Walpurgisnacht - Gustav Meyrink - E-Book

Walpurgisnacht E-Book

Gustav Meyrink

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Beschreibung

Zur Walpurgisnacht – Meyrinks Klassiker wieder im Programm  Schauplatz des spannenden Romans ist – wie im ›Golem‹ – die alte Kaiserstadt Prag. Es herrscht Chaos, unheimliche Dinge geschehen. Es sind schwere Zeiten für die Liebe zwischen dem Geiger Ottokar und der Adeligen Polyxena, deren Schicksal sich in einer turbulenten Walpurgisnacht erfüllt. Auch wenn Meyrink nicht mit einem Happy End aufwartet – seine originelle Mischung realer und okkulter Welten mit vielen grotesk-komischen Situationen und witzigen Figuren ist einmal mehr bestechend. 

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Gustav Meyrink

Walpurgisnacht

Phantastischer Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Neuausgabe 2012Veröffentlicht 2008Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München© 2008Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, StuttgarteBook ISBN 978-3-423-41322-0 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14108-6Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/​ebooks

1. Kapitel – Der Schauspieler Zrcadlo

2. Kapitel – Die »neue Welt«

3. Kapitel – Hungerturm

Viertes Kapitel – Im Spiegel

Fünftes Kapitel – »Aweysha«

Sechstes Kapitel – Jan Zizka von Trocnov

Siebentes Kapitel – Abschied

Achtes Kapitel – Die Reise nach Pisek

Neuntes Kapitel – Die Trommel Luzifers

Nachwort

Zeittafel

[Informationen zum Buch]

[Informationen zum Autor]

1.Kapitel

Der Schauspieler Zrcadlo

Ein Hund schlug an.

Einmal. Ein zweitesmal.

Dann lautlose Stille, als ob das Tier in die Nacht hinein horche, was geschehen werde.

»Mir scheint, der Brock hat gebellt«, sagte der alte Baron Konstantin Elsenwanger, »wahrscheinlich kommt der Herr Hofrat.«

»Das ist doch, meiner Seel’, kein Grund nicht zum Bellen«, warf die Gräfin Zahradka, eine Greisin mit schneeweißen Ringellocken, scharfer Adlernase und buschigen Brauen über den großen, schwarzen, irrblickenden Augen, streng hin, als ärgere sie sich über eine solche Ungebührlichkeit, und mischte einen Stoß Whistkarten noch schneller, als sie es ohnehin bereits eine halbe Stunde hindurch getan hatte.

»Was macht er eigentlich so den ganzen, lieben Tag lang?« fragte der Kaiserliche Leibarzt Taddäus Flugbeil, der mit seinem klugen, glattrasierten, faltigen Gesicht über dem altmodischen Spitzenjabot wie ein schemengleicher Ahnherr der Gräfin gegenüber in einem Ohrenstuhl kauerte, die unendlich langen, dürren Beine affenhaft fast bis zum Kinn emporgezogen.

Den »Pinguin« nannten ihn die Studenten auf dem Hradschin und lachten immer hinter ihm drein, wenn er Schlag 12Uhr mittags vor dem Schloßhof in eine geschlossene Droschke stieg, deren Dach erst umständlich auf- und wieder zugeklappt werden mußte, bevor seine fast 2Meter hohe Gestalt darin Platz gefunden hatte.– Genau so kompliziert war der Vorgang des Aussteigens, wenn der Wagen sodann einige hundert Schritt weiter vor dem Gasthaus »Zum Schnell« halt machte, wo der Herr Kaiserliche Leibarzt mit ruckweisen vogelhaften Bewegungen ein Gabelfrühstück aufzupicken pflegte.––

»Wen meinst du«, fragte der Baron Elsenwanger zurück,– »den Brock oder den Herrn Hofrat?«

»Den Herrn Hofrat natürlich. Was macht er so den ganzen Tag?«

»No. Er spielt sich halt mit den Kindern in den Choteks-Anlagen.«

»Mit ›die‹ Kinder«, verbesserte der Pinguin.

»Er– spielt– sich– mit– denen– Kindern«, fiel die Gräfin verweisend ein und betonte jedes Wort mit Nachdruck. Die beiden alten Herrn schwiegen beschämt.

–––––––––––––––––––––––––––––––––

Wieder schlug der Hund im Park an. Diesmal dumpf,– fast heulend.

Gleich darauf öffnete sich die geschweifte, dunkle, mit einer Schäferszene bemalte Mahagonitüre und der Herr Hofrat Kaspar Edler von Schirnding trat ein,– wie gewöhnlich, wenn er zur Whistpartie ins Palais Elsenwanger kam, mit engen schwarzen Hosen angetan und den ein wenig rundlichen Leib in einen Biedermeiergehrock von hellem Rehbraun und aus wunderbar weichem Tuch gehüllt.

Hastig wie ein Wiesel und ohne ein Wort zu verlieren, lief er auf einen Sessel zu, stellte seinen gradkrempigen Zylinderhut darunter auf den Teppich und küßte sodann der Gräfin zeremoniell die Hand zur Begrüßung.

»Warum er jetzt immer noch bellt?!« brummte der Pinguin nachdenklich.

»Diesmal meint er den Brock«, erläuterte die Gräfin Zahradka mit einem zerstreuten Blick auf Baron Elsenwanger.

»Herr Hofrat sehen so schweißbedeckt aus. Daß Sie sich mir nur nicht verkühlen!« rief dieser besorgt, machte eine Pause und krähte dann plötzlich in arienhaften Schwingungen in das finstere Nebenzimmer, das sich daraufhin wie durch Zauberschlag erhellte:

»Bozena, Bozena, Bo–schenaah, bitt’ sie, bring sie, prosim, das Supperläh!«

Die Gesellschaft begab sich in den Speisesaal und nahm um den großen Eßtisch herum Platz.

Nur der Pinguin stolzierte steif an den Wänden entlang, betrachtete bewundernd, als sähe er sie heute zum erstenmal, die Kampfszenen zwischen David und Goliath auf den Gobelins, und betastete die prachtvollen, geschweiften Maria Theresia-Möbel mit Kennerhänden.

»Ich war unten! In der Welt!«, platzte der Hofrat von Schirnding heraus und betupfte seine Stirn mit einem riesigen, rotgelb gefleckten Taschentuch, »und bei der Gelegenheit hab ich mir die Haare schneiden lassen«;– er fuhr sich mit dem Finger hinter den Kragen, als jucke ihn der Hals.

Derartige auf einen angeblich nur schwer zu bändigenden Haarwuchs abzielende Bemerkungen pflegte er jedes Vierteljahr zu machen, in dem Wahn, man wisse nicht, daß er Perücken trage– einmal langlockige, dann wieder kurzgeschorene–, und immer bekam er auch in solchen Fällen ein staunenerfülltes Gemurmel zu hören. Aber diesmal blieb es aus: die Herrschaften waren zu verblüfft, als sie vernahmen, wo er gewesen sei.

»Was? Unten? In der Welt? In Prag? Sie?« Der Kaiserliche Leibarzt Flugbeil war erstaunt herumgefahren. »Sie?«

Den beiden andern blieb der Mund offen. »In der Welt! Unten! In Prag!«

»Da– da haben Sie ja ieber die Bricke missen!« brachte die Gräfin endlich stockend heraus. »Was denn, wenn sie eingestirzt wäre?!«

»Eingestirzt!! No servus!« krächzte Baron Elsenwanger und wurde blaß. »Unberufen«– er ging zitterig zur Ofennische, vor der noch aus der Winterszeit her ein Scheit Holz lag, nahm es, spuckte dreimal darauf und warf es in den kalten Kamin.– »Unberufen.«

Bozena, das Dienstmädchen, in zerlumptem Kittel, ein Kopftuch um und barfuß, wie es in altmodischen Prager Patrizierhäusern üblich ist, brachte eine prunkvolle Schüssel aus schwerem getriebenem Silber herein.

»Aha! Wurstsuppe!« brummte die Gräfin und ließ befriedigt ihre Lorgnette fallen.– Sie hatte die Finger des Mädchens, die in viel zu weiten, weißen Glacéhandschuhen staken und in die Brühe hineinhingen, für Würste gehalten.–

»Ich bin mit– der Elektrischen gefahren«, stieß der Herr Hofrat gepreßt hervor, immer noch voll Aufregung des überstandenen Abenteuers eingedenk.

Die andern wechselten einen Blick: sie fingen an, seine Worte zu bezweifeln. Nur der Leibarzt zeigte ein steinernes Gesicht.

»Ich war vor dreißig Jahren das letztemal unten– in Prag!«– stöhnte der Baron Elsenwanger und band sich kopfschüttelnd die Serviette um; die beiden Zipfel standen hinter seinen Ohren hervor und verliehen ihm das Aussehen eines furchtsamen großen weißen Hasen. »Damals, als mein Bruder selig in der Teinkirche beigesetzt wurde.«

»Ich war ieberhaupt mein Lebtag noch nicht in Prag«, erklärte die Gräfin Zahradka schaudernd. »Das könnt’ mich so haben!– Wo sie meine Vorfahren auf dem Altstädter Ring hingerichtet haben!«

»Nun das war damals im dreißigjährigen Krieg, Gnädigste«, suchte sie der Pinguin zu beruhigen. »Das ist schon lange her.«

»Ach was,– ich denk es noch wie heite. Ieberhaupt, die verfluchten Preißen!«– Die Gräfin starrte geistesabwesend in ihren Suppenteller, befremdet, daß keine Würste darin waren; dann funkelte sie durch die Lorgnette über den Tisch, ob die Herren sie ihr vielleicht weggeschnappt hätten.

Einen Augenblick lang versank sie in tiefes Nachdenken und murmelte vor sich hin: »Blut, Blut. Wie das herausspritzt, wenn man einem Menschen den Kopf abhaut.––– Daß Sie sich nicht gefirchtet haben, Herr Hofrat?! Was, wenn Sie unten in Prag den Preißen in die Hände gefallen wären?« fuhr sie laut, zu dem Edlen von Schirnding gewendet, fort.

»Den Preißen?– Wir gehen doch jetzt Hand in Hand mit den Preißen!«

»So? Ist der Krieg also endlich aus! No ja, der Windischgrätz, der hat’s ihnen halt wieder amal gegäben.«

»Nein, Gnädigste, wir sind mit die Preußen«– meldete sich der Pinguin,– »will sagen: mit ›denen‹ Preißen– schon seit drei Jahren gegen die Russen verbündet und––« (»Ver– bin–dät!«– bekräftigte der Baron Elsenwanger.–) »–und kämpfen Schulter an Schulter mit ihnen.– Es ist–––« er brach höflich ab, als er das ironische, ungläubige Lächeln der Gräfin bemerkte.

Das Gespräch stockte und man hörte eine halbe Stunde lang nur mehr das Klappern der Messer und Gabeln, oder das leise klatschende Geräusch, wenn Bozena mit ihren nackten Füßen um den Tisch herumging und neue Speisen auftrug.––

Baron Elsenwanger wischte sich den Mund: »Herrschaften! Wollen wir jetzt zum Whist––?«

– Ein dumpfes, langgezogenes Geheul klang durch die Sommernacht aus dem Garten herauf und schnitt ihm die Rede ab–––:

»Jesus, Maria,– ein Vorzeichen! Der Tod ist im Haus!«–

»Brock! Mistviech verflucht’s. Kusch dich!«– hörte man die halblaute Stimme eines Dieners unten im Park schimpfen, als der Pinguin die schweren Atlasvorhänge beiseite geschoben und die Glastür dahinter, die auf die Veranda führte, geöffnet hatte.–

Eine Flut von Mondlicht ergoß sich ins Zimmer und kühler Luftzug voll Akazienduft machte die Kerzenflammen in den gläsernen Kronleuchtern flackern und schwelen.

Auf dem kaum handbreiten Sims der hohen Parkmauer, hinter der ein Dunstmeer aus dem tief unten jenseits der Moldau schlummernden Prag rötlichen Dunst empor zu den Sternen hauchte, schritt langsam und aufrecht ein Mann, die Hände tastend vorgestreckt wie ein Blinder,– bald gespenstisch halbverdeckt durch silhouettenhafte Schlagschatten der Baumäste, daß es schien, als sei er aus glitzerndem Mondlicht geronnen, dann wieder grell beschienen, wie frei schwebend über dem Dunkel.

Der Kaiserliche Leibarzt Flugbeil traute seinen Augen nicht: eine Sekunde lang glaubte er, er träume, dann brachte ihn das plötzliche, wütende Aufbellen des Hundes zur Besinnung,– er hörte einen gellenden Schrei, sah die Gestalt auf dem Sims schwanken und, wie von einem lautlosen Windstoß weggeweht, verschwinden.

Das Prasseln und Brechen von Zweigen und Gebüsch verriet ihm, daß der Mann in den Garten herabgefallen war.–

»Mörder, Einbrecher!– Man muß die Wache holen!« zeterte der Edle von Schirnding, der auf den Schrei hin mit der Gräfin aufgesprungen und zur Tür geeilt war.

Konstantin Elsenwanger hatte sich wimmernd auf die Kniee geworfen, das Gesicht in den Sitzpolstern seines Lehnstuhles vergraben, und betete, in den gefalteten Händen noch ein gebratenes Hühnerbein, das Vaterunser.

Auf die schrillen Befehle des Kaiserlichen Leibarztes, der wie ein riesiger nächtlicher Vogel mit federlosen Flügelstümpfen von der Verandabrüstung hinab in die Finsternis gestikulierte, kam die Dienerschaft aus den Portierhäuschen in den Park gelaufen und durchsuchte mit Windlichtern, wild durcheinanderrufend, die dunkeln Bosketts.

Der Hund schien den Eindringling gestellt zu haben, denn er bellte laut und anhaltend in regelmäßigen Intervallen.

»No alsdann, was ist denn, habt’s den preißischen Kosaken endlich?« zürnte die Gräfin, die von Anfang an nicht die Spur von Aufregung oder Angst gezeigt hatte, durch ein offenes Fenster hinunter.

»Heilige Mutter Gottes, er hat den Hals gebrochen!«, hörte man das Dienstmädchen Bozena jammernd aufkreischen; dann trugen die Leute den leblosen Körper eines Menschen von dem Fuße der Mauer her in den Lichtschein, den das helle Zimmer hinaus auf den Rasenplatz warf.

»Bringt ihn herauf! Rasch! Bevor er verblutet«, befahl die Gräfin kalt und ruhig, ohne auf das Gewinsel des Hausherrn zu achten, der entsetzt dagegen protestierte und verlangte, man solle den Toten über die Mauer den Abhang hinunter werfen,–– ehe er wieder lebendig werden könne.

»Bringt’s ihm wenigstens hier hinein ins Bilderzimmer«, flehte Elsenwanger, drängte die Greisin und den Pinguin, der einen der brennenden Armleuchter ergriffen hatte, in den Ahnensaal und verschloß die Tür hinter ihnen.

–––––––––––––––––––––––––––––––––

Außer ein paar geschnitzten Stühlen mit hohen vergoldeten Lehnen und einem Tisch standen keinerlei Möbel in dem langgezogenen gangartigen Raum;– der dumpfe morsche Geruch und die Staubschicht auf dem Steinboden verrieten, daß er nie gelüftet wurde und seit langem nicht mehr betreten worden war.

Die lebensgroßen Gemälde darin waren ohne Rahmen in die Täfelungen der Wände eingelassen:– Porträts von Männern in Lederkollern, Pergamentrollen gebieterisch in den Händen haltend,– Frauen dazwischen mit Stuartkragen und Puffen an den Ärmeln,– ein Ritter in weißem Mantel mit Malteserkreuz, eine aschblonde junge Dame im Reifrock, Schönheitspflästerchen auf Wange und Kinn, ein grausames, wollüstig süßes Lächeln in den verderbten Zügen, mit wundervollen Händen, schmaler, gerader Nase, feingeschnittenen Nüstern und feinen hochgeschwungenen Brauen über den grünlichblauen Augen,– eine Nonne im Habit der Barnabiterinnen,– ein Page,– ein Kardinal mit asketischen mageren Fingern, bleigrauen Lidern und versunkenem farblosem Blick. So standen sie in ihren Nischen, daß es aussah, als kämen sie aus dunklen Gängen herbei ins Zimmer, aufgeweckt nach jahrhundertelangem Schlaf infolge des flackernden Glanzes der Kerzen und der Unruhe im Hause.– Bald schienen sie sich heimlich vorbeugen zu wollen, voll Vorsicht, daß nicht ein Rascheln der Kleider sie verrate,– schienen die Lippen zu bewegen und lautlos wieder zu schließen, mit den Fingern zu zucken, oder die Mienen hochzuziehen, um sofort in Starrheit zu versinken, als hielten sie den Atem an und ließen ihr Herz stillstehen, wenn der Blick der beiden Lebenden sie flüchtig streifte.

»Sie werden ihn nicht retten können, Flugbeil«, sagte die Gräfin und sah wartend unverwandt zur Türe. »Es ist wie damals. Wissen Sie! Er hat den Dolch im Herzen stecken.– Sie werden wieder sagen: hier ist leider jede menschliche Kunst am Ende.«

Der Kaiserliche Leibarzt verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte. Dann begriff er mit einemmal.– Er kannte das an ihr. Sie verwechselte die Vergangenheit mit der Gegenwart,– pflegte dergleichen zuweilen zu tun.

Dasselbe Erinnerungsbild, das ihr Gedächtnis verwirrte, wurde plötzlich auch in ihm lebendig: vor vielen, vielen Jahren hatte man in ihrem Schlosse auf dem Hradschin ihren Sohn erstochen ins Zimmer hineingetragen. Und vorher ein Schrei im Garten, das Bellen eines Hundes– alles genau wie heute. Wie jetzt hier im Raum hatten auch damals Ahnenbilder an den Wänden gehangen und ein silberner Armleuchter auf dem Tisch gestanden.–

Einen flüchtigen Augenblick lang war der Leibarzt so verwirrt, daß er nicht mehr wußte, wo er war. Die Erinnerung hielt ihn so gefangen, daß es ihm gar nicht wie Wirklichkeit vorkam, als man den Verunglückten zur Tür hereinbrachte und vorsichtig niederlegte. Er suchte unwillkürlich nach Worten des Trostes für die Gräfin wie einst, bis ihm mit einem Schlage klar bewußt wurde, daß es doch nicht ihr Sohn war, der hier lag, und daß statt ihrer jugendlichen Erscheinung von damals eine Greisin mit weißen Ringellocken am Tische stand.–

Eine Erkenntnis, schneller als ein Gedanke und schneller, als daß er sie richtig hätte erfassen können, durchzuckte ihn und ließ das dumpfe, rasch verdämmernde Gefühl in ihm zurück, daß die »Zeit« nichts als eine diabolische Komödie sei, die ein allmächtiger unsichtbarer Feind dem menschlichen Gehirn vorgaukelt.

Nur die einzige Frucht blieb ihm als Ernte: daß er blitzartig mit dem innern Empfinden einen Moment lang begriffen hatte– was er früher niemals richtig zu verstehen fähig gewesen war–, nämlich die seltsamen befremdlichen Seelenzustände der Gräfin, die bisweilen sogar historische Ereignisse aus der Zeit ihrer Ahnen als gegenwärtig empfand und mit ihrem Alltagsleben unentwirrbar zu verknüpfen pflegte.

Er empfand es wie einen unwiderstehlichen Zwang, daß er sagen mußte: Wasser bringen! Verbandszeug!,– daß er sich wieder, wie damals, herabbeugte und nach dem Aderlaßschnepper in seiner Brusttasche griff, den er aus alter, längst überflüssig gewordener Gewohnheit immer bei sich trug.

Erst als der Atemhauch aus dem Munde des Ohnmächtigen seine prüfenden Finger traf und sein Blick zufällig auf die nackten weißen Schenkel Bozenas fiel, die mit der den böhmischen Bauernmädchen eigentümlichen, schamfreien Ungeniertheit sich mit emporgerutschtem Rock niedergekauert hatte, um besser sehen zu können,– kam er wieder völlig ins Gleichgewicht: das Bild der Vergangenheit löste sich angesichts der fast schreckhaften Gegensätze zwischen blühendem jungen Leben, der Totenstarre des Bewußtlosen, den schemenhaften Gestalten der Ahnengemälde und den greisenhaft gefurchten Zügen der Gräfin, wie ein verdunstender Schleier von der Gegenwart.

Der Kammerdiener stellte den Leuchter mit den brennenden Kerzen auf den Boden und ihr Schein erhellte das eigentümlich charakteristische Gesicht des Verunglückten, der,– die Lippen unter dem Einfluß der Ohnmacht aschfarben und widernatürlich abstechend von den grellrot geschminkten Wangen– eher der wächsernen Figur einer Schaubude als einem Menschen glich.

»Heiliger Wenzel, es ist der Zrcadlo!« rief das Dienstmädchen und zog– wie unter der Empfindung, als habe das Pagenporträt in der Wandnische infolge des Lichtflackerns plötzlich ein begehrliches Auge auf sie geworfen– züchtig ihren Rock über die Kniee.

»Wer ist’s?« fragte die Gräfin erstaunt.

»Der Zrcadlo,– der: ›Spiegel‹«, erklärte der Kammerdiener, den Namen »Zrcadlo« aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzend, »mir nennt ihm so hier heroben auf dem Hradschin, aber mir weiß nicht, ob er wirklich so heißt.– Er ise sich Aftermieter bei der––« er stockte verlegen, »bei der– no, halt bei der böhmischen Liesel.«

»Bei wem?«

Das Dienstmädchen kicherte in den vorgehaltenen Arm, und auch das übrige Gesinde verbiß mühsam das Lachen.

Die Gräfin stampfte mit dem Fuße auf:

»Bei wem, will ich wissen!«

»Die ›böhmische Liesel‹ war in früheren Jahren eine berühmte–– Hetäre«, nahm der Leibarzt das Wort und richtete sich an dem Verunglückten auf, der bereits die ersten Lebenszeichen von sich gab und mit den Zähnen knirschte. »Ich wußte gar nicht, daß sie noch lebt und sich auf dem Hradschin herumtreibt; sie muß ja uralt sein. Sie wohnt wohl––«–– »in der Totengasse, da, wo die schlechten Madeln alle beisamm sind«, bekräftigte Bozena eifrig.

»So geh sie das Frauenzimmer holen!« befahl die Gräfin.

Dienstbeflissen eilte das Mädchen hinaus.

–––––––––––––––––––––––––––––––––

Inzwischen hatte sich der Mann aus seiner Betäubung erholt, starrte eine Weile in die Kerzenflammen und stand dann langsam auf, ohne die geringste Notiz von seiner Umgebung zu nehmen.

»Glaubt ihr, daß er hat einbrechen wollen?« fragte die Gräfin halblaut das Gesinde.

Der Kammerdiener schüttelte den Kopf und tupfte sich vielsagend auf die Stirn, um anzudeuten, daß er ihn für wahnsinnig halte.

»Meines Erachtens handelt es sich um einen Fall von Schlafwandeln«, erklärte der Pinguin. »Solche Kranke pflegen bei Vollmond von einem unerklärlichen Wandertrieb befallen zu werden, in dem sie dann, ohne sich dessen bewußt zu sein, allerhand seltsame Handlungen begehen, Bäume, Häuser und Mauern erklettern und oft auf den schmalsten Stegen und in schwindelnder Höhe, zum Beispiel auf Dachrinnen, mit einer Sicherheit einherschreiten, die ihnen bestimmt mangeln würde, wenn sie wach wären.–– Holla, Sie, pane Zrcadlo!« wandte er sich an den Patienten, »glauben Sie, sind Sie jetzt soweit bei sich, daß Sie nach Hause gehen können?«

Der Mondsüchtige gab keine Antwort; trotzdem schien er die Frage gehört, wenn auch nicht verstanden zu haben, denn er drehte langsam den Kopf nach dem Kaiserlichen Leibarzt und blickte ihm mit leeren, unbeweglichen Augen ins Gesicht.

Der Pinguin fuhr unwillkürlich zurück, strich sich ein paarmal nachdenklich über die Stirn, als stöbere er in seinen Erinnerungen, und murmelte: »Zrcadlo? Nein. Der Name ist mir fremd.– Aber ich kenne diesen Menschen doch!– Wo hab ich ihn nur gesehen?!«

Der Eindringling war hochgewachsen, hager und dunkelhäutig; langes, trockenes, graues Haar hing ihm wirr um den Schädel. Das schmale, bartlose Gesicht mit der scharfgeschnittenen Hakennase, der fliehenden Stirn, den eingesunkenen Schläfen und den verkniffenen Lippen, dazu die Schminke auf den Wangen und der schwarze abgetragene Samtmantel,– alles das wirkte durch die Schroffheit des Widerspiels, als habe ein wüster Traum und nicht das Leben selbst diese Gestalt in den Raum gestellt.

»Er sieht aus wie ein Pharao der alten Ägypter, der die Verkleidung eines Komödianten gewählt hat, um zu verbergen, daß seine Mumie unter der Maske steckt«, schoß dem Kaiserlichen Leibarzt ein krauser Gedanke durch den Kopf. »Unbegreiflich, daß ich mich nicht entsinnen kann, wo ich diesen doch so auffallenden Zügen begegnet bin?«

»Der Kerl ist tot«, brummte die Gräfin, halb für sich, halb zu dem Pinguin gewendet, und studierte furchtlos und ungeniert, als handle es sich um die Betrachtung einer Statue, in unmittelbarster Nähe durch ihre Lorgnette das Antlitz des aufrecht vor ihr stehenden Mannes– »solche verschrumpelte Augäpfel kann nur eine Leiche haben.– Mir scheint, er kann sie ieberhaupt nicht bewegen, Flugbeil!––– So fircht er sich doch nicht, Konstantin, wie ein altes Weib!« rief sie laut zur Speisezimmertür, in deren langsam sich öffnender Spalte die bleichen, erschreckten Gesichter des Hofrats Schirnding und des Barons Elsenwanger aufgetaucht waren, »kommen Sie doch beide herein, Sie sehen ja: er beißt nicht.«

Der Name »Konstantin« wirkte wie eine seelische Erschütterung auf den Fremden. Er zitterte einen Augenblick heftig von Kopf bis zu Fuß und der Ausdruck seiner Züge wechselte blitzartig gleich dem eines Menschen, der, in unglaublicher Weise Herr seiner Gesichtsmuskeln, vor einem Spiegel Fratzen schneidet.– Als seien die Nasen-, Backen- und Kinnknochen unter der Haut plötzlich weich und biegsam geworden, verwandelte sich sein Mienenspiel aus der soeben noch hochmütig dreinblickenden starren Maske eines ägyptischen Königs, eine ganze Reihe sonderbarer Phasen durchlaufend, nach und nach in eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Familientypus der Elsenwanger.

Kaum eine Minute später hatte eine gewisse bleibende Physiognomie sein bisheriges Aussehen derart verdrängt und sich in seinen Zügen festgesetzt, daß die Anwesenden zu ihrem größten Staunen momentelang glaubten, einen völlig anderen vor sich zu haben.

Den Kopf auf die Brust gesenkt und die eine Wange wie von einer Zahngeschwulst zum linken Auge, das darunter klein und stechend erschien, emporgezogen, trippelte er eine Weile mit krummen Knieen, die Unterlippe vorstreckend, unschlüssig vor dem Tisch herum, tastete dann an seinem Körper nach Taschen und wühlte scheinbar darin.

Endlich erblickte er den Baron Elsenwanger, der sich, sprachlos vor Entsetzen, an den Arm seines Freundes Schirnding geklammert hielt, nickte ihm zu und meckerte: »Konstantindl, gut, daß du kommst, den ganzen Abend hab ich dich schon gesucht.«

»Jezis, Maria und Joseph«, heulte der Baron auf und floh zur Türe, »der Tod ist im Haus. Hilfe, Hilfe, das ist ja mein seliger Bruder Bogumil!«

Auch der Edle von Schirnding, der Leibarzt und die Gräfin, die alle drei den verstorbenen Baron Bogumil Elsenwanger bei dessen Lebzeiten gekannt hatten, waren bei dem Ton der Stimme des Schlafwandlers zusammengezuckt, so überaus ähnlich klang sie der des Verblichenen.

Ohne sich im geringsten um sie zu kümmern, eilte Zrcadlo jetzt geschäftig im Zimmer hin und her und rückte an eingebildeten Gegenständen, die offenbar nur er sah, die aber vor dem geistigen Auge der Zuschauer leibhaftige Gestalt anzunehmen schienen, so plastisch und eindringlich waren seine Bewegungen, mit denen er sie anfaßte, hob und wegstellte.

Als er dann plötzlich aufhorchte, die Lippen spitzte, zum Fenster trippelte und ein paar Takte einer Melodie pfiff, als säße dort ein Star in einem Käfig,– aus einer imaginären Kassette einen ebenso unsichtbaren Mehlwurm nahm und ihn seinem Liebling hinhielt, standen bereits alle so unter dem Bann des Eindrucks, daß sie vorübergehend ganz vergaßen, wo sie waren und sich in die Umgebung zurückversetzt wähnten, in der der tote Baron Bogumil noch hier gehaust hatte.

Erst als Zrcadlo, vom Fenster zurückkommend, wieder in den Lichtschein trat und der Anblick seines schäbigen schwarzen Samtmantels die Illusion für einen Augenblick zerstörte, faßte sie das Grauen an und sie warteten stumm und widerstandslos, was er weiter beginnen werde.

Zrcadlo überlegte eine Weile, während der er wiederholt aus einer unsichtbaren Dose schnupfte, rückte dann einen der geschnitzten Sessel in die Mitte des Zimmers vor einen eingebildeten Tisch, setzte sich und begann, vorgebeugt und den Kopf schief gelegt, in der Luft zu schreiben, nachdem er vorher eine imaginäre Gänsefeder genommen, geschnitten und gespalten hatte– wiederum mit so erschreckend das Leben nachahmender Deutlichkeit, daß man sogar das Knirschen des Messers zu hören vermeinte.

Mit angehaltenem Atem sahen ihm die Herrschaften zu,– das Gesinde hatte bereits vorher auf einen Wink des Pinguins das Zimmer auf Zehenspitzen verlassen–; nur von Zeit zu Zeit unterbrach ein angstvolles Stöhnen des Barons Konstantin, der von seinem »toten Bruder« den Blick nicht zu wenden vermochte, die tiefe Stille.

Endlich schien Zrcadlo mit dem Brief, oder was er sonst zu schreiben sich einbildete, fertig zu sein, denn man sah ihn einen komplizierten Schnörkel– offenbar unter seinen Namenszug– setzen. Geräuschvoll schob er den Stuhl zurück, ging zur Wand, suchte lange in einer Bildernische, in der er tatsächlich einen– wirklichen Schlüssel fand, drehte an einer Holzrosette an der Täfelung, sperrte ein dahinter sichtbar werdendes Schloß auf, zog ein Fach heraus, legte seinen »Brief« hinein und drückte die Schublade in die Wand zurück.

Die Spannung der Zuschauer hatte sich so gesteigert, daß niemand die Stimme Bozenas hörte, die draußen vor der Türe halblaut rief: »Milostpane! Gnä’ Herr! Dirfen wir herein?«

»Haben– haben Sie’s gesehen? Flugbeil, haben Sie’s auch gesehen? War das nicht eine wirkliche Schublade, was mein Bruder selig da aufgemacht hat?« brach Baron Elsenwanger stockend und schluchzend vor Aufregung das Schweigen; »ich hab doch gar nicht geahnt, daß da eine Schubladen is.« Jammernd und die Hände ringend brach er los: »Bogumil, um Gottes willen, ich hab dir doch nichts getan! Heiliger Václav, vielleicht hat er mich enterbt, weil ich seit dreißig Jahren nicht in der Teinkirche war!«

Der Kaiserliche Leibarzt wollte zur Wand gehen und nachsehen, aber ein lautes Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab.

Gleich darauf stand eine hohe, schlanke, in Fetzen gehüllte Weibsperson im Zimmer, die von Bozena als »die böhmische Liesel« vorgestellt wurde.

Ihr Kleid, ehemals kostbar und mit Schmelz besetzt gewesen, verriet noch immer durch seinen Schnitt und wie es sich um Schultern und Hüften legte, welche Sorgfalt auf seine Herstellung verwandt worden war. Der bis zur Unkenntlichkeit zerknüllte und von Schmutz starrende Besatz an Hals und Ärmeln bestand aus echten Brüsseler Spitzen.

Das Frauenzimmer mochte hoch in den Siebzigern sein, aber immer noch wiesen ihre Züge, trotz der grauenhaften Verwüstung durch Leid und Armut, die Spuren einstiger großer Schönheit auf.

Eine gewisse Sicherheit im Benehmen und die ruhige, beinahe spöttische Art, mit der sie die drei Herren ansah,– die Gräfin Zahradka würdigte sie überhaupt keines Blickes– ließen darauf schließen, daß ihr die Umgebung in keiner Weise imponierte.

Sie schien sich eine Zeitlang an der Verlegenheit der Herren, die sie offenbar aus ihrer Jugendzeit her genauer kannten, als sie vor der Gräfin merken lassen wollten, zu weiden, denn sie schmunzelte vielsagend, kam aber dann dem Kaiserlichen Leibarzt, der etwas Unverständliches zu stottern begann, mit der höflichen Frage zuvor:

»Die Herrschaften haben nach mir geschickt; darf man wissen, worum es sich handelt?«

Verblüfft über das ungewöhnlich reine Deutsch und die wohlklingende, wenn auch ein wenig heisere Stimme, nahm die Gräfin ihre Lorgnette vor und musterte mit funkelnden Augen die alte Prostituierte. Aus der Befangenheit der Herren schloß sie mit richtigem weiblichen Instinkt sofort auf die wahre Ursache und rettete die peinlich gewordene Situation mit einer Reihe rascher, scharfer Gegenfragen:

»Dieser Mann dort«– sie deutete auf Zrcadlo, der, das Gesicht zur Wand gekehrt, regungslos vor dem Bildnis der blonden Rokokodame stand,– »ist vorhin hier eingedrungen. Wer ist er? Was will er? Er wohnt, här’ ich, bei Ihnen?– Was is mit ihm? Is er wahnsinnig? Oder besoff––?«– sie brachte das Wort nicht heraus– bei der bloßen Erinnerung, was sie vor kurzem mit angesehen, packte sie wieder das Grausen.– »Oder– oder, ich meine,– hat er Fieber?–––– Ist er vielleicht krank?« milderte sie den Ausdruck.

Die »böhmische Liesel« zuckte die Achseln und drehte sich langsam zu der Fragerin; in ihren wimpernlosen, entzündeten Augen, die in die leere Luft zu schauen schienen, als stünde dort, woher die Worte gekommen waren, überhaupt niemand, lag ein Blick, so hochfahrend und verächtlich, daß der Gräfin unwillkürlich das Blut ins Gesicht stieg.

»Er ist von der Gartenmauer heruntergefallen«, mischte sich der Kaiserliche Leibarzt schnell ein. »Wir glaubten anfangs, er sei tot und haben deshalb nach Ihnen geschickt.–– Wer und was er ist«– fuhr er krampfhaft fort, um zu verhindern, daß sich die Sachlage weiter unangenehm zuspitze, »tut ja nichts zur Sache. Allem Anschein nach ist er ein Schlafwandler.– Sie wissen doch, was das ist?– Nun, sehen Sie, ich hab mir gleich gedacht, daß Sie wissen, was das ist.– Ja. Hm.– Und da müssen Sie halt des Nachts auf ihn ein bissel acht geben, damit er nicht wieder ausbricht.– Vielleicht haben Sie die Güte, ihn jetzt heim zu bringen? Der Diener oder die Bozena können Ihnen dabei behilflich sein. Hm. Ja.– Nicht wahr, Baron, Sie geben doch die Erlaubnis?«

»Ja. Ja. Nur hinaus mit ihm!« wimmerte Elsenwanger, »o Gott, nur fort, nur fort!«

»Ich weiß bloß, daß er Zrcadlo heißt und wahrscheinlich ein Schauspieler ist«, sagte die »böhmische Liesel« ruhig. »Er geht des Nachts in den Weinstuben herum und macht den Leuten etwas vor.– Freilich, ob er«– sie schüttelte den Kopf, »ob er selber weiß, wer er ist, hat wohl noch keiner herausgebracht.– Und ich kümmere mich nicht darum, wer und was meine Mieter sind.– Ich bin nicht indiskret.– Pane Zrcadlo! Kommen Sie! So kommen Sie doch!– Sehen Sie denn nicht, daß hier keine Gastwirtschaft ist?«

Sie ging zu dem Mondsüchtigen und faßte ihn an der Hand.–

Willenlos ließ er sich zur Tür führen.

Die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Baron Bogumil war vollständig aus seinen Zügen gewichen; seine Gestalt schien wieder größer und straffer, sein Gang sicher und das normale Selbstbewußtsein halb und halb zurückgekehrt,– trotzdem nahm er noch immer keine Notiz von den Anwesenden, als seien alle seine Sinne für die Außenwelt verschlossen wie die eines Hypnotisierten.

Aber auch der hochfahrende Ausdruck des ägyptischen Königs war aus seinem Gesicht ausgelöscht. Nur noch ein »Schauspieler« war übriggeblieben,– doch was für ein Schauspieler!– Eine Maske aus Fleisch und Haut, jeden Augenblick zu einer neuen unbegreiflichen Veränderung gespannt,– eine Maske, wie der Tod selbst sie tragen würde, wenn er beschlösse, sich unter die Lebenden zu mischen,– »das Antlitz eines Wesens«– fühlte der Kaiserliche Leibarzt, den wiederum eine dumpfe Furcht, er müsse diesen Menschen schon einmal irgendwo gesehen haben, befallen hatte, »eines Wesens, das heute der und morgen ein völlig anderer sein kann– ein anderer, nicht nur für die Mitwelt, nein, auch für sich selbst,– eine Leiche, die nicht verwest und der Träger ist für unsichtbare, im Weltraum umherirrende Einflüsse,– ein Geschöpf, das nicht nur ›Spiegel‹ heißt, sondern vielleicht wirklich– einer ist.«

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Die »böhmische Liesel« hatte den Mondsüchtigen aus dem Zimmer gedrängt, und der Kaiserliche Leibarzt benützte die Gelegenheit, ihr zuzuflüstern:

»Geh sie jetzt, Lisinka; ich werd’ sie morgen aufsuchen.– Aber sprech sie mit niemand drüber!– Ich muß Näheres über diesen Zrcadlo erfahren.«

Dann blieb er noch eine Weile zwischen Tür und Angel stehen und horchte die Treppe hinab, ob die beiden wohl miteinander sprechen würden, aber das einzige, was er hören konnte, waren immer die gleichen beruhigenden Worte des Frauenzimmers: »Kommen Sie, kommen Sie, Pane Zrcadlo! Sie sehen doch, es ist kein Gasthaus hier!«–

Als er sich umdrehte, bemerkte er, daß die Herrschaften bereits ins Nebenzimmer gegangen waren, sich am Spieltisch niedergesetzt hatten und auf ihn warteten.

An den blassen, aufgeregten Gesichtern seiner Freunde sah er, daß ihre Gedanken wahrlich nicht bei den Karten weilten, und daß es wohl nur ein herrischer Befehl der willensstarken alten Dame gewesen war, der sie gezwungen hatte, ihre gewohnheitsmäßige abendliche Zerstreuung aufzunehmen, als sei nicht das geringste geschehen.

»Das wird heute ein konfuser Whist werden«, dachte er bei sich, ließ sich aber nichts merken und nahm nach einer leichten vogelartigen Verbeugung der Gräfin gegenüber Platz, die mit nervös zuckenden Händen die Blätter verteilte.

2.Kapitel

Die »neue Welt«

»Wie die Damoklesschwerter hätten seit Menschengedenken die ›Flugbeile‹, die alle kaiserliche Leibärzte gewesen waren,– über Böhmens sämtlichen gekrönten Häuptern gehangen, bereit, unverzüglich auf ihre Opfer niederzufallen, sowie sich bei diesen auch nur die geringsten Anzeichen einer Krankheit zeigen wollten«,– war ein Sprichwort, das, auf dem Hradschin in Adelskreisen gang und gäbe, eine gewisse Bestätigung darin zu finden schien, daß mit dem Hinscheiden der Kaiserinwitwe Maria Anna tatsächlich auch das Geschlecht der Flugbeile in seinem letzten Sprossen, dem Hagestolzen Taddäus Flugbeil, genannt der Pinguin, dem Erlöschen geweiht war.

Das Junggesellenleben des Herrn Kaiserlichen Leibarztes, genau geregelt wie der Gang einer Uhr, hatte durch das nächtliche Abenteuer mit dem Schlafwandler Zrcadlo eine unliebsame Störung erlitten.

Allerlei Traumbilder waren durch seinen Schlummer geschritten, und schließlich hatte sich darein sogar der Schatten von schwülen Erinnerungen aus der Jugendzeit verirrt, in denen die Reize der »böhmischen Liesel«,– natürlich, als diese noch schön und begehrenswert gewesen–, eine nicht unwesentliche Rolle spielten.

Ein neckisches, konfuses Gegaukel von Phantasien, in dem das ungewohnte Gefühl, er halte einen Bergstock in der Hand, gewissermaßen den Glanzpunkt bildete, weckte ihn schließlich zu ungebührlich früher Stunde.

Jedes Frühjahr, genau am 1.Juni, pflegte der Herr Kaiserliche Leibarzt zur Kur nach Karlsbad zu fahren und zu diesem Zwecke, da er die Eisenbahn verabscheute, die er für eine jüdische Einrichtung hielt, eine Droschke zu benützen.

Wenn Karlitschek, so hieß der isabellfarbige Klepper, der den Wagen ziehen durfte, den eindringlichen Weisungen seines alten rotbewesteten Kutschers gemäß, den fünf Kilometer entfernten Prager Vorort Holleschowitz erreicht hatte, wurde jedesmal die erste Nachtrast gemacht und am nächsten Tag die dreiwöchentliche Fahrt in längeren oder kürzeren Etappen, je nachdem Karlitschek, das wackre Roß, gelaunt war, fortgesetzt;– in Karlsbad angelangt, konnte sichs dann bis zur Rückreise an Hafer dick und rund fressen, bis es einer rosa schimmernden Wurst auf vier dünnen Stelzbeinen glich, derweil der Herr Leibarzt sich selbst Bewegung per pedes verordnete.

Das Erscheinen der roten Datumsziffer: »1.Mai« auf dem Abreißkalender über dem Bette gab sonst immer das Zeichen, daß es höchste Zeit sei, die Koffer zu packen, aber diesmal würdigte der Herr Kaiserliche Leibarzt den Block keines Blickes, ließ den »30.April«, der den schauerlichen Unterdruck: »Walpurgisnacht« trug, unberührt hängen, begab sich an seinen Schreibtisch, nahm einen ungeheueren schweinsledernen, mit Messingecken verzierten Folianten vor, der schon von seinem Urgroßvater an jedem männlichen »Flugbeil« als Diarium gedient hatte, und begann unter den Aufzeichnungen seiner Jugendjahre nachzublättern, ob sich nicht vielleicht auf diesem Wege feststellen lasse, ob, wann und wo er dem unheimlichen Zrcadlo schon früher begegnet sei,– denn der Gedanke, daß dies der Fall sein müsse, quälte ihn unablässig.–

Seit seinem fünfundzwanzigsten Jahre und von dem Datum angefangen, als sein Vater gestorben war, hatte er pünktlich jeden Morgen seine Erlebnisse– genau,– wie einst seine seligen Vorfahren eingetragen und jeden Tag mit fortlaufenden Zahlen versehen.– Der heutige trug bereits die Ziffer: 16117.–

Da er nicht hatte wissen können, daß er Junggeselle bleiben und daher keine Familie hinterlassen werde, hatte er