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»Ist es wirklich so schlimm, oder übertreibe ich nur?«, »Liegt es an mir?« und »Warum kann ich diese Person nicht einfach loslassen?« – solche Fragen quälen viele Menschen, die toxische Beziehungen erleben. Der Ursprung dieser Probleme liegt oft in der Vergangenheit. Wer als Kind Missbrauch, Vernachlässigung oder das Gefühl des Verlassenwerdens erlebt hat, kämpft oft mit ungesunden Beziehungsdynamiken im Erwachsenenalter – egal ob in der Liebe, zwischen Freund*innen oder in der Familie. In diesem Buch werden die Wurzeln toxischer Beziehungen beleuchtet und erklärt, warum schädliche Muster oft so hartnäckig sind. Mit einfühlsamen Fallbeispielen, praktischen Tipps und Tests bietet es eine wertvolle Unterstützung auf dem Weg zu mehr Selbstachtung, Vertrauen und erfüllenden Beziehungen. Es ist der ideale Begleiter für alle, die Heilung suchen und neue Perspektiven für ihr Leben entdecken wollen.
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Seitenzahl: 276
Veröffentlichungsjahr: 2024
Dr. Michelle Skeen | Kelly Skeen
Warum Wege aus halte ich traumatischen noch fest? Bindungen
Dr. Michelle Skeen | Kelly Skeen
Warum Wege aus halte ich traumatischen noch fest? Bindungen
Durchbrich toxische Muster, baue erfüllende Beziehungen auf und finde wieder zu dir selbst
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
Wichtige Hinweise
Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle medizinische Beratung und Ernährungsberatung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie medizinischen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Arzt. Der Verlag und die Autorinnen haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.
1. Auflage 2025
© 2025 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Copyright © 2024 von Michelle Skeen und Kelly Skeen
Aus dem Englischen übersetzt: WHY CAN’T I LET YOU GO? Break Free from Trauma Bonds, End Toxic Relationships, and Develop Healthy Attachments
Erstveröffentlichung durch: New Harbinger Press
Die Beurteilung des Bindungsstils in Kapitel 1 ist adaptiert von Simpson, J., W. S. Rholes und D. Phillips. 1996. „Conflict in Close Relationships: An Attachment Perspective.“ Journal of Personality and Social Psychology, 71, 899–914. Copyright © 1996 von der American Psychological Association. Mit Genehmigung adaptiert.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Marion Zerbst
Redaktion: Petra Holzmann
Umschlaggestaltung: Manuela Amode
Satz: feschart print- und webdesign, Michaela Röhler, Leopoldshöhe
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7474-0658-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98922-068-3
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Einführung
Was sind traumatische Bindungen?
Komm deinen traumatischen Bindungen auf die Spur
Über dieses Buch
Kapitel 1Lerne deinen Bindungsstil und dein Temperament kennen
Bindungsstile
Temperament
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 2Wir gehen deinem Beziehungstrauma auf den Grund
Was sind Grundüberzeugungen?
Mach dir deine Grundüberzeugungen bewusst
Die Glaubenssätze deiner Grundüberzeugungen verstehen
Grundüberzeugungen und Bindungsstile
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 3Typische Bewältigungsstrategien bei Beziehungstraumata
Temperament und Bewältigungsstile
Durchschaue deine Verhaltensmuster
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 4Beziehungstrauma-Fallen – und wie man sich schützen kann
Toxische Typen
Toxische und triggernde Verhaltensweisen
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 5Intensität versus Intimität
Warum fällst du in der Liebe immer wieder »auf die Nase«?
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 6Mach dir deine Wertvorstellungen bewusst
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 7Schluss mit dem Teufelskreis der toxischen Kommunikation!
Ungesunde Kommunikation
Kampf, Flucht, Erstarrung oder psychologische Zwangsausübung
Typische Kommunikationshindernisse
Gesunde Kommunikation
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 8Achtsam sein und in der Gegenwart leben
Welche Vorteile bringt Achtsamkeit?
Beobachte deine Gedanken
Einfach das Gegenteil tun!
Zeit
Tagebuchschreiben
Aufenthalte in der freien Natur
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 9Trauer und Verlusterlebnisse verarbeiten
Verschiedene Phasen der Trauer
Selbstmitgefühl
Achtsamkeit und Traurigkeit
Gewöhne dir ein Dankbarkeitsritual an
Vergebung
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 10Neue Dating-Spielregeln
Virtuelle Anmache
Unbestreitbare Chemie
Nichts als Ausreden …
Realität versus Fantasie
Und wie geht es jetzt weiter?
Kapitel 11Eine kleine Orientierungshilfe auf deinem neuen Weg
Und wie geht es jetzt weiter?
Danksagung
Weiterführende Informationen
Quellenangaben
Über die Autorinnen
Für Matt McKay
Es beginnt mit einer starken, sofortigen – emotionalen und oft auch sexuellen – Anziehung. Gleich von Anfang an drängt eine unwiderstehliche Sehnsucht dich dazu, mit dieser faszinierenden Person zu »verschmelzen«. Du hast das Gefühl, sie eigentlich schon sehr viel länger zu kennen – sie kommt dir ungeheuer vertraut vor. Du glaubst sogar, »den oder die Richtige« gefunden zu haben. Doch dann zieht sich dieser geliebte Mensch wieder von dir zurück. Er beginnt dich abzuwerten, hat ständig etwas an dir auszusetzen und schiebt dir die ganze Schuld an euren Problemen zu. Es gibt plötzliche Stimmungsumschwünge: Zuerst konnte er gar nicht genug von dir bekommen – und jetzt hat er dich plötzlich satt. Als schließlich ein Punkt erreicht ist, an dem du glaubst, die vielen Kränkungen nicht mehr länger ertragen zu können, willst du die Beziehung beenden; doch da überredet diese Person dich mit Entschuldigungen und Versprechungen, wieder zu ihr zurückzukehren – und das gleiche Spiel beginnt von Neuem. Du findest es schwierig oder sogar unmöglich, die Beziehung zu beenden, weil du eine so tiefe emotionale Bindung zu diesem Menschen verspürst, dass es dir richtig wehtut, dir ein Leben ohne ihn vorzustellen.
Das ist eine typische traumatische Bindung.
Anhand folgender Fragen kannst du herausfinden, ob du in so einem wiederkehrenden Beziehungsmuster feststeckst:
Fühlst du dich zu einem bestimmten »Typ« hingezogen?
Kommt dir jemand, den du kennenlernst, plötzlich sehr vertraut vor – als ob du diese Person schon lange kennen würdest?
Findest du immer wieder Entschuldigungen dafür, wie sie dich behandelt?
Traust du dich nicht, sie zur Rede zu stellen, weil du Angst davor hast, dass sie sich dann von dir zurückziehen könnte?
Fällt dir auf, dass du immer wieder verletzendes Verhalten von dieser Person in Kauf nimmst?
Fühlst du dich unwohl oder hast du Angst, wenn du nicht mit ihr zusammen bist?
Findest du es schwierig oder unmöglich, diese Beziehung zu beenden?
Machst du dir Sorgen darüber, dass du diesen Menschen verlieren könntest?
Fällt es dir schwer, das Ende einer solchen Beziehung zu verkraften und dann einfach wieder »zur Tagesordnung überzugehen«? Kehrst du womöglich sogar wieder zu diesem Menschen zurück, um es noch einmal mit ihm zu versuchen?
Wenn du mehrere dieser Fragen mit Ja beantwortet hast, könnte es sein, dass du in einer traumatischen Bindung gefangen bist.
Unsere ersten Bindungen an Menschen, die in unserem Leben eine wichtige Rolle spielen, entstehen bereits bei der Geburt. Sie werden von unserem Temperament, unseren Bezugspersonen und den Wechselbeziehungen zwischen beidem beeinflusst. Normalerweise führen gesunde Bindungen während der Kindheit dazu, dass wir in unserem Beziehungsleben ein Gefühl der Sicherheit haben: Wir machen die Erfahrung, wertgeschätzt zu werden, und stehen Beziehungen daher auch später – im Erwachsenenalter – positiv gegenüber. Doch wenn man als Kind ungesunde Bindungen erlebt, entstehen dadurch Angst und Misstrauen, und man fühlt sich verlassen und unzulänglich. Diese allerersten Beziehungsmuster prägen unsere Vorstellungen von uns selbst, unseren Mitmenschen und der Welt, in der wir leben. Wenn wir in unserer Kindheit ungesunde zwischenmenschliche Beziehungen erlebt haben, werden wir unser Beziehungsleben im Erwachsenenalter wahrscheinlich aus einer verzerrten Perspektive betrachten; und das führt zu einer sehr ungesunden Dynamik.
Als Kinder haben wir – wenn überhaupt – kaum Kontrolle über unsere Beziehungen. An diesen allerersten Beziehungen können wir nicht viel ändern; denn in der Kindheit sind wir von unseren Bezugspersonen abhängig – und diese Personen prägen unsere Grundüberzeugungen. Erst wenn wir erwachsen werden, entwickeln wir ein Bedürfnis nach Kontrolle über uns selbst und unsere Entscheidungen: Bewusst oder unbewusst möchten wir jetzt selbst über unsere zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. Nur leider treibt dieser Wunsch uns oft ausgerechnet zu den Persönlichkeitstypen hin, die unser Beziehungstrauma verursacht haben!
Wenn du unter so einem Trauma leidest, dann hast du bei den Beziehungen, die du im Erwachsenenalter eingehst, wieder das Gefühl, eine bestimmte Person für deine Sicherheit und dein Überleben zu brauchen. Du fühlst dich eng mit ihr verbunden, weil sie dir vertraut vorkommt – als würdest du sie eigentlich schon sehr viel länger kennen. Du empfindest eine starke innere Erregung, die sich vielleicht wie »Schmetterlinge im Bauch« anfühlt (eine körperliche Empfindung, die mit dem Gefühl der Anziehung einhergeht). Jede dieser Beziehungen wirft dich wieder in den alten Teufelskreis zurück: Sie ist eine Wiederholung des Traumas, das du als Kind erlebt hast. Denn du hast dich (bewusst oder unbewusst) wieder vom selben Persönlichkeitstyp angezogen gefühlt und geglaubt, dass du entweder nichts anderes verdienst oder dass diesmal alles anders wird – dass dieser Mensch endlich erkennt, was du wert bist, und dich so liebt, wie du es dir ersehnst und auch verdienst.
Vielleicht ist dir inzwischen schon aufgefallen, dass du dir für deine Beziehungen immer wieder ähnliche Persönlichkeitstypen aussuchst oder dich zu Situationen hingezogen fühlst, die an die Konstellation deines ursprünglichen Traumas erinnern. Oder dir wird allmählich klar, dass du unbewusst immer wieder nach Partner*innen suchst oder Situationen schaffst, die dich in negativen Mustern gefangen halten – und dass diese Muster große Ähnlichkeit mit dem Trauma aus deiner Kindheit oder Jugend haben. Jedenfalls kommst du immer wieder mit Menschen und Situationen in Berührung, die dein ursprüngliches Trauma aktivieren – und zwar durch dein eigenes Zutun. Du steckst in einer ständigen Neuinszenierung deines Beziehungstraumas fest.
Wenn du die Fallbeispiele in diesem Buch liest, werden vielleicht negative Gefühle in dir aufsteigen, die schwer zu verkraften sind. Wenn das der Fall sein sollte, dann pass bitte gut auf dich auf und suche dir professionelle Hilfe bei der Verarbeitung deiner traumatischen Erfahrungen! Denn dieses Buch kann dir zwar den Weg zur Heilung zeigen, die Informationen darin reichen aber vielleicht nicht aus, um dich ganz bis ans Ziel, deine vollständige Heilung, zu bringen.
Bevor wir in unser eigentliches Thema einsteigen, solltest du dir erst mal überlegen, warum du dieses Buch in die Hand genommen hast. Gibt es ein spezielles Beziehungserlebnis, das dich dazu motiviert hat? Was hoffst du durch diese Lektüre über dich selbst zu erfahren?
Wir wollen nun zunächst einmal den Boden für die bevorstehende Aufgabe bereiten. Während deiner Arbeit mit diesem Buch wirst du ein Tagebuch führen. Deine regelmäßigen Tagebucheinträge sollen dir dabei helfen, über deine Beziehungserfahrungen nachzudenken und die Strategien zu entwickeln, die du brauchst, um dich aus traumatischen oder toxischen Beziehungen zu befreien und neue, gesunde Partnerschaften aufzubauen. Du wirst in diesem Buch aber auch immer wieder Übungen und Fragen zum Nachdenken finden. Die Übungen sollen dir dabei helfen, mein System anzuwenden und dir die dafür notwendigen Fähigkeiten anzueignen; und anhand der Fragen kannst du noch ein bisschen eingehender über deine Erfahrungen nachdenken – vielleicht parallel zu den Übungen, vielleicht aber auch erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn du bestimmte Stellen in diesem Buch noch einmal liest. Beantworte zunächst einmal die obigen Fragen und schreibe die Antworten darauf in dein Tagebuch! Das ist ein guter Ausgangspunkt für unsere Entdeckungsreise.
Schauen wir uns einmal an, was Casey dazu geschrieben hat: »Während meiner letzten Beziehung ist mir klar geworden, dass es mir schwerfällt, gesunde Bindungen einzugehen. Ich möchte gern verstehen, warum das so ist und wie ich damit am besten weiterkommen kann. Vom Verstand her weiß ich, dass ich wahre Liebe verdiene und dass schon irgendwann die richtige Person auftauchen wird, wenn ich innerlich bereit dafür bin und meine ›Hausaufgaben‹ gemacht habe. Als ich meine*n letzte*n Ex kennenlernte, hatte ich beinahe auf Anhieb das Gefühl, die Person schon seit Jahren zu kennen. Wir gingen sehr schnell miteinander ins Bett, weil sich das einfach gut und richtig anfühlte – ich hatte das Gefühl, dass diese Person ›die Richtige‹ für mich war. All die unschönen Beziehungen und Enttäuschungen, die ich früher erlebt hatte, schienen plötzlich einen Sinn zu ergeben, denn es fühlte sich so an, als würde ich jetzt für meine früheren Qualen belohnt werden. Ein oder zwei Monate lang lief mit uns beiden alles super – zumindest glaubte ich das. Doch dann fiel mir eine Veränderung auf, die am Anfang allerdings kaum spürbar war: Die Person fing an, Verabredungen abzusagen, und es dauerte immer länger, bis sie auf meine Anrufe und Nachrichten reagierte. Anfangs wusste ich nicht, ob ich mir das womöglich nur einbildete. Aber konnte dieses Verhalten normal sein, nach einem so heißen Start? Wenn ich heute im Nachhinein auf diese Erfahrungen zurückblicke, fällt mir auf, dass ich das, was uns beide miteinander verband, zwar für Liebe hielt, allerdings hatten wir eigentlich nie über das Thema Treue gesprochen. Wir hatten uns nicht über unsere Erwartungen geeinigt; also hatte ich vielleicht ganz andere Vorstellungen von unserer Beziehung als sie. Eigentlich wusste ich gar nicht, was sie für mich empfand, und das versetzte mich allmählich in Panik. Nach und nach zog sich diese Person immer mehr von mir zurück, und letzten Endes hat sie mich auf ziemlich kalte Art und Weise abserviert. Ich begreife immer noch nicht, warum sich unsere Beziehung für mich anfangs so ›richtig‹ angefühlt hat, obwohl diese Einschätzung offenbar völlig falsch war. Sie endete genauso wie viele meiner früheren Beziehungen! Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich mich zu Menschen hingezogen fühle, die mich früher oder später im Stich lassen – und das gibt mir das Gefühl, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt. Ich würde so gern verstehen, warum ich immer wieder verlassen werde.«
Kommen dir Caseys Erfahrungen bekannt vor? Vielleicht steckst du ja auch in einer traumatischen Beziehung (oder einer ganzen Serie traumatischer Beziehungen) fest? Dann könnte die Situation, die wir als Nächstes beschreiben werden, auf dich zutreffen.
»Ich führe seit vier Jahren eine Beziehung mit einer Frau, mit der ich mich sehr wohlfühle – ich meine ›wohl‹ in dem Sinn, dass sie mir vertraut vorkommt«, schreibt Kai über seine traumatische Beziehung. »Als Kind habe ich nie Bestätigung erhalten; es gab weder ermutigende Worte noch Liebesbezeigungen. Soweit ich mich erinnern kann, haben meine Eltern mir niemals gesagt, dass sie mich liebten – nicht mal in meiner frühesten Kindheit. Vielleicht ist das so, wenn Eltern es gut mit einem meinen, andererseits aber eben auch sehr streng sind. Ich bekam zwar Unterstützung und Ermutigung von Freund*innen, Lehrer*innen und Vorgesetzten; doch das war kein Ersatz für das, was mir in meiner eigenen Familie fehlte. Inzwischen lebe ich mit einer Frau zusammen, die mich genauso behandelt wie meine Eltern. Ich habe im Lauf meines Lebens immer wieder Frauen kennengelernt, die mir Komplimente machten und mir ein Gefühl der Bestätigung gaben; aber leider habe ich diese Frauen stets zurückgewiesen – wahrscheinlich, weil das für mich ein so ungewohntes Gefühl war. Doch allmählich habe ich den Eindruck, mehr zu verdienen als das, was ich in meinen Beziehungen immer bekomme. Und diese negativen Erlebnisse sind nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich glaube, ich bin in einer traumatischen Bindung gefangen und komme da nicht allein heraus – ich brauche dringend Hilfe.«
Egal, ob du wie Casey in einem toxischen Dating-Teufelskreis feststeckst oder wie Kai in einem traumatischen Beziehungsmuster gefangen bist – dieses Buch ist genau das, was du brauchst.
Um von deinen toxischen Beziehungen loszukommen, musst du zunächst einmal dich selbst und die tief in deinem Unterbewusstsein verwurzelten Überzeugungen verstehen. Deshalb werden wir in Kapitel 1 dieses Buches ausführlich auf verschiedene Bindungsstile eingehen; außerdem findest du dort einen Test zur Beurteilung deines eigenen Bindungsstils. Du erhältst Einblick in die Kindheitserlebnisse, durch die ein Beziehungstrauma entstehen kann und die den Grundstein für toxische Beziehungen im Erwachsenenalter legen. Mit diesem Hintergrundwissen kannst du die toxische Beziehungsfalle, in der du festsitzt, besser einordnen. Mithilfe eines Selbsttests zu neun verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen wirst du außerdem dein Temperament besser kennenlernen, denn das ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil deiner Beziehungsdynamik. Du wirst erkennen, wie vielen negativen Erlebnissen und Erfahrungen du in deinen prägenden Kindheitsjahren hilflos ausgeliefert warst. Dank dieser Erkenntnis wirst du dich leichter von der Scham und den Selbstzweifeln befreien können, die du bisher wahrscheinlich mit dir herumgeschleppt hast.
In Kapitel 2 wirst du deine Grundüberzeugungen kritisch unter die Lupe nehmen und dich und dein Verhalten dadurch besser verstehen lernen. Du wirst Selbsttests zu den sieben Grundüberzeugungen machen, die bei Menschen mit traumatischen Bindungen besonders häufig vorkommen. Diese Überzeugungen, die den Grundstein für deine toxischen Beziehungen gelegt haben könnten, sind:
Verlassenwerden
emotionale Deprivation
Unzulänglichkeit
Misstrauen, Misshandlung und Missbrauch
Abhängigkeit
Unterwerfung
Versagen
Diese Grundüberzeugungen werden wir in Kapitel 2 – und in unserem ganzen Buch – anhand von Fallbeispielen immer wieder veranschaulichen. Wahrscheinlich werden einige dieser Geschichten dir bekannt vorkommen; und das wird dir die beruhigende Gewissheit geben, dass du mit deinen Problemen nicht allein dastehst. Am Ende von Kapitel 2 wirst du schon sehr viel genauer wissen, was dich zu deinen bisherigen Beziehungsentscheidungen getrieben hat. Außerdem wirst du dann auch mehr Mitgefühl mit deinem inneren Kind haben – jener verletzten Kinderseele, die so schlimme zwischenmenschliche Erfahrungen machen musste und dadurch negative Grundüberzeugungen entwickelt hat.
In Kapitel 3 erfährst du, wie deine Grundüberzeugungen mit deinem Verhalten und deinen Beziehungsentscheidungen zusammenhängen. Du wirst dir über deine typischen Verhaltensweisen klar werden und begreifen, warum du dir damit noch mehr Schmerz zufügst.
In diesen ersten drei Kapiteln tauchst du also tief in deine Vergangenheit ein und erfährst, warum diese Vergangenheit für deinen emotionalen Schmerz verantwortlich ist. Doch trotz dieses Schmerzes ist es wichtig, dich mit deiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, damit du sie besser verstehst und die Denkmuster und Verhaltensweisen hinter dir lassen kannst, die dir nicht mehr guttun. Das ist ein sehr wichtiger Schritt, ohne den du auf deinem Weg zu einem gesunden Leben und zu der Liebe, die du wert bist, nicht weiterkommen wirst.
In Kapitel 4 werden wir näher auf die kontraproduktiven Bewältigungsmechanismen eingehen, die du in Kapitel 3 kennengelernt hast. Außerdem wirst du jetzt erkennen, zu welchen Männer- bzw. Frauen-»Typen« du dich dadurch hingezogen fühlst und warum du immer wieder in Beziehungsdynamiken hineingerätst, die so ähnlich sind wie die Beziehungskonstellationen, die du in deiner Kindheit und Jugend erlebt hast. Es gibt sechs solche Persönlichkeitstypen:
Verlasser*innen
Missbraucher*innen
Kontrollfreaks
Kritiker*innen
Emotionale Vampire
Zerstörer*innen
Wir werden dir zeigen, welche manipulativen Strategien solche Menschen oft einsetzen, wie sie deine Schwachstellen ausnutzen und warum diese Dynamik euch beide in einer traumatischen Beziehung gefangen hält.
In Kapitel 5 geht es um ein sehr wichtiges Merkmal solcher Beziehungen: die Intensität. In diesem Kapitel wird dir klar werden, warum eine traumatische Beziehung süchtig machen kann. Viele Menschen verwechseln starke emotionale Erregung und risikoreiche Beziehungen nämlich mit starker Anziehung und Intimität. Doch in Wirklichkeit sind diese intensiven Gefühle oft Vorboten heftiger Dramen: Eine traumatische Beziehung ist von Konflikten, Treuebrüchen und leidenschaftlichen Versöhnungen geprägt. Sie ist intensiv, ungesund und macht süchtig. Das ist genau das Gegenteil von den typischen Merkmalen einer gesunden Intimität: Vertrauen, gegenseitiger Respekt und Sicherheit. Wenn du den Unterschied zwischen diesen beiden Beziehungsmustern erkennst, weißt du alles, was du wissen musst, um in Zukunft sinnvollere Beziehungsentscheidungen zu treffen.
In Kapitel 6 wirst du über deine Wertvorstellungen nachdenken. Du wirst dir Gedanken darüber machen, was dir an einer Beziehung besonders wichtig ist, und diese Werte damit vergleichen, was du in deiner jetzigen oder vorherigen Beziehung erlebt hast. Sobald dir die Diskrepanz zwischen diesen beiden Beziehungsmustern klar geworden ist, wirst du kognitive Bewältigungsmechanismen und Verhaltensstrategien kennenlernen und einsetzen, um diese Diskrepanz zu verringern und schließlich ganz aufzuheben. Den Unterschied zwischen deinem jetzigen Beziehungsleben und der Beziehung zu erkennen, nach der du dich sehnst, ist ein sehr aufschlussreiches Aha-Erlebnis; und wenn es dir irgendwann gelingt, diese Lücke zwischen Soll- und Istzustand zu verkleinern und letztendlich zu schließen, wird das eine noch viel heilsamere Erfahrung für dich sein.
In Kapitel 7 geht es um gesunde Kommunikationsfähigkeiten: Du erkennst, welche Hindernisse einer gesunden Kommunikation bei dir im Weg stehen, und erlernst kommunikative Kompetenzen, die dir helfen, den Teufelskreis toxischer Kommunikationsmuster zu durchbrechen.
In Kapitel 8 werden wir darauf eingehen, wie dringend wir Achtsamkeit brauchen, um im jetzigen Augenblick präsent zu bleiben. Mithilfe von Achtsamkeitspraktiken wirst du dir die kontraproduktiven automatischen Verhaltensweisen abgewöhnen, in die du in Situationen verfällst, die dich triggern. Außerdem kannst du dich durch Achtsamkeit aus den Dynamiken befreien, die dich in traumatischen und toxischen Beziehungen gefangen halten.
In Kapitel 9 wirst du Strategien zur Bewältigung des Trennungsschmerzes kennenlernen, der entsteht, wenn man sich aus einer toxischen Beziehung befreit. Du wirst eine auf der Akzeptanz- und Commitment-Therapie beruhende Methode kennenlernen, um die Gefühle der Trauer und Sehnsucht zu verarbeiten, die einen am Ende einer Beziehung (auch wenn sie noch so traumatisch war) zwangsläufig überkommen.
In Kapitel 10 wirst du erfahren, wie du Partner*innen findest, die sich gut für dich eignen könnten, und woran du sie erkennst. Außerdem liefern wir dir hilfreiche Tipps und Strategien, mit denen du dich durch die Anfangsphase der Partnersuche hindurchmanövrieren kannst, in der man leicht über Trigger stolpert oder sich in anderen Fallstricken verfängt.
Und im letzten Kapitel werden wir dir eine Art »Navigationskarte« an die Hand geben, damit du dich auf dem Weg zu dem Leben, das du verdienst, nicht wieder verirrst.
Das ist sicherlich kein einfacher Prozess; doch mit der Zeit wirst du erkennen, dass er doch einfacher und weniger schmerzhaft ist als die seelischen Schmerzen, Verletzungen und Selbstzweifel, die du jahrelang mit dir herumgetragen hast. Mit etwas mehr Wissen und mehr Selbstmitgefühl wird dir klar werden, dass du ein Recht auf gesunde, liebevolle Beziehungen hast: Du verdienst es, ein Leben zu führen, das deinen Wertvorstellungen entspricht.
Und du brauchst dich auch nicht allein auf diese Reise zu begeben. Lass uns diesen neuen Weg gemeinsam gehen!
Lerne deinen Bindungsstil und dein Temperament kennen
In einem Umfeld, das einem Kind Sicherheit, Geborgenheit und Liebe bietet, wird dieses Kind mit großer Wahrscheinlichkeit eine sichere Bindung zu seiner Bezugsperson (und letztendlich auch zu anderen Menschen in seinem Leben) entwickeln. Doch leider zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass rund 50 Prozent aller Kinder keine sichere Bindung entwickeln. Wenn du dieses Buch liest, hast du wahrscheinlich keinen sicheren Bindungsstil; doch daran trifft dich keine Schuld. Denn deine Kindheitserfahrungen ziehen sich wie ein roter Faden durch dein ganzes Leben hindurch.
In diesem Kapitel geht es um Temperamente und Bindungsstile, über die du – zusätzlich zu den Grundüberzeugungen, auf die wir in Kapitel 2 noch näher eingehen werden – Bescheid wissen solltest, um dich selbst, deine toxischen oder traumatischen Beziehungsmuster und deinen ungesunden Bindungsstil besser zu verstehen. Vielleicht bist du dir bereits über deinen Bindungsstil im Klaren; trotzdem solltest du dieses Kapitel lesen und den dazugehörigen Selbsttest machen. Vielleicht hast du auch schon eine ungefähre Vorstellung von deinem Temperament; doch oft sind uns diese Seiten unserer Persönlichkeit gar nicht richtig bewusst. Wenn du sie kennenlernst, hast du damit gleichzeitig die Werkzeuge in der Hand, mit deren Hilfe du etwas an deinem Leben verändern und Entscheidungen treffen kannst, die deinen Wertvorstellungen entsprechen und mit denen du dir genau das Beziehungsleben aufbauen kannst, das du verdienst.
Es gibt drei primäre Bindungsstile: sicher, ängstlich und vermeidend.
Ein Mensch mit sicherer Bindung hat keine Probleme mit Nähe. Einem solchen Menschen macht es weder etwas aus, von anderen Menschen abhängig zu sein, noch stört es ihn, wenn andere von ihm abhängig sind. Und er macht sich auch keine Sorgen darüber, dass er verlassen werden könnte oder womöglich jemand eine zu enge Beziehung zu ihm aufbaut.
Wenn du dagegen einen ängstlichen Bindungsstil hast, fällt es dir schwer, so enge Kontakte zu deinen Mitmenschen aufzubauen, wie du es dir eigentlich wünschen würdest. Du machst dir Sorgen darüber, dass dein*e Partner*in dich nicht richtig liebt oder nicht bei dir bleiben möchte. Dein Wunsch, total mit jemand anderem zu verschmelzen, schreckt potenzielle Partner*innen oft ab.
Wenn du dich immer ein bisschen unwohl fühlst, wenn du anderen Menschen nahekommst, hast du einen vermeidenden Bindungsstil. Es fällt dir schwer, deinen Mitmenschen hundertprozentig zu vertrauen, und daher hast du auch Probleme damit, dich voll und ganz auf sie einzulassen. Es macht dich nervös, wenn jemand zu nah an dich herankommt. Bei zu viel Intimität fühlst du dich unwillkürlich unwohl.
Vielleicht haben diese Beschreibungen dir schon einen ungefähren Eindruck von deinem eigenen Bindungsstil vermittelt. Anhand der nun folgenden Aussagen aus dem von Simpson, Rholes und Phillips (1996) adaptierten Adult Attachment Questionnaire (AAQ) kannst du noch mehr Klarheit darüber gewinnen, ob du unter Beziehungsängsten leidest und welche Einstellung du zu Abhängigkeit und Nähe hast.
Bitte bewerte die nun folgenden Aussagen jeweils mit einer Zahl zwischen 1 und 5 auf der unten stehenden Skala.
Zunächst einmal wollen wir uns den ängstlichen Bindungsstil anschauen.
Du hast einen ängstlichen Bindungsstil, wenn du die Aussagen 3, 4, 9, 10, 11 und 15 am oberen Ende (3 bis 5) der Punkteskala angesiedelt hast.
Hier ein Beispiel für den ängstlichen Bindungsstil, darf ich vorstellen: Camila. Sie ist 28 Jahre alt und kam in den USA zur Welt, nachdem ihre Eltern aus der Dominikanischen Republik dort eingewandert waren. An ihren Vater erinnert sie sich kaum noch, weil er abgeschoben wurde, als Camila drei Jahre alt war. Ihre Mutter ging stets sehr liebevoll mit ihr um, hatte aber gleichzeitig drei verschiedene Jobs, um sich und ihre Tochter über Wasser zu halten und zusätzlich auch noch Geld an Angehörige in der Dominikanischen Republik schicken zu können. In ihrem Wohnviertel in Newark gab es eine Community von Immigranten aus der Dominikanischen Republik, die sich gegenseitig unterstützten. Wenn die Kinder nicht gerade in der Schule waren, teilten sich die Eltern und andere Mitglieder der erweiterten Familie die Aufgaben der Kinderbetreuung miteinander. Allerdings war die Betreuungsperson dann oft keine Erwachsene, sondern das jeweils älteste Kind aus der Gruppe. Wenn ihre Mutter zu Hause war, kümmerte sie sich immer liebevoll um Camila, was sehr tröstend und beruhigend auf das kleine Mädchen wirkte. Doch diese gelegentliche Zuwendung der Mutter genügte ihr nicht: In Abwesenheit ihrer Mutter war Camila immer sehr verängstigt. Sie brauchte mehr emotionale Unterstützung, körperliche Zuneigung und Trost, als die Mutter ihr geben konnte.
Camila gab Aussage 3 (Ich mache mir oft Sorgen darüber, dass andere Menschen mich nicht richtig lieben), Aussage 9 (Ich mache mir oft Sorgen darüber, dass andere Menschen vielleicht nicht bei mir bleiben wollen) und Aussage 11 (Ich frage mich oft, ob meine Mitmenschen sich wirklich etwas aus mir machen) hohe Punktzahlen, was zeigt, dass sie einen ängstlichen Bindungsstil hat.
In den nächsten Kapiteln werden wir darauf eingehen, welche Wechselwirkungen zwischen Camilas Bindungsstil, ihren Grundüberzeugungen und ihrem Temperament bestehen und wie aus einer solchen Konstellation traumatische Bindungen entstehen und sich verfestigen können.
Folgende Punktzahlen deuten auf einen vermeidenden Bindungsstil hin:
Du hast einen vermeidenden Bindungsstil, wenn du Aussage 1, 5, 6, 12 und 14 am unteren (1 bis 3) Ende der Punkteskala und Aussage 2, 7, 8, 13, 16, 17 und 18 am oberen (3 bis 5) Ende der Punkteskala angesiedelt hast.
Und nun wollen wir einen Menschen mit vermeidendem Bindungsstil kennenlernen: Ians Mutter litt nach seiner Geburt unter einer Wochenbettdepression, die aber leider unentdeckt blieb. An manchen Tagen kam sie nicht einmal aus dem Bett heraus, weil sie sich sehr leicht überfordert fühlte. Sie litt unter starken Gefühlen der Traurigkeit, sodass es ihr schwerfiel, eine Bindung zu ihrem Baby aufzubauen. Ians Vater lebte zwar mit ihnen zusammen, und wenn er gerade nicht arbeiten musste, ging er auch liebevoll mit dem Kind um; doch oft fühlte er sich mit der Aufgabe, sich um seine Frau und sein neugeborenes Baby zu kümmern, überfordert. Zum Glück ging es den beiden finanziell so gut, dass sie eine Haushaltshilfe engagieren konnten, die sich um das Haus, das Kind und die junge Mutter kümmerte, wenn der Vater arbeitete. Doch natürlich litt die ganze Familie sehr unter dieser Situation.
Ians Punktzahlen zeigen, wie schwer er damit zurechtkam: Die Aussagen 1 (Es fällt mir ziemlich leicht, anderen Menschen nahezukommen), 5 (Ich habe kein Problem damit, von anderen Menschen abhängig zu sein) und 12 (Ich habe kein Problem damit, enge Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen) hat er mit niedrigen Punktzahlen bewertet. Bei den Aussagen 2 (Es fällt mir schwer, von anderen Menschen abhängig zu sein), 8 (Nähe zu anderen Menschen ist mir ein bisschen unangenehm), 13 (Ich fühle mich unwohl, wenn mir jemand emotional zu nahe kommt) und 17 (Oft wünschen sich die Menschen mehr emotionale Nähe zu mir, als mir lieb ist) waren seine Punktzahlen dagegen sehr hoch.
Wenn die Punktzahl, auf die du bei dem obigen Selbsttest gekommen bist, auf einen ängstlichen Bindungsstil hindeutet, kannst du dir vielleicht vorstellen, wie schwierig eine Beziehung zu einem Partner oder einer Partnerin mit vermeidendem Bindungsstil für dich wäre. Tatsächlich führen solche Verbindungen oft zu traumatischen Beziehungen. Darüber solltest du dir im Klaren sein, dir aber gleichzeitig auch vor Augen halten, dass nicht alle Menschen mit vermeidendem Bindungsstil toxische Persönlichkeiten sind. Wie du in den nächsten beiden Kapiteln noch sehen wirst, sind Menschen sehr viel komplexer als ihr jeweiliger Bindungsstil. Mit anderen Worten: Es ist durchaus möglich, mit jemandem, der einen vermeidenden Bindungsstil hat, zusammen zu sein, ohne dass das unbedingt in einer traumatischen Beziehung enden muss.
Zum Schluss wollen wir uns den sicheren Bindungsstil anschauen.
Du hast einen sicheren Bindungsstil, wenn du in der Lage bist, enge Beziehungen zu führen, und es dir nichts ausmacht, von anderen Menschen abhängig zu sein.
Wenn du die Aussagen 1, 6 und 12 am oberen Ende der Punkteskala (3 bis 5) und die Aussagen 8, 13 und 17 am unteren Ende der Punkteskala (1 bis 3) bewertet hast, bist du in der Lage, enge Beziehungen zu führen.
Wenn du Aussage 5 und 14 am oberen (3 bis 5) Ende der Punkteskala und Aussage 2, 7, 16 und 18 am unteren (1 bis 3) Ende der Punkteskala bewertet hast, hast du keine Probleme damit, von anderen Menschen abhängig zu sein.
Und nun möchten wir dir Aryan vorstellen. Er ist in Washington, DC in einer vierköpfigen Familie mit einem vier Jahre älteren Bruder aufgewachsen, der bei einem Unfall ums Leben kam, als die beiden noch im Teenageralter waren. In seinem Elternhaus herrschte ein enger Familienzusammenhalt. Vor allem Aryan und sein Bruder standen sich sehr nahe, und Aryan verließ sich ganz auf dessen Führung. Er war ein liebevoller, zuverlässiger älterer Bruder, und die beiden wurden auch von sehr liebevollen Eltern aufgezogen, die immer für ihre Kinder da waren.
Wie nicht anders zu erwarten, hat Aryan in seinem Bindungsstilprofil hohe Punktzahlen in Aussage 1 (Es fällt mir ziemlich leicht, anderen Menschen nahezukommen), 6 (Ich mache mir keine Sorgen darüber, dass jemand zu nah an mich herankommen könnte) und 12 (Ich habe kein Problem damit, enge Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen) erzielt. Das zeigt, dass Aryan in der Lage ist, enge Beziehungen einzugehen. Auch bei Aussage 5 (Ich habe kein Problem damit, von anderen Menschen abhängig zu sein) ist er auf eine hohe Punktzahl gekommen. Demnach hat Aryan einen sicheren Bindungsstil, kann enge Beziehungen eingehen, und es macht ihm nichts aus, von anderen Menschen abhängig zu sein.
Nun wirst du dich vielleicht fragen, warum wir in einem Buch über traumatische Bindungsmuster und toxische Beziehungen ausgerechnet eine sicher gebundene Person als Beispiel anführen? Und diese Frage ist auch völlig berechtigt! Der Bindungsstil ist jedoch nur ein Merkmal für Beziehungsentscheidungen und -dynamiken. Er ist nicht der einzige Faktor, der dabei eine Rolle spielt. Im nächsten Kapitel wirst du erfahren, dass unsere Beziehungen durch das Vorhandensein bestimmter Grundüberzeugungen sehr viel komplexer werden können. Mehr über Aryan und seine traumatische Bindung erfährst du in Kapitel 2.
Nachdem du nun festgestellt hast, welchen Bindungsstil du hast, ist es Zeit für eine kleine Übung, die dir bewusst machen soll, welche Kindheitserlebnisse zur Entstehung deines Bindungsstils beigetragen haben könnten. Damit du deine eigenen Aussagen besser einordnen kannst, werden wir dir auch verraten, zu welchen Erkenntnissen Camila, Ian und Aryan bei dieser Übung gekommen sind.
Aussagen zu deinem Bindungsstil
Schreibe sämtliche Gefühle, Gedanken und Erinnerungen auf, die dir zu den wichtigen Aussagen aus deinem Selbsttest einfallen.
Und hier sind Camilas Aussagen und die Erkenntnisse, die sie aus ihrem Selbsttest gewonnen hat:
Zur Aussage 3: Ich mache mir oft Sorgen darüber, dass andere Menschen mich nicht richtig lieben.