaden –«

»Ihr solltet Euch schämen!«

Einer der anderen Pagen war inzwischen mit Lumpen und Eimer an ihr vorbeigeeilt. Sie trat an ihn heran und nahm ihm beides aus der Hand, um die Pfütze eigenhändig aufzuwischen. Arthur bemerkte, wie ihm abwechselnd heiß und kalt wurde. Um sie herum trieb es die Menschen langsam in Richtung der Bühne auf der anderen Seite des Saals. Doch er konnte seinen Blick nicht vom Antlitz der Prinzessin abwenden. Ihre Augen glänzten wild, Zorn hatte ihre blassen Wangen rötlich gefärbt. »Warum nur seid Ihr so ein unerhört böser Mensch, Arthur?«, fragte sie, während sie den Lumpen auswrang.

»Devakinder sind oft ungehorsam«, versuchte er sich stockend zu rechtfertigen. »Sie bräuchten Disziplin und eine harte Hand.« Eine Lektion, die er von Trajan übernommen hatte, aber das sagte er ihr vorsichtshalber nicht.

»Er ist einfach ein Grobian«, stimmte Ailis ihrer Herrin in geringschätzigem Tonfall zu. »Ein richtiger Mistkerl.«

»Ihr wagt es, mich zu beleidigen?« Arthur schnappte vor Empörung nach Luft. »Vielleicht seid Ihr es, meine Holde, die eine Lektion in Sachen Respekt benötigt.«

Unbeeindruckt trat Ailis ihm entgegen. Sie rümpfte die Nase. »Ihr seid nur ein weiterer schäbiger Halunke. In Zukunft sprecht Ihr nur noch mit meiner Herrin, wenn sie Euch dazu auffordert, ist das klar?«

Arthur unterdrückte den Impuls, sie zu ohrfeigen. Stattdessen ballte er hinter dem Rücken die Hand zur Faust, bis seine Knöchel knackten. »Und wer seid Ihr, mir das vorzuschreiben?«

Bevor sie antworten konnte, warf Yasmin den klatschnassen Lumpen in den Eimer und drückte ihn Arthur in die Hände. Mit einem zuckersüßen Lächeln legte sie den Kopf an die Wange ihrer Begleiterin. »Ailis, mein Schatz. Dieser Bauerntrampel weiß es nicht besser. Lassen wir Gnade vor Recht ergehen. Sonst muss der arme Trajan morgen schon wieder einen Leibwächter für mich suchen.«

Arthur schluckte eine bissige Antwort hinunter. Es war nicht schlau, mit der Tochter seines Lehnsherrn zu streiten. Doch aus einem ihm unerfindlichen Grund wäre er vor Scham am liebsten im Boden versunken.

Prinzessin Yasmin löste sich aus Ailis Umarmung. Ihr Lächeln verschwand, und Ihre Augen fixierten ihn regelrecht. »Ich will das Fest genießen«, erklärte sie mit Nachdruck. »Das kann ich nicht, wenn Ihr mir ständig hinterherrennt wie ein räudiger Hund.«

Arthur atmete einmal tief durch. »Bitte, es geht mir doch nur um Eure Sicherheit.«

»Es geht Euch darum, Euren Sold zu erhalten. Und Sklaven zu quälen. Ich kenne Männer wie Euch.«

»Ich fürchte, es gibt noch ganz andere Männer«, entgegnete er kühl, ohne sich von ihren Augen zu lösen. Gleichzeitig schien sein Herz unter der Brust einen Salto zu schlagen.

Yasmin hob herausfordernd das Kinn, ehe sie ihren Arm erneut um die Schulter ihrer Zofe legte.

»Ailis gibt auf mich acht. Sie ist eine bessere Beschützerin, als Ihr es jemals sein könntet. Und nun möchte ich nicht mehr belästigt werden. Ach ja, den Lumpen könnt Ihr entsorgen. Diese Aufgabe sollte Eures Standes angemessen sein.«

Gemeinsam stolzierten sie davon. Arthur starrte fassungslos auf den baumelnden Eimer in seiner Hand, ehe seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt wurde. Unter dem Torbogen der Empfangshalle stand ein dunkelhäutiger Mann im Hirschfellmantel. Ihre Blicke trafen sich und das elegische Spiel der Musiker schwoll mit Macht zu seinem Finale an.