Wählermärkte - Karl-Rudolf Korte - E-Book

Wählermärkte E-Book

Karl-Rudolf Korte

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Beschreibung

Wie regiert die Berliner Ampel? Was haben Scholz, Habeck, Baerbock und Lindner aus dem Votum der Wähler gemacht? Was geschieht nach Bundestagswahlen mit unserer abgegebenen Stimme? Nach welchen Kriterien entscheiden die Deutschen überhaupt, wen sie wählen? Und wie stellen sich die politischen Akteure darauf ein? Karl-Rudolf Korte, einer der besten Kenner des politischen Betriebs der Bundesrepublik, geht diesen Fragen anhand der Metapher des Wochenmarktes auf den Grund. Denn Märkte sind Gespräche, sie sind der Grundstoff für die Beziehungen zwischen Wählern und Politikern. Die pragmatischen Deutschen sind – so Korte in diesem pointiert formulierten Essay – sicherheitsorientiert. Sie wählen mehrheitlich politisch moderat und mittig, sie sind eingebunden in den Westen und lassen sich eher von aufregungsresistenten Amtsinhabern als von Populisten regieren. Wenngleich Wähler extremer Parteien, Nicht-Wähler, Protestbewegungen und autoritäre Versuchungen durch manipulative Unwahrheiten auch in Deutschland zunehmen: Korte plädiert aus seiner langjährigen Wahlforschung heraus, künftigen Wahlen in Deutschland mit Gelassenheit und Zuversicht entgegenzusehen.

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Karl-Rudolf Korte

Wählermärkte

Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Wie regiert die Berliner Ampel? Was haben Scholz, Habeck, Baerbock und Lindner aus dem Votum der Wähler gemacht? Was geschieht nach Bundestagswahlen mit unserer abgegebenen Stimme? Nach welchen Kriterien entscheiden die Deutschen überhaupt, wen sie wählen? Und wie stellen sich die politischen Akteure darauf ein? Karl-Rudolf Korte, einer der besten Kenner des politischen Betriebs der Bundesrepublik, geht diesen Fragen anhand der Metapher des Wochenmarktes auf den Grund. Denn Märkte sind Gespräche, sie sind der Grundstoff für die Beziehungen zwischen Wählern und Politikern. Die pragmatischen Deutschen sind – so Korte in diesem pointiert formulierten Essay – sicherheitsorientiert. Sie wählen mehrheitlich politisch moderat und mittig, sie sind eingebunden in den Westen und lassen sich eher von aufregungsresistenten Amtsinhabern als von Populisten regieren. Wenngleich Wähler extremer Parteien, Nicht-Wähler, Protestbewegungen und autoritäre Versuchungen durch manipulative Unwahrheiten auch in Deutschland zunehmen: Korte plädiert aus seiner langjährigen Wahlforschung heraus, künftigen Wahlen in Deutschland mit Gelassenheit und Zuversicht entgegenzusehen.

Vita

Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden die Regierungs-, Parteien- und die Wahlforschung. Einer breiten Öffentlichkeit ist Korte durch regelmäßige Auftritte und treffende Analysen im ZDF, Deutschlandfunk, WDR, SWR und bei Phoenix bekannt.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

1.

Marktbesuche: Bunte Auswahl

Die Orte der Begegnung

Die Metapher des Wochenmarktes

2.

Wählermarkt: Dynamik der Unverbindlichkeit

Wahlrecht als Machtfrage

Politisch-kulturelle Einordnungen

Wählermärkte bei der Bundestagswahl 2021

Das Virus entschied den Ausgang der Bundestagswahl

Ohne Kanzlerbonus und ohne Wechselstimmung

Wahlkampf als Achterbahnfahrt und Umfragekampf

Eine Typologie der wählerischen Wähler

Durchschnittswähler

Nicht-Wähler

Stammwähler

Früh- und Spätwähler

Wechselwähler

Paradoxe Wähler

Koalitionswähler

Fans des Erfolgs-Wähler

Status-quo-Wähler

Selbstüberschätzende Wähler

Layout-Wähler

Protestwähler

Die wählerischen Wähler auf dem Markt

3.

Entscheidungsmarkt: Unberechenbarkeit als Prinzip

Der Stoff des Politischen

Die Lageeinschätzung des Akteurs

Die Komplexität des Geschehens

Die Arenen des Politikmanagements

Der Gewissheitsschwund auf dem Entscheidungsmarkt

4.

Parteien- und Koalitionsmarkt: Dominante politische Mitte

Bürgerliche Mitten: moderat, mittig, mittelmäßig

Die Bundestagwahl 2013: Ein halber Machtwechsel

Das Überraschende am Wahlergebnis

Wählertypen und Wahlkampfkommunikation

Beschleunigung und Gründung der AfD

Kollaborative Wahlprogrammformulierung

Das Politisch-Romantische am Wahlergebnis 2013

Das Richtungspolitische am Wahlergebnis 2013

Das Europäische am Wahlergebnis

Das Konservativ-Fortschrittliche am Wahlergebnis 2013

Das Postheroische am Wahlergebnis

Die Bundestagswahl 2017: Ein Plebiszit über die Flüchtlingspolitik

Strukturmuster der Wahlentscheidung

Personalisierung und Stil-Pluralität

Thematisierung und Agenda-Setting 2017

Die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten

Machtwechsel-Typen in Deutschland

5.

Medien- und Führungsmarkt: Doppelte Gesprächsstörungen

Legitimation durch Kommunikation

Die Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers

Politische Kommunikation in der Darstellungs- und Entscheidungspolitik

Politikmanagement und Kommunikation

Gestörte Resonanzbeziehungen

Umgang mit Nichtwissen und Wahrheitsmärkten

Früh-Digitalisierung als Pluralisierung von Öffentlichkeiten

Zwei Kommunikations- und Führungstypen

6.

Erwartungsmarkt: Mehrheiten für Unpopuläres

Der Modus des Veränderns

Das Politikmanagement der Transformation

Die Agenten des Wandels

Die Resilienz als Ressource des Wandels

»Lost in Transformation«

7.

Markteinkäufe: Pragmatische Sicherheitsdeutsche

Verdachtsbestimmter Wahlkalender

Was ist neu am Phänomen der AfD?

Was ist alt am Phänomen der AfD?

Was verspricht Auswege?

Soziale Infrastruktur und Zumutungsmut

Dank

Anmerkungen

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Literatur

Personenregister

Sachregister

1.Marktbesuche: Bunte Auswahl

Der Markt ist kein Modellgeber der Demokratie. Märkte regeln nichts. Wenn überhaupt, dann gehört die soziale Marktwirtschaft zum konstitutiven Teil des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Die für das Buch leitende Metapher des Marktes bezieht sich nicht generell auf den Markt, sondern auf den Wochenmarkt, wie man ihn aus vielen Städten und Dörfern unseres Gemeinwesens kennt. Solche Märkte haben durchaus Demokratiequalität. Dort wird nicht nur gekauft, sondern auch gesprochen. Der Markt ist in meinem Erklärmuster ein Forum der Begegnung und des Austauschs.1

Wo existieren – vergleichbar dicht – Vielfalt und Auswahl, die Begegnungen möglich machen? Aus dem Miteinander beim Handeln und Sprechen entsteht politische Macht. Sie ist eine Frage der Beziehung, stets relational. Demokratie ist organisierte Freiheit. Auf dem Markt leben wir organisierte und zufällige Praktiken der Einbeziehung des Anderen. Aus der Begegnung und der sozialen Energie entwickelt sich der Grundstoff von Gemeinschaftsbildungen. Nur die Differenz im Einzelnen kann Quelle sein für kollektive Identität im Ganzen, für Zugehörigkeiten. Und die ist erforderlich, wenn mit legitimierter Macht kollektive Mehrheitsentscheidungen zu treffen sind, die wiederum alle akzeptieren.

Die Orte der Begegnung

Im Lockdown der Coronazeit fehlten auch Marktstände. Die »Coronakratie« war eine Distanzdemokratie, ein politisches System ohne Begegnung. Das gefährdete unsere Freiheit. Es förderte Vereinsamung und Gereiztheit ebenso wie schlechte Laune. Die Öffentlichkeit war extrem fragmentiert. Vieles davon ist weiterhin wirkungsmächtig.

Orte der Begegnung, urbane Marktplätze, öffentliche Räume enthalten durch Zusammenkunft den Schlüssel unseres Zusammenlebens. Ortsmomente entstehen dort durch wechselseitige Zumutungen, durch lebhafte und kontroverse Diskurse, durch lebendigen Vokabelüberschuss, durch verbindliche Vereinbarungen. Marktplätze sind Ausdruck einer Bewegungsdemokratie. Sie enthalten ein Versprechen. Hier existieren Räume der Überschneidung, wo sich sehr unterschiedliche Bürger2 absichtsvoll oder beiläufig austauschen können – ein sozialer Raum als Demokratieerlebnis. Idealerweise befriedigt eine derartige öffentliche Infrastruktur auch paradoxe Bedürfnisse wie das Verlangen nach Nähe und Fernsucht zugleich. Es sind Orte des Verweilens ebenso wie des Vorbeilaufens.3

Märkte sind Orte für Gespräche. Und um sie soll es im vorliegenden Buch gehen. Denn sie sind der Grundstoff für Wählerbeziehungen. Durch sie entstehen Wählermärkte und Regierungen. Deshalb eignet sich der Wochenmarkt sowohl als Anschauungsort der Demokratie wie auch als Metapher für Beziehungsspiele und Resonanzräume.

Flanieren kommt auf dem Wochenmarkt vor. Doch meistens steuern die Besucher gezielt die Ware an, die man kaufen möchte. Man kennt den Stand und man kennt sich. Neben den Standard-Einkäufen bietet der Markt durch Buntheit, Enge und Vielfalt auch Chancen, neue Produkte einzukaufen. Neben Auswahldichte stehen der persönliche Kontakt, die Beratung und eine Chance auf gemeinschaftliche Erfahrungen. Natürlich sind das Vorstellungen eines idealen Marktes, leicht romantisch verklärt. Es gibt auch oft Tristesse, Fremdheit, Rivalität und asozial anmutende Praktiken des Marktgeschehens. Online-Shoppen ist zudem wetterunabhängiger und umfassender. Es gibt insofern auch eine offensive Marktvermeidung.

Die Marktteilnehmer beeinflussen durch Nachfragen das Angebot der Markttreiber. In der Kundendemokratie steuern durchaus auch Angebot und Nachfrage das politische Programm. Wahlen sind oft Ausdruck eines Tagesplebiszits. Gleichzeitig existiert aber auch eine Stammkundschaft, die sich durch Treue zu den Produkten und zum politischen Personal auszeichnet. Insofern passt die Metapher von Märkten gut, um einige wahlbedingte Interaktionsmuster zwischen den Bürgern und der Politik in unserer Demokratie zu erklären. Auf den Märkten versammeln sich Bürger in einem Kommunikationsraum um Waren. Kommunikation ist unverzichtbar, nicht nur beim Marktbesuch. Interpersonale Kommunikation löst etwas aus. Sie kann überredend daherkommen. Man weiß mittlerweile, dass von dieser Art der Gespräche politische Einstellungen, mithin auch Wahlentscheidungen abhängen. Es ist häufig nicht das, was man sieht, hört, liest, wischt, was die Einstellungen prägt, sondern eher das, was man aus dem Gesehenen, dem Gehörten, dem Gelesenen, dem Weggewischten der sozialen Medien in interpersonaler Kommunikation macht. Was man daraus macht, verfestigt Einstellungen. In der Wahlforschung nennt man das »interpersonale Anschlusskommunikation«4. Was aus den Gesprächen auf dem Markt wird, ist vielschichtig bedeutend. Es kann Wissen erweitern, Engagement fördern, moralisch aufladen, Bedeutungen und Relevanzen von Informationen zuordnen und darüber hinaus Wirklichkeiten formen. Kundenkommunikation ist dabei ebenso wichtig wie die Aufenthaltsqualität auf dem Markt generell. Denn nur so kommt es potenziell zum Gespräch miteinander und übereinander. Die Wirkungskraft dieser interpersonalen Kommunikation hängt vor allem mit der weniger zweckgerichteten Glaubwürdigkeit im vertrauten, persönlichen Umfeld zusammen.

Die Metapher des Wochenmarktes

Märkte können als eine Form der Kommunikation und Interaktion zwischen den Teilnehmern verstanden werden, bei denen Angebot und Nachfrage über den Preis eines Gutes oder einer Dienstleistung verhandelt werden. Auf Wählermärkten können politische Parteien und Wähler über politische Überzeugungen und Vorlieben kommunizieren und interagieren.5 Dies kann durch direkte Kommunikation, Meinungsumfragen, Abstimmungen oder Wahlen geschehen. Die Art und Weise, wie die politische Kommunikation stattfindet, kann das Verständnis und die Einschätzung der politischen Landschaft und der Wählermärkte beeinflussen. Bürger können in so einem Modell Konsumenten sein, müssen es aber nicht. Denn auch Wochenmärkten kann man problemlos seine Teilnahme verweigern, wie es millionenfach praktiziert wird, wenn man sie nicht aufsucht und online einkauft – oder einen Bogen darum macht. Nicht-Wähler agieren so. Kunden sind seit einigen Jahren grundsätzlich bereiter zum Wechseln der Produkte, die sie kaufen. Das kann auch an beiden Seiten des Verkaufsprozesses liegen, bei den Marktbeschickern ebenso wie bei den Käufern. Viele Kunden fühlen sich oft schlecht behandelt, werden übersehen, nicht ernstgenommen. Nicht-Wahl hat insofern viele Gründe. Das kann ursächlich mit Nicht-Verstehen und Nicht-Bemühen auf beiden Seiten des Verkaufstresens zusammenhängen.

Mein Bild des Marktes nutze ich zum besseren Verständnis und zur modellhaften Vereinfachung des komplexen Wahlvorgangs, der viele Einstellungs- und Verhaltensvariablen der Wählerschaft umfasst. Die Marktmetapher ist nicht neu und kann auch missverstanden werden. In ihren Demokratietheorien betrachten Joseph Schumpeter und Anthony Downs Demokratie als Markt.6 Auf diesem Markt werben politische Unternehmer um Wählerstimmen. Dort werden Wählerstimmen getauscht durch Unterstützung und Förderungen gegen Angebote der Politik. Dieses Modell ist umstritten, da es eine sehr eingeschränkte Sicht auf die politischen Prozesse und die komplexen Interaktionen in Gesellschaft und Wirtschaft bietet. So beschreibt das Modell dieses politisch-ökonomischen Ansatzes in der Politik und beim Wählen die Überlegung, dass ein freier Markt – ähnlich wie in der Wirtschaft – in politischen Entscheidungen zu einer optimalen Allokation von Ressourcen führt. Diese Überlegung stützt sich auf die Annahme, dass Individuen rational handeln und ihre Interessen auf dem Markt durch den Kauf, den Tausch und Verkauf von Gütern und Dienstleistungen ausdrücken. In der Politik bedeutet dies, dass politische Entscheidungen auf dem Prinzip des Angebots und der Nachfrage basieren sollten und dass staatliche Eingriffe in den Markt nur dann gerechtfertigt sind, wenn ein externer Effekt oder ein Marktversagen vorliegt. Demokratie ist aber keineswegs nur Handel und Tausch. Bürger sind nicht nur Konsumenten. Und ebenso wenig sind Wähler wie ein nutzenmaximierender, rationaler homo oeconomicus unterwegs. Wählerschaften sind, wie noch zu zeigen sein wird, eben auch irrational, emotional, unwissend und situativ. Die Handlungsfreiheit gleicht eher einem homo sociologicus, der durch die Gesellschaft geprägt ist und daraus Normen des individuellen und interessengeleiteten Verhaltens ableitet.

Der Wochenmarkt dient insofern nur als vereinfachter Erklärungsansatz. Er ist ein heuristisches Hilfsmittel, eine Metapher und ein Ort der Begegnung. Komplexe Wählermärkte sind keineswegs nur mit individuellem Kalkül und Präferenzen erklärbar. Wichtig bleibt für Politiker und für Parteien, auf dem Wochenmarkt präsent zu sein. Ebenso entscheidend kann sein, aus Laufkundschaft eine Stammkundschaft zu machen oder diese möglichst lange zu bedienen. Dazu ist ein ausgefeiltes Kundenbeziehungsmanagement erforderlich, was sich nicht in Wahlkämpfen erschöpfen sollte. Wer baut Kundenliebe auf? Wer beherrscht die Königsdisziplin, die Kundenbindung aus Zuneigung? Wer punktet mit Fachlichkeit und Problemlösungskompetenz? Wer versteht Kunden, begeistert sie, lädt zum Staunen ein? Das sind naheliegende Analogien, wenn man sich mit komplexen politischen Märkten auseinandersetzt.

Als Metapher tauchen Marktplätze auch in der Tradition von sogenannten kommunitaristischen Ansätzen einer sozialphilosophischen Lehre auf. Dabei werden Anbieter und Käufer in einem Interaktionskontext gesehen, der fast automatisch dazu führt, die Bedeutung von Gemeinschaftsstandards zu erhöhen. Der Austausch fördert demnach Netzwerke, soziale Beziehungen, stärkt die Gemeinschaft, schwächt individuelle Egoismen. Für die Demokratie ist das eine nützliche Perspektive. Doch auch so ein verklärend-harmonisches Bild des Zusammenlebens passt zur politischen Realität nur bedingt. Aber für die dahinterliegende Idee, durch persönliche Begegnungen die für politische Entscheidungen und Mehrheitssuche notwendigen Diskurse auf dem Forum zu vitalisieren, eignet sich auch dieser sozialphilosophische Ansatz. Grundsätzlich soll zudem die Marktmetapher nicht davon ablenken, dass ein steuernd-lenkender Staat, abseits des Marktmechanismus, Gemeinwohl sichert. Politische Handlungsmöglichkeiten gerade in unsicheren Zeiten setzen nicht nur auf Marktlogik, sondern auch immer auf staatliche Regulierung.

Nachfolgend nehme ich diese vieldimensionale Spur auf und thematisiere fünf unterschiedliche Märkte, die ich jeweils mit einer Orientierungsthese pointiere:

Wählermarkt: Wählerische Wähler prägen die Dynamik der Unverbindlichkeit. In Kapitel 2 wird gezeigt, wie Einstellungen zu Wahlhandlungen führen. Typologien der Wähler entlarven traditionelle Muster des Wählens in Deutschland. Die Volatilität des Wählens nimmt zu. Was wird wie für Kunden angeboten?

Entscheidungsmarkt: Die Unberechenbarkeit bleibt als Prinzip des Regierens und überführt Politik in den Modus des Nachbesserns. Wie lässt sich auf dem Markt etwas verkaufen und wie binde ich Kunden? Wie bringe ich Kunden dazu, etwas zu kaufen? Dazu ist es notwendig zu wissen, welche Heuristik politischer Entscheidungen vorliegt und wie sich Kaufabsichten aufbauen. Der Stoff des Politischen und die Rationalitäten des Politischen sind zu berücksichtigen. Die wechselseitige Antizipation – vor und hinter dem Marktstand – ist wichtig. Dabei ist unter den Bedingungen von Komplexität Politik heute überfordert, Probleme abschließend zu lösen. Diese Überlegungen finden sich in Kapitel 3.

Parteien- und Koalitionsmarkt: Auf dem bunten Parteien- und Koalitionsmarkt dominiert die politische Mittigkeit als Sehnsuchtsort der Deutschen. Der Parteienwettbewerb in Deutschland unterscheidet sich deutlich vom europäischen Ausland. Die Wertschätzung der politischen Mitte ragt heraus. Als Fallbeispiele dienen in Kapitel 4 die Bundestagswahlen 2013 und 2017, die gleichermaßen zu Großen Koalitionen führten. Die Parteien und Koalitionen agieren in einer Trägheitsdemokratie. Aber die Buntheit der Marktangebote hat zugenommen und die Vielfalt von Koalitionen erscheint unbegrenzt – in der politischen Mitte. Wie stabil bleibt dieses Muster des mittigen Wählens, wenn sich der Debattenraum nach rechts verlagert?

Medien- und Führungsmarkt: Die doppelten Gesprächsstörungen – zwischen Regierten und Regierenden sowie zwischen Medien und ihren Konsumenten – schaffen neue Wirklichkeiten der politischen Kommunikation. Märkte sind Kommunikationsräume, die sich stetig wandeln. Das nutzen Anbieter und Käufer. Aber es macht das Geschäft weder einfacher noch übersichtlicher. Die Deregulierung von Wahrheitsmärkten greift um sich. Desinformation verändert die Qualität unserer Freiheit. Das von den Wählern favorisierte politische Personal kommt unspektakulär, kaufmännisch-kühl daher. Amtsinhaber werden eher gewählt als populistische Volksbelauscher. Diese Aspekte werden in Kapitel 5 behandelt.

Erwartungsmarkt: Um Mehrheiten für Unpopuläres geht es in Kapitel 6. Denn Zukunft gewinnt an Resonanz. Die Erzählung der Zukunft hat Auswirkungen auf die Qualitätssicherung der freiheitlichen Demokratie. Zukunft ist politisch durch Transformation markiert. Welche Spielarten des Regierens nutzt die Berliner Ampel, um den Erwartungsmarkt zu bespielen, um mehrheitsfähig zu bleiben, um notwendigerweise Mehrheiten für Unpopuläres zu organisieren? Wie organisiert die Berliner Ampel, abseits des Krisenmodus und der Reparaturarbeiten, eine inklusive Gestaltungspolitik?

Am Ende des Marktspaziergangs zum Thema Wählen und Regieren steht die Bilanz der Markteinkäufe (Kapitel 7). Was wurde gezielt gekauft, was eher mit Überredungskunst »angedreht«? Was kann man gebrauchen und was verliert schnell an Wert? Scheuen die pragmatischen Sicherheitsdeutschen die Risiken? Meine Kernargumente drehen sich um die Muster des Wählens in Deutschland. Sie sollen sichtbar werden, nicht tagesaktuelle Einschätzungen zum Parteienwettbewerb vor der Bundestagswahl 2025. Der Wochenmarkt leistet dabei zur Veranschaulichung potenziell einen demokratienotwendigen Abgleich und Ausgleich von Interessen und Meinungen. Er ist ein öffentlicher Raum der Unterschiedlichen, die wir als freie Bürger wählen können. Dabei bleibt immer zu berücksichtigen, dass Wählen eine Entscheidung darstellt – als Auswahl zwischen Personen und Parteien. Ihre politische Rationalität gilt es auch nachfolgend im Blick zu behalten.

2.Wählermarkt: Dynamik der Unverbindlichkeit

Wie wählen die Deutschen? Um das zu beantworten, liefert die Wahl- oder Wahlverhaltensforschung verlässliche Antworten. Die Metapher des Marktes zeigt auch hier, dass die Bürger als Konsumenten nicht nur auswählen können, welche Partei oder welche Politiker sie wählen. Vielmehr liegen auch konstante Rahmenbedingungen vor – die Anordnung der Marktstände etc. –, wie das Wahlsystem, welche die Wahlentscheidung mitprägen können. Wähler begegnen sich, soweit sie keine Briefwähler sind, zur Stimmabgabe konkret im Wahllokal an der Wahlurne. So wird aus dem Einzelnen ein kollektives Geschehen.

Nachfolgend sollen einige Besonderheiten des deutschen Wählermarktes bei Bundestagswahlen vorgestellt werden. Wo wirkt er unverwechselbar? Was sind Konstanten im Wahlverhalten der Bürger? Welche Muster zeigen sich?

In Deutschland sind Wählermärkte von politischen Parteien und Wählergruppen geprägt, die politische Vorlieben und Überzeugungen teilen.7 Die Parteien organisieren sich in politischen Lagern, die sich, wie noch zu zeigen sein wird, weniger polarisiert in Deutschland ausdifferenzieren. Wählermärkte in Deutschland können auch nach sozialen und demografischen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Bildungsniveau, Einkommen und Wohnort segmentiert werden. Diese Segmentierungen können Parteien bei der Identifizierung und Ansprache ihrer Zielgruppen helfen. Die politische Landschaft in Deutschland ist auch von Regierungsbündnissen und Koalitionsverhandlungen geprägt, die die politische Ausrichtung und das politische Handeln beeinflussen können. Die Wählermärkte können daher von den politischen Entscheidungen und den politischen Prioritäten der Regierungen beeinflusst werden.

Wahlentscheidungen sind somit komplex. Und sie unterliegen einer hohen Dynamik. Die Wahlforschung entwickelt entsprechend neue Methoden und Instrumente, um das Mysterium der Motive bei der geheimen Wahl transparent zu machen. Vereinfacht gesagt, folgen die Wahlentscheidungen dem gesellschaftlichen und dem sozio-ökonomischen Wandel. Je mehr sich unsere Wohlfahrts- und Wachstumsgesellschaft pluralisierte, fragmentierte und individualisierte, umso mehr stieg das Angebot im Parteienwettbewerb und gleichzeitig die Volatilität der Wähler. Sozialstruktur und Wahlverhalten haben sich über die Jahrzehnte weitgehend entkoppelt. Aus bindungsorientierten Stammwählern, die relativ berechenbar, gruppenorientiert, entlang von Bildung, Einkommen, Geschlecht und Milieu wählten, wurden zunehmend Wechsel- oder Nichtwähler, aber auch Orientierungsnomaden. Sie wählen situativer, nutzenorientierter, flexibler, wählerischer. Dennoch sind Wähler kein unkalkulierbarer Treibsand für die Parteien. Auch die Orientierungsnomaden folgen bestimmten Mustern bei der Wahlentscheidung. Und sogar Stammwählerzuordnungen sind immer noch für Teilbereiche aussagekräftig.

Die Wahlforschung untersucht alle individuellen und gruppenspezifischen Faktoren, die Einfluss auf die Herausbildung der Wahlentscheidung nehmen. Da das geltende Wahlrecht (unter anderem Grundsatz der geheimen Wahl) eine direkte Beobachtung der persönlichen Stimmabgabe ausschließt, ist die Wahlforschung methodisch auf das Instrumentarium des wissenschaftlichen Indizienbeweises angewiesen. Tragfähige theoretische Erklärungsmodelle leiten das jeweils konkrete Wahlergebnis aus einer Anzahl ursächlich vorgelagerter Faktoren ab.

Im Wesentlichen lassen sich drei verschiedene Betrachtungen unterscheiden:

Der soziologische Erklärungsansatz konzentriert sich in seiner Analyse der individuellen Stimmabgabe in erster Linie auf diejenigen Einflüsse, die dem sozialen Umfeld der Wähler zugeschrieben werden können: familiäre, berufliche oder auch gesellschaftliche Loyalitäten. Der Blick richtet sich auf die Gruppe und die soziale Herkunft. Längerfristige Bindungen der Wähler sind zu berücksichtigen.

Der individualpsychologische Erklärungsansatz untersucht den persönlichen Entscheidungsprozess in Abhängigkeit von vorhandenen längerfristigen Parteineigungen. Diese wirken dann wie ein Filter, durch den das politische Geschehen wahrgenommen und bewertet wird. Der Blick richtet sich insofern auf äußerst individuelle und oftmals kurzfristige Faktoren. Dabei steht die langfristige Parteipräferenz der Wähler – Parteibindung als Parteiidentifikation, jedoch ohne Mitgliedschaft – in einem Zusammenhang mit kurzfristig veränderbaren Bedingungen. Das können Einstellungen zu politischen Sachfragen und zu den Kandidaten sein.

Das Modell des rationalen Wahlverhaltens wiederum bezieht sich auf die Analyse individueller Kosten-Nutzen-Abwägungen. Hierbei wird unterstellt, das politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse prinzipiell nach vergleichbaren Regeln ablaufen. Rational kalkulierende Wähler entscheiden sich für die Partei oder die Kandidaten, die sie persönlich als vorteilhafteste bewerten.

Man sieht, wie sich politische Einstellungen und sozioökonomische Faktoren als wichtige Erklärungsvariablen des Wahlverhaltens herausgebildet haben. Ergänzt wurden diese Variablen in den vergangenen Jahren durch Erklärungen aus dem Bereich der politischen Psychologie. So hat sich die politikwissenschaftliche Einstellungs- und Verhaltensforschung breiter sozialwissenschaftlich verortet und zunehmend kognitionspsychologische Perspektiven eingebracht.8 Auch das Feld der politischen Kommunikation ist enger an die Wahlforschung angedockt worden. So spielen Formen der Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung sowie der Urteilsbildung eine größere Rolle, um Wahlentscheidungen zu analysieren und zu interpretieren. Das kann so weit gehen, dass sich neue Gruppenzugehörigkeiten über Meinungszugehörigkeiten – »Echokammern«, »Meinungsblasen« – bestimmen und somit auch Wahlverhalten als Gruppenerlebnis prägen können.

In der Psychologie des Wählers in Deutschland werden unterschiedliche psychologische Faktoren untersucht, die die Wahlentscheidung beeinflussen können. Dazu gehören:

Überzeugungen und Vorlieben: Die politischen Überzeugungen und Vorlieben eines Wählers können seine Wahlentscheidung beeinflussen. Viele Wähler wählen eine Partei, die ihre politischen Überzeugungen am besten widerspiegelt.

Persönliche Erfahrungen: Die persönlichen Erfahrungen eines Wählers, beispielsweise seine Familie, Freunde und Arbeitskollegen, können seine politischen Überzeugungen beeinflussen.

Emotionen: Gefühle, etwa Angst, Wut, Hoffnung oder Freude, können die Wahrnehmung und Bewertung von politischen Parteien und Themen beeinflussen.

Identität: Die politische Identität eines Wählers, einschließlich seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, kann seine Wahlentscheidung beeinflussen.

Informationsverarbeitung: Die Art und Weise, wie ein Wähler Informationen über politische Parteien und Themen verarbeitet, kann seine Wahlentscheidung beeinflussen.

Wahrnehmung: Die Wahrnehmung politischer Parteien und Themen durch einen Wähler kann von verschiedenen Faktoren, beispielsweise den Medien, beeinflusst werden.

Die Wahlentscheidung kann extrem komplexe Hintergründe haben, wie die Auflistung zeigt. Der Entscheidungsprozess lässt sich vereinfacht mit einem Trichter vergleichen, einem in der Wahlforschung so bezeichneten »Kausalitätstrichter«9. Er hat einen heuristischen, erklärenden Wert: Langfristige sozioökonomische Faktoren prägen die Parteiidentifikation. Der Trichter verdichtet sich durch kurzfristige Faktoren, wie Kandidatenangebote und politische Streitthemen. Zusammen bildet sich die Wahlentscheidung.

Wahlrecht als Machtfrage

Die Wahlentscheidung ist immer auch in Abhängigkeit vom geltenden Wahlrecht einzuordnen. Denn durch das Wahlsystem übersetzt sich die Stimmabgabe in politische Macht. Wahlrechtsreformen zur Bundestagswahl begleiten die politische Geschichte dieses Landes. In seinen Grundzügen handelt es sich beim deutschen Modell noch immer um eine personalisierte Verhältniswahl mit Fünfprozentsperrklausel. Seit Bestehen der Bundesrepublik hat dieses System stabile Mehrheiten garantiert und große Akzeptanz erfahren. Wahlrecht ist immer auch politisches Recht. Seine Ausgestaltung hängt an Machtfragen, durch die eine Besetzung höchster Staatsämter erst möglich wird. Das Wahlrecht muss politisch zweckmäßig sein; es muss einen Wechsel möglich machen. Wahlrecht ist aber immer auch technisches Recht: Die Umsetzung von Wählerstimmen in Mandate muss geregelt sein. Zielkonflikte treten zwangsläufig zwischen der Sicherung einer stabilen Mehrheit und dem Wunsch nach einem getreuen Abbild der Wählerschaft auf.

Die Berliner Ampel-Koalition setzte 2023 mit ihrer Regierungsmehrheit eine drastische Reform des Wahlrechts um. Zielpunkt sollte die von allen Parteien unterstützte und vom Bundesverfassungsgericht eingeforderte Verkleinerung des Deutschen Bundestags sein. Die konkrete Wahlrechtsänderung begrenzt die Mandatszahl auf ein festes Kontingent. Dabei richtet sich zukünftig die Höchstzahl der Direktmandate einer Partei nach den Zweitstimmen für die jeweilige Landesliste. Nur noch maximal 630 Mandate (nach der Bundestagswahl von 2021 waren es 736 Parlamentarier) sind bei der Bundestagswahl 2025 zu vergeben. Überhang- und Ausgleichsmandate soll es nicht mehr geben. Die Bedeutung der Erststimme wird reduziert. Der durch die Zweitstimme ausgedrückte bundesweite Parteienproporz erhält Vorrang vor den lokalen Personenwahlen. Das Verhältniswahlrecht wird auf Kosten von Wahlkreisgewinnern gestärkt. Wenn eine Partei in einem Bundesland schwächelt, kann es passieren, dass Wahlkreisgewinner in diesem Bundesland leer ausgehen. In der 20. Legislaturperiode wären nach der Neuregelung insgesamt 21 Wahlkreise nicht mit direkt gewählten Abgeordneten vertreten.

Dieser tiefgreifende Umbau des Wahlsystems geht einher mit dem Wegfall der Grundmandatsklausel: Eine Partei, die mindestens drei Direktmandate gewonnen hatte, wie beispielsweise die Linke bei der Bundestagswahl von 2021, kann auch dann in den Bundestag einziehen, wenn sie unterhalb der Fünfprozentmarke bundesweit bleibt. Öffentlich wurde heftig debattiert, ob diese Reform sich somit explizit gegen die Linke und die CSU richtet, die bei der letzten Bundestagwahl nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde in der bundesweiten Verrechnung kam, aber fast alle Direktmandate in Bayern – wie in den Nachkriegsjahren traditionell – gewann. Ob das neue Wahlrecht bei der Bundestagswahl 2025 greift, entscheidet, wie so häufig, die »Karlsruher Republik«. Die CSU und die Linke haben Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.10

Es ist angesichts der neuen Konstellation sehr schwer zu beurteilen, ob die Wähler ihr Wahlverhalten ändern. Das Wahlsystem ist im Hinblick auf die Zurechnung von Wahlstimmen auf das Ergebnis extrem kompliziert. Schon beim gültigen Wahlsystem verstehen viele Wähler nicht, warum die Zweitstimme wichtiger für die Mehrheitsverhältnisse ist als die Erststimme. Warum sollte das Zweite wichtiger sein als das Erste? Insofern bleibt abzuwarten, ob sich Wähler und auch Kandidaten munitionieren, um unter neuen Bedingungen auf dem Wählermarkt zu agieren. Für die Demokratie ist ein anderer Aspekt wichtiger. Die scharfe Auseinandersetzung um das Wahlrecht, welches mit Mehrheiten letztlich kontrovers und unversöhnlich gegen die Opposition durchgesetzt wurde, kann eine Verfassungskultur beschädigen. Die gegenseitige Achtung bezieht den politischen Gegner mit ein, wenn fundamentale Änderungen am Wahlrecht erfolgen. Das war historisch manchmal der Fall, aber nicht immer. Wer die eigene Macht auf Kosten der Minderheit ausreizt, kann das Institut der freiheitlichen Wahlen beschädigen. Jede neue Mehrheit wird dann neues Wahlrecht prägen. Institutionelle Zurückhaltung ist allerdings das Gebot, um einen politischen Grundkonsens zu erhalten. International geht oft ein Verfall des Wahlrechts – durch Manipulation oder durch ein Anzweifeln der Rechtmäßigkeit von Ergebnissen – mit einem Verfall der Demokratie einher.11

Politisch-kulturelle Einordnungen

Man erkennt die Tragweite von Wahlsystemen für die Qualität von Demokratien. Und gleichzeitig hat das Wahlrecht auch Facetten von präjudizierenden Wirkungen für Einstellungen und Verhalten auf dem Wählermarkt. Um es noch komplexer und komplizierter zu machen: Wahlentscheidungen sind immer auch in einem bestimmten politisch-kulturellen Kontext zu interpretieren. Deutsches Wahlverhalten unterscheidet sich prinzipiell beispielsweise vom angelsächsischen Wahlverhalten. Das liegt nicht nur am Wahlsystem oder am Parteiensystem. Vielmehr prägt die Summe der politisch relevanten Einstellungen, Meinungen und Wertorientierungen auch den typisch deutschen Wählermarkt. Die Deutschen sind demnach zum Beispiel immer risikoscheuer und sicherheitskonservativer im Wahlverhalten gewesen als Bürger in Großbritannien oder den USA.

Zu den konstant-stabilen Mustern des Wahlverhaltens in der Bundesrepublik Deutschland gehört, ebenso politisch-kulturell geprägt, die spezifische Priorisierung der wichtigsten Wahlmotive. Wahlkämpfe sollen das Image der Parteien und der Kandidaten sichtbar machen und verbessern. Zur Kandidatenbewertung kann die Wahlforschung vier Dimensionen unterscheiden. Die Reihung lautet: An erster Stelle stehen die Sachkompetenz bzw. die wahrgenommene Problemlösungsfähigkeit (insofern eine Themenausrichtung), dann folgen Glaubwürdigkeit/Vertrauenswürdigkeit, beobachtbare Führungsqualitäten und am Ende Aspekte von persönlicher Sympathie und äußerlicher Attraktivität.12

In der Forschungsliteratur zum Wählen bleibt dennoch ein latenter Disput. Inwieweit beim Wählen in den zurückliegenden Jahrzehnten Persönlichkeitsmerkmale der Spitzenkandidaten in Abgrenzung zu Partei oder Themen zugenommen haben, ist strittig. Doch das widerspricht nicht der Grundannahme, dass die Anmutung von Sachkompetenz in wichtigen Politikfeldern für die meisten Wähler an der Spitze des Entscheidungsbaums zur motivationalen Wahlentscheidung steht.

Um einen Überblick zu vermitteln, welche Faktoren für eine Wahlentscheidung wichtig sein können, lassen sich nochmals einige der vorgestellten Differenzierungen auflisten:

Parteipräferenzen: Einige Wähler haben eine engere Beziehung zu einer bestimmten Partei und wählen diese unabhängig von ihren politischen Überzeugungen.

Wirtschaftliche Faktoren: Das Wohlstandsniveau und die wirtschaftlichen Perspektiven der Wähler können die Wahlentscheidung beeinflussen.

Soziale und demografische Merkmale: Auch Alter, Geschlecht, Bildungsniveau, Einkommen und Wohnort beeinflussen, wo das Kreuzchen am Wahlsonntag gemacht wird.

Medienpräsenz: Die Art und Weise, wie politische Parteien und Themen in den Medien dargestellt werden, kann die Wahrnehmung und Bewertung von politischen Parteien und Themen beeinflussen.

Aktuelle Ereignisse: Schließlich können nationale und internationale Ereignisse, beispielsweise politische Krisen oder wirtschaftliche Herausforderungen, den Wahlakt beeinflussen.

Regierungspolitik: Die politischen Entscheidungen und Handlungen der Regierung können die Wahlentscheidung beeinflussen, indem sie das Vertrauen in die Regierung und ihre politischen Führungskräfte befördern oder reduzieren.

Wahlen sind insofern vieldimensionale Vorgänge. Sie entscheiden in Demokratien nicht nur über Machtverteilungen in Parlamenten und Regierungen, sondern sie sind Momentaufnahmen über das augenblickliche Profil und den Standort der Deutschen. Wahlen legen Werte und soziale Räume bloß, Lebensformen, Meinungsströme, Motivationen, Interessenlagen, Identitätsbestimmungen und Zugehörigkeiten – auf eine besonders abschließende Weise, wie es keine Meinungsumfrage leisten kann.

Wenn man sich nun den Wählermarkt weniger theoretisch-systematisch, sondern anwendungsbezogen ansieht, bietet es sich an, die unterschiedlichen Zugänge für eine Interpretation der Ergebnisse der Bundestagswahl von 2021 in einem ersten Zugriff zu nutzen. Diese Bundestagswahl als Fallbeispiel eignet sich, um sich mit den ausdifferenzierten Partei- und Kandidatenimages sowie den politischen Machtkonstellationen zu beschäftigen.

Wählermärkte bei der Bundestagswahl 2021

Die Ampel (rot-gelb-grün) für den Bund? Oder eher die Reiseplanungen nach Jamaika (schwarz-grün-gelb) starten? Verlässlich blieb als Serie einer möglichen Regierungsbildung auch die Große Koalition – allerdings diesmal mit der SPD in der Führungsrolle. Wer hätte gedacht, dass es nach der Bundestagswahl am 26. September 2021 auf diese drei Konstellationen hinauslaufen würde?13 Die Blitzumfrage der Forschungsgruppe Wahlen vor der Bundestagswahl ergab, dass alle drei Konstellationen mit 47 bis 50 Prozent von den Befragten gleichermaßen als »schlecht« bezeichnet wurden. Schlechter schnitt nur noch rot-grün-rot mit 65 Prozent ab. Hinter diesen Daten versteckten sich viel Unsicherheit, Unentschiedenheit, Unklarheit und Unwägbarkeiten der Wähler. Ein eindeutiges, richtungsweisendes Votum konnte aus den Wahlergebnissen nur schwer abgeleitet werden. Die Pluralisierung und Vervielfältigung von Lebenswirklichkeiten sowie die abnehmenden Integrationsleistungen – auch von Parteien – führen zu wenig überraschenden Vielfaltswahlen: Für jede und jeden ist etwas dabei – sogar für die dänisch-friesische Minderheit. Der Bundestag ist nach 2021 ein Parlament der Singularitäten.

Diese neue Unübersichtlichkeit kommt lagerübergreifend daher, was die Übersetzung des Wählerwillens in Regierungsbildungen zu schöpferisch-experimentellen Herausforderungen machte. Die einzige Konstante ist die ausgeprägte politische Mittigkeit, in die sich diese unübersichtlichen Singularitäten bunt sortieren – in mittelgroße und kleinere Parteien übersetzt. Verzagte Euphorie, gar Aufbruchsstimmung kam nicht am Wahltag auf, sondern erst am Ende der Sondierungen, die bereits elf Tage nach der Wahl starteten. Bis dahin hatten die Wähler eine Post-Rationalisierung ihrer Entscheidungen vorgenommen und die Ampel als klaren Favoriten markiert.

Die Bundestagswahl war zudem eingebettet in ein Superwahljahr. Drei Landtagswahlen (Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg sowie zeitversetzt Sachsen-Anhalt) fanden als Testlauf im Vorfeld statt und zwei Landtagswahlen (Mecklenburg-Vorpommern und Berlin/Abgeordnetenhaus) wurden zeitgleich mit der Bundestagswahl abgehalten. Sie bestätigten bereits überwölbende Trends: Der ausgeprägte Amtsbonus katapultierte die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Union, der Grünen und der SPD zu Prozentwerten jenseits der 30-Prozent-Marke. Die Coronapandemie erwies sich als Revitalisierungsprogramm der exekutiven Macht. Außerdem stabilisierten die Wahlen den Sog der Mitte. Die Randparteien AfD (10,3 Prozent) und Linke (4,9 Prozent) mussten deutliche Verluste hinnehmen. Insofern konnten die Wahlkämpfer ab dem Frühjahr 2021 davon ausgehen, dass schrumpfende Extreme die politische Mitte verbreitern werden.

In Anlehnung an diese Tendenzen aus den Ländern lassen sich folgende Besonderheiten bei der Betrachtung der Wahlergebnisse im Bund festhalten:

Die Wahlbeteiligung stieg zum zweiten Mal in Folge auf nunmehr 76,6 Prozent.

Fast die Hälfte aller Wähler (47 Prozent) verzichtete auf den Urnengang und wählte per Briefwahl. Zwischen 2017 und 2021 stieg damit der Anteil um über 18,7 Prozentpunkte auf 47,3 Prozent. Das ist unter anderem mit der Pandemie begründbar. Welche Parteien dies als Vorteil nutzen konnten, ist zum jetzigen Zeitpunkt wissenschaftlich noch nicht abschließend belegt.14 Es bleibt fraglich, ob eine Urnenwahl in 2025, wie es der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht festlegen, wieder die Regel und nicht die Ausnahme wird. Die Urnenwahl sichert die Grundsätze der Allgemeinheit und des Geheimen. Diese Wahlgrundgrundsätze können nur zur Geltung kommen, wenn zukünftig der Zeitraum der Briefwahl deutlich verkürzt wird. Die Teilung der Wählermärkte in sehr frühe und sehr späte Wähler verzerrt diesen Grundsatz.

Der Deutsche Bundestag ist in der 20. Legislaturperiode der größte seit 1949: Er besteht aus 736 Mandatsträgern (2017 waren es noch 709 Mandatsträger).

Olaf Scholz (SPD) schaffte, was zuvor nur Willy Brandt (SPD, 1972) und Gerhard Schröder (SPD, 1998) gelungen war: Die SPD wurde stärkste Kraft im Deutschen Bundestag. Diese historische Leistung diszipliniert die SPD vermutlich auf viele Jahre. Durch die damit erreichte hegemoniale Stellung von Scholz innerhalb der SPD kann er auch die extrem verjüngte Schar der sozialdemokratischen Mandatsträger einhegen.

Die Union büßte mit 8,7 Prozentpunkten soviel ein wie niemals zuvor bei Bundestagswahlen. Zum Negativrekord trug auch die CSU bei, die bundesweit nur knapp über der magischen Fünf-Prozent-Hürde lag. Die Effekte dieses schlechten Abschneidens der CSU hatten jedoch angesichts der vielen Direktmandate aus Bayern (45 von 46) kaum Durchschlagskraft.

Vier Parteien standen zur Regierungsbildung bereit. Somit war bereits am Wahltag absehbar, dass die Union oder die SPD zur größten Oppositionspartei werden würde. Auch das markiert eine Zäsur, nachdem über vier Jahre die AfD diese parlamentarisch extrem wichtige Pole-Position empörungsvoll und immer eskalationsbereit eingenommen hatte. Das Parlament bekommt ein anderes Gesicht, wenn nicht die AfD, sondern die Union die erste Gegenrede in den Debatten gegenüber den Regierungsparteien führt.

Bündnisse aus drei Fraktionen, wie es die Ampel widerspiegelt, gab es zuletzt 1949 und 1953 in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland. In den Bundesländern besteht bereits die Hälfte der Regierungen aus Dreier-Koalitionen. Bei dem Wahlausgang im Bund ist es für die Parteien möglich, die Kanzlerin oder den Kanzler bereits mit knapp über 20 Prozent der Wähleranteile zu stellen.

Die Grünen wechseln ebenso wie die FDP aus der Opposition in die Regierung. Die Grünen schieben sich dabei an der FDP knapp vorbei und verbesserten ihr Ergebnis von 2017 deutlich. Dass dieses gute Ergebnis dennoch vielen Sympathisanten der Grünen schmerzte, lag an dem Erwartungsmanagement im Superwahljahr, aus dem zeitweise eine Kanzlerschaft in greifbare Nähe rücken sollte.

Ausdruck der neuen Vielfalt ist das Ergebnis der »sonstigen« Parteien. Hier gab es einen Zuwachs von 3,7 Prozentpunkten, sodass die »Sonstigen« nun bei 8,6 Prozent liegen. Je mehr »Sonstige«, umso geringer die Schwelle zur Kanzlermehrheit. Die drei sonstigen Parteien mit dem höchsten Zweitstimmenanteil waren die Freien Wähler, die Tierschutzpartei und die Partei dieBasis.15

Die Linke erreichte das schlechteste Ergebnis seit fast zwei Jahrzehnten und sicherte sich nur über die Grundmandatsklausel den Einzug in den Bundestag.

Schließlich zeigten sich am Wahlsonntag erstmals flächendeckend in Berliner Wahllokalen elementare Fehler bei der Organisation und Durchführung des ordnungsgemäßen Verlaufs der Wahlen für den Bundestag und zeitgleich für das Berliner Abgeordnetenhaus. Die erheblichen Mängel führten zur Wahlwiederholung zum Berliner Abgeordnentenhaus – einmalig in der Geschichte der Wahlen in Deutschland.16

Quer zu diesen Beobachtungen liegen vier allgemeine Trends:

Das Coronavirus galt als entscheidender Faktor bei der Bundestagswahl und machte die Wahl zu einem Unikat. Die Coronathematik wurde nicht nur von den Bürgern als eines der wichtigsten Themen gesehen und stand damit im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern wirkte auch indirekt in viele Politikfelder hinein und offenbarte die Reparaturbedürftigkeit des Sozialstaats. Die Kandidaten wurden stetig in ihrer jeweiligen gelungenen oder mißlungenen Performance als Krisenlotsen bewertet. Zudem mussten Wahlkampfformate etabliert werden, die mit der neuen Distanzdemokratie in Form einer »Coronakratie« vereinbar sind. Nie stand die politische Kommunikation vor so großen Problemen wie im Bundestagswahlkampf 2021. Die Konturen des Nicht-Wissens potenzierten sich.

Es gab erstmals keinen Amtsbonus für eine Kandidatin oder einen Kandidaten, da die langjährige Amtsinhaberin Angela Merkel nicht mehr kandidierte. Dies stellt eine historische Zäsur dar und birgt für die Parteien-, Wahl- und Regierungsforschung neuartige, überraschungsfeste Herausforderungen, da sich Analogien ausschließen. Zudem war keine ausgeprägte Wechselstimmung in der Bevölkerung zu erkennen. Zwar wurden hier und da die zumeist veränderungsmüden Erwartungen von einem Verlangen nach einer neuen Politik begleitet, doch zeigen die Wahlergebnisse überwiegend eine ausgeprägte »Sowohl-als-auch«-Stimmung. Der Machtwechsel kam daran anschließend als dosierter Machtwechsel daher. Erneut ist ein Regierungspartner aus der alten Regierung wiederum in der neuen Regierung mit dabei. Das ist das häufigste Muster hinsichtlich der Dynamiken vom Aufstieg und Fall der Parteien in Deutschland.

Im Wahlkampf und Umfragekampf war eine Volatilität im Kurvenformat erkennbar. Selten kreuzten sich die Hochs und Tiefs sowohl in der Sonntagsfrage als auch bei der Beliebtheit der Kanzlerkandidatin und den Kanzlerkandidaten so wie im Superwahljahr 2021. Während die persönlichen Fehler der Kandidatin und der Kandidaten bis in den Frühsommer im Zentrum standen, gewann der Wahlkampf ab August an Inhaltsschwere. Die Wahlkämpfe der drei Spitzenkandidaten hätten unterschiedlicher kaum sein können.

Olaf Scholz ging als Sondierungsweltmeister und neuer Kanzler aus der Regierungsbildung hervor. Nach der Verkündung der Wahlergebnisse bereiteten grün-gelbe Vorsondierungen den Weg für eine zukünftige Koalition vor, was eine völlig neuartige Dynamik war: Nicht der oder die Siegreiche gab den Ton an, sondern die Zünglein an der Waage. Die Koalitionsgespräche waren besonders durch das Vertrauen zwischen den Chefverhandlern geprägt. Nichts drang vorzeitig an die Öffentlichkeit. Das Ergebnis der Koalitionsgespräche zu dritt mündete in einen Koalitionsvertrag mit einer transformatorischen Agenda.

Die Ampel-Regierung rekrutiert sich aus einer erfahrenen Regierungspartei (SPD) und zwei Oppositionsparteien. Die Grünen regierten im Bund zuletzt vor 16 Jahren und die FDP vor acht Jahren. Nur wenige Bundesminister im Kabinett Scholz/Habeck verfügen über eigene Expertise beim Regieren.

Das Virus entschied den Ausgang der Bundestagswahl

Wenn Wahlen Momentaufnahmen zur Lage der Nation sind, dann prägte das Coronavirus entscheidend das Superwahljahr. Denn das politische Momentum war überlagert von der Coronapolitik. Als wichtigstes wahrgenommenes Problem hielt es sich bei den Umfragen bis zum Wahltag im oberen Bereich. Noch im September 2021 sagten 28 Prozent der Wahlberechtigten gegenüber der Forschungsgruppe Wahlen, dass die Coronapandemie und die Folgen der Coronapolitik zu den wichtigsten Problemen gehören. Auf Platz 1 mit 47 Prozent rangierten die Themen »Umwelt/Klima/Energie«. Beide Aspekte – Corona und Klima – prägten die Wahlmotive der Wählerschaft in Deutschland.

Jedoch standen nicht nur die Maßnahmen der Coronapolitik im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern das Thema wirkte auch indirekt in viele Politikfelder hinein. So prägte das Virus etwa die Diskussion um einen reparaturbedürftigen Nachsorgestaat und fächerte damit den Parteienwettbewerb auf. Die konstruktive, freiheitserzählende und freiheitsverheißende Oppositionsarbeit der FDP zur Coronapolitik belohnten die Wähler. Die AfD verlor auf dem Wählermarkt, weil die erfolgreiche Coronapolitik über Monate die Regierenden stabilisierte und Verdrossenheit reduzierte. Ein Wahlkampf unter Wütenden, von dem die AfD hätte profitieren können, fand nicht statt.

Auch wurde die Performance der politischen Hauptakteure in der Pandemie stetig bewertet. Die Auswahl der Kanzlerkandidaten richtet sich daher maßgeblich nach den Auftritten der Krisenlotsen. Niemals wäre Olaf Scholz so früh von der SPD zum Kanzlerkandidaten gekürt worden, wenn er nicht als Bundesfinanzminister eine so sichtbar dominante Rolle als Krisenmakler gespielt hätte. Ohne das Virus wäre vermutlich auch Armin Laschet (CDU) nicht Parteivorsitzender und später Kanzlerkandidat der Union geworden.

Die Pandemie veränderte zudem Wahlkampfformate. Wirkungsvoll zu mobilisieren war nicht einfach unter den neuen Bedingungen von Distanz. Auch die generelle Sichtbarkeit der Kandidaten musste sich anders erkämpft werden. Aus der Forschung geht hervor, dass Sichtbarkeit und besonders physische Attraktivität durchaus im Wahlkampf Prozentwerte bringen können. Aber wie attraktiv wirkt man auf digitalen Kacheln? Dazu ist bisher wenig bekannt. In Deutschland zählen bei der Stimmabgabe besonders Sach- bzw. Problemlösungskompetenz, Glaubwürdigkeit, Führungsqualität sowie – erst an vierter Stelle – persönliche Sympathien. Auch die Wahlkampfforschung hat Probleme, unter den Bedingungen der pandemisch bedingten Distanz langgehegte Erkenntnisse fortzuschreiben. Reichte in einer durch die Coronapolitik extrem erschöpften Republik der Wahlkampf-Dreiklang – begrenzte Aggressivität, Sicherheitsbotschaften, Zukunftskompetenz – aus?

Das Virus beeinflusste den zentralen und verlässlichen Gradmesser von Wahlen – das Vertrauen in Personen und Parteien, die in der Lage sind, Probleme zu lösen. Das Reservoir an Vertrauen war im Jahr 2021 jedoch erschöpft. Die Distanzdemokratie provozierte. Damit ist nicht der Widerstand einer stets kleinen Minderheit gegen die Maßnahmen der Coronapolitik gemeint. Vielmehr provozierte uns täglich die lebensnotwendige Übersetzung demokratischer Spielregeln und Praktiken in neue Formate der Distanz. Das galt besonders im Superwahljahr 2021, in dem eine strategische politische Kommunikation der Mobilisierung für Parteien und Personen zwingend notwendig war. Wir fühlen uns bei den Kulturtechniken der Demokratie in außergewöhnlicher Weise herausgefordert, oft auch überfordert. Informieren, organisieren, erinnern, kommunizieren, partizipieren, mobilisieren, debattieren – all das gilt in der Früh-Digitalisierung unseres Alltags ohnehin schon seit einigen Jahren als neues Betriebssystem unserer Gesellschaft. Analoge Kulturtechniken der Demokratie sind durch digitale Formate ergänzt oder auch vollständig in diese überführt worden. Aber die Distanz-Formate galten nie ausschließlich. Das Virus veralltäglichte rasant diese Praktiken des Digitalen. Das ist durchaus positiv, denn dank der Digitalisierung konnten man weiterhin politisch agieren, auch wenn Bewegungen und Begegnungen eingeschränkt oder Protestversammlungen coronabedingt verboten waren. Umso mehr benötigte man Übersetzungshelfer sowie zahlreiche Moderierende, die das neue Zeichensystem für die Bürgerschaft anwendbar machten. Hierzu zählten nicht zuletzt die zur Wahl stehenden Parteien und Kandidaten.

Verschiedene Formen der neuen Distanz-Demokratie werden die »Coronakratie« überdauern. Dazu gehören Effekte, die man von Drehtüren kennt: Sie sind fachbegrifflich »Vereinzelungs-Anlagen«. Was uns in der Pandemie durch isolierte Vereinzelung half, muss danach jedoch wieder im Sinne eines Gemeinwohls zusammengefügt werden. Viele Facetten der neuen Gegen-Öffentlichkeiten auf der Straße und im Internet agieren mit eigener Wirklichkeit, die ihren Urgrund darin haben, lange selbstisoliert leben zu müssen. Wer hört, wer sieht mich? Wer nimmt auf mich noch Rücksicht? Die Neigung, über Monate prinzipiell nur noch mit sich selbst zu reden, verengte durch fehlende Resonanz und soziale Interaktion unsere Realitätswahrnehmungen. Bleiben wird auch der Wunsch nach kuratiertem Regieren als eine Variante von Politikmanagement. Es verwandelt unter dem Primat der Politik transparente Informationsverarbeitung rasend schnell in sortierte, erklärte und betreute politische Entscheidungen der Krisenlotsen. Kuratiertes Regieren kommt nicht als lenkende Anregung daher. Der Lockdown (alles entschleunigen, alles entkoppeln, alles dekonstruieren) war staatlich verordnet und kein Vorschlag. Kuratiertes Regieren meint krisenbedingte appellative Anordnung. Die Bürger folgen dabei keineswegs in dumpfer Affirmation, sondern teilen in überwiegender Mehrheit die Einsicht, den Anordnungen zu folgen, um andere solidarisch zu schützen. In der Coronakratie ist einmal mehr sichtbar geworden, welche regelnde Rolle die Bürger dem Staat zuweisen. Das passt zum neuen weltweiten Paradigma, das einen Trend von der bisherigen Deregulierung zur Regulierung vorsieht.