Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater - Florian Heyden - E-Book

Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater E-Book

Florian Heyden

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Beschreibung

Ein faszinierender Einblick in das Leben einer der umstrittensten Männer deutscher Geschichte. Walter Ulbrichts Urenkel stößt mit diesem Buch die Türen seiner Familiengeschichte auf, um lang verborgene Geheimnisse zu lüften. Walter Ulbricht gilt als einer der bedeutendsten Politiker des geteilten Deutschland. Als hochrangiger Funktionär und Vorsitzender des Staatsrats der DDR verehrten, belächelten oder hassten ihn die Menschen. Wer war der Mensch hinter dem Politiker? Über Jahrzehnte schwieg die Familie, nichts drang nach außen, was nicht nach außen sollte. Über den Privatmann Walter, Ehemann, Vater und Freund schwieg die Familie Jahrzehnte eisern. Neugierig, wer sein Urgroßvater wirklich war, begibt sich Florian Heyden auf Spurensuche quer durch Europa. Er taucht tief ein in Walters Jugend, seinen Aufstieg in der KPD und sein Exil in Moskau. Er erfährt von Geliebten und Adoptivkindern, von intensiven Beziehungen und schmerzlichen Trennungen. Bildhaft und spannend erzählt er, was Walter Ulbricht sein Leben lang umtrieb: Der ewige Wettkampf zwischen Familie und Partei. Ein nie da gewesener Blick auf die bis heute geheim gehaltene Geschichte des mächtigsten Mannes der DDR.

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WALTER ULBRICHT. MEIN URGROSSVATER

Überarbeitete Neuauflage | August 2021

Copyright © Florian Heyden

Lektorat und Satz:

Die Zeichen | Manufaktur, www.zeichenmanufaktur.deUmschlaggestaltung:

FAVORITBUERO, München, www.favoritbuero.deMarketing:

Agentur mainwunder, www.mainwunder.de

Vertrieb:

Nova MD GmbH

Printed in Poland

Alle Rechte sind vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, ist nicht gestattet. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.

Alle Abbildungen stammen aus dem Archiv Florian Heyden, dem Russischen und Deutschen Bundesarchiven

ISBN 9783985947287

Für Lala, Lucie & Noé

Genf, im Frühjahr 2021

Inhalt

Vorwort zur Neuauflage   |   ⁠6

Prolog   |   7

Heranwachsender   |   ⁠9

Sozialdemokrat   |   17

Revolutionär   |   23

Parteiarbeiter   |   ⁠34

Politiker   |   ⁠47

Bezirksleiter   |   ⁠57

Widerstandskämpfer   |   ⁠68

Emigrant   |   ⁠76

Organisator   |   ⁠87

Propagandist   |   ⁠106

Planer   |   ⁠118

Heimkehrer   |   ⁠130

Postskriptum   |   ⁠136

Referenzen   |   ⁠142

Literatur   |   ⁠159

Prolog

In meiner Familie ist das Private nicht privat und das Öffentliche nicht öffentlich. Geschichte war nie nur die Geschichte großer Persönlichkeiten. Unsere Familie ist Teil der Geschichte. Bei uns ist alles Private durchdrungen von den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts, auch den leidvollen. „Wir sind anders“, meinte meine Großmutter immer. Sie gab den Satz wie ein Erbstück von Generation zu Generation weiter. Das Erbe war Abgrenzung und Außenseitertum – im Alltag, in der Schule, überall.  

Unsere Familiengeschichte war ein gut gehütetes Geheimnis. Meine Eltern und Großeltern sprachen nicht über unsere Vergangenheit. Sie lebten mit der ständigen Gewissheit, dass man uns überwacht, ohne zu wissen, wer, wo und wann. Meine Großmutter zog nach dem Krieg zur Familie ihres Mannes, meines Großvaters, nach Lübeck. Sie dachte, sie ließe ihre Wurzeln hinter sich. Gleich wie sie es versuchte, es gelang ihr nicht. Meine Großeltern hatten Angst vor der Intoleranz ihrer Mitmenschen und vor Überwachung. Unsicherheit war ihr ständiger Begleiter. Die Angst, dass jemand herausfinden könnte, wer sie waren, übertrug sich wie eine Vererbung. Wir sprachen nicht offen darüber, aber sie war Teil ihres Lebens. Egal, ob mein Großvater seinen Schwiegervater verschwieg oder auf ihn verwies, die Nähe zu Walter Ulbricht war Grund für Ausgrenzung, Kündigungen und Umzüge. Meine Großeltern konnten nirgends Fuß fassen. Jeder hatte Angst, ins Visier zu geraten.

Mehrmals mussten meine Großeltern ihr Leben, ihren Freundeskreis und Umfeld neu aufbauen. Mehrmals wurde es zerstört, und sie mussten von vorn beginnen. Die Presse – Stern und Bild – waren wiederholt „zu Besuch“ bei ihnen. Meine Großmutter bat erfolglos darum, unseren Namen oder Wohnort nicht zu nennen. Ständig waren sie auf der Hut, versuchten nicht aufzufallen und machten sich klein. Dass die Presse wusste, wer sie waren, bedeutete weitere Beobachter. Mein Vater erinnerte sich gut, wie nach dem Prager Frühling zwei Herren in auffällig-unauffälligen dunklen Anzügen und breitem Akzent auftauchten und nach seinem Großvater fragten. Ihm war klar, dass neben dem MfS auch der BND und andere unsere Familie überwachten.

Zwei Haltungen dominieren bis heute die Sicht auf Walter Ulbricht: Die einen beweihräuchern ihn, die anderen hassen ihn. Dazwischen ist wenig. Also: Wer war dieser Mensch jenseits aller Klischees und Ideologien? Sebastian Haffner sagte, kein deutscher Staatsmann außer Bismarck habe die Geschichte seines Staats so lange beeinflusst wie er, keiner so wirkungsvoll1. Wie kam das? Wer war dieser „universelle Geist“, dem „Oberflächlichkeit fremd war“? Wer war dieser „deutsche Arbeitersohn“? War er der zynische „rote Zar der Sowjetzone, Diktator, Zuhälter, Hochverräter?“ Eine „graue Maus“, von „Millionen gefürchtet, gehasst und verflucht“? Ein „Mensch ohne Charisma, Charakter und Charme, kontaktarm, ein schlechter Redner“?2

Nach außen wirkte Walter Ulbricht verkrampft und angestrengt, sprach einzig über Politik. In der Familie wurde er locker und entspannt. In seinem Lebensstil blieb er bescheiden und anspruchslos. Er rauchte nicht und trank selten Alkohol. Soweit es seine Gesundheit zuließ, trieb er Sport, fuhr leidenschaftlich Ski und machte ausgedehnte Spaziergänge. Er führte am Ende in dritter Ehe ein intaktes, bürgerliches Familienleben. Politisch hat er sämtliche Krisen navigiert und unzählige Rivalen ausmanövriert. Er hat einen Staat gegründet und konsolidiert, hat Prinzipientreue mit Geschmeidigkeit kombiniert. Sein demütiger Fleiß mündete in Gleichgültigkeit gegenüber eigenen Gefühlen. Er hätte den Lebensunterhalt seiner Familie respektabel als Tischler bestreiten können. Er hat den für ihn „richtigen“ dem einfachen Weg vorgezogen. Seine zweite Frau, Rosa, meint in ihren Erinnerungen, es ist genug gesagt, wenn man überhaupt über sein Privatleben schreiben will, dass er als Berufsrevolutionär sein Privatleben der Partei untergeordnet hat. Das gilt auch gegenüber seinen drei Frauen und seinen Töchtern. Er gehörte der Partei, fühlte sich schuldig, wenn er sich ihr nicht restlos widmete.

Dieses Buch ist eine Aufarbeitung. Es zeichnet das Leben meines Urgroßvaters bis Ende 1945 nach. Es ist die erste Hälfte seiner Geschichte, in der zwei Weltkriege, Revolution, Verfolgung und ein Leben im Exil der Rahmen waren. Die Dramatik dieser Zeit und die Anforderungen, die sie an ihn stellte, hätten nicht größer sein können. Rekonstruiert aus Akten, Gesprächen, Briefen und Nachlässen soll hier unverstellt sein Leben nachvollzogen werden. Das hilft hoffentlich, seine Entscheidungen in dieser Umbruchszeit, seine Weltsicht und Denkweisen verstehen zu helfen. Besonderen Dank schulde ich – neben zahllosen anderen – Andrea Bentschneider, Kirill Chashchin für unzählige Stunden Recherche, konstruktiver Kritik, Erstellung, Ausarbeitung und Durchsicht des Manuskripts. Weiter danke ich vor allem den Russischen und Deutschen Bundesarchiven, dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, dem Englischen Nationalarchiv und besonders Jörg und Alain.

Heranwachsender

Walter Ulbricht wächst in bescheidenen Verhältnissen in Leipzig auf. Sein Vater, der Schneidermeister Ernst August, und seine Mutter Pauline umsorgen ihn und seine beiden jüngeren Geschwister liebevoll. „Große Sprünge“ wie den Besuch einer weiterführenden Schule können sie ihren Kindern nicht bieten.

Mein Urgroßvater kommt am 30. Juni 1893 um halb zwölf Uhr mittags in einer bescheidenen Dachwohnung in der Gottschedstraße3 im Westen Leipzigs zur Welt. Seine Eltern, Schneidermeister Ernst August Ulbricht und seine Frau Pauline, sind seit einem Jahr verheiratet und leben erst seit einem halben Jahr zusammen hier. Ihre Hochzeit war vor kaum vier Monaten im Februar 1892 in Leipzig. Die Ulbrichts sind beide als überzeugte Sozialisten politisch hochaktiv. An den Stadtverordnetenwahlen kann aber nur teilnehmen, wer das Bürgerrecht besitzt. Nach Anfrage des Stadtrats beim Polizeiamt um ein Führungszeugnis4 leistet Ernst August Ulbricht daher dem Aufruf der SPD folgend am 10. August 1892 seinen Bürgereid. „Vater Ulbricht“ ist mit Leib und Seele sozialdemokratischer Parteifunktionär. Die Alexanderstraße ist Ernst Augusts Agitationsbezirk. Mit dem Parteilokal im Restaurant Morgenröte in der Hauptmannstraße gehört er der Mitglieder-, Zeitungs- und Bürgerrechtskommission des Bezirks Westen I an. Pauline ist im sechsten Monat schwanger, als das junge Ehepaar am 28. März 1893 frisch verheiratet ihre Dachwohnung in der Gottschedstraße bezieht. Das Haus ist erst zehn Jahre alt und eine gute Adresse: Hausbesitzer Wolanke achtet auf den Ruf seiner Mieter, „gutes Bürgertum“ mit ehrbaren Berufen, vom Architekten bis zum Rechtslehrer. Der spätere Reichskanzler Gustav Stresemann wird wenige Jahre nach den Ulbrichts im Haus wohnen. Am 15. Oktober lassen Ernst und Pauline ihren Sohn evangelisch auf den Namen Walter Ernst Paul taufen. Pate ist ihr Nachbar, Hochschullehrer Lincke: „Paul Hugo Lincke, Rechtslehrer aus der Gottschedstr. 4, wünscht seinem lieben Patenkinde Walther [sic] Ernst Paul Ulbricht fröhliches Gedeihen zum Tauftag am 15. Oktober 1893.“5

Ihr Sohn gedeiht. In der Gottschedstraße, an der Grenze des Naundörfchens, teilt sich die Familie mit den anderen Hausbewohnern einen Garten, ein kleines Privileg. Er wächst liebevoll von seinen Eltern umsorgt auf. Die Familie hat es ansonsten nicht leicht. Ursprünglich kommen die Ulbrichts vom Land. Walters Großeltern väterlicherseits stammen aus Krummenhennersdorf zwischen Dresden und Chemnitz, Paulines Familie aus Schildau in Torgau. Großvater Heinrich Ferdinand Ulbricht hat als Bergschmied bei Freiberg gearbeitet, der Vater Ernst, im März 1864geboren, ist in Leipzig ein Schneidermeister, dessen Arbeit die Kunden schätzen: „Herr Schneider Ulbricht war ein guter Schneider, […] Rauchwarenhändler Martin Marcus und seine Söhne sowie andere verwöhnte Herren ließen bei ihm arbeiten.“6 Trotz Anerkennung kommt die Familie finanziell nur schlecht über die Runden und Walters Mutter Pauline näht für die Nachbarschaft. Sie hilft auf dem Markt aus und verkauft Gemüse, um die karge Familienkasse aufzubessern. Knapp drei Jahre nach der Geburt muss die Familie am 8. April 1896umziehen, denn sie kann sich die steigende Miete in der Gottschedstraße nicht mehr leisten.7 In den Nachwuchs investieren die Eltern trotz knapper Kassen. In der Vorschulzeit besucht Walter den Leipziger Pestalozzi-Kindergarten, um ihn umfassend zu fördern, sein Gemeinschaftsgefühl zu stärken und ihn seine eigenen Begabungen entdecken zu helfen

Ein Jahr später treten Walters Eltern 1897 aus der Evangelischen Kirche aus und werden Mitglied der freien Deutschkatholischen Gemeinde. Die Deutschkatholiken sind eine religiös-politische Bewegung, die ihre Wurzeln in den 1840er-Jahren hat. Die Freireligiösen sind in den Industrieregionen in Schlesien, Sachsen und im Rheinland populär. Sie bieten Lebenshilfe und wenden sich gegen Dogmatismus und die Repressalien der konservativen Fürstentümer. Die freireligiösen Gemeinden lehnen das kirchliche Lehramt und päpstliche Primat, Heiligenverehrung, Beichte, Zölibat sowie traditionelle Liturgieformen ab und erkennen nur Taufe und Abendmahl als Sakramente an. Sie fordern soziale Verbesserungen, eine Stärkung des öffentlichen Schulwesens, Armenärzte, Armenkassen, Turn- und Badeanstalten, was sie vor allem bei Arbeitern und der unteren Mittelschicht populär macht. Der Staat macht den Kirchenaustritt der Familie nicht leicht. Vater Ernst muss dem Pfarrer 2 Mark und dem Amtsgericht 8,75 Mark zahlen. Dazu kommen 15 Stunden Lohnausfall. Für den einfachen Schneider eine beträchtliche finanzielle Einbuße.8 Mit sechs Jahren kommt der Junge 1899 in die Volksschule. Er besucht die fünfte Bezirksschule in der Elsässer Straße. Er ist eifrig und hat Interesse, herausragend sind seine Noten nicht.9 Sobald er lesen kann, beginnt er, von seinen Eltern ermutigt, sozialistische Literatur zu lesen. Als Walter sieben ist, zieht die Familie erneut um. Jetzt in eine noch billigere Wohnung in der Alexanderstraße. Der Anlass für den erneuten Umzug ist die Geburt von Bruder Erich. Ein Jahr später bringt Mutter Pauline in der neuen Wohnung Schwester Hildegard zur Welt. Vater Ernst liebt die Natur, kennt alle Bäume und Vögel. Sonntags wandert die Familie in die Natur des Leipziger Umlands. Bei Pausen in Wirtshäusern trinken die Eltern Kaffee, die Kinder bekommen Limonade. Der letzte Umzug liegt erst eineinhalb Jahre zurück, als die Familie erneut umzieht; die neue Wohnung liegt in der Kolonnadenstraße.10 Die zahlreichen Umzüge sind eine Unstetigkeit, die anhalten und prägen wird. Walter ist knapp zehn Jahre alt und verbringt seine Zeit am liebsten mit „Räuber und Gendarm“- oder „Trapper und Indianer“-Spielen.11

Mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft stromert er in der Gerberstraße, dem Flussbett der Parte, dem Tröndlinring an der Gewerbeausstellung, dem Fleischerplatz, vom Ranstätter Steinweg bis zur Poniatowskibrücke, der Parkanlage Rosental oder dem Naundörfchen, in dem das städtische Schwimmbad liegt. Im Winter laufen die Kinder Schlittschuh. Arm sind sie alle.

Walter ist ein zurückhaltendes und stilles Kind, versteht sich allerdings zu wehren: „Mein Name ist nicht Ullrich, sondern Ulbricht!“,12 brüllt er eines Tages seinen Spielgenossen Carl an, einen dicken Jungen mit Brille und verkümmertem Arm, der ihn beim falschen Namen ruft. Man verträgt sich und man schlägt sich.

Er würde lieber Fußball spielen, als Schularbeiten zu machen. Seine Mutter achtet aber darauf, dass er gut lernt und lässt ihn erst gehen, wenn er seine Hausaufgaben erledigt hat. Im Hause herrscht Ordnung. Wenn Walter, ohne seine Hausaufgaben zu machen, zum Spielplatz will, schließt sie die Wohnungstür ab. Bildung ist der Familie wichtig. Die Kinder arbeiten viel für die Schule und sind strebsam.

Beide Eltern nehmen sich neben der Arbeit Zeit, um Schulhefte durchzusehen, sprechen regelmäßig mit den Lehrern der Kinder13 und erkundigen sich nach ihren Leistungen. Sie bemühen sich, die Kinder zu fördern. Trotz des kargen Einkommens lassen sie ihren Sohn Theater und Konzerte besuchen. Zu Hause lesen die Kinder Klassiker, wie Walters Lesekarte der Stadtbibliothek zeigt.

Der Crimmitschauer Textilarbeiterstreik von August 1903 bis Januar 1904 erschüttert das Kaiserreich und prägt Walter.14 Crimmitschau im Landkreis Zwickau ist ein Zentrum der Textilindustrie. Mit zahlreichen Tuchfabriken, Spinnereien, Färbereien und Zwirnereien ist Crimmitschau als „Stadt der 100 Schornsteine“ bekannt. Gemessen an der Einwohnerzahl leben hier mehr Millionäre als irgendwo anders im Reich. Den Arbeitern geht es nicht gut: Ihre Arbeitszeit ist mit 11 Stunden länger als in anderen vergleichbaren Betrieben im Reich. Wenn der Absatz stockt, gibt es Entlassungen – eine Katastrophe für jede Familie. Mehrmals haben die Arbeiter erfolglos für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. Jetzt sind es vor allem die Arbeiterinnen, Frauen und Mütter, die sich für den Zehnstundentag einsetzen. „Eine Stunde für uns! Eine Stunde für unsere Familie! Eine Stunde fürs Leben!“, ist ihre Parole. Die angebotene halbe Stunde weniger Arbeitszeit reicht den Streikenden nicht. Immer mehr streiken, bis rund 8 000 Arbeiter im Ausstand stehen. Die Fabrikanten versuchen, mit Streikbrechern die Arbeit fortzusetzen, die sie deutschlandweit anwerben. Die Streikenden blockieren den Zutritt in die Fabriken. Insgesamt 21 Wochen kämpfen sie, unterstützt von Spenden aus dem In- und Ausland für den Zehnstundentag. Auch Walter sammelt in Leipzig mit seinen Eltern Spenden. Aus dem Ausstand ist ein nationales Symbol geworden, als die Gewerkschaft den Streik im Januar 1904 abrupt beenden.15

Die Regierung hat den „kleinen Belagerungszustand“ verhängt und auswärtige Gendarmerie stationiert. Fabrikbesitzer werben überall im Reich Streikbrecher an. Die Gewerkschaftsführer plädieren für ein Ende des Streiks und empfehlen, die Arbeit zu den alten Bedingungen aufzunehmen. 500 Streikende verlieren ihre Arbeit. Ihr Ziel haben sie nicht erreicht.

In Leipzig gründen Sozialdemokraten im Sommer 1906 den Arbeiterjugend-Bildungsverein mit Sitz im Volkshaus. Die Jugendlichen verwalten sich allein.16 Ein Großteil der Mitglieder sind Lehrlinge und ungelernte Arbeiter. Dem leitenden Jugendvorstand stehen erwachsene Jugendbeiräte wie Ernst Ulbricht zur Seite. Sein Sohn verbringt jetzt den Großteil seiner freien Zeit hier, liest Goethe, Schiller und Marx. Als freireligiöser Sozialist stellt Ernst Ulbricht seine Kinder vom Religionsunterricht frei. Sie besuchen eine Klasse mit Populärwissenschaft, Goethe, Schiller und Heine.17 Das macht sie zu Außenseitern.18 „Der Ulbricht, mit dem hatten wir nichts zu tun. Mit dem durften wir uns nicht sehen lassen.“19 Die Geschwister leiden in der Schule unter dem Gespött ihrer Mitschüler als „Rote“20. Als Freireligiöser besuchen sie die Gemeindenachmittage.21 Hier ist Walter still und zurückhaltend. Andere Schüler bemerken ihn wenig. Er „fiel überhaupt nicht auf. Da er nur sehr wenig sagte, meinten wir, er sei dumm. Außerdem hatten wir keinen Kontakt zu ihm, weil er von einer anderen Schule kam und weil er aus einer Gegend stammte, mit deren Bewohnern man […] nichts zu tun haben mochte.“22 Anders als seine anderen Lehrer ist Walters Hauptlehrer fortschrittlich. Er macht zweimal im Jahr mit den Schülern Wanderungen. Das Fahrgeld bezahlt die Schule, Essen und Übernachtung der Lehrer.23

Er weckt Walters Interesse für Naturwissenschaft und regt ihn an Darwin, Bölsche und Haeckel zu lesen. Er schlägt Walters Eltern vor, ihren Jungen auf eine Hochschule zu schicken. Für die Studiengebühren fehlt allerdings das Geld. Um Berufe kennenzulernen, die ihm offenstehen, arbeitet Walter neben der Schule in einer Handwerkerschule. Die Familie nimmt die Berufswahl ernst. Er probiert Schlosser- und Klempnerei, Kunstschnitzerei, Tischlerei und Buchbinderei. Als die Eltern meinen, er solle Tischler werden, stimmt er zu. Am Palmsonntag, 24. März, markiert die Jugendweihe den Übergang ins Erwachsenenalter. Prediger Kippenberger gibt ihm vor versammelter Gemeinde zur Konfirmation seinen Denkspruch: „Stets handle fest nach männlichen Gesetzen, die Du Dir schreibst; und eines zu verletzen, sei Hochverrat an der Vernunft. Trägst du Zufriedenheit in deiner Seele, so hast du Glück für dich genug, so quäle dich nicht um Beifall einer Zunft.“24

Die Jugendweihe markiert das Ende der achtjährigen Volksschulzeit, damit beginnt der 14-Jährige am 23. Mai 1908 standesgemäß seine vierjährige Tischlerlehre bei Hallitzschke & Volkmer in der Leipziger Dorotheenstraße.25 Die Tischlerei des Meisters Ernst Werners ist eine respektable Adresse, in der vornehme Kunden arbeiten lassen. Die Arbeit beginnt morgens um 6 Uhr und endet abends um 19 Uhr. Der Lohn beträgt die ersten drei Jahre magere 3 Mark, im Abschlussjahr 4 Mark die Woche. Trotz des niedrigen Lohns zeigt sich der Junge als stolzer Sozialist: Als er eine Kommode an den griechischen Konsul liefert, lehnt er das angebotene Trinkgeld ab. Mit seinen Kollegen ist er „gesellig, verträglich und lebhaft als Lehrling wie als Schüler“26.

Die Gewerkschaften erreichen in dieser Zeit ihre ersten großen Erfolge. Die Familie Ulbricht nutzt trotz der langen Arbeitszeiten jede freie Minute, um sich weiterzubilden und politisch zu engagieren. Walter tritt in den Arbeiterturnverein Eiche ein. Er ist beim Sport ehrgeizig. Er lebt in einer politisch aufgeladenen Atmosphäre, beruflich wie privat, und nimmt an seinem ersten Streik teil. Die Aussperrung verläuft friedlich, Streikposten sitzen auf Stühlen vor der Werkstatt und lassen niemanden hinein. Die Streikenden rühren Streikbrechern Seife in den Leim, damit die fertigen Möbel später in Stücke gehen.27

Wie man streikt, lernt er vom Vater. Ernst Ulbricht ist Gewerkschafter, Vorstandsmitglied der Schneidergewerkschaft und SPD-Vertrauensmann. Seit dessen Gründung vor zwei Jahren ist er Beirat des Jugendbildungsvereins Alt-Leipzig,28 dem sein Sohn im Oktober 1908 beitritt. Mit Knebelbart und breitem Kalabreser, kräftig-fröhlicher Stimme ist Ulbricht Senior bei den Jugendlichen beliebt.29 In den vier Räumen im Parterre und im Obergeschoss leben die Geschwister Ulbricht ein reges Vereins- und Parteileben. Auf Vortrags- und Spieleabenden singen und tanzen die Jungen und Mädchen mittwochs und donnerstags zusammen. Daneben tischlert Walter hier in seiner Freizeit mit anderen Lehrlingen ein Rednerpult, das er auf Diskussionsabenden benutzt.30 Neben Arbeit und Politik begeistert sich der Jungfunktionär in der Alberthalle für Musik und Malerei, trifft sich an Sonntagen mit Freunden zu Ausflügen ins Umland.

Eine Zeitlang arbeitet er als Hilfsbibliothekar.31 Schwester Hildegard bringt anderen im Jugendheim Stenografie bei.32Walter liest viel: klassische Literatur, Goethe, Schiller, Heine, Herwegh, Ibsen und Maxim Gorki, in Kursen studiert er die Arbeiterbewegung, Geschichte und Volkswirtschaft.33 Noch heute zeigen seine zerfledderten Reclam-Hefte und sein Leseausweis der Bücherhallen sein Interesse. Mehr als 30 Bücher über Luftschiffart, Wirtschafts-, Literatur- und Weltgeschichte, Balkan, Pädagogik, Renaissancemaler, antike Sagen leiht er aus. Ludwig Thomas Lausbubengeschichten stehen ebenso auf der Liste. Die Familie liest die Leipziger Volkszeitung und diskutiert über Artikel. Als Parteifunktionär nimmt Vater Ernst seinen ältesten Sohn illegal zu politischen Vorträgen der SPD mit. Da Jugendlichen der Besuch von politischen Versammlungen verboten ist, bringen ältere Genossen ihre Mitgliedsbücher vor den Saal, um die Eingangskontrolle der Polizei zu umgehen.34 Als Gewerkschaftsvorstand bekommt Ernst Ulbricht zu Hause Besuch von Kollegen, um Gewerkschaftsfragen zu diskutieren.  

Walter nimmt seine Gewerkschaftsarbeit ernst, verteilt heimlich in der Nachbarschaft SPD-Flugblätter. Damit die Polizei ihn nicht erwischt und verhaftet, beginnt er mit dem Verteilen in den oberen Stockwerken.35 Die Leipziger Partei nimmt ihn später für seine Arbeit in den inneren Funktionärskörper des Stadtteils Mitte des 12. Wahlkreises auf.36

Als Walters Tischlerwerkstatt erneut streikt, schlagen die jungen Schreiner Streikbrecher mit Tischbeinen in die Flucht. Die soziale Lage heizt sich langsam auf. Im November kommt es in Leipzig zu Demonstrationen gegen das neue Dreiklassenwahlrecht. Die Wahlrechtsreform zementiert die politische Ungleichheit und teilt alle Wahlberechtigten nach ihrem Einkommen in drei Klassen ein. Die erste Klasse stellt mit vier Prozent aller Wähler ebenso viele Wahlmänner für den Reichstag wie die dritte Klasse mit 82 Prozent. Unter den 40 000 Teilnehmern ist auch die Arbeiterjugend. Flankiert von berittener Polizei ist es Walters erste große Demonstration.37 Trotz der Diskriminierung wird die SPD stärker.

Im Juli 1909 zieht die Familie in die Alexanderstraße.38 Ein halbes Jahr später wird Walter Mitglied des Jugendausschusses der Arbeiterbildung und rückt in die Führung der Arbeiterjugend auf. Er tritt dem Holzarbeiterverband bei und beginnt als Gewerkschafter zu arbeiten. Im April 1911 bekommt er seine erste größere eigene Mission. Das Sekretariat der Arbeiterjugend schickt ihn mit zwei Genossen nach Zwenkau, südwestlich von Leipzig, um die jungen Arbeiter zu organisieren.39 Drei Wochen später beendet er seine Lehre. „Nachdem er das Tischlerhandwerk während vier Jahren […] bei dem Tischler-Meister Herrn E. Werner zu Leipzig gehörig erlernt hat, heute vor dem unterzeichneten Prüfungsausschusse die Gesellenprüfung mit dem Prädikat gut bestanden.“40

Sein Gesellenstück ist eine Kücheneinheit. Der Tisch hat sich wacklig und gerichtet in der Familie erhalten, der Rest in Leipzig. Walter will ein guter Tischler sein, er ist dankbar: „Nicht nur der Meister, sondern auch die älteren Lehrlinge haben uns Lehrlingen geholfen, etwas Tüchtiges zu werden.“41 Mit dem Ende seiner Lehre verabschiedet sich Walter ab dem 5. Mai zusammen mit Otto Heyden nach altem Brauch zur Wanderschaft. Nachmittags sind Otto und Walter noch bei Alfred für eine einfache und kleine Abschiedsfeier, „wie es sich für […] Proletarier geziemte“. „Dann Abendbrot gegessen, Rucksack gepackt, noch ein bisschen […] geschlafen und […] es geht hinaus in die fremde Ferne.“ Walter Vater bringt die Jungen bis zum Dresdner Bahnhof.42 Über Riesa geht es zu zweit zunächst nach Dresden. Von hier geht es am 9. Mai weiter „über Riesa mit der Bahn nach Dresden. In Riesa imponiert die ‚Pferdeelektrische‘ ganz gewaltig“.

In Dresden ist eine Herberge schnell gesucht, das Gepäck abgegeben, und hinaus ins Freie. Zunächst der Zwinger. Sehen tun die beiden nicht viel, außer dass „der Bau ein Rechteck ist mit [Blöcken] in Sandstein“. Die Stadt imponiert mit ihren Barockbauten, der Gemäldegalerie im Zwinger, dem Elbstrom und Wanzenballade im Gewerkschaftshaus. Am Ausstellungsplatz angekommen, wispert den beiden jemand in der Menge zu: „Der König kommt!“ Nach einer Weile „erschienen fremde Gesandte Japaner u. Chinesen, werden gebührend bestaunt“. Ein Nebenstehender meint „sehnse nich den da oben in dem grünen Überzieher?“ „Schon, was ist es denn für ein Tierchen?“ „August!“ meint der Mann neben den Jugendlichen stolz. Plötzlich kommen Gendarmen, treiben die Neugierigen zurück und halten den Verkehr an. Doch es ist nichts, August geruhte „die geduldigen Patrioten zu veralbern“. Er geht zurück, der abgesperrte Verkehr kann passieren. So geht es noch zwei Mal. Der Wachtmeister schwitzt bis unters Kinn und schimpft. Der König kommt schließlich herausgefahren, grüßt und ist verschwunden. Die Belohnung für zwei Stunden Warten. „Ein Lächeln zu erhaschen ist ja schon soviel.“ Im Großen Garten isst die Gruppe ihr Mittag und gibt sich dem Betrachten des Gartens hin: „Die Augusts, Johannen und wie sie sich […] schimpfen mögen, haben es verstanden das Volk bis aufs letzte auszubeuten, aber um ihre Maitressen zu befriedigen, haben sie alles getan, und mit entschiedenem Geschmack.“

„Anschließend wird ausgiebig […] das Elbsandsteingebirge durchwandert und von Herrnskreschen mit dem Schiff die Grenze nach Österreich ,überfahren‘. Die Jungen Grübeln. Neben „dem Kuhstall […] liegen wir und schauen in die Wolken […] Mein Herz schweige doch, schrei nicht so laut, befriedigt wirst du nicht werden ich bin ja nur ein Prolete, nur ein dreckiger Handwerksbursche und will ich doch die Welt besitzen! Nur Mühe und Arbeit hat sie für uns, […] solange müssen wir […] freudlos über den Boden der Erde gehen. Es ist eine traurige Zeit“.

Anschließend am Südrand des Erzgebirges entlang über Teplitz, Dux, Brüx nach Karlsbad. Karlsbad ist kein angenehmer Ort für Handwerksburschen. In Elnbogen, einem alten, malerischen Ort an der Egerschleife wartet noch heute der Herbergswirt auf 70 Heller […]. Über Eger ins Fichtelgebirge. Herunter nach Marktredwitz, Nürnberg. Der Leiter im Jugendbildungsverein Leipzig hat ihnen eingeschärft, auf jeden Fall das Germanische Museum zu besuchen. Zwei Mark Eintritt ist allerhand für die Kasse. Zum Direktor. Nach kurzem Verhör bekommen sie eine Freikarte und können die Kontrolle passieren. Über Ingolstadt nach München. Im Hofbräuhaus trinken sie tapfer eine Maß und schwanken hinaus zur Bavaria, um die südlich im Abendlicht grüßende Alpenkette zu bewundern. Gesprochen wird nicht viel. Die Jungen sitzen staunend mit lahmen Waden auf den Stufen und freuen sich über die fernen Schneehäupter. Die nächste Station ist Starnberg. In dem kleinen Ort Weilheim machen sie ausnahmsweise in einem Gasthaus Nachmittagsrast, weil es draußen heiß ist. Als sie zahlen wollen, hat ein älterer Herr im Voraus ihre Zeche beglichen. Hat er an seine jungen Jahre gedacht? Anderntags trennen sie sich. Walter fängt in Peißenberg als Bautischler an. Ganze zwölf Tage hat er es ausgehalten, bevor er in Garmisch aufkreuzt. Am Abend, Otto ist gerade zu Bett, hat an Walter gedacht, steht dieser bei ihm vor der Tür. Jetzt hat er in Garmisch Arbeit. Die beiden wollen hier arbeiten und gemeinsam ihre Tour fortzusetzen.

Gearbeitet wird, wo sich Stellen bieten. In Garmisch treten Walter und Otto eine Arbeit an und feiern Wiedersehen mit Alfred, der einen anderen Weg genommen hat. Die Feier wird lang, die drei gehen am Samstag spät zu Bett. Im Glauben, es sei Montagmorgen, tritt die Gruppe am Sonntagnachmittag unter dem Gelächter der Spaziergänger den Weg zur Arbeit an.43 Nach einer Woche wandern die drei weiter: Diese Zeit ist schön. Jeden Sonn- und Feiertag auf die Berge! Unvergesslich, unvergesslich ist ein Aufstieg auf den Krottenkopf zum Sonnenaufgang unter Führung Garmischer Naturfreunde.44 Pünktlich 5 vor 10 Uhr sind die beiden am Treffpunkt. Die Naturfreunde nicht. Warten bis halb elf. Es will sich niemand sehen lassen. Endlich um 11 Uhr haben die Jungen einen aufgegabelt. Es wird halb Mitternacht. Nach Partenkirchen. Um Mitternacht gehen sie auf St. Anton. Sie sind froh, überhaupt jemand erwischt zu haben, der mit ihnen geht. Sie gehen in die dunkle Nacht hinaus, einem unbekannten Ziele zu. Eine Laterne wird angezündet. Über ihnen funkelt der klare Nachthimmel. Im Tal leuchten die Lichter von Garmisch und in der Ferne liegt eine dunstig kohlschwarze Masse, die Berge. Nach der Wanderung legen sich die Jungen um 2 Uhr nachmittags schlafen, um halb sechs abends aufzuwachen. Sie meinen es sei 6 Uhr morgens. Um eine Erfahrung reicher, bleibt Otto misstrauisch und geht, um sich zu überzeugen. Auf der Straße trifft er Walter, der mit dem Leimtopf in furchtbarer Hast auf die Arbeit rennt – am Sonntag.  

Die beiden gehen Klettern. Otto fasst einen Steinvorsprung, um sich hinaufzuschwingen, aber wie er ihn fasst, fällt er herunter, ein zweiter stürzt hinterher. Er ruft nach unten „Walter duck dich aber schnaks! Geh auf die Seite!“ Von unten ruft Walter: „Was hast denn Du?“ „Gottverdammich ich kann sie kaum halten!“ Kaum ist Walter außer Schussweite, stürzen die Steine an ihm vorbei: „Wie wäre es geworden, wenn ich nicht fest gewesen wäre? Gewiss nicht gut für alle beide“, meint Otto.45 Walter hat genügend zu tun, um den Gesteinen Steinen aus dem Wege zu gehen. Die beiden werden vorsichtiger.

„Höllentalklamm, Wachenstein, Kramer und Loisachtal, Eibsee und all die anderen Perlen einer herrlichen Landschaft, gesehen mit jungen, schönheitsdurstigen Augen, ein Erleben, nicht durchreist, sondern erarbeitet, erwandert. Ein achtzehnjähriger Mensch kennt noch nicht die ganze Härte des Lebens. Ihm steht noch viel Sonne im Augenwinkel, und genügend Muskelspannung ist da, um heranzuholen, was nur irgend möglich ist. Große Pläne werden geschmiedet. In Turin ist die Weltausstellung. Wenn wir nicht von Venedig aus nach Ägypten können, dann über die oberitalienischen Seen nach Mailand und Turin.“ „Venedig, Gardasee, Mailand. Wenn dann noch das Nötige vorhanden ist, geht’s von hier nach Turin, in die Ausstellung, und sollten wir dann noch nicht den Mut verlohren [sic] haben, an die Riviera.“46

Über Mittenwald zieht die Gruppe nach Innsbruck weiter. „In Scharnitz Passkontrolle, Handwerksburschen werden mit besonderer Liebe beaugscheinigt. Doch unsere Papiere sind klar, und der vorschriftsmäßige Reisegroschen ist auch da“47. Doch die drei müssen sich trennen, da Alfred als Ausgehobener zum Militär keine Ausreiseerlaubnis hat. Ziel ist der Brenner. Dann wird der Jaufenpass überstiegen. Gestern noch im Norden, heute im Lande des Weines und südlicher Flora. Ein fast zu schroffer Übergang. Meran. Durchs breite, weinfröhliche Etschtal nach Bozen, zum Denkmal Walthers von der Vogelweide, und nun durchs romantische Eggental auf den Karerpass mit den beiderseitig bizarren Dolomitenbergen. Über Cavalese zurück ins Etschtal und nach Trient. In Trient wird Reisegeld vom Österreichischen Metallarbeiterverband48 abgehoben und die Kasse saniert. Über Pergine ins Suganertal. Trotz der Gemeinsamkeiten gibt es Spannungen. Otto hat eine Aussprache mit Walter und meint, er wolle von Venedig aus nach Wien, „wenn [sich] nicht bis dahin die Schlaferei und das Fressen […] ändert. […] So schön auch die Walzerei hier sein mag […], sobald die Walzbrüder nicht richtig harmonieren, [ist] es besser, wenn jeder seiner Wege geht“49. An der italienischen Grenze werden die beiden herzhaft gefilzt und mit einem Fußtritt ins Heilige Römische Reich eingelassen. Dann Bassano und per Eisenbahn in die Poebene.

Der weite, unbegrenzte Blick über diesen gesegneten Landstrich tut gut nach dem ewig begrenzten Sehen in den Bergen. Bis Mestre war, als ob man durch einen wohlbestellten Garten fahren würde. Jetzt liegt jenseits der Lagunenbrücke Venedig vor ihnen. Ein Traum erfüllt sich. Als sie den Bahnhof verlassen, müssen sie sich auf die Bahnhofstreppe setzen, so ein verwirrendes Bild tut sich auf. Der Süden mit seinen glänzenden Farben, dem leichthin trällernden Leben, dem Stimmengewirr sich anbietender Führer, Fruchtverkäufer, randalierender Bengel, stöckelschuhbehackter tändelnder Damen und kein Wagen – wie traumhaft wirkt das alles auf den Fremdling.

„Vor dem Bahnhof der Gondelverkehr. Statt fester Straßen‚ Wasser. Nicht im kühnsten Spintisieren als Junge habe ich geglaubt, eines Tages auf der Bahnhofstreppe in Venedig zu sitzen. Jetzt sitze ich da, fest und sicher. Aber alles Staunen weicht kühler Überlegung, und wir suchen mit Hilfe der Polizisten unter Gebrauch lebhaftester Gebärdensprache das Asyl für unbemittelte Reisende. Dort angekommen, wirft man uns kurzerhand […] hinaus, mit dem Bescheid, am Abend wiederzukommen. Zwei Tage Venedig. Wie eine unvergleichliche Kulturschatzkammer, wie ein Museum ist diese schwebende, schwimmende Stadt. Nach einem fröhlichen Nachmittag im Volksbad auf dem Lido geht die Reise weiter nach Padua. Dann per pedes apostolorum nach Vicenza, Verona.“50 Aus Italien schickt Walter der Familie in Leipzig Briefe über die „herrlichen Kunstwerke“, die er mit Otto besichtigt hat.51 „Die schreckliche Hitze macht uns mürbe, und statt nach Mailand und Turin marschieren wir ins Etschtal, nach Torbole und Riva.

Der Gardasee mit seinen zwischen den Uferfelsen zerspritzenden Wellen zaubert die schönsten Farbenspiele. In Riva sollen wir, wie in fast allen besuchten Orten des größten Reiseverkehrs, ein ziemlich teures Nachtquartier beziehen. Nach mancherlei vergeblichem Suchen lassen wir uns … nach einigem Hin und Her von der Hochlöblichen Polizei auf dem Bürgermeisteramt in Schutzhaft nehmen. Doch wie elend wird uns, als man von außen die Zelle verriegelt und wir uns im Dustern auf der Holzpritsche, nur mit Hemd, Hose und Strümpfen bekleidet, zur Ruhe legen. Umso interessanter wird der Morgen. In ein wahrhaft internationales Gasthaus hat man uns gesteckt.

 Erfahrene Hände haben mit philosophischen Sprüchen das Leid und die Freuden der Landstraße in bester Kundensprache an die Wände gezaubert. Die Polente kommt dabei nicht zu kurz. Es dauert lange genug, ehe geöffnet wird. Mit dem Segen, uns auf keinen Fall noch einmal sehen zu lassen, dürfen wir uns trollen. Selten hat die Sonne so schön geschienen wie an diesem Morgen“52. Sie ziehen weiter, sehen zum ersten Mal einen „breitströmigen“ Gletscher, und machen neben den spektakulären Naturerlebnissen erneut unschöne Erfahrungen. „Das Engadin ist handwerksburschen-feindlich, und wir trachten, auf dem schnellsten Wege über den Albulapass ins Tal des Oberrheins zu kommen.

Dann wieder auf den Gotthard hinauf nach Andermatt und über die vielgenannte Sankt-Gotthard-Straße mit der Teufelsbrücke hinunter zum Tell Denkmal in Altdorf. An und auf dem Vierwaldstätter See erleben wir recht lebendig die Geschichte Tells, die Tellkapelle, den Schillerstein und den Rütli.“53 Der Weg ist anstrengend und Otto meint hämisch: „Walter [tut] gar tüchtig auf die sakramentschen Berge schimpfen.“54 Über Stans nach Luzern. Hier wird fleißig Arbeit gesucht, jedoch bekommt nur Walter Beschäftigung in Sempach bei Luzern.

Metallarbeiter sind ausreichend vorhanden und Otto ist überflüssig. Die beiden schlafen im Asyl de nuit,55 bevor sie sich am 16. August trennen.56 Otto zieht es nach Rom. Walter arbeitet ab Januar ein halbes Jahr bei der Tischlerei Gebr. Helfenstein in Sempach und schließt sich der sozialistischen Jugendgruppe unter Willi Münzenberg und Jacob Herzog an. Kurz vor Weihnachten 1911 schreibt er aus Sempach, er studiere den Winter über drei Bände der „Geologie der Schweiz“57.

Ab Frühjahr 1912 wandert Walter alleine weiter. Im April arbeitet er bei der Schweizer Schreinerei Fuchs an der Werkbank. Nach sechs Wochen ertappt Fuchs ihn am 25. Mai dabei, wie er auf einem Kasten steht und politische Artikel vorliest. Er wird hinausgeworfen und zieht kurzerhand nach Vorarlberg weiter.58 Vom Vierwaldstädter See wandert er Anfang Juni über Interlaken und Genf nach Zürich. Bei strömendem Regen trifft er in Zürich ein. Er schreibt, es sei ihm auf der Walz so gut wie jetzt noch nie gegangen. Er plant, die Schweiz in Richtung Rhein zu verlassen. Die Arbeiterjugend bittet er um die Adressen jener, die in Kontakt bleiben wollen.59 Über Schaffhausen wandert er rheinaufwärts und findet einen Monat später in der Möbelfabrik Neckargemünd in der Mühlgasse Arbeit. Er wohnt für 3 Mark pro Woche in der Dachkammer der Witwe Kohl in der Hauptstraße. Abends trifft er sich mit den Gesellen in der Wirtschaft „Zum Pflug“ und der Stammkneipe „Ochsen“, diskutiert über Politik und erzählt von seiner Freundin Martha. Er erinnert sich wie er sie bei einer Landwanderung traf.60 Nach vier Wochen wandert er in einem großen Bogen über Köln, Antwerpen, Amsterdam, Bremen, Hamburg und Hannover weiter, bevor er zurück nach Leipzig geht.  

Auf allen Stationen besucht er Museen, das Deutsche Museum in München, das Geologische Museum in Genf und die Gemäldesammlungen in Brüssel und Amsterdam.61 Aus Düsseldorf schreibt er am 18. August, dass er bald daheim sei. Auch sein Wandergeselle Otto zieht in Leipzig bei Familie Ulbricht ein. Als Parteifunktionär nimmt Walter ihn ins Volkshaus, zu Reden und Streiks mit.62

Sozialdemokrat

Nach seiner Wanderschaft schließt Walter sich der SPD an und arbeitet als Tischler. Er ist Parteifunktionär, bis er zum Militär einberufen wird. Im Heer ist er als Sozialist aktiv und wird überwacht. Er desertiert, wird festgenommen und bleibt bis Ende des Kriegs in Haft.

Zurück in Leipzig arbeitet der 19-jährige Schreiner ab September wieder bei Hallitzschke & Volkmer, seinem Ausbildungsbetrieb. Er ist auch wieder in der Arbeiterjugend, verteilt in Zwenkau Flugblätter.63 Als Volljähriger tritt Walter von der Arbeiterjugend zur SPD über und besucht ab Dezember ein Dreivierteljahr lang mehrmals in der Woche nach der Arbeit und an Wochenenden die SPD-Parteischule.

Er diskutiert über Wirtschaft und Marxismus,64 liest den ersten Band des Kapitals, Engels, Kautsky und die „Neue Zeit“. Er versucht sich an schwerer geistiger Kost, schreibt „die Geschichte ist […] die Lehrmeisterin des Politikers […] wir können lernen, wie sich der Entwicklungsprozess zu unseren heutigen […] Verhältnissen vollzog“. „Die ökonomische Entwicklung zeigt die Tendenz einer rapiden Konzentration des Kapitals […] und der […] Zunahme der Klasse der Besitzlosen. […] Das Werkzeug zur Wahrung der Gesamtinteressen der herrschenden Klasse ist der Staat. Dies hat zur Folge, dass der Kampf, den das Proletariat […] führt, ein politischer sein muss.“65

Schon nach einem halben Jahr kündigt Walter bei Hallizschke und beginnt Ende April bei der Hofmöbelfabrik Carl Müller & Co. in der Kochstraße zu arbeiten. Aber auch hier bleibt er kaum sechs Wochen und verlässt die Arbeit schon Anfang Juni wieder. Bis November ist Walter ohne Arbeit und widmet sich ganz der Partei. Für sein Engagement wird er zum engsten SPD-Funktionärskreis, der „Korpora“, zugelassen.66 Otto Heyden bleibt vorerst in Leipzig bei Familie Ulbricht in der Alexanderstraße. In Leipzig findet er Arbeit, schließt sich wie Walter dem Jugendbildungsverein an und kommt über Ulbrichts in Kontakt zu den Naturfreunden. Zusammen besuchen Otto und Walter im Juli das Leipziger Gewerkschaftsfest. Otto gefällt es bei Ulbrichts so gut, dass er vergisst, nach Hause zu schreiben. Seine Mutter stichelt mit den Worten „bei Herrn Ulbricht“: „Wir möchten uns doch erlauben anzufragen, ob du noch lebst.“67

Ab November 1912 arbeitet Walter für vier Monate bei der Tischlerei Bruno Börner im Norden Leipzigs. Neben der Arbeit hat er ein großes Netzwerk aus Freunden und Gleichgesinnten. Das Umfeld tut den Jugendlichen gut. Bei der Hochzeit ihres Parteigenossen Alfred Arnholds Ende November treffen sich noch einmal alle Angehörigen und Freunde der Jugendgruppe.68

Im März 1914 verliert Walter seine Arbeit bei der Tischlerei Börner, kann aber schon kaum einen Monat später bei Max Kliem anfangen. Doch auch ohne Arbeit hat Walter genug zu tun. Er arbeitet durchgehend in der Jugendgruppe Alt Leipzig. Freunde erinnern sich an „sein stetes Lächeln, Kennzeichen aller Ulbrichts; er hatte langes blondes Haar, trug damals schon ein Bärtchen und den unvermeidlichen Schillerkragen“69.

Seit seiner Rückkehr liegt „Gewitter“ in der Luft, es riecht nach Krieg. In den schwül-warmen Sommertagen nach dem Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns am 28. Juni 1914 in Sarajewo jagen sich die Ereignisse. Noch im Juli veröffentlicht der SPD-Parteivorstand einen Aufruf gegen den Krieg, der für den jetzt 21-Jährigen von einschneidender Bedeutung ist: „Das klassenbewusste Proletariat […] fordert gebieterisch von der deutschen Regierung, dass sie ihren Einfluss auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübe und falls der schändliche Krieg nicht zu verhindern sein sollte, sich jeder kriegerischen Einmischung zu enthalten. […] Parteigenossen, wir fordern Euch auf, […] den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewussten Proletariats zum Ausdruck zu bringen. […] Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter missbrauchen.“70

Walter nimmt das Engagement gegen den Krieg ernst. Am nächsten Tag geht er zum Gewerkschaftsfest in Leipzig, das mit 30 000 Teilnehmern zur eindrucksvollen Demonstration gegen den Krieg wird. Die Leipziger SPD jedoch bietet kein einheitliches Bild. Ihre Führung hat sich mit dem Krieg abgefunden. Der nationalliberal-dominierte Rat der Stadt verbietet eine Demonstration der SPD auf dem Messplatz. Kundgebungen sollen unauffällig „im Saale“ stattfinden. Als Kompromiss vereinigen sich 70 000 Demonstranten nach getrennten Kundgebungen in verschiedenen Sälen zum gemeinsamen Demonstrationszug. Am Tag nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien demonstrieren noch einmal 200 000 Menschen in Leipzig. In der Stadt hallen die Sprechchöre gegen den Krieg.71 Von Versammlungsorten wie dem Volkshaus ziehen die Massen die Internationale singend durch die Innenstadt bis zum Augustusplatz. Nach der Demonstration denkt jeder, dass die Regierung es nicht wagen wird, einen Krieg anzufangen.

Die deutsche Kriegserklärung vier Tage später erschüttert Walter. Bestürzt liest er die Plakate zur Mobilmachung und hört die Menschen begeistert brüllen. Die SPD ist verstummt. Ihre Reichstagsfraktion stimmt nach einer flammenden Rede des Kaisers dem Burgfrieden zu und am 4. August 1914 geschlossen für Kriegsanleihen und das Ermächtigungsgesetz. Walter trifft sich am nächsten Tag mit Genossen, um zu besprechen, was zu tun ist. Die Gruppe besteht darauf, dass das Friedensmanifest des Internationalen Sozialistenkongresses nicht Schall und Rauch sein kann. Die Jugendlichen verstehen die Welt nicht mehr. Sie diskutieren über ihre Mitgliedschaft in der SPD und warum Liebknecht trotz seiner Stellungnahme in der Fraktion im Reichstag für die Kriegskredite gestimmt hat. Nach fünf Monaten bei Kliem ist Walter ab September erneut arbeitslos. Eine andere Arbeit nimmt ihn stärker in Anspruch. Walter verfasst und verbreitet mit anderen Jungfunktionären Flugblätter gegen den Krieg, die die Gruppe in kleiner Auflage per Abziehapparat herstellt. Er schreibt eifrig Manuskripte, aber muss seine Arbeit oft wieder mitnehmen, weil die Gruppe die Flugblätter nicht drucken kann. Nur gelegentlich gelingt es, Setzer und Drucker zu überreden, eine größere Auflage herauszubringen.72 In der Not springen befreundete Stenotypistinnen ein um Flugblätter per Schreibmaschine herzustellen. Als Liebknecht im Dezember alleine offen gegen die Kriegskredite stimmt, geht auch Walter mit anderen Jungfunktionären in Opposition. Die Gruppe vervielfältigt und verbreitet im Volkshaus illegal Liebknechts Rede „Zur Begründung eines Minderheitenvotums gegen die Kriegskredite“73.

Mithilfe der Buchdruckerei Müller in Schkeuditz druckt die Gruppe die Reichstagsrede gegen den Krieg in Leipzig. Bei der nächsten Zusammenkunft beschließt die Gruppe, in der kommenden Funktionärskonferenz Leipzigs zu sprechen. Auf der nächsten Versammlung der Leipziger SPD fordert Walter wie besprochen, die SPD solle jetzt gegen weitere Kriegskredite stimmen. Als er versucht, eine Resolution gegen die Politik des Parteivorstands durchzubringen, greift ihn der Bezirksvorstand scharf an. Die Bezirksleitung verhindert die Abstimmung und lehnt Walters Antrag ab. Drohend fragt die Leitung ihn rhetorisch, warum das Militär ihn noch nicht eingezogen habe. Auf der nächsten Versammlung im Januar 1915 geht Walter weiter auf Konfrontation. Er hält eine leidenschaftliche Rede gegen die Kriegskredite und verlangt vom Vorstand, objektiv über Liebknechts Reichstagsrede zu informieren. Zwar verhindert die Leitung wieder einen Beschluss, aber Walter erhält den Beifall der Versammlung. Die Admiralität erklärt am 4. Februar 1915 die Nordsee zum Kriegsgebiet. Ab jetzt wird jedes in diesem Kriegsgebiet angetroffene feindliche Kauffahrtschiff zerstört werden. Die Gruppe um Walter greift den U-Boot-Krieg in Flugblättern scharf an74 und verbreitet Titel wie „Disziplinbrüche“, „Parteidisziplin“, „Die Welt speit Blut“, „Der Hauptfeind steht im eigenen Lande“, „Wohin geht die Reise“.

Immerhin kehrt Walter zur Arbeit zurück. Er arbeitet wieder als Tischler bei Gustav Heinrich, doch auch diese Stelle hält ihn nicht lange. Walter ist rastlos. Die Partei ist ihm wichtiger.

Jetzt zieht die Armee auch Liebknecht ein. Bis auf sein Auftreten im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus ist ihm damit als Militär jede politische Arbeit verboten. Trotzdem bleibt er die Leitfigur der Friedensbewegung. Im März verbreiten die Jugendlichen, die sich jetzt „Gruppe Liebknecht“ nennen, als Reaktion auf Liebknechts Aushebung ein Flugblatt mit dessen Rede im Preußischen Landtag in größerer Auflage.

Die Partei sieht Walter als Unruhestifter. Um ihn auszuschalten, denunziert die Bezirksleitung unter Lipinski ihn wie schon angedroht bei der Reichswehr als Kriegsgegner. Kurz darauf zieht das Heer ihn im Mai zum Kriegsdienst ein. Zum Abschied schenkt er seiner Freundin Martha den Band „Lebensfreude, Sprüche und Gedichte“ mit der Widmung „Vorwärts sehen, vorwärts streben, keinen Raum der Schwäche geben, Schönem und Edlem allzeit hold! Wahlspruch – Meiner Freundin – Frühjahr 1915 – Walter“75.

Nach einer kurzen Ausbildung in der Prinz Johann Georg Kaserne in Gohlis und auf dem Übungsgelände in Lindenthal kommt Walter als Handwerker beim Wagenbau zur Fuhrpark-Kolonne im Trainbataillon 19. Der Gefreite dient vier Jahre im Königlich Sächsischen 8. Infanterie-Regiment Prinz Johann Georg Nr. 107 in Galizien und Polen, dann in Serbien und Mazedonien. Beim Militär ist er als „Roter“ bekannt. Sein Dienst wirkt auf ihn wie ein Strafbataillon: Es ist ihm „zeitweilig beinahe unmöglich, mit den Kameraden ein auch nur einigermaßen vernünftiges Wort zu reden“76.

Zu Ostern 1916 versammeln sich die oppositionellen SPD-Jungfunktionäre im Vegetarischen Speisehaus „Academia“ in Jena. Die Konferenz findet wegen des Belagerungszustands unter schwierigen Bedingungen statt. Allen Teilnehmern droht für ihre Teilnahme an der Konferenz Haft, Gefängnis, Schutzhaft und Einberufung zum Heer. Zur Tarnung ist die Zusammenkunft als Treffen der Naturfreunde angemeldet. Die Leipziger Delegierten schicken Walter in Briefen Bruchstücke von den Ergebnissen der Konferenz an die Front. Walter deutet in seiner Antwort an, dass er „draußen“ weiterlernt. Auch der Kontakt zur Schweizer sozialistischen Jugend, die er noch von seiner Wanderschaft kennt, besteht weiter. Aus Basel bittet Jacob Herzog die Familie um Neuigkeiten von Walter, da er von ihm keine Nachricht mehr habe und ihm seine Adresse unbekannt sei. Er bittet, ihm nach Erhalt der Karte eine Nachricht zu senden und ihm „die Bücher“ per Post zu schicken.77 Die Regierung ist über die Opposition im Bilde. Im Sommer gibt das Kriegsministerium den Befehl, Aktivisten wie die Familie Ulbricht mundtot zu machen, einzuziehen oder zu verhaften. Auch der Parteivorstand und die Gewerkschaften sind Aktivisten wie Walter feindlich gesonnen.

Auf die Flugblätter reagieren sie unverhohlen: „In anonymen Flugblättern […] wird versucht, Hass und Misstrauen gegen die von den Arbeitern selbst gewählten Vertrauensleute zu säen. […] Es wird der Vorwurf erhoben, dass sie die sozialistischen Grundsätze preisgeben, die Beschlüsse deutscher Parteitage und internationaler Kongresse missachten.“78 Die Parteibürokratie versucht alles, um die Opposition mundtot zu machen. In einem geheimen Rundschreiben an die Leipziger Ortsvereine wird das Auftreten der Jungfunktionäre verurteilt. Genossen wie Willi Langrock, Wolff, Lungwitz und Alwin Herre werden verhaftet und zu Gefängnis verurteilt. Der Kriegsdienst schützt Walter vorerst vor der Haft.

Es gärt in Deutschland. Nach Reformversprechen des Kaisers streiken im April 1917 allein in Berlin 300 000 Menschen79. Auch in Leipzig kommt es zu Streiks, als die Regierung erneut die Brotrationen kürzt. Die Forderu­ngen werden zunehmend politisch. Die Demonstranten verlangen Reformen und Friedensverhandlungen. Als Reaktion greift das Militär hart durch, Betriebe werden besetzt und Streikende an die Front geschickt.

Familie Ulbricht gelingt es, trotz allem feinsinnig zu bleiben. Schwester Hildegard schreibt frei nach Heine zur Maifeier: „Die großen Birnbäume im Garten sind von weißen Blüten schon überschüttet, der die Luft angenehm mit seinem Duft erfüllt. Die kleinen Spatzen können sich gar nicht von den schönen Blüten trennen, sie scheinen […] sehr gut zu schmecken. […] Im Walde ist herrliches Vogelkonzert, dass ein Kuckuck durch seinen unaufhörlichen Ruf noch lebendiger und reizvoller gestaltet. – So wandelten wir […] in Freude – und erwartungsedler Stimmung auf weichen Pfaden unter dem schattigen Laubzelt des Waldes nach Markkleeberg […] auf [die] Frühlingsfeier. Am Abend wanderten wir […] mit fröhlichem Sang durch den dunklen Wald. Über uns funkelten am klarblauen Himmel die kleinen freudigen Sternenkinder wie Diamanten. Und zur Linken floss träge das lehmbraune Wasser der Pleiße. […] In der Woche nach Pfingsten wird endlich mein Bruder hier sein. Meine Freude ist ganz unbeschreiblich.“80

Walters Fronturlaub bleibt kurz, aber er nutzt ihn. Nach seiner Rückkehr an die Front bedankt sich Jacob Herzog aus Zürich bei ihm für dessen Karte, „welche jedoch von der Zensur stark verstümmelt worden sei“. Der Schweizer meint, dass auch seine Ferien bald zu Ende gingen und er selber für das „Vaterland“ wirken müsse.81

Im Juli findet die Reichskonferenz der revolutionären Jugend in Halle statt.82 Walter ist an der Front. Er scheint müde, aber nicht resigniert. Die Genossen um Herzog und Münzenberg versorgen ihn aus Zürich mit Flugblättern. In Mazedonien finden Soldaten in seiner Feldpost Flugblätter. Er hat Glück, das Feldgericht kann ihm nichts nachweisen und es bleibt beim Strafexerzieren. Nun bitten die Behörden um vorsichtige Ermittlungen über die Familie.83 Die Militärzensur fängt eine kriegsmüde Karte aus Mazedonien ab: „Der Geist des preußischen Militarismus verdirbt systematisch den Charakter. Unter diesem System in seiner extremsten Form hause ich jetzt. Was hier an Menschenschinderei geleistet wird, ist unglaublich. Alle Romantik in der Welt des Kismets geht dabei zum Teufel. Habe jetzt zu Homers Werken Zuflucht genommen, die Brust voll Hoffnung auf bessere Zeiten.“84

Per Schreibmaschine notiert der Zensor das gekrakelte Wort für die Akte: „Kismet – im Islam das dem Menschen vermeintlich zugeteilte unabwendbare Schicksal.“

Als die Zensur andere Flugblätter und Briefe abfängt, verhängt die Polizei eine Postkontrolle über die Familie.85 Sie sei dringend verdächtig, aus der Schweiz „revolutionäre Flugschriften nach Deutschland zu schmuggeln. [An die] Familie Ulbricht in Leipzig […] sind bereits mit Kenntnis der hiesigen Dienststelle Flugschriften abgegangen mit dem Titel: ‚Kameraden an der Front! Genossen in Uniform!‘ in denen zum Sturz des ‚Berliner Zaren‘ nach Petersburger Beispiel aufgefordert wird. Neuerdings ist auch mit hiesigem Einverständnis ein Brief an Erich Ulbricht […], in dem unsere innenpolitischen Umstände aufs Schärfste im revolutionären Sinne angegriffen werden, befördert worden“86.

Im Oktober 1917 erkrankt Walter in Mazedonien an Malaria und kommt in Skopje ins Lazarett. Zu Silvester ist er auf Heimaturlaub und feiert mit seiner Mutter bei Freunden in Leipzig Neujahr.87 Die Eltern sind in das Naundörfchen 26 umgezogen, er lernt die neue Wohnung der Familie kennen. Hinter der Hauptfeuerwache am Fleischerplatz stehen meist eingeschossige, dicht aneinandergereihte Häuser, viele mit Fachwerk. Es ist eine Arme-Leute-Gegend.

Die freie Zeit nutzt er, um sich mit der Leipziger Liebknechtgruppe, jetzt Spartakusgruppe genannt, zu treffen, und tritt der sozialistischen USPD bei, die sich als Folge des Streits über die Kriegsfrage von der SPD abgespalten hat. Die Entscheidung ist nicht opportunistisch. Allein seine Mitgliedschaft in USPD und Spartakusgruppe ist Hochverrat. Wer sich engagiert, hat anderes im Blick als ein bürgerliches Dasein. Der SPD-Parteivorstand weist seine Vorstände an, Verhafteten keinen Schutz oder Hilfe zu gewähren.

Verfolgt und von SPD und Gewerkschaften denunziert, muss Walter vorsichtig sein.88 Er weiß, dass er mit Ausgrenzung, Ächtung und Haft rechnen muss. Auch seine Ermordung gehört zu seinen Perspektiven.

In Russland kommt es am 7. November 1917 zum Sturz der provisorischen Regierung durch die kommunistischen Bolschewiki unter Lenin und Trotzki. Bereits drei Wochen später schlägt Trotzki einen Waffenstillstand vor, um die revolutionäre Macht im kriegsmüden Russland zu stabilisieren. Als sich die Unterhändler in Brest-Litowsk treffen, versuchen die Bolschewiken, die Verhandlungen in die Länge zu ziehen, Zeit zu gewinnen und Stimmung für ihre Revolution zu machen. Was die Aussichten für einen Umsturz durch die deutschen Sozialisten betrifft, ist Moskau aber realistisch. „Als revolutionäre Partei sind die Unabhängigen (USPD) völlig hoffnungslos und untauglich. […] Die Spartakusleute fürchten Verhaftungen, sind hauptsächlich jung, […] sie können nur unter Anleitung arbeiten […], und sie bilden sich ein, dass wenn sie alle Schaltjahre einmal einen Proklamationswisch herausbringen […], dass dies sogar schon ein Übermaß revolutionärer Umtriebe sei.“89

Zurück in Skopje wird Walter aus dem Feldlazarett entlassen und schreibt im Januar 1918 seiner Familie aus Mazedonien. Am 3. März 1918 unterzeichnet die Oberste Heeresleitung in Brest-Litowsk einen harten Friedensvertrag mit Sowjetrussland. Es scheint, als könne Deutschland den Krieg noch gewinnen, sollte die Reichswehr vor dem Eintreffen der Amerikaner einen Durchbruch im Westen erreichen. Um das Ruder noch herumzureißen, beginnt jetzt die deutsche Frühjahrsoffensive im Westen. Auch Walter kommt zur Infanterie an die Westfront. Die Stimmung unter den Soldaten im Zug ist schlecht. Die ersten unter ihnen desertieren schon in Ungarn. In Böhmen kommt es zur Meuterei. Auf einem Halt beschweren sich die Soldaten über schlechtes Essen und schütten ihre Rationen auf den Bahnsteig.

Die Soldaten weigern sich, wieder einzusteigen, bevor es nicht anständiges Essen gibt. Erst als sie Wurst bekommen, kann der Zug weiterfahren. Kurz vor Leipzig desertiert Walter und springt aus dem fahrenden Zug ab. Bis Köln verschwindet die Hälfte des Transports. In Leipzig angekommen, trifft sich Walter mit seinen Freunden von der Spartakusgruppe sowie dem Leipziger USPD-Vorsitzenden und Chefredakteur der Leip­­ziger Volkszeitung Friedrich Seger. Er hört auf dem SPD-Sekretariat von den Gefahren der Desertion und erhält den Rat, zur Truppe zurückzukehren. Nach zwei Wochen meldet er sich als „von der Truppe abgekommen“ bei den Behörden. Vom Militärgericht erhält er darauf drei Monate Gefängnis.

Ungeachtet aller Hoffnungen erlahmt die Offensive im Westen schnell. Die Initiative geht endgültig auf die Entente über, die Niederlage ist besiegelt. Die Moral sinkt auf den Nullpunkt, da das Unternehmen als letzte Anstrengung vor dem Sieg verkauft worden ist.