Wandern - Mit Vergnügen - André Uzulis - E-Book

Wandern - Mit Vergnügen E-Book

André Uzulis

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Welche Grundregeln helfen beim Packen des Wanderrucksacks? Wie plant man die ideale Route und welche Wegezeichen führen zum Ziel? Was tun bei kleinen Verletzungen oder gar im Notfall? Wie verhält man sich bei der Begegnung mit einem Wolf oder Wildschwein? Welche Wolkenform kündigt ein Gewitter an? Für diese und viele weitere Situationen rund um das Thema Wandern gibt der erfahrene Wanderführer André Uzulis in seinem Handbuch eine Fülle von wertvollen Tipps. Neben spannenden Einblicken in die Geschichte des Wanderns besticht es vor allem durch hohe Praxisrelevanz und gut gegliedertes Wanderwissen. Im Fokus steht stets die Freude am Wandern: Reich bebildert, lädt das Buch dazu ein, die Natur ungetrübt und in ihrer ganzen Schönheit zu entdecken. Ergänzende nützliche Checklisten, Links und Informationen zu Wanderorganisationen machen es zu einem unverzichtbaren Rundum-Ratgeber für Wanderer aller Leistungsniveaus - für Einsteiger und für Profis.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 276

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



WANDERN MIT VERGNÜGEN

André Uzulis

WANDERN

MIT VERGNÜGEN

DER UMFASSENDE RATGEBER FÜR EINSTEIGER UND PROFIS

© picture alliance/dpa | Patrick Pleul

© André Uzulis privat

INHALT

VORWORT

KAPITEL 1

WANDERN – ANNÄHERUNG AN EIN PHÄNOMEN

KAPITEL 2

WAS IST WANDERN?

KAPITEL 3

KLEINE GESCHICHTE DES WANDERNS

KAPITEL 4

WANDERWEGE

KAPITEL 5

PLANUNG EINER TOUR

KAPITEL 6

BEKLEIDUNG UND AUSRÜSTUNG

KAPITEL 7

UNTERWEGS

KAPITEL 8

ORIENTIERUNG

KAPITEL 9

ERNÄHRUNG, KÖRPERPFLEGE UND HYGIENE

KAPITEL 10

WETTER- UND GEFAHRENKUNDE

KAPITEL 11

GESUNDHEITLICHE PROBLEME UND ERSTE HILFE

KAPITEL 12

WAS DARF EIN WANDERER UND WAS NICHT?

RECHTLICHE FRAGEN

KAPITEL 13

WANDERORGANISATIONEN UND -INSTITUTIONEN

ANHANG

CHECKLISTEN

INTERNETADRESSEN

ANMERKUNGEN

LITERATURVERZEICHNIS

ZUM AUTOR

IMPRESSUM

VORWORT

Deutschland ist ein Wanderrevier, das seinesgleichen sucht. Kaum ein anderes Land bietet eine solche Vielfalt an Landschaften trotz relativ kleiner Fläche. Selten sind diese reizvollen Gegenden von den urbanen Räumen aus so bequem zu erreichen. Nahezu nirgendwo sonst findet man so viele Wanderwege, die zudem noch exzellent gepflegt und ausgeschildert sind. Ohne Übertreibung kann man von Deutschland als einem Wanderparadies sprechen. Österreich und die Schweiz stehen dem in nichts nach.

Dies zeigt sich auch in Zahlen: 39,8 Millionen Menschen schnüren jedes Jahr in Deutschland die Wanderschuhe und unternehmen dabei rund 378 Millionen Tageswanderungen. Hinzu kommen noch zehn Millionen Wanderungen im Rahmen von Urlauben. Der deutsche Wanderer absolviert im Jahr durchschnittlich 9,8 Wanderungen und legt dabei im Schnitt zusammen 90 Kilometer zurück. Die Gesamtlänge der absolvierten Touren aller Wanderer summiert sich hierzulande auf beachtliche 3,6 Milliarden Kilometer.1

Wandern ist nicht nur eine Freizeitaktivität, die von fast allen Bevölkerungsschichten und Altersgruppen, egal welcher sozialer Herkunft und mit welchem Bildungshintergrund, ausgeführt wird. Wandern ist heute auch eines der wichtigsten Mittel gegen Bewegungsmangel und Fettleibigkeit – zwei Phänomene, die inzwischen epidemische Ausmaße angenommen haben. Fast zwei Drittel der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen in Deutschland gelten als übergewichtig, jeweils ein Viertel sogar stark.2 Die Volkskrankheit Adipositas hat in den vergangenen 20 Jahren noch zugenommen, besonders bei Männern und auch im jungen Erwachsenenalter. Wandern ist gerade auch für „kräftigere“ Menschen die ideale Sportart: Man kann jederzeit damit anfangen, benötigt nicht viel Ausrüstung, und es ist gelenkschonender als beispielsweise das Joggen. Der Kalorienverbrauch ist beachtlich: Eine Stunde Wandern mit höherer Intensität ist genauso effizient wie beispielsweise eine Stunde Snowboardfahren3 – allerdings deutlich risikoärmer. Und es macht definitiv Spaß! Schon kleinere Strecken verschaffen ein wundervolles Glücksgefühl, und zehn oder 15 Kilometer sind mit etwas Übung Distanzen, die auch ein Einsteiger bald bewältigen wird. Wer sich in einer Gruppe zu Fuß auf den Weg macht, erlebt zudem ein ganz besonderes Gemeinschaftsgefühl.

Außerdem: Wandern hat praktisch immer Saison. Es ist eine ausgesprochene Ganzjahresaktivität. Zwar lassen sich naturgemäß saisonale Schwankungen zwischen den Sommer- und den Wintermonaten feststellen, jedoch kommt das Winterwandern mehr und mehr in Mode. Wandern ist die denkbar einfachste Sportart. Man muss lediglich einen Fuß vor den anderen setzen.

Immer mehr Menschen tun das glücklicherweise und entdecken das Wandern für sich. Doch auch wenn es eine Sportart mit minimaler Verletzungsgefahr ist, gilt es, einiges zu beherzigen. So sollte man beispielsweise auf geeignetes Schuhwerk und das richtige Wetter achten, sich in der Natur angemessen verhalten und auch mögliche Risiken im Blick behalten, um sich nicht leichtfertig in Gefahr zu begeben.

Ein Mindestmaß an Kenntnissen und Fertigkeiten ist notwendig, um das Wandern nicht nur sicher zu machen, sondern es auch in seiner ganzen Schönheit auskosten zu können. Hierzu möchte dieses Buch beitragen. Es ist als Handbuch konzipiert und gibt einen breiten Einblick in Wissenswertes und Nützliches rund um das Thema Wandern – von der Geschichte und Kultur des Wanderns, seinen physiologischen, psychologischen und gesundheitlichen Aspekten bis hin zu hilfreichen Tipps, wie etwa zur Auswahl der richtigen Ausrüstung und zur Einschätzung des Wetters. Das Buch ist ein hilfreiches Kompendium für jeden Wanderer – gleich welchen Leistungsniveaus –, um die eigene Tour zu einem einzigartigen Erlebnis zu machen.

Es geht darum, Wandern in all seiner Vielschichtigkeit zu erkennen: einerseits eine ganzheitliche Naturerfahrung und andererseits auch eine Reise zu sich selbst. „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen“, hat einmal Johann Wolfgang von Goethe gesagt. Wie wahr! In einer Zeit, in der die Natur zunehmend verdrängt wird und durch die sozialen Medien flüchtig konsumierbar ist, wird es zu einer zutiefst befriedigenden Erfahrung, sich ein Ziel zu Fuß, Schritt für Schritt, zu erwandern. Dieses Glücksgefühl wünsche ich jedem Wanderer immer wieder aufs Neue. Wenn dieses Buch dazu beiträgt, die Natur und sich selbst wandernd bewusster zu erleben, dann hat es seinen Zweck erfüllt.

Dr. André Uzulis

Hontheim in der Eifel, Frühjahr 2024

© André Uzulis privat

WANDERN UND GESUNDHEIT

Das Wichtigste steht ganz am Anfang: Wandern ist so ziemlich das Gesündeste, was Sie Ihrem Körper bieten können. Es gibt inzwischen eine unübersehbare Zahl von Studien, die das belegen. Angefangen hatte es Anfang der 1960er-Jahre in den USA mit der sogenannten Postbotenstudie.4 Wissenschaftlern war aufgefallen, dass Postboten dreimal weniger tödliche Herzinfarkte erleiden als Schalterbeamte. Bei Postboten, die zum Schalterbeamten aufstiegen, stieg das Herzinfarktrisiko hingegen innerhalb weniger Jahre auf das Niveau der Innendienstler an. Der Herzinfarktschutz musste also etwas mit der Bewegung zu tun haben. Tatsächlich legen Postboten, die zu Fuß unterwegs sind, zwischen zwölf und 14 Kilometer täglich zurück.

Mediziner empfehlen, jeden Tag mindestens 10.000 Schritte zu gehen, um fit zu bleiben, das sind etwa – je nach Schrittlänge – fünf bis acht Kilometer. Diese Maßgabe beruht aber auf einem Missverständnis, besser gesagt auf einem Marketingtrick. 1964 war Tokio Ausrichter der Olympischen Sommerspiele. Über das ganze Land wogte eine Welle der Begeisterung, und sportliche Betätigung war das große Thema. Eine japanische Firma namens Yamasa brachte im Jahr darauf ihren ersten Pedometer auf den Markt, er hieß Manpo-kei. Man bedeutet übersetzt 10.000, Po Schritt und Kei Zähler. 10.000 war die größte Zahl, die das Gerät anzeigen konnte, dann sprang er wieder auf null.5

So kam also diese Zahl in die Welt, nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen. Eine Studie der Harvard-Universität6 mit knapp 17.000 Frauen im Durchschnittsalter von 70 Jahren analysierte den Zusammenhang zwischen täglicher Schrittzahl und Sterblichkeit – und fand den stärksten positiven Effekt bei 4.400 Schritten am Tag, egal wie schnell die Probandinnen gingen. Mit mehr täglichen Schritten war der Zugewinn gering, ab 7.500 Schritten gab es keinen Zusatznutzen mehr.7 Was natürlich nicht heißt, dass mehr Schritte – beim Wandern sogar viel mehr – nicht einfach guttäten und Spaß machten. Im Durchschnitt machen wir, wie Forscher der amerikanischen Stanford-Universität in ihrer Auswertung des Bewegungsverhaltens von 720.000 Menschen in 111 Ländern herausfanden, durchschnittlich täglich 4.900 Schritte. Deutsche lagen übrigens mit 5.200 Schritten etwas über dem Durchschnitt. Das hört sich zunächst einmal gut an. Was jedoch Sorge bereitet, sind etliche Berufsgruppen, die sich recht wenig bewegen. So kommen Büroangestellte auf nur 1.500 Schritt am Tag.8 Das Problem beginnt schon in der Jugend. Nur zehn Prozent der Mädchen zwischen elf und 15 Jahren und 17 Prozent der Jungen im selben Alter kommen auf die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen 60 Minuten Bewegung täglich.9 Die Coronapandemie hat den negativen Trend noch verstärkt.

Wir sitzen uns krank – im Büro, zu Hause, in der Freizeit vorm Fernseher oder vor dem Computer. Das Leiden hat einen Namen: Sedentismus. Der Begriff kommt eigentlich aus der Anthropologie und bedeutet Sesshaftigkeit. Heute wird er auch auf den Mangel an Bewegung angewendet, der von Medizinern englisch als „Sitting Disease“ bezeichnet wird. Das Zentrum für Gesundheit an der Deutschen Sporthochschule in Köln fand in einer Studie heraus, dass bereits 3.000 Schritte mehr am Tag den Cholesterinspiegel – und damit das Risiko für eine Arteriosklerose – deutlich senken können. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt für Erwachsene mindestens 150 bis 300 Minuten moderate Ausdauerbelastung pro Woche sowie 75 bis 150 Minuten intensive körperliche Belastung, beispielsweise Krafttraining.

Wandern ist dabei eine ideale Bewegungsart. Als Vorbeugung von Zivilisationskrankheiten ist es ein Breitbandtherapeutikum gegen Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Erkrankungen des Bewegungsapparats mit wenig Risiken und keinen Nebenwirkungen. Wandern stabilisiert und stärkt Knochen, Sehnen, Bänder und Gelenke. Es kommt zu einem Zuwachs an Kraft, zu größerer Beweglichkeit und besserer Koordination – wichtig vor allem im höheren Alter als Sturzprophylaxe. Durch eine trainierte Beinmuskulatur werden Knie- und Hüftgelenke entlastet, wir beugen Beschwerden in diesen Bereichen vor. Da die gesamte Haltemuskulatur des Körpers gestärkt wird, sinkt das Verletzungsrisiko insgesamt. Und nicht zuletzt: Wandern verbessert die Kondition, langfristig sinkt der Blutdruck.

Schon für unsere Füße ist Wandern eine einzige Wohltat. Der menschliche Fuß besteht aus 26 Knochen, die über sage und schreibe 33 Gelenke miteinander verbunden sind und von mehr als 100 Bändern zusammengehalten werden. 20 Muskeln und Sehnen sorgen für Bewegung und einen festen Stand, wenn – ja wenn – wir sie regelmäßig trainieren. Unsere Füße sind seit der Erfindung des Schuhs vor 5.300 Jahren mehr oder weniger eingezwängt und teilweise verkümmert. Durch das Wandern auf unregelmäßigem Untergrund, wie ihn naturnahe Wanderwege bieten, trainieren wir unsere Füße bis ins hohe Alter und sorgen für gesunde Fußgelenke, starke Muskeln sowie eine gute Koordination und einen geschulten Gleichgewichtssinn. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang gelegentliches Barfußlaufen und auch das Heranführen von Kindern an das Training der kleinen Füße für ein langes gesundes Leben.

Und das ist noch nicht alles: Wandern macht nicht nur gesund, sondern vor allem auch glücklich. Stimmungshormone wie Serotonin und Dopamin werden freigesetzt, wenn wir durch Feld und Flur ziehen. Serotonin entsteht als Folge eines ausdauerbedingt gesteigerten Stoffwechsels. Dopamin ist ein „Belohnungshormon“, das uns Glücksgefühle beschert, weil wir beim Wandern mal wieder etwas Neues entdeckt haben oder über uns hinausgewachsen sind. Der Spiegel des Stresshormons Cortisol sinkt hingegen. Dass Wandern durchaus auch rauschhafte Züge annehmen kann, hat wohl jeder schon einmal bemerkt: etwa wenn Schmerzen durch nicht angepasstes Schuhwerk zu spät wahrgenommen werden. Eine Studie des Deutschen Wanderverbands hat gezeigt, dass sich 82,7 Prozent der Wanderer nach einer Wanderung glücklich und zufrieden fühlen, 73,8 seelisch ausgeglichener.10

Schon die Haltung beim Wandern hat einen positiven Einfluss auf unsere Stimmung: Rumpf und Wirbelsäule bilden von Kopf bis Fuß eine senkrechte Achse. Über Beine und Füße stehen wir mit der Erde in Kontakt. Wir richten uns aus unseren krummen Haltungen vor dem Bildschirm, am Schreibtisch, im Auto oder an der Werkbank auf, erheben uns – auch im übertragenen Sinn – über unseren Alltag und das Kleinklein der Routine. Wir bekommen einen Überblick und einen freien Kopf. Bereits eine Stunde Wandern bewirkt eine deutliche Stimmungsaufhellung. Wir werden gelassener, Stress, Energielosigkeit und Ängste nehmen ab. Verständlich, dass Wandern auch in der Therapie gegen Depression eingesetzt wird.

© André Uzulis privat

Eine Wanderung an einem schönen Tag hat auch durch das Sonnenlicht viele positive Effekte auf unseren Körper.

Nicht ganz unbedeutend ist in diesem Zusammenhang der Faktor Licht. Wir sind beim Wandern – mal mehr, mal weniger – der Sonnenstrahlung ausgesetzt. Aus Erfahrung wissen wir, dass uns graue Regentage betrübt machen und uns ein sonniger Tag heiter stimmt. Der Einfluss der Sonne auf unseren Gemütszustand und unser körperliches Wohlbefinden ist aber größer, als wir denken. Sonnenlicht reduziert Cholesterin und hilft dabei, Körperfett loszuwerden. Setzen wir uns der Sonne aus, wird in der Haut und in der Leber Cholesterin in Vitamin D umgewandelt. Das wirkt sich positiv auf den Blutdruck aus und soll auch einigen Krebsarten vorbeugen. Durch Vitamin D wiederum können unsere Knochen das lebenswichtige Kalzium aufnehmen.

Unter Sonnenlicht produziert der Körper (nicht nur beim Mann) vermehrt das Hormon Testosteron, das das sexuelle Verlangen steigert und den Aufbau von Knochen- und Muskelmasse anregt. Sonnenlicht senkt den Appetit, ist gut für einen gesunden Schlaf und lässt das Wohlbefinden steigen. Und das bekommen wir auf jeder Wanderung, ganz nebenbei und ohne, dass wir es merken, buchstäblich mit auf den Weg.

Vor allzu viel Sonne im Sommer sollten wir uns allerdings schützen – mit Kopfbedeckungen und Sonnenschutzcreme. Vor allem bei Touren im Gebirge kann die wohltuende Wirkung von Sonnenlicht durch die Intensität der Strahlung ins Gegenteil umschlagen. Vorsicht ist also geboten – wie bei allem, wenn man übertreibt.

Beim Verhältnis von Aufwand und Nutzen dieser sanften Art von Bewegung wird das Wandern von keiner anderen Sportart geschlagen. Man benötigt nur eine minimale Ausrüstung, wenig Vorbereitung, und man muss keine Spielregeln lernen. Im Prinzip bringen wir alles, was wir zum Wandern brauchen, mit: unseren Körper, unseren gesunden Menschenverstand und unsere Sinne, um all das aufzunehmen, was uns die Natur auf einer Tour schenkt.

Wandern11

• mobilisiert die natürlichen Killerzellen und stärkt somit das Immunsystem

• vermindert das Risiko für verschiedene Krebsarten, vor allem Brust- und Dickdarmkrebs

• senkt das Schlaganfallrisiko

• steigert die Produktion des gesundheitsfördernden HDL-Cholesterins und senkt den Spiegel des schädlichen LDL-Cholesterins

• mindert den Insulinbedarf und wirkt dem metabolischen Syndrom entgegen

• beeinflusst Puls und Blutdruck positiv

• verbessert die Fließeigenschaft des Bluts und den Zustand der Blutgefäße

• erhöht das Atemzugvolumen und stärkt die Lunge

• mindert den Augeninnendruck

• stärkt Knochen, Knorpel, Bandscheiben, Sehnen und Bänder

• kräftigt die Muskulatur, insbesondere die Beinmuskulatur

• lindert chronische Gelenkbeschwerden bei Rheuma

Für viele Menschen ist vielleicht auch dies ein zusätzlicher Grund, die Wanderstiefel zu schnüren: Wandern hilft beim Abnehmen. Der Kalorienverbrauch liegt beim Wandern für eine definierte Strecke genauso hoch wie beim Joggen; wenn man Naturwege benutzt, kann er sogar noch höher sein. Und das bei deutlich geringerer Belastung der Bänder und Gelenke zwischen Fuß und Becken. Als Faustformel gilt der Richtwert, wonach pro Kilometer rund 50 Kilokalorien verbrannt werden – das ist aber nur der Basisverbrauch. Je nach Umfang des Gepäcks kann dieser Wert deutlich höher liegen. Weitere Faktoren sind das Geschlecht und das Alter des Wanderers, seine Größe und sein Gewicht. Große Bedeutung hat nicht zuletzt das Verhältnis von Strecke zu Höhenmetern: Je mehr Höhenmeter ich auf meiner Tour überwinden muss, desto mehr Kalorien verbrauche ich. Ganz grob gesagt, verbrennt eine 30 Jahre alte Wanderin mit einer Größe von 1,70 Metern und einem Gewicht von 68 Kilo auf einer einstündigen Wanderung rund 350 Kilokalorien.

Übrigens: In 15 Kilo Körperfett sind rund 100.000 Kalorien enthalten. Um diese wegzubekommen, müsste ein Wanderer rund 2.000 Kilometer zurücklegen. Die Kalorienzufuhr muss dabei unter der Zahl der verbrauchten Kalorien bleiben. Klingt erst mal hart, ist es aber nicht, wenn man regelmäßig wandert. Abnehmen ist eine Frage der Zeit und des Lebensstils, also der grundlegenden Veränderung, die ich in meinem Leben vorzunehmen bereit bin. Wer immer wieder wandert und dabei auf seine Ernährung achtet, sollte den wohltuenden Effekt für seine Figur nach einer gewissen Zeit wahrnehmen. Und das macht Spaß! Erst spürst du es (das Abnehmen), dann siehst du es (an deiner Figur), und schließlich hörst du es (von anderen, die dich anerkennend darauf ansprechen). Nicht nur die körperlichen Effekte des Wanderns liegen auf der Hand. Auch auf die psychische Gesundheit hat Wandern einen heilsamen Einfluss.

Wandern12

• produziert Hormone und Botenstoffe, die stimmungsaufhellend wirken

• mindert die Symptome bei Depression in ähnlichem Maß wie bei einer Behandlung mit Medikamenten, aber mit geringerer Rückfallquote

• kann erfolgreich in der Therapie von Neurosen eingesetzt werden, etwa bei Angsterkrankungen

• wirkt sich positiv bei Tinnitusbeschwerden aus

• verbessert den Hirnstoffwechsel

• senkt das Risiko von Hirnerkrankungen

• mindert das Risiko und verlangsamt die Entwicklungsgeschwindigkeit von Altersdemenz

Das Thema Gesundheit ist neben dem Naturerlebnis und den sozialen Kontakten übrigens eines der drei Hauptmotive, die Menschen die Wanderschuhe schnüren lassen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat im Jahr 2010 in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Wanderverband in einer bis heute unübertroffen tiefgehenden Studie13 das Wanderverhalten der Deutschen untersucht. Wir gehen darauf näher im nächsten Kapitel ein. An dieser Stelle nur so viel: Die Forscher stellen darin fest, dass das Thema Gesundheit über alle Altersklassen hinweg einer der wichtigsten Gründe fürs Wandern ist.14 64 Prozent der repräsentativ Befragten gaben als Grund fürs Wandern an, sie wollten etwas für ihre Gesundheit tun. Dieses Motiv wird – kaum verwunderlich – mit zunehmendem Alter (in der Studie definiert ab 45 Jahren) wichtiger. Stressabbau gaben die berufstätigen Altersgruppen als bedeutenden Aspekt an. Für diejenigen, die regelmäßig bis häufig wandern, ist das Thema Gesundheit noch wichtiger als für Gelegenheitswanderer. Für Letztere sind eher Spaß und Geselligkeit vorrangige Beweggründe.

Und noch etwas spricht fürs Wandern: Man macht dabei eine Alltagserfahrung, die wohl jeder kennt: Beim Gehen kommen einem gute Ideen. Das hängt mit der besseren Durchblutung des Gehirns zusammen. Die Verzweigungs- und Erneuerungsrate von Gehirnzellen nimmt zu – und das steigert das geistige Leistungsvermögen. Schon die alten Griechen wussten das und schufen, glaubt man der Legende, eine ganze philosophische Schule, der auch Aristoteles angehörte: die Peripatetiker. Sie fanden Problemlösungen durch Umherwandeln. „Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen“, sagte einst der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813–1855). Und sein deutscher Kollege Friedrich Nietzsche (1844–1900) warnte: „Traue keinem Gedanken, der im Sitzen kommt.“ Damit sind wir bei der Wanderphilosophie.

WANDERN UND PHILOSOPHIE

Der Wanderweg als Sinnbild des Lebens – auch das ist eine Empfindung, die wohl jedem Wanderer schon einmal gekommen ist. Manchmal ist der Weg ganz leicht, und wir gehen ihn unbeschwert. Dann ziehen dunkle Wolken auf, wir müssen mit Schwierigkeiten fertig werden. Der Weg windet und zieht sich, es geht steil bergauf oder bergab. Wir haben die Berghütte auf der anderen Seite des Tals vor Augen, aber sie kommt scheinbar nicht näher. Wir arbeiten uns durch die Mühen der Ebene, oder wir erleben Höhepunkte mit fantastischen Aussichten. Manchmal sind wir voller Tatendrang und Begeisterung, dann geht es sich leicht. Manchmal aber verlieren wir den Mut, dann fällt es schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Wie im Leben benötigt der Wanderer Eigenschaften, die helfen, die vor ihm liegende Wegstrecke zu bewältigen. Dazu zählen vor allem Ausdauer und Durchhaltevermögen. Die regelmäßig in ganz Deutschland veranstalteten 100-Kilometer-Märsche in 24 Stunden sind für die meisten Teilnehmer nicht nur eine körperliche Herausforderung, sondern vor allem ein Ringen mit sich selbst, mit dem eigenen Willen und dem inneren Schweinehund. Je nach Trainingsstand kann es aber auch schon bei deutlich kürzeren Touren um Impulskontrolle und Willensleistung gehen.

Beim Wandern geht es auch darum, Schwierigkeiten zu bewältigen, nicht aufzugeben, die Kräfte einzuteilen, realistisch zu bleiben, sich selbst gut einschätzen zu können, nichts zu überstürzen und Gelassenheit zu zeigen.

Es sind vor allem diese fünf Tugenden, die beim Wandern gefragt sind – sie tragen auch zu einer positiven Einstellung dem Leben gegenüber bei:

1. GEDULD

Geduld ist auf den meisten Touren notwendig. Wer das Wandern für sich entdeckt, sollte seine Ziele nicht gleich zu ambitioniert wählen. Das Schöne ist die ungeheure Variationsbreite. Touren lassen sich potenziell unendlich unterschiedlich gestalten: Weglänge, Beschaffenheit, Steigung … Kondition baut man nicht von heute auf morgen auf. Um die selbst gesetzten Ziele zu erreichen, braucht man Geduld. Man wird nicht gleich am ersten Tag nach dem Kauf von Wanderschuhen und -stöcken 20 Kilometer laufen, sondern man fängt gemächlich an und steigert sich nach und nach. Wandern trainiert man am besten durch Wandern. Geduld ist auch ein Thema für den Hardcore-Wanderer: Manchmal scheint eine Tour kein Ende zu nehmen, manchmal quält man sich durch die Eintönigkeit von Maisfeldern, manchmal sitzt man in einer Schutzhütte fest, weil der Regen einfach nicht aufhören will. Dann brauchen wir Geduld. So wie es uns auch das Leben abverlangt. Die Glücksmomente, die sich aber mit Sicherheit irgendwann einstellen, belohnen uns dann für unsere Geduld.

2. DURCHHALTEN

Eng verknüpft mit der Tugend der Geduld ist die des Durchhaltens. Eine Wandertour kann (und soll!) anstrengend sein. Wir werden über längere Zeit beansprucht. Kraftausdauer ist gefragt. Immer noch einen Schritt vor den anderen setzen, das Gewicht des Rucksacks buchstäblich er-tragen. Manchmal sagt der Geist: „Ich kann nicht mehr“, doch der Körper hat dann meist immer noch Reserven. Durchhalten geschieht im Kopf. Und das kann man trainieren. Wer gelernt hat, auf einer Wanderung durchzuhalten, wird auch komplexe Aufgaben in Beruf und Familie besser meistern können. Wanderer sind Meister im Durchhalten. Und auch dafür werden sie oft – wie bei der Geduld – durch etwas Schönes belohnt. Und sei es der gesunde Schlaf, in den man nach einem erfüllten Wandertag glücklich fällt.

3. WERTSCHÄTZEN

Wenn Wandern eines lehrt, dann ist es die Achtung vor den scheinbar kleinen Dingen in der Natur. Wenn man zum Beispiel weiß, dass das Verhältnis zwischen dem Stängel eines Halms Glatthafer und der Wuchshöhe dieses Grases 1 : 400 beträgt, dann wird man künftig nicht mehr ohne eine gewisse Ehrfurcht an einer solchen an sich unscheinbaren Pflanze am Wegesrand vorbeigehen, die bis zu anderthalb Meter hoch wachsen kann. Man kann das nur als ein Wunder der Natur bezeichnen. Wollten Menschen einen 100 Meter hohen Turm in dieser Weise bauen, dürfte der nur einen Durchmesser von 25 Zentimetern haben – ein unmögliches Unterfangen. Und der Halm des Glatthafers bewegt sich auch noch sanft im Wind, ohne umzuknicken. Wanderer lernen die Natur um sich herum wertzuschätzen – im Großen wie im Kleinen. Diese Wertschätzung hilft auch im Alltag. Man wird duldsamer und ausgeglichener, dankbarer und kann auch scheinbar kleine Leistungen besser anerkennen.

4. GELASSENHEIT

Wer aus der Hektik des Alltags, dem Dauerstrom von Telefonanrufen, E-Mails, Kurznachrichten, der medialen Überflutung, den Zoom-Konferenzen und dem Zeitdruck entflieht und durch die Natur wandert, der wird gelassener. Allein der Anblick eines Baums, der da schon seit Jahrzehnten oder vielleicht sogar seit Jahrhunderten steht, macht uns darauf aufmerksam, wie banal die meisten der Themen sind, die uns beschäftigen, über die wir uns ärgern oder die uns die Zeit rauben. Erst recht der Anblick von Bergen: Jahrmillionen sind an ihnen vorbeigegangen. Sie strahlen eine Ruhe und eine Kraft aus, die uns guttut, uns entschleunigt und die uns vielleicht zu einem anderen Blick auf die Dinge unseres Lebens anregt.

5. ACHTSAMKEIT

Wanderer lernen, in sich hineinzuhören, auf ihren Körper zu achten. Wenn die ständige Geräuschkulisse des Büros, der Werkstatt, des Labors, des Lehrsaals, des Radios oder des heimischen Fernsehers erst einmal in der Natur verstummt ist, sind wir auf uns selbst und unsere Empfindungen zurückgeworfen. Wer alleine wandert, findet es vielleicht zu Beginn unerträglich, wenn diese Stimmen aus dem Off plötzlich fehlen. Es ist eine Frage der Gewöhnung. Anstelle der im Alltag von außen an uns herangetragenen Informationen treten wir beim Wandern in einen inneren Dialog mit uns selbst. Wir spüren in unseren Körper hinein und nehmen uns selbst ganzheitlich wahr. Wer zu zweit wandert, wird über all die Stunden nicht ununterbrochen miteinander sprechen können. Das gemeinsame freundschaftliche Schweigen führt so zu einer Kommunikation eigener Art. Die Stille kann erfrischend sein – auch zwischen zwei Menschen, die sich ansonsten viel zu sagen haben und das auch wieder tun werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

© André Uzulis privat

Die 700 Jahre alte Eiche in Elend (Harz). Der Anblick eines solchen Baums lässt unsere Alltagssorgen schrumpfen. Was hat dieser Baum schon alles gesehen?

WANDERN UND PSYCHOLOGIE

Der Mensch hat seinen Ursprung in Ostafrika. Wir kommen darauf in Kapitel 3 zurück. Der Übergang vom Tier zum Menschen fand vor etwa fünf Millionen Jahren über einen langen Zeitraum statt. Von Ostafrika aus ist der Mensch dann in mehreren Wellen aufgebrochen und hat nach und nach die ganze Erde erobert. Die Landschaft, in der der Mensch entstanden ist, ist ihm bis heute in die Seele eingeschrieben: die ostafrikanische Savanne, eine von Büschen und einzelnen Bäumen geprägte Offenlandschaft, die die Züge eines riesigen Parks trägt. Dieses Bild von Landschaft hat sich in unseren Genen als archaisches Wahrnehmungsmuster erhalten. Nach ihr sehnen wir uns. Sie entdecken wir immer wieder.

Wenn wir beim Wandern eine Landschaft als „schön“ empfinden, dann sind es meist reich strukturierte Mosaiklandschaften, in denen sich Felder, Wiesen, Weiden, Hecken, Feldholzinseln, Wälder und Wasserflächen abwechseln. Das ist mehr oder weniger die Szenerie unserer Urheimat als Menschen in Ostafrika. Auf diese Landschaft waren unsere Vorfahren geeicht, als sie dort von den Bäumen herabgestiegen sind und lernten, auf zwei Beinen zu gehen. Der Mensch ist ursprünglich nicht auf ein Leben in dichten Wäldern geschaffen, auch nicht auf dem Meer und schon gar nicht in der Luft. Wir haben uns im Laufe der Evolution all diese Räume erobert, haben Wälder gerodet, Schiffe gebaut, das Fliegen gelernt und sind sogar in den Weltraum vorgestoßen. Auch wenn wir all das geschafft haben: In die Wiege gelegt worden war der Menschheit dieses weite Ausgreifen auf vollkommen andere Lebensräume nicht – auch nicht das Leben in anderen Klimazonen als der des östlichen Afrikas.

Unsere Instinkte haben sich in den paar Zehntausend Jahren, die es den modernen Menschen erst gibt, kaum geändert. Sie sind nur von der jeweiligen Zivilisation überformt worden und brechen sich immer mal wieder auch heute noch Bahn. Dass dieses Idealbild von Landschaft heute vielfach von unangepassten Gebäuden, hässlichen und lärmenden Verkehrsadern, öden Ruderalflächen und störenden Installationen wie Windrädern oder Überlandleitungen getrübt wird, tut seiner Relevanz für unser ästhetisches Empfinden keinen Abbruch.

Von unserem Erbe blitzt allerdings manchmal etwas durch, das uns daran erinnert, wohin wir eigentlich gehören. Zum Beispiel wenn wir Höhenangst haben. Warum empfinden fast alle Menschen Angst (auch wenn sie diese vielleicht nicht zeigen), wenn sie auf einem ausgesetzten Fels stehen und in die Tiefe schauen? Weil uns die Natur diese Angst mitgegeben hat, damit wir vorsichtig sind und uns nicht zu weit hinauf- und hinauswagen. Wir könnten abrutschen und uns verletzen oder gar getötet werden. Das ist nicht im Sinn der Evolution. Deshalb hat uns die Natur diese Angst mitgegeben. Was die Natur nicht wissen konnte, ist, dass wir eines Tages in einem Ballon in die Höhe steigen oder mit einem Flugzeug von Kontinent zu Kontinent jetten würden. Beim Fliegen empfindet der Mensch nämlich normalerweise keine Angst – obwohl die Höhen dabei noch viel größer sind als die von einem ausgesetzten Fels. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Höhenangst kommt in uns nur auf, wenn wir eine feste Verbindung mit dem Boden haben. Auf einem Baum oder auf einem Felsvorsprung macht diese Angst Sinn, sie bewahrt uns vor Übermut und Schaden. Die Natur hat es aber nicht vorgesehen, dass wir die feste Verbindung zur Erde hinter uns lassen, wie das in einem Ballon oder einem Flugzeug der Fall ist. Für solche Situationen musste es keine genetischen Vorsichtsmaßnahmen geben, weil sie natürlicherweise nicht vorkommen. Die Evolution ist ungemein effizient. Sie schafft nichts, was sie nicht braucht. Und der Mechanismus „Angst in der Höhe ohne Kontakt zur Erde“ war nun einmal nicht notwendig. Wanderer verlassen üblicherweise nicht den Erdboden. Der evolutionäre Angstmechanismus an steilen Felsgraten oder abschüssigen Hängen ist ihnen erhalten geblieben – und das ist auch gut so.

Ein anderes psychologisches Phänomen, mit dem wir es als Wanderer zu tun haben, ist die Angst vor der Nacht. Auch hier geht es, wie bei der Höhenangst, um einen tief verwurzelten Sicherheitsinstinkt. Angst schützt uns davor, uns unnötig in gefährliche Situationen zu begeben. Die Nacht ist besonders dazu angetan, uns Streiche zu spielen – vor allem weil sie uns unseren wichtigsten Sinn nimmt, den Gesichtssinn. Wenn wir nichts sehen können, fühlen wir uns unsicher, ja ausgeliefert. Kinder trifft diese Unsicherheit besonders, denn sie haben noch nicht gelernt, dass das, was in der Nacht passiert, meist völlig gefahrlos, ja belanglos ist. Aber diese Erkenntnis erwächst aus reinem Erfahrungswissen, das Kinder so noch nicht haben können.

Wer einmal eine Nachtwanderung gemacht hat, wird in jedem Fall eine gewisse Beklommenheit bei sich und anderen wahrgenommen haben. Zumal, wenn der Weg auch noch durch den Wald führt. Nacht

© André Uzulis privat

Eine Nachtwanderung ist eine besondere Erfahrung. Das Licht des Mondes lässt die Welt geheimnisvoll – manche sagen auch: unheimlich – erscheinen.

und Wald – das sind zwei evolutionäre No-Gos für uns. Säbelzahntiger, die uns etwas anhaben könnten, sind ausgestorben. Bären gibt es nicht mehr in Deutschland. Die Begegnung mit einem Wolf ist äußerst unwahrscheinlich. Auch was Überfälle durch einen anderen Menschen angeht, ist der Wald im Vergleich zu manchen Vierteln in unseren Städten ungleich sicherer. Dennoch: Eine Nacht im Wald bereitet uns großes Unbehagen. Wer mit einer Gruppe Jugendlicher nachts gewandert ist, weiß, dass diese sich durch lärmendes Verhalten die Angst zu vertreiben suchen – Krach zu machen im düsteren Wald, ist eine Form kollektiver Angstbewältigung. Es ist buchstäblich das berühmte Pfeifen im Walde. Eine andere Form nächtlicher Angstbewältigung ist das Zusammenziehen von Wandergruppen. Während sich bei Tag eine Gruppe – je nach Größe – zum Teil über viele Meter strecken kann, gibt es in der Nacht keine Probleme mit Nachzüglern. Im Gegenteil: In besonders dunklen und unheimlichen Passagen rücken Gruppen so eng zusammen, dass manche Teilnehmer sogar auf die Füße ihrer Vorderleute treten. Auch kommt eine Gruppe in der Nacht schneller voran als tagsüber. Nachts können zehn bis 20 Prozent kürzere Gehzeiten eingeplant werden als am Tag. Die Erklärung ist einfach: Die Gruppe will die „unangenehme“ Situation möglichst schnell hinter sich bringen.

Irgendetwas knackt im Unterholz. Ein Kauz ruft. Eine Fledermaus sirrt fast lautlos vorüber. Es sind Geräusche und Tiere, die wir vom Tag her nicht kennen, die uns erschrecken. Nachts hört man Laute von viel weiter her als am Tag, auch das verändert unsere Wahrnehmung. Alles erscheint einem unmittelbarer und bedrohlicher. Es ist aber auch eine bewusstseinserweiternde Erfahrung, sich dem einmal bewusst auszusetzen und eine Nachtwanderung zu unternehmen – durchaus auch allein, wenn man sich traut. Vielleicht am Anfang erst einmal auf einer kurzen Route, die man gut kennt, später dann auf längeren und unbekannten Strecken. Ein Erlebnis ist es allemal, die vertraute Welt des Tages einmal zu verlassen und sich einzulassen auf dieses Ungewohnte, diesen besonderen Thrill zu spüren und sich selbst auch ein wenig zu überwinden.

Doch zurück zum „normalen“ Wandern – bei Tag. Auch hier sind wir nicht frei von unserer evolutionären Prägung. Begegnet man wandernden Pärchen oder Wandergruppen, so geht der Mann, gehen die Männer meistens vorweg, die Frau beziehungsweise die Frauen folgen dahinter. Warum ist das so? Wir scheinen in tiefsitzende Gewohnheiten zurückzufallen, sobald wir in der Natur sind. In den Urzeiten der Menschheit waren es meist die Männer, die sich zur Jagd aufmachten oder die in Verbänden von Nomaden den Weg bahnten für die Sippe. Das steckt offensichtlich noch tief in uns drin. Auch dass wir in unbekanntem Terrain einem entschlossen vorangehenden „Pionier“ ziemlich unkritisch folgen, fällt in diese Kategorie – was allerdings manches Mal je nach den Fähigkeiten des Truppführers auch auf dem buchstäblichen Holzweg, in einer Sackgasse, enden kann. Psychologisch gesehen, verlassen wir uns aber gern auf einen Anführer. Der Weg, den er unbeschadet beschreitet, ist mit großer Wahrscheinlichkeit auch für die Nachfolger sicher. Er übernimmt damit die Rolle des „Helden“, der die Gruppe erfolgreich durch Gefahren führt. Auch deshalb sieht man in den meisten Fällen Männer vorangehen. Sie sehen sich als die geborenen Helden – jedenfalls sind sie selbst davon überzeugt, und ihre Gene verleiten sie dazu. Wie auch immer, das Wandern offenbart, dass der Firnis der Zivilisation, der Emanzipation und des gesellschaftlichen Fortschritts ziemlich dünn sein kann.

Die Urangst vor dem Verlorengehen, dem sich Verirren und dem Verlassenwerden lässt sich ebenfalls beim Wandern von Gruppen beobachten, und zwar im Zusammenhang mit dem ebenfalls tief in uns verwurzelten Herdentrieb. Besonders für Wandergruppen, die sich schon lange kennen und die viel gemeinsam unterwegs sind, gilt: Die Auseinandersetzung über das Wandertempo wird fast ausschließlich von hinten geführt. Die Nachhut steht offensichtlich unter dem besonderen Druck, den Anschluss nicht zu verlieren und fordert mehr oder weniger vehement ein, zu warten oder langsamer zu gehen. Ein Wanderer, der zurückgefallen ist, verliert die Gruppe bei jeder Wegbiegung aus dem Blick. Das kann zu heftigen Reaktionen führen, vom Laufschritt (der in schwierigem Gelände gefährlich sein kann) bis hin zu Kreislaufproblemen oder psychosomatischen Beschwerden. Idealerweise gibt es bei geführten Touren zwei Wanderführer: einen, der vorweg geht und die Gruppe buchstäblich anführt, sowie einen zweiten, den sogenannten Pinkelsheriff. Er achtet darauf, dass Gruppenmitglieder, die sich vielleicht einmal in die Büsche schlagen müssen, um einem Bedürfnis nachzugehen, den Anschluss nicht verlieren. Wahlweise kann ein Wanderführer auch ein Gruppenmitglied zum „letzten Mann“ bestimmen. Es hat in jedem Fall eine enorm beruhigende Wirkung auf die Gruppe.

Egal ob Gruppe, Pärchen oder Einzelwanderer: In der Nähe des Ziels erhöht sich oft das Gehtempo signifikant. Der Spruch, dass „die Pferde den Stall schon riechen“, entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität. Auch hier zeigen sich archaische Verhaltensmuster: Eines der häufigsten Motive für den schnelleren Schritt am Ende einer Tour dürfte der Wunsch sein, das potenziell unsichere und gefahrbringende Gelände hinter sich zu lassen und in den Schoß der Zivilisation zurückzukehren – sei es in Form eines Wirtshauses, des Autos oder zumindest des beschilderten und vertrauten Ausgangspunkts.

Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auch beim Bergaufgehen. Wenn schon nicht das objektive Gehtempo aufgrund der Steigung zunimmt, so tut es doch der Einsatz der Kräfte – und zwar merkwürdigerweise oft über das eigentlich physisch Notwendige hinaus. Die Anhebung des Leistungspegels ist ein Indiz dafür, dass der Mensch bestrebt ist, der vermeintlich größeren Gefahr an einem Hang rasch zu entgehen. In Urzeiten war es für einen Feind deutlich leichter, die den Berg hinaufsteigende Beute zu erhaschen: Er hatte von oben die bessere Übersicht und konnte im Hinablaufen schneller und überraschender zuschlagen als in der Ebene. Selbst möglichst rasch an die Stelle mit dem besten Überblick zu gelangen, war für unsere Altvorderen ein womöglich entscheidender taktischer Vorteil. Wie ausgeprägt dieses tief sitzende Verlangen nach schnellem Höhengewinn ist, zeigt sich an manchem Pfad, der sich sinnvollerweise in Serpentinen den Berg hinaufschlängelt: Immer wieder sind hier senkrecht zur Höhenlinie stehende Abkürzungen von Kehre zu Kehre zu finden, die enorm Kraft kosten und manchmal auch nicht ganz ungefährlich sind, die aber ein vermeintlich schnelleres Vorankommen suggerieren.

© picture alliance / Wagner Ulrich Wagner