Warum Menschen töten - Claudia Brockmann - E-Book

Warum Menschen töten E-Book

Claudia Brockmann

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Beschreibung

Warum tötet ein 16-Jähriger ein Kind? Wie verhindert man, dass Entführer ihr Opfer umbringen? Kann man Serientäter stoppen? Claudia Brockmann liest in der Seele der Verbrecher. Seit 25 Jahren unterstützt die Polizeipsychologin Kriminalkommissare und Sonderkommissionen bei der Suche nach der Wahrheit. In ihrem Buch erzählt sie vom Fall »Dagobert« und anderen spektakulären und ergreifenden Fällen ihrer Karriere. Ein beklemmender und spannender Blick in die Abgründe der menschlichen Psyche.

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Claudia Brockmannmit Bernd Volland

WARUM

MENSCHEN

TÖTEN

Eine Polizeipsychologin ermittelt

Ullstein extra

Die in diesem Buch geschilderten Fälle entsprechen den Tatsachen. Die genannten Personen und Orte wurden nach Möglichkeit anonymisiert. Etwaige Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten wären rein zufällig. Die in Unkenntnis der Personen aufgestellten Hypothesen können nicht als Behauptungen über die später verurteilten Personen, die der Autorin zum Zeitpunkt der Ermittlung gar nicht bekannt waren, aufgefasst werden. Die Einschätzungen dienen der polizeilichen Zielsetzung und erheben keinen Wahrheitsanspruch. Allen Dialogen liegt ein Gespräch zugrunde, die Niederschrift entspricht den Erinnerungen der Autorin.

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN: 978-3-8437-0554-7

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Inhalt

Vorwort

Denise

Ebert

Taximord

Hilal

Dagobert

Danksagung

Vorwort

Mich haben Kriminalfälle schon interessiert, bevor ich zur Polizei kam und auch lange bevor ich mein Psychologie-Studium begann: Die Kennedy-Ermordung, bei der wir bis heute nichts über die Motive des Schützen wissen. Die Taten des Jürgen Bartsch, der als sogenannter »Kirmesmörder« in den sechziger Jahren vier Jungen umbrachte. Über die Gerichtsverfahren gegen ihn las ich in der Zeitung, es gab unterschiedliche Tatmotive, aber keine eindeutigen Erklärungen und keine Diagnostik. Das Attentat von München während der Olympischen Spiele 1972, die Verhandlungen um Leben und Tod und die misslungene Befreiung der israelischen Sportler. Die Schleyer-Entführung und -Ermordung. Die Entführung der Lufthansamaschine »Landshut« auf einem ganz normalen Urlaubsflug nach Mallorca. Fälle, bei denen kriminelle Energie oder auch die Auswirkungen von Fanatismus und psychischen Störungen auf schockierende Weise in den »ganz normalen Alltag« diffundieren und uns emotional gefangen nehmen.

Ich wurde Psychologin. Als die Professoren der Universität Kiel uns Studienanfängern ihre Forschungsbereiche vorstellten, wurde ich hellhörig: Forensische Psychologie, Aussagebegutachtung, Täterbegutachtung. Spannend! Aber wollte ich nicht eigentlich Psychotherapeutin werden wie so viele in meinem Studiengang? Nachdem ich mich intensiver mit der Rechtspsychologie beschäftigt hatte, war die Richtung jedoch klar, und ich schrieb meine Diplomarbeit über die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen. 1987, als ich mein Diplom erhielt, wurden in Hamburg gerade zwei Psychologen für den Polizeipsychologischen Dienst gesucht. So kam ich zur Polizei.

Hamburg war eines der wenigen Bundesländer, in denen die Polizei bereits in den achtziger Jahren Psychologen als Berater hinzuzog, wenn es um die Bewältigung von Entführungen, Erpressungen und Geiselnahmen ging oder um Ermittlungen bei besonderen Tötungs- und Sexualdelikten. Ich beriet die Kollegen bei kurzfristigen Einsätzen, arbeitete aber auch in Sonderkommissionen mit. Anfangs wurden wir allerdings eher selten in die Kriminalitätsbekämpfung miteinbezogen.

Gerade alteingesessene Polizisten schienen uns Psychologen manchmal kritisch gegenüberzustehen. Manche hatten wohl das Gefühl, wir würden ihre Berufserfahrung und ihren sogenannten gesunden Menschenverstand in Frage stellen, alles besser wissen und ihre Arbeit kritisieren. Andere wiederum waren sehr interessiert daran, was Psychologie leisten kann. Sie waren überzeugt, dass sich sinnvolle Vorgehensweisen aus unterschiedlichen Disziplinen herleiten lassen, die zusammenwirken können.

Es bedurfte einiger Jahre und vieler gemeinsamer Einsätze, bis sich ein Vertrauensverhältnis aufbaute. Die psychologische Einsatzbegleitung wurde mehr und mehr nachgefragt, bis sie selbstverständlich wurde und schließlich eine eigene Dienststelle entstand. Seit 2005 leite ich im Landeskriminalamt Hamburg die »Kriminalpsychologische Einsatz- und Ermittlungsunterstützung«. Wir sind zuständig für verschiedene Arbeitsbereiche. Einige von ihnen spielen eine bedeutende Rolle in diesem Buch. Die »Kriminalpsychologie« etwa berät Polizeibeamte bei Ermittlungen oder Vernehmungen, in der »operativen Fallanalyse« rekonstruieren und analysieren wir den Ablauf einer Tat, und unsere »Verhandlungsgruppe« unterstützt die Kollegen bei Gesprächen mit Erpressern, Entführern oder Geiselnehmern.

Unsere Aufgabe ist es nicht nur, Verbrecher zu fassen. Das gemeinsame Interesse von Polizisten wie Psychologen war und ist auch der Schutz von Opfern. Dieser Verantwortung sind wir uns alle bewusst. Sie verbindet uns nicht nur bei spektakulären Verbrechen, sondern auch bei weniger medienwirksamen Fällen – unserer alltäglichen Arbeit. Ein weiterer wichtiger Bereich unserer Dienststelle ist die »Risikoeinschätzung«: Bei Bedrohung und Gefährdung wie Stalking oder häuslicher Gewalt müssen wir mögliche Gewaltrisiken und Interventionsmöglichkeiten einschätzen mit dem Ziel, eine Eskalation zu verhindern.

Ich kann sagen: Für mich war meine Berufswahl vor nunmehr 26 Jahren die richtige.

Meine tägliche Neugierde auf das, was der nächste Tag bringt, und meine Motivation – alles ist nach wie vor da, und ich arbeite gern. Jeder Fall ist anders und fordert aufs Neue heraus, Routine oder Langeweile kommen nicht auf. Vielleicht bekommen Sie als Leser in diesem Buch eine Idee davon.

Wenn ein Verbrechen geschieht, stellen sich immer die Fragen »Warum?« und »Wer hat so etwas getan?«. Wir müssen Antworten darauf finden – für die Angehörigen der Opfer, für die Öffentlichkeit, für die Angehörigen des Täters und für die Polizei.

Der Weg der Polizei führt immer von der Tat zum Täter. Um Täter zu ermitteln, ist es wichtig, die jeweilige Tat nachzuzeichnen und zu verstehen, warum sie in dieser Form begangen wurde. Möglicherweise wurde der Täter von Zeugen beobachtet, während er seinen Mord beging oder schon vorab, als er das Opfer oder den Tatort auskundschaftete. Möglicherweise hinterließ er Fingerabdrücke, Faserspuren, serologische Rückstände wie DNA. Eines hinterlässt ein Täter in jedem Fall: Spuren seines Verhaltens. Das kann er nicht vermeiden. Und die Art, wie er seine Tat begeht, kann Hinweise geben auf seine Persönlichkeitsstruktur und seine Handlungsmotive. Im besten Fall liefert sie Ansatzpunkte darüber, wen wir suchen müssen. Denn entlang dieser Fragen verläuft unser Weg: Was hat der Täter getan? Warum hat er das getan? Wer tut so etwas?

Neben wissenschaftlichen Disziplinen wie der Biologie, Chemie, Physik und Rechtsmedizin kommt hier auch der Kriminalpsychologie große Bedeutung zu – der Wissenschaft, die sich mit der Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung von kriminellem Verhalten befasst.

Die wahren Geschichten in diesem Buch sind besondere, herausragende Fälle, die ich ausgewählt habe. Es sind Kriminalfälle, die mich besonders berührt und auch geprägt haben. Sie bilden nicht meinen Alltag ab. Aber sie skizzieren die Rolle eines Psychologen bei der Einsatz- und Ermittlungsunterstützung. Sie zeigen auf, mit welchen Fragestellungen Polizei und Psychologie konfrontiert werden, auf welch geringer Informationsbasis wir manchmal Einschätzungen vornehmen und Entscheidungen fällen müssen, wie sich die Zusammenarbeit gestaltet und zu welchen Hypothesen und Ergebnissen wir kommen. Sie zeigen auch auf, wie unterschiedlich jeder Einsatz für uns bei der Polizei ist, es ist ein immer neues Zusammenspiel mit Tat und Täter, Opfer und Angehörigen, Öffentlichkeit und Medien.

Jeder Beteiligte hat seine eigene Perspektive, die wir berücksichtigen müssen. Für die Polizei sind es »Fälle«, »Einsatzlagen«. Für den Täter ist es seine Tat mit ihrer ganz individuellen Vorgeschichte und deren Folgen. Für die Opfer und deren Angehörige sind es oft Traumata, die ihr weiteres Leben stets begleiten und in unterschiedlicher Ausprägung bestimmen werden.

Um eine mir immer wieder gestellte Frage zu beantworten: Ja, ich nehme manche Fälle auch mit nach Hause. Ich leide in einigen Fällen mit. Ich beschäftige mich mit einigen Fällen Tag und Nacht, auch mit der Frage, ob ich alles richtig gemacht habe, ob ich etwas vergessen oder übersehen haben könnte, oder ob ich etwas hätte besser machen können.

Ja, ich hätte auch manches besser, manches anders machen können und auch müssen.

Das Lernen hört nicht auf.

Besonders glücklich bin ich, dass ich mit Polizeibeamten und -beamtinnen im Team zusammenarbeiten kann. Wir lernen miteinander und voneinander. Gerade die Verbindung der Wissens- und Erfahrungswelten dieser beiden unterschiedlichen Professionen liefert einen wichtigen Beitrag zum Schutz von Opfern.

Jeder Tag birgt neue Herausforderungen. Es ist kein Abarbeiten eines Planes oder einer Checkliste, sondern ein ständiger Abgleich, ob mein verfügbares Instrumentarium für einen bestimmten Fall ausreicht, ob mein Wissen noch aktuell ist, ob wir weitere Spezialisten heranziehen müssen oder ob wir uns ein Themenfeld neu erarbeiten müssen. Die Realität schreibt immer neue, spannende Geschichten.

Denise

Die Mutter hat ein kleines Nachthemd mitgebracht. Als wolle sie ihre Tochter gleich ins Bett bringen. Sie wird das Nachthemd nicht brauchen. Ich glaube, sie ahnte das bereits, als wir sie mitten in der Nacht anriefen und ihr anboten, sie ins Präsidium zu holen. »Sie können bestimmt genauso wenig schlafen wie wir, da ist es vielleicht praktisch, wenn Sie bei uns sind, falls wir noch Fragen haben oder sich etwas Neues ergibt«, sagte der Kripochef zu ihr. Wahrscheinlich spürte sie da schon, was die Wahrheit war.

Wir wollen sie der Mutter lieber hier im Präsidium sagen als bei ihr zu Hause, in dem Plattenbau, wo die Kamerateams, Fotografen und Journalisten vor der Haustür ebenfalls auf die Wahrheit warten. Die meisten Menschen wollen die Wahrheit wissen. Aber die Täter wollen selten, dass sie ans Licht kommt.

Dazu gehört auch die Antwort auf die Frage, die oft am schwersten zu beantworten ist: Warum ein Mensch etwas getan hat. Mit absoluter Gewissheit können wir das nie sagen, sei es, weil der Täter seine Motive nicht preisgeben will oder weil er sie selbst nicht genau benennen kann. Aber immerhin werden wir der Wahrheit in diesem Fall sehr nahekommen. Und das wird bedeuten, Dinge zu erfahren, die man vielleicht nicht glauben will. Zum Beispiel: Ist ein Teenager imstande, so etwas zu tun?

Später wird die Mutter fragen: »War es Nils?«

Die Kollegen aus einer Kleinstadt in der Umgebung haben unser Team zur Unterstützung gerufen. Die dortige Polizei beschäftigt weder eigene Psychologen noch Fallanalytiker. Also werden zwei Kolleginnen und ich vom Hamburger LKA abgestellt, denn hier scheint dringender Bedarf an einer Fallanalyse.

In Kriminalfilmen werden Fallanalytiker gerne »Profiler« genannt – eine Bezeichnung, die wir wenig schätzen. Die Profiler in Filmen oder Romanen glänzen oft mit einer nahezu magischen Intuition, dank derer sie nach einer »Séance« im Schlafzimmer des Opfers das Alter, den Beruf und die Kindheitsgeschichte des Täters »erspüren«. Dabei geht es bei der operativen Fallanalyse genau um das Gegenteil: Fallanalytiker befassen sich nur mit den objektiven Daten.

Sie fügen die Details zusammen und schaffen ein Bild, das zwar selten alles erklären kann, aber Hypothesen darüber ermöglicht, was vorgefallen ist. Diese basieren nicht auf irrtumsanfälligen Zeugenaussagen oder Geständnissen, von denen man nie weiß, ob sie nicht geschönt oder zumindest unvollständig sind. Das Material, mit dem ein Fallanalytiker arbeitet, ist unwiderlegbar: nur jene Zeugenaussagen, die als absolut gesichert gelten, etwa weil mehrere Personen das Gleiche geschildert haben, vor allem aber die Spuren am Tatort, etwa Blutspritzer, Speichel, Haare, Kleidungsfasern oder zerbrochene Gegenstände, außerdem die Verletzungen des Opfers. Am Ende der Rekonstruktion stehen manchmal mehrere Hypothesen, aber wir wissen: Nur in einer dieser Varianten kann die Tat geschehen sein.

Diese Arbeit wird im Fall »Denise« sehr wichtig werden.

Der Fall beginnt an einem Augusttag um 19 Uhr mit dem Anruf der besorgten Mutter bei der Polizei. Ihre Tochter sei nicht zum Abendessen erschienen, sagt die Frau, dabei sei Denise absolut zuverlässig. Die Mutter ist sehr aufgewühlt. Kurz darauf finden zwei Jugendliche das Rad des Mädchens in einem Gebüsch. Sofort wird eine Suchaktion eingeleitet. Die Familie wohnt in einer Hochhaussiedlung. Zahlreiche Polizeibeamte, Nachbarn und eine Hundestaffel durchkämmen die Gegend. Sie suchen auf dem Dachboden, sie durchstöbern das Gebüsch in der Umgebung und selbst in den Waschmaschinen im Keller schauen sie nach.

Sie finden nichts.

Am Anfang solcher Fälle steht die Ungewissheit: Was könnte vorgefallen sein? Die Vermisste könnte davongelaufen sein, es könnte ein Unfall geschehen sein, oder sie ist Opfer eines Verbrechens geworden, sie könnte irgendwo gefangen gehalten werden, tot sein. Selbst einen Suizid können wir nicht ausschließen, auch wenn er bei einem Kind unwahrscheinlich ist. Der Polizei bleibt erst mal nichts übrig, als in alle Richtungen zu suchen und zu ermitteln.

Die Beamten befragen sofort die Mutter. Ja, es habe einen kleinen Streit gegeben, weil die Tochter ihr Zimmer nicht aufgeräumt hat, sagt sie, aber Denise würde wegen einer solchen Lappalie nicht davonlaufen. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter beschreibt sie als sehr eng und liebevoll. Auch mit dem Lebensgefährten der Mutter habe Denise keine Probleme gehabt, nein, die Mutter kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihre Tochter abgehauen ist, sie ist erst sechs! In der Zwischenzeit klären Beamte die einschlägig bekannten Sexualstraftäter im Umkreis ab, Männer, die bereits wegen Delikten an Kindern vorbestraft sind. Die Polizisten klingeln an der Tür, sagen, dass ein Mädchen verschwunden ist, fragen, ob sie mal reinkommen dürfen. Aber keiner der Besuchten ist diesmal auffällig, etwa indem er den Zugang verweigert oder in seiner Wohnung Spielzeug herumliegen hätte.

Die Nachbarn werden gefragt, ob sie etwas Außergewöhnliches bemerkt haben. Wann sie das Mädchen zum letzten Mal gesehen haben. Wir finden keine brauchbaren Hinweise. Es ist schon kurz nach Mitternacht, als der Chef der Kripo beschließt, mit der Mutter persönlich zu sprechen. Der Einsatzleiter hat ihn über die Suche informiert, und nun will der Chef der Mutter noch mal versichern, dass alles Erdenkliche unternommen werde. Er fragt sie: »Haben Sie eine Idee, was passiert sein könnte? Manchmal hat man ja so eine Ahnung.« Da sagt die Mutter: »Nun ja, Nils hat sich sehr sonderbar verhalten. Nils würde ich viel zutrauen.«

So haben wir Denise gefunden. Und so ist es gekommen, dass die Mutter nun im Präsidium sitzt mit dem Nachthemd in der Hand.

Ich habe dem Kripochef zuvor geraten: »Mach es kurz. Nur vier Sätze.« Und: »Sag ihr dann alles, was sie wissen will. Sag ganz klar die Wahrheit.« Ich nenne es das psychologische Recht auf die Realität, das jeder Mensch hat. Wir dürfen uns nicht anmaßen, für jemanden zu entscheiden, was er ertragen kann und was nicht. Nur wenn ein Mensch die Wahrheit kennt, kann er sie verarbeiten.

Manche fangen zu schreien an, manche weinen stumm, manche toben, manche machen sich Vorwürfe, manche beschimpfen die Polizei. Ich habe Menschen gesehen, die hysterisch lachen. Und Menschen, die reagieren, als hätte man ihnen gerade den Wetterbericht vorgelesen, die scheinbar gleichgültig nicken, und wenn man sie fragt, ob sie verstanden haben, sagen sie »ja, ja, sie ist tot«, als sei es das Normalste der Welt. Jeder braucht seine Zeit, um zu begreifen, und jeder hat seine eigene Art, den ersten Schmerz zu verarbeiten. Das Beste, was wir als Überbringer tun können, ist klar zu sagen, was geschehen ist – und dann müssen wir damit umgehen, wie derjenige reagiert.

Als die Mutter ihm ein paar Stunden zuvor von Nils erzählt hat, ist der Kripochef hellhörig geworden. Nils ist ein Teenager, der große Bruder von Denises bester Freundin Mona und lebt in der gleichen Siedlung. Denise himmelt Nils regelrecht an. Ihre Mutter allerdings traut dem Jungen nicht über den Weg. Ständig würde Nils lügen. So soll Nils ihr an diesem Abend erzählt haben, dass er mit Denise noch gesprochen hat, bevor sie verschwunden ist. Sie habe mit dem Rad zu einem Freund im Nachbarort fahren wollen. Wütend hatte die Mutter ihn stehen lassen, weil es unvorstellbar ist, dass Denise am Abend noch in den Nachbarort wollte. »Man kann diesem Jungen kein Wort glauben«, hat Denises Mutter zum Kripochef gesagt. »Er müsste doch auch bei Ihnen bekannt sein.«

Er ist es: Nils Wagner, 18 Jahre alt. »Diebstahl« und »Sachbeschädigung« stehen in der Akte und »Tierquälerei«. Bei der Einsatzbesprechung hat eine Beamtin von den Aussagen berichtet, die der Junge am Abend gemacht hatte. Als der Kripochef mir nun die Akte reicht, nicke ich nur: »Rote Flaggen.« So nennt man die psychologischen Alarmsignale, die einem beim Blick in Akten oder Vernehmungsprotokolle ins Auge stechen. Tierquälerei ist eine solche »rote Flagge«. Sie zählt zu jenen Delikten, die auffällig häufig in den Biographien von Gewaltverbrechern vorkommen. Manchmal ist sie eine Vorstufe zur Gewalt gegenüber Menschen, Ausdruck von fehlendem Mitgefühl und großem Machtbedürfnis, auch von Sadismus. So wie Brandstiftung. Auch hier zeigt sich ein zerstörerisches Machtbedürfnis. Wie beim Quälen von Tieren können manche Menschen richtiggehend sexuell erregt werden, wenn sie ein Haus in Flammen gesetzt haben.

Nils wurde erwischt, als er eine Katze mit Nadeln malträtierte. Wir in der Runde blicken uns an. Unser Gefühl wird nicht besser. Er hat sich bei der Suche als auffällig engagiert hervorgetan, obwohl er sonst nicht als hilfsbereit gilt. Seiner Aussage nach müsste Nils der letzte Zeuge gewesen sein, der Denise lebend gesehen hat. Um 18:25 Uhr sei er Denise im Treppenhaus begegnet. Sie habe »zickig wie ein kleines Mädchen« auf ihn gewirkt, sei sauer gewesen, da sie ihr Zimmer aufräumen sollte. Ja, man habe ein wenig »Smalltalk« geführt. Er habe sie noch aufgefordert, nach Hause zu gehen, aber sie habe unbedingt mit dem Rad zu einem Freund im Nachbarort fahren wollen. Der sei »schon mehr als nur ein Freund«, habe Denise gesagt. Auf dem Weg dorthin hätte sie durch ein kleines Waldstück fahren müssen, sagte Nils dann noch, dort hätte sie jemand leicht vom Rad ziehen können. Die Beamtin notierte seine Aussage, aber maß ihr noch keine große Bedeutung bei.

Jetzt, nachts im Polizeipräsidium, tun wir das durchaus. Diese Wortwahl? Was meint er mit »Smalltalk«? Schäkern? Flirten? Mit einer 6-Jährigen? Die noch dazu jemanden besuchen wollte, der »schon mehr als nur ein Freund« ist? Es ist unwahrscheinlich, dass Denise diese Worte gebraucht hat. Aber was geht dann im Kopf dieses Jungen vor, wenn er von einer 6-Jährigen redet, als wäre sie ein Teenager oder eine erwachsene Frau? Es hat eine unangemessene sexuelle Note. Und seine anderen Aussagen? Sie weisen in eine auffällige Richtung: möglichst weit weg von ihm selbst. Räumlich: In den Nachbarort habe das Mädchen fahren wollen, dort sollten wir suchen. Und auch moralisch: Er zeichnet ein Bild von sich als Beschützer, der ihr ins Gewissen geredet hat. Wenn wir ihm glauben, wäre er also ein »Guter«. Einen »Bösen« liefert er gleich dazu: jemand, der sie »im Wald vom Rad gezerrt« haben könnte. Dabei war ihm gegenüber von einem Verbrechen noch gar nicht die Rede.

Das sind etliche rote Flaggen.

Es ist bereits vier Uhr nachts, alle verfügbaren Beamten werden noch mal zur Siedlung geschickt. Nils Wagner wird aus dem Bett geklingelt, die Kellerabteile sollen geöffnet werden – auch ohne Durchsuchungsbeschluss, es ist Gefahr im Verzug, vielleicht liegt das Mädchen irgendwo gefesselt oder ist eingesperrt.

Manchmal begegnen mir bei meiner Arbeit Dinge, die so furchtbar sind, dass es zunächst schwer nachzuvollziehen ist, wie ein Mensch so etwas tun kann. In den Medien werden in diesen Momenten schnell die Wörter »Bestie« oder »Monster« verwendet, obwohl wir alle wissen, dass es immer Menschen sind, die diese Verbrechen begehen. Das »Monströse« ist die Folge zahlreicher Umstände, die die Persönlichkeit eines Menschen so geprägt haben, dass er zu solchen Taten fähig ist. Selbst die furchtbarsten Verbrechen folgen einer inneren Logik. Auch wenn diese nicht in unsere eigene Vorstellungs- und Erlebenswelt passt.

Um 5:30 Uhr klingeln mehrere Beamte an der Tür der Familie Wagner. Die Mutter ist verschlafen und überrascht. Die Polizisten wollen sich gerne die Wohnung ansehen und mit Nils sprechen. Mit Nils? Wegen Denise? Die Mutter kann es nicht fassen. Die Beamten durchsuchen die Wohnung. Schließlich tritt ein Kollege in die Abstellkammer, wo in einer Ecke, versteckt hinter einem Bügelbrett, ein großer Umzugskarton steht, als stünde er schon lange hier. Es ist dunkel. Der Beamte öffnet den Karton und greift hinein. Er berührt etwas, das sich wie Haare anfühlt. Er hofft, es ist eine Puppe. Es ist keine Puppe.

Als die Mutter nun um sechs Uhr früh dem Kripochef, dem Einsatzleiter und mir gegenübersitzt, müssen wir ihr das schwer Begreifliche mitteilen.

Der Kripochef sagt: »Es tut mir leid. Wir haben alles versucht. Wir haben Denise tot gefunden. Sie lag in der Abstellkammer der Familie Wagner.«

Die Mutter weint, sie schluchzt, sie ist verzweifelt. Es ist die Realität, mit der sie sich auseinandersetzen muss. Niemand kann ihr das abnehmen oder erleichtern, indem er etwas beschönigt. Aus psychologischer Sicht ist es keine Hilfe, die Wahrheit in eine scheinbar erträgliche Variante umzuschreiben. Man hilft damit nicht dem Betroffenen, höchstens sich selbst. Vielleicht, weil man sich dem Leid nicht aussetzen will, das die Botschaft auslöst.

Für die Angehörigen ist es wichtig, schon zu Beginn einer Suche zu erfahren, dass die Polizei nichts ausschließen kann, auch kein Verbrechen. Der Reflex mag sein, sie in solchen Momenten zu beruhigen und Hoffnung zu nähren: »Machen Sie sich keine Sorgen, wahrscheinlich hat sie sich nur irgendwo versteckt.« Aber wir müssen Vertrauen und Wahrhaftigkeit aufbauen. Das heißt, wir müssen auch signalisieren: Die Polizei nimmt Ihre Sorgen ernst, sie unternimmt alles und zieht alles in Betracht – auch, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte. Die Angst davor kann man den Angehörigen ohnehin nicht nehmen, sie ist automatisch da, wenn ein Kind vermisst wird. Wer glaubt, zu helfen, indem er eine Sorge ausredet, bewirkt manchmal das Gegenteil: Er schafft ein Tabu, der Betroffene wagt nicht mehr, darüber zu reden, obwohl es ihn weiter plagt. Da wir nun wissen, dass Denise nicht mehr lebt, müssen wir weiter ehrlich bleiben. Es wäre keine Hilfe zu behaupten: »Sie musste nicht leiden.« Die Mutter wird die Wahrheit ohnehin später in den Akten lesen.

Die Mutter blickt auf. Am Nachmittag ist sie noch mit ihrer Tochter in einem geliehenen Cabrio durch die Stadt gefahren, die Kleine hat gejauchzt. Und dann ist Denise am Abend noch mal kurz rausgegangen und nicht mehr zurückgekommen. Die Mutter sagt, sie hätte gegen 18:30 Uhr auf einmal einen stechenden Schmerz gespürt. Dann sitzt sie einfach nur da. Sie spricht kein Wort mehr. Schweigt nur. Nach einigen Minuten blickt sie mich an. »Bin ich normal, weil ich so reagiere?« – »Das ist okay. Jeder reagiert anders«, sage ich.

Was einem Leichenfund folgt, ist bittere Routine. Die Spurensicherung sammelt Faserspuren, Blutspuren und Fingerabdrücke. Der Rechtsmediziner untersucht die Leiche vor Ort. Alles wird abfotografiert, damit sich die Situation später rekonstruieren lässt. Dann wird die Leiche zur näheren Untersuchung in die Gerichtsmedizin gebracht. So geschieht es in dieser Nacht auch in der Wohnung der Familie Wagner. Das Material für unsere Arbeit wird gesammelt.