Wahrgenommene Individualität - Jochen Schmidt - E-Book

Wahrgenommene Individualität E-Book

Jochen Schmidt

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Beschreibung

Individuelle Lebensführung gelingt, wenn ein Mensch etwas mit sich anfangen kann, wenn er eine Form für sein Leben freilegt, die dem entspricht, woran ihm liegt. Das Miteinander von Menschen gelingt, wenn sie einander so anblicken, dass sie ein Gefühl dafür gewinnen, in welcher je besonderen Art und Weise der jeweils andere Mensch sich eine Gestalt für sein Leben sucht und findet. Beides, das Ergreifen der eigenen Freiheit und die Begegnung mit dem anderen Individuum, kann jedoch auch misslingen. Der Mensch scheitert unwillentlich, aber nicht unverschuldet an seiner eigenen Freiheit, wenn er in Unaufrichtigkeit, Selbsttäuschung und Verlogenheit erstarrt. Freiheit wird von außen kompromittiert oder gar zerstört, wenn Menschen unter den entwertenden Blicken anderer in Scham verfallen. Im Lichte der christlichen Tradition erschließen sich solche Phänomene misslingenden Daseins als Sünde, deren verhängnisvolle Dynamik durch nichts unterbrochen werden kann denn durch Vergebung als der Bedingung der Möglichkeit eines mitunter unmöglich erscheinenden Neuanfangs.

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Edition Wege zum Menschen

Herausgegeben vom Redaktionskreis der Zeitschrift „Wege zum Menschen“

Christiane Burbach, Wilfried Engemann, Jörn Halbe, Klaus Kießling, Hermann Steinkamp,

Jochen Schmidt

Wahrgenommene Individualität

Eine Theologie der Lebensführung

Umschlagabbildung: © Fotolia

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de.

ISBN 978-3-525-99583-0

eISBN 978-3-647-99583-0

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A.www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: textformart, Göttingen

Anna

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Christliche Religion und die Lebensführung des Individuums

1. Unbestimmtheit, Orientierung und christliche Religion

2. Geschöpfliche Freiheit

3. Schwierige Selbstverwirklichung

Kapitel 2: Übungen der Wahrnehmung

1. Achtung und Nächstenliebe

2. Liebe und Individualität

3. Die Verbindlichkeit der Achtung

Kapitel 3: Verwirkte Freiheit

1. Sünde als unwillentliches Verfehlen des Guten

2. Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung

3. Organische Verlogenheit und Ideologie

Kapitel 4: Bedrückende Blicke

1. Scham

2. Leiblichkeit, Verletzlichkeit und Beschämung

3. Das Bild, das wir abgeben

Kapitel 5: Vergebung

Literatur

Namensregister

Sachregister

Einleitung

„Was für eine Chimäre ist der Mensch? Was für eine Novität, was für ein Monstrum, was für ein Chaos, was für ein Hort von Widersprüchen, was für ein Wunder? Richter über alle Dinge, einfältiger Erdenwurm, Hüter der Wahrheit, Kloake der Ungewissheit und des Irrtums, Ruhm und Abschaum des Weltalls.“1 In kräftigen Farben malt Blaise Pascal die Extreme menschlicher Existenz. Seine überragende theologische Leistung besteht darin, dass er seine Sicht auf die Größe und das Elend des Menschen nicht lediglich dogmatistisch behauptet, sondern durch feinsinnige Beobachtung der Menschenseele im Lichte der christlichen Tradition konkretisiert. Insofern sind seine Pensées – jedenfalls der Intention nach – Vorbild für das theologische Nachdenken über Herausforderungen der Lebensführung: als Versuch, im Horizont der christlichen Tradition Klarheit zu gewinnen über Dinge, die Menschen in ihrem alltäglichen personalen Leben und Erleben beschäftigen.

Personales Leben besteht nicht ausschließlich, aber wesentlich aus Prozessen der Wahrnehmung von Individualität. Auf der einen Seite nehmen Personen die Möglichkeiten wahr, die ihre eigene Individualität ihnen bietet, auf der anderen Seite leben Individuen mit anderen Individuen zusammen, die ihrerseits angemessen wahrgenommen werden wollen und sollen. Die Wahrnehmung von Individualität als Herausforderung alltäglicher Lebensführung drängt sich im Zuge von historischen Individualisierungsprozessen mehr und mehr in den Vordergrund, ohne dass im selben Maße erkennbar wäre, wie diese Herausforderung sinnvoll angenommen werden kann. Wie individuelle Freiheit gestaltet werden kann, kann die individualisierte Gesellschaft ihren Mitgliedern nicht sagen, nur dass sie dies zu tun hätten. Während der Mensch im Zuge von Individualisierungsprozessen aus traditionalen Bindungen entlassen wird, treten neue Zwänge auf.2 Der Mensch ist genötigt, sich selbst als Planungsbüro für seinen eigenen Lebensweg zu verstehen, und dies wird nunmehr in derselben Weise von ihm erwartet, wie in traditionalen Gesellschaften die Erfüllung etablierter Rollen erwartet worden war.3 Individualisierungsprozesse mag man denn auch wahlweise als Befreiung des Menschen zelebrieren oder als Überforderung des Menschen und als Ursache der Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts beklagen.4 Nur rückgängig machen lassen sie sich nicht. Manche Vertreter postmodernen Denkens mögen es sich zum Ziel setzen, das Individuum zu Grabe zu tragen.5 Ihre Toterklärung durch die Postmoderne hat die Idee des Individuums weitgehend unbeschadet überstanden, auch wenn das Denken der Differenz in der Tradition Friedrich Nietzsches mit Nachdruck daran erinnert, dass Individuen fragil sind, unabgeschlossen im Sinne von fortwährend im Werden begriffen und in einem radikalen Sinne angewiesen auf andere Individuen.6 Individualisierung ernst zu nehmen führt nicht oder jedenfalls nicht notwendigerweise zu einer Idealisierung eines isolierten und selbstmächtigen Einzelnen, sondern lediglich zu der Einsicht, dass für das Nachdenken über Fragen der Lebensführung die Perspektive der ersten Person unhintergehbar ist.

Der Theologie obliegt es zu fragen, was christliche Religion zu diesem Nachdenken des Menschen über sein Leben beitragen kann, und dieser Aufgabe sehen sich die hier vorgelegten Überlegungen verpflichtet.7 Betont sei gleich zu Beginn, dass diese Konzentration auf das Individuum keinem Individualismus und schon gar keinem Isolationismus das Wort reden will. Das Nachdenken des Menschen über sich selbst hat nichts mit einer Selbstbegaffung des einsamen Individuums zu tun. Reflexion, das Auf-sich-Zurückkommen im Denken, ist kein weltabgewandtes Wühlen in der Seele, sondern Selbstwahrnehmung des Menschen im Horizont stattgehabten Welterlebens. Der über sich Reflektierende, so beschrieb Heidegger es einmal, bricht sich an etwas in der Welt (re-flectere), von wo aus ein Licht auf den Reflektierenden zurückfällt.8 Das Wechselspiel von Selbstsein und Miteinandersein, sowohl im Gelingen als auch im Misslingen von Lebensvollzügen, ist ein Leitmotiv all dessen, was im Folgenden entwickelt wird.

Als Individuum zu leben bedeutet zunächst einmal, als einzelner Mensch etwas mit dem eigenen Leben anzufangen. Anfangenkönnen ist die Fähigkeit des Menschen, die eigene geschöpfliche Freiheit zur selbstbestimmten Lebensführung zu ergreifen. Individuelle Lebensführung gelingt, wenn ein Mensch eine Form für sein Leben findet, die dem entspricht, woran ihm liegt, und die denjenigen Menschen entspricht, an denen ihm liegt (Kapitel 1). Das Miteinander von Menschen gelingt, wenn sie einander so anblicken, dass sie ein Gefühl dafür gewinnen, in welcher je besonderen Art und Weise der jeweils andere Mensch sich eine Gestalt für sein Leben sucht und findet (Kapitel 2). Selbstsein und Gemeinschaft gelingen, wenn Individualität – eigene und fremde – wahrgenommen wird. Neben der Möglichkeit des Gelingens steht die Möglichkeit manifesten Scheiterns von Freiheit. Denn die Bedingungen des Gelingens der Lebensführung sind in hohem Maße fragil. Freiheit kann allzu leicht in Unfreiheit umschlagen. Die christliche Rede von der Sünde verleiht dieser Erfahrung einen bestimmten Ausdruck. Erfahrungen des Misslingens individueller Lebensvollzüge sind zwar gewiss nicht einfach mit dem gleichzusetzen, was in der christlichen Tradition als Sünde gilt. Wohl aber weist die Struktur dessen, was in der christlichen Rede Sünde genannt wird, signifikante Ähnlichkeiten mit der Struktur von Phänomenen der Selbsttäuschung und der Scham auf: Hier wie dort geht Freiheit unwillentlich, aber doch nicht unverschuldet verloren. Der Mensch scheitert unwillentlich, aber nicht unverschuldet an seiner individuellen Freiheit, wenn er in Unaufrichtigkeit, Selbsttäuschung und Verlogenheit erstarrt. Freiheit wird von außen zerstört, wenn Menschen unter den entwertenden Blicken anderer in Scham verfallen, wenn ein Mensch einem anderen durch seinen beschämenden Blick im äußersten Fall das Recht aberkennt, je dieses Individuum zu sein. Hier wie dort stehen Menschen neben sich, leben Menschen aneinander vorbei, gegen ihren eigentlichen Willen, jedoch nicht ohne ihr Zutun. Die christliche Rede von der Sünde kann so zur Erschließung von Deformationen individueller und gemeinschaftlicher Existenz beitragen (Kapitel 3 und 4). Dabei darf jedoch nie aus den Augen verloren werden, dass die Rede von der Sünde ihren Sinn nicht in der Diskreditierung des Menschen hat, sondern im Horizont der Hoffnung auf Vergebung – der Vergebung, die einen neuen Anfang eröffnet, indem sie den Menschen, so er nicht gut dasteht, von Neuem aufrichtet (Kapitel 5). Die Freiheit des Menschen, seine Verantwortung zur Wahrnehmung der Möglichkeiten und der Wirklichkeit seiner eigenen Individualität und der seines Nächsten, das Misslingen des Selbstseins im Scheitern an der eigenen Freiheit und schließlich die Hoffnung darauf, dass Menschen von ihren existentiellen Irrtümern und Verfehlungen erlöst werden können, bilden den Takt der folgenden Miniatur einer Theologie der Lebensführung.*

1Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, übers. v. Ulrich Kunzmann, hg. v. Jean Robert Armogathe, Stuttgart 2010, 89 (Frg. 131 [Lafuma]/434 [Brunschvicg], Übers. geändert).

2   Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 51986, 211 ff.

3   Vgl. ebd., 217; Hans-Martin Schönherr-Mann, Sartre. Philosophie als Lebensform, München 2005, 42.

4   Vgl. Wilhelm Gräb, Die religiöse Konstitution der Individualität, in: ders./Lars Charbonnier (Hgg.), Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung, Berlin 2012, 132–150.

5   Vgl. etwa Mark C. Taylor, Erring. A Postmodern A/Theology, Chicago 1984.

6   Vgl. Gianni Vattimo, Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik, übers. v. Sonja Puntscher Riekmann, Wien 22005 (Edition Passagen 10).

7   Wenn im Folgenden von „Religion“ und „Theologie“ die Rede ist, dann ist in erster Linie an die christliche Religion und Theologie gedacht. Ob und inwieweit das Gesagte auch aus der Perspektive anderer Religionen und ihren Theologien Zustimmung finden kann, wäre im Einzelnen zu diskutieren.

8   Vgl. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Abt. II: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1975, 226.

*     Christine Abel, Ann-Kathrin Armbruster, Anna Lina Becker, Jonathan Frommann, Christian Kettner, Martin Leutzsch und Rebecca Meier haben das Manuskript in verschiedenen Stadien seiner Entstehung durchgearbeitet. Ich danke allen Genannten herzlich für zahlreiche wichtige Hinweise und Anregungen. Jonathan Frommann, Christian Kettner und Jens Matthes danke ich überdies für die Anfertigung des Namens- und des Sachregisters.

Kapitel 1: Christliche Religion und die Lebensführung des Individuums

1.Unbestimmtheit, Orientierung und christliche Religion

„Die moderne Idee der Freiheit“, so Peter Strasser, „besagt, dass der Mensch das Wesen ist, das kein Wesen hat.“1 Strasser stellt sich hier in eine lange Tradition des Nachdenkens über den Menschen, der zufolge der Mensch wesentlich unbestimmt ist und sich durch nichts so deutlich auszeichnet wie durch die Offenheit seines Daseins in der Welt.2 Wäre das In-der-Welt-Sein des Menschen nicht unbestimmt, dann gäbe es überhaupt kein Handeln, weil es keine Freiheit gäbe.3 Instinktgesteuerte Lebewesen – einmal angenommen, dass es so etwas tatsächlich gibt – handeln nicht, sondern bewegen ihre Gliedmaßen genau so, wie ihre Instinkte bzw. Triebe es ihnen vorschreiben. Ein solches Lebewesen scheint der Mensch nicht zu sein. Der Mensch ist wesentlich frei und wesentlich unbestimmt, da nicht von anderwärts her festgelegt ist, wie er zu leben hat. Ob der Unterschied zwischen Tier und Mensch qualitativ oder quantitativ zu bestimmen ist, ändert daran grundsätzlich nichts. Auch wenn in klassischen Entwürfen der philosophischen Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts der Unterschied von Tier und Mensch überzeichnet worden sein mag, und auch wenn die Willensfreiheit des Menschen von verschiedenen Seiten hinterfragt bzw. relativiert wird, bleibt doch die Beobachtung zutreffend, dass der Mensch sich durch ein hohes Maß an Offenheit und Unbestimmtheit auszeichnet, was für Tiere wohl zumindest nicht in gleicher Weise gilt. Im Zuge von spätmodernen Individualisierungsprozessen verschärft sich die Unbestimmtheit und damit die Orientierungsbedürftigkeit des Menschen, weil gesellschaftliche Institutionen, die in früheren Zeiten einmal Sinn garantierten, an Verbindlichkeit verlieren. Dies gilt auch für die Religion. Niklas Luhmann mag das anders sehen, wenn er schreibt: „Religion garantiert die Bestimmbarkeit allen Sinns gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmte.“ Mit einer solchen Erwartung aber wird Religion hoffnungslos überfordert. Weder ist aller Sinn bestimmt, noch gibt es etwas innerhalb der Grenzen unserer Welt, das mich annehmen ließe, Sinn sei bestimmbar. Sowohl die Religionstheorie als auch die Theologie sollten sich, wenn sie Herausforderungen alltäglicher Lebensführung in den Blick nehmen, auf solche Aussagen beschränken, die an der Wirklichkeit unserer Lebenswelt nicht zerschellen müssen. Theologie sollte im Horizont der christlichen Tradition zu einem tieferen Verstehen der Herausforderungen individueller Lebensführung beitragen – und nicht etwa die christliche Tradition als Antidot gegen die Nebenwirkungen kultureller Individualisierungsprozesse anpreisen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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