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Peter Hayes

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Beschreibung

Warum geschah der Holocaust, die Ermordung von Millionen jüdischer Menschen während des Nationalsozialismus? Peter Hayes ist der erste Historiker, der die Frage nach dem Warum ins Zentrum eines Buches stellt. Hayes spannt den Bogen von den Ursprüngen des Antisemitismus bis hin zur Bestrafung von NS-Verbrechern nach 1945. So gelingt ihm ein kluger und präziser Überblick über die Vernichtung der europäischen Juden. Ein eindrucksvolles Buch, an dem künftig nicht vorbeizukommen sein wird. "Das Buch spiegelt meine Überzeugung wider, dass der Holocaust genau wie jede andere menschliche Erfahrung erklärbar ist, auch wenn das nicht einfach ist." Peter Hayes

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Seitenzahl: 648

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Peter Hayes

WARUM?

EINE GESCHICHTE DES HOLOCAUST

Aus dem Englischen von Ursel Schäfer

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Warum geschah der Holocaust? Warum wurden während des Nationalsozialismus Millionen jüdischer Menschen ermordet? Peter Hayes ist der erste Historiker, der die Frage nach dem »Warum« ins Zentrum eines Buches stellt. Er spannt den Bogen von den Ursprüngen des Antisemitismus bis hin zur Bestrafung von NS-Verbrechern nach 1945. So bietet dieses Buch einen klugen und präzisen Überblick über die Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden.

Vita

Peter Hayes ist emeritierter Professor für Geschichte und Deutsch sowie für Holocaust Studies an der Northwestern University in den USA. Außerdem ist er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des United States Holocaust Memorial Museum. 2010 erschien von ihm (gemeinsam mit Eckart Conze, Norbert Frei und Moshe Zimmermann) Das Amt und die Vergangenheit, 2004 Die Degussa im Dritten Reich.

In dankbarer Erinnerung an inspirierende Lehrer:

Mary Faherty

James McGillivray

Athern Park Daggett

John C. Rensenbrink

Timothy W. Mason

Henry Ashby Turner jr.

Inhalt

Kapitel EinführungWarum noch ein Buch über den Holocaust?

Kapitel 1Ziele: Warum die Juden?

Antisemitismus

Emanzipation und Gegenreaktion

Kapitel 2Angreifer: Warum die Deutschen?

Nation und Volk

Hitlers Chance

Kapitel 3Eskalation: Warum Mord?

Von der Arisierung zur Gewalt

Reaktionen von Juden und Nichtjuden

Kapitel 4Vernichtung: Warum so schnell und so radikal?

Von Kugeln zu Gas

Die Täter: Die »Generation des Unbedingten«

Zwangsarbeit und Versklavung

Kapitel 5Die Opfer: Warum leisteten nicht mehr Juden mehr Gegenwehr?

Gehorsam und Widerstand

Die Welt der Lager

Kapitel 6Die Heimatländer: Warum waren die Überlebensraten so unterschiedlich?

Unterschiedliche Verhaltensweisen

Der Fall Polen

Kapitel 7Zuschauer: Warum kam nur so wenig Hilfe von außen?

Ausreden in der Vorkriegszeit

Prioritäten während des Kriegs

Kapitel 8Nachspiel: Welches Erbe? Welche Lehren?

Rückkehr, Repatriierung, Rache und Restitution

Legenden und Lehren

Danksagung

Abbildungen

Anmerkungen

Warum noch ein Buch über den Holocaust?

Ziele: Warum die Juden?

Angreifer: Warum die Deutschen?

Eskalation: Warum Mord?

Vernichtung: Warum so schnell und so radikal?

Die Opfer: Warum leisteten nicht mehr Juden mehr Gegenwehr?

Die Heimatländer: Warum waren die Überlebensraten so unterschiedlich?

Zuschauer: Warum kam nur so wenig Hilfe von außen?

Nachspiel: Welches Erbe? Welche Lehren?

Auswahlbibliografie

Personenregister

Kapitel EinführungWarum noch ein Buch über den Holocaust?

Siebzig Jahre nach seinem Ende entzieht sich der Holocaust immer noch unserem Verständnis. Trotz (oder vielleicht wegen) der Produktion von rund 16 000 Büchern, die die Library of Congress unter diesem Schlagwort verzeichnet, trotz immer neuer Museen und Gedenkstätten, trotz jährlich neuer Filme zu dem Thema und trotz einer Vielzahl von Bildungsprogrammen und Kursen fehlt offenbar immer noch eine kohärente Erklärung, warum im 20. Jahrhundert eine so schreckliche Schlächterei im Herzen des zivilisierten Europas möglich war. So lauten die vielleicht am häufigsten im Zusammenhang mit dem Holocaust verwendeten Adjektive denn auch »unvorstellbar«, »unverständlich« und »unerklärlich«. Diese Begriffe zeugen von einem Reflex, sich zu distanzieren, einem beinahe instinktiven Rückzug in Selbstverteidigung. Zu sagen, man könne den Holocaust erklären, erscheint gleichbedeutend mit seiner Verharmlosung. Wer bekennt, dass er ihn nicht begreifen kann, bekundet seine Unschuld – seine oder ihre Unfähigkeit, sich so etwas Schreckliches vorzustellen, geschweige denn, etwas Derartiges zu tun. Insofern ist es kein Wunder, dass Verständnislosigkeit die übliche Haltung angesichts der Monstrosität des Holocaust ist, auch wenn sie es verhindert, aus dem Thema zu lernen.

Selbstschutz ist jedoch nicht der einzige Grund, warum es den Menschen immer noch schwerfällt, den Holocaust verstandesmäßig zu begreifen. Ein weiterer Grund ist die Komplexität der Aufgabe. Den Holocaust zu verstehen erfordert, zahlreiche mit ihm verbundene Rätsel zu lösen. Seit fast drei Jahrzehnten unterrichte ich amerikanische Studenten zu dem Thema, und in der Zeit habe ich viele Vorträge vor wissenschaftlichem und allgemeinem Publikum gehalten. Dabei bin ich zu der Einsicht gelangt, dass Menschen, die sich mit dem Thema herumschlagen, acht zentrale Fragen besonders schwierig finden. Manche betreffen Taten, andere betreffen Versäumnisse, und wieder andere betreffen beides. Alle erfordern eine Klärung, die berücksichtigt, dass sie miteinander verflochten sind, bevor man die Katastrophe verstehen und darüber Rechenschaft ablegen kann. Jedes Kapitel dieses Buchs untersucht eines dieser acht zentralen Themen, die in Form einer Frage angeschnitten werden. Das Buch als Ganzes spiegelt meine Überzeugung wider, dass sich der Holocaust genau wie jede andere menschliche Erfahrung erklären lässt, auch wenn das nicht einfach ist.

Bei der Beantwortung dieser Fragen bringe ich ein Fachwissen ein, das bei Holocaust-Forschern eher ungewöhnlich ist. Ich bin gelernter Wirtschaftshistoriker. Das heißt nicht, dass ich primär materielle Gründe für den Mord sehe (tatsächlich sage ich, dass die materiellen Gründe gegenüber den ideologischen Motiven zweitrangig waren). Aber mein Hintergrund sensibilisiert mich für Zahlen und ihre Bedeutung, und ich nutze oft die Erklärungskraft von Zahlen. Ein weiteres Merkmal meiner Darstellung sind ihre dialektischen Ursprünge. Dieses Buch soll nicht eine These des Autors belegen, es ist vielmehr die Frucht eines Prozesses von Geben und Nehmen über viele Jahre des Lehrens und Vortragens hinweg, in denen ich gelernt habe, welche Aspekte des Themas die Menschen besonders dringlich geklärt haben wollen und warum. Deshalb habe ich mich bei meiner Lektüre und meinem Nachdenken darauf konzentriert, die verlässlichsten Quellen zu identifizieren, die die Forschung zu bieten hat, und mich dann bemüht, dieses Wissen möglichst gut zugänglich zu machen und möglichst einprägsam zu vermitteln.

Neben dem Wunsch, Erklärungen zu geben, verfolgt dieses Buch noch ein weiteres Ziel: Es will die Wahrheit erzählen. Der verstorbene Historiker Tony Judt hat geschrieben: »Da es uns unmöglich ist, das Verbrechen [den Holocaust] zu erinnern, wie es wirklich war, laufen wir zwangsläufig Gefahr, es zu erinnern, wie es nicht war.«1 Rund um das Thema sind zahlreiche Mythen entstanden. Manche sollen uns trösten, dass alles hätte ganz anders kommen können, wenn nur eine Person oder Institution tapferer oder klüger gehandelt hätte. Andere sollen bevorzugten oder überraschenden Tätern oder sogar Historikern neue Schuld aufladen. Dieses Buch zerstört viele Legenden – von der Vorstellung, der Antisemitismus habe Adolf Hitler in Deutschland an die Macht gebracht, bis zu der Überzeugung, viele Haupttäter seien nach dem Holocaust der Bestrafung entgangen. Im letzten Kapitel werden die verbreitetsten Mythen vorgestellt und entlarvt, einschließlich der immer wieder laut vorgetragenen Behauptung, der Holocaust habe gar nicht stattgefunden.

Das Buch spannt folgenden Argumentationsbogen: Der Holocaust war das Produkt einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Orts, nämlich Europas unmittelbar nach der industriellen Revolution, den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs und der bolschewistischen Revolution. Vor diesem Hintergrund wurde aus einer alten Feindseligkeit gegen die Juden und das Judentum, die tief in einer religiösen Rivalität wurzelte und in der Begrifflichkeit der modernen Wissenschaft aktualisiert wurde, ein an Besessenheit grenzender Aberglaube, dem zufolge die Juden zur magischen Lösung aller sozialen Probleme aus der Zivilgesellschaft eliminiert werden müssten. Die Verwerfungslinien der Umbrüche brachten diese Überzeugung in den 1930er Jahren in Deutschland an die Macht, aber die Ermordung der Juden Europas war weder von der deutschen Geschichte vorprogrammiert noch ein ausschließlich deutsches Projekt. Das Massaker nahm unter spezifischen politischen und militärischen Bedingungen Gestalt an und verschärfte sich zum Teil deswegen, weil es zu den Zielen vieler anderer Europäer passte, zumindest während der kurzen extremen Phase, als der größte Teil des Mordens geschah. Die Opfer der Schlächterei waren weitgehend machtlos, und die Zuschauer hatten mit ihren eigenen, für sie drängenderen Sorgen zu kämpfen. Die Falle, die während der NS-Zeit rund um die europäischen Juden zuschnappte, schloss sich so fest, dass nur einer Minderheit die Flucht gelang, meistens nur knapp und in letzter Sekunde. Danach zögerte die Mehrheit der Länder des alten Kontinents anzuerkennen, woran sie mitgewirkt hatten, aber sie errichteten auch zahlreiche Barrieren, damit sich so etwas nicht wiederholen kann. Heute, siebzig Jahre später, stehen diese Barrieren unter Druck.

Mittlerweile kann fast niemand mehr mit dem Tempo der Holocaust-Forschung mithalten und neue Erkenntnisse in eine allgemeine Interpretation einfügen. Überholte Vorstellungen bestehen fort, während zugleich neue irreführende sich festgesetzt haben. Deshalb brauchen Menschen, die sich für das Thema interessieren, eine gründliche Bestandsaufnahme, die direkt darauf abzielt, die zentralen und anhaltenden Fragen zu beantworten, warum und wie sich das Massaker an den europäischen Juden entfaltete. Genau dies bietet das vorliegende Buch.

Kapitel 1Ziele: Warum die Juden?

Ausbrüche von Feindseligkeit gegen Minderheiten wurzeln fast immer zugleich in Ideen – in dem, was die Mehrheit über die Minderheit denkt – und in Umständen: der Art und Weise, wie oder unter welchen Bedingungen die beiden Gruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt interagieren. Um zu erklären, warum im 20. Jahrhundert die Juden das Ziel mörderischer Absichten wurden, müssen wir uns beide Arten von Wurzeln ansehen.

Emanzipation und Gegenreaktion

Um zu erklären, warum die Verunglimpfung der Juden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wieder zunahm, müssen wir unsere Aufmerksamkeit weg von den Ideen, die vermeintlich die Judenfeindschaft legitimierten, und hin zu den Umständen lenken, die manche Gruppen von Menschen empfänglich dafür machten. Das Ergebnis ist eine ironische und teilweise widersprüchliche Geschichte von neuen Chancen und Rechten für Juden und zugleich immer heftigeren und vergeblicheren Versuchen, die Entwicklung umzukehren.

Bis zu dem, was die Historiker das »lange 19. Jahrhundert« nennen – die 125 Jahre vom Ausbruch der Französischen Revolution 1789 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 –, lebten die meisten Juden in sehr eng begrenzten Welten. Sie konnten Geldverleiher sein, Schankwirte, Hausierer oder Viehhändler und dabei Kontakte zu nichtjüdischen Kunden haben. In Teilen Osteuropas verwalteten Juden oft Güter für Adlige und hatten dabei Umgang mit Pächtern, und gläubige Juden beschäftigten vielleicht auch einmal eine zuverlässige nichtjüdische Hausangestellte, die das Feuer anzündete und andere Tätigkeiten verrichtete, die nach den 613 Gesetzen am Sabbat verboten waren. Ansonsten hatten Juden wenig mit Nichtjuden zu tun und blieben für sie weitgehend unsichtbar.

Beides begann sich in den 1780er Jahren zu ändern. Der erste Riss in der Mauer der religiös begründeten Einschränkungen für die Juden kam mit den Toleranzpatenten, die der österreichische Kaiser Joseph II. zwischen 1781 und 1789 für unterschiedliche Teile seines Reichs erließ.13 Das berühmteste war das Toleranzpatent vom 2. Januar 1782 für Wien und die Umgebung, das als allgemeines Ziel formulierte, die Juden »dem Staat nützlicher und brauchbarer zu machen«. Zu diesem Zweck öffnete das Edikt christliche Schulen und Universitäten für Juden, ebenso wie zahlreiche Tätigkeiten in Handel und Gewerbe, die ihnen bis dahin verwehrt gewesen waren. Es gestattete Juden, christliche Diener zu beschäftigen, und befreite sie von zwei schweren Bürden: einer Sondersteuer und der Verpflichtung für Männer, Bärte zu tragen. Aber das Edikt schränkte auch die Freiheit der Juden sehr ein, sich in der österreichischen Hauptstadt und um sie herum niederzulassen, zu beten und in Hebräisch oder Jiddisch geschriebene Dokumente geltend zu machen. Das letzte Verbot sollte die Juden dazu bringen, Deutsch lesen und schreiben zu lernen, mit bemerkenswertem Erfolg. Im frühen 19. Jahrhundert konnten in den deutschsprachigen Gebieten sogar mehr Juden lesen und schreiben als ihre nichtjüdischen Nachbarn, die nach europäischen Maßstäben relativ gut gebildet waren.

Noch bedeutsamer als das Edikt Josephs II. war die Verkündung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte am 26. August 1789, während der ersten stürmischen Tage der Französischen Revolution. Darin hieß es: »Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.« Weiter ging es mit der Proklamation, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich und deshalb gleich befugt sind, Ämter zu bekleiden und »alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet«. Aber es dauerte noch einmal zwei Jahre, bis zum 27. September 1791, bis die Nationalversammlung ein Gesetz erließ, mit dem die Juden zu vollwertigen französischen Staatsbürgern wurden. Obwohl Napoleon im Lauf der nächsten Jahrzehnte die Gleichstellung der Juden in Frankreich bis zu einem gewissen Grad wieder zurückdrehte, trugen seine Armeen doch französische Ideen und Gepflogenheiten in weite Teile Europas, rissen die Mauern der Ghettos ein und beseitigten Beschränkungen bei der Berufsausübung und in der Politik. Damit setzte Napoleon den modernen Prozess der Judenemanzipation in Gang, und die Gegenreaktion darauf brachte die moderne Form des Antisemitismus hervor. Wie bereits angemerkt, liegen die Wurzeln des modernen Antisemitismus in religiösen Differenzen: Über Jahrhunderte ließ das Christentum die Juden in Europa leiden und leben. Aber die Form der Judenfeindschaft, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand und sich selbst Antisemitismus nannte, ist im Kern eine politische Bewegung, Ausdruck des Widerstands gegen die Emanzipation der Juden, die im ausgehenden 18. Jahrhundert begann, im 19. Jahrhundert in Westeuropa und in geringerem Ausmaß auch in Mitteleuropa an Stärke gewann und mit der Revolution in Russland 1917 auch die östlichen Teile des Kontinents erreichte.

Formell ausgedrückt, war die Emanzipation der Prozess, durch den die Juden von Einschränkungen hinsichtlich Berufsausübung, Wohnort und politischer Betätigung befreit und allen anderen Bürgern eines Staates rechtlich gleichgestellt wurden. Aber diese Formulierung ist zu abstrakt, die Definition blendet die menschliche, alltägliche Bedeutung der Judenemanzipation aus und auch, wie sie sich für die Nichtjuden anfühlte. Die Emanzipation bedeutete, dass die Juden sich aus ihrem Stand als Parias erhoben, sie bedeutete praktisch wortwörtlich ihren »Eintritt« in die Gesellschaft und in regelmäßige Kontakte mit Nichtjuden, und vor allem brachte sie zwei Möglichkeiten mit sich, gegen die sich Widerstand regte: Erstens durften Menschen, die bis dahin mit Ausübenden bestimmter Gewerbe und Berufe nicht hatten konkurrieren dürfen, dies nun tun, und zweitens konnten Menschen, die man bisher als in geistiger Dunkelheit lebend und rückständig verunglimpft hatte, als dreckig und abergläubisch, nun in Positionen aufsteigen, in denen sie über Nichtjuden gebieten konnten, über Menschen, die gewohnt waren, sich selbst für »besser« als die Juden zu halten. Die Furcht vor dieser zweiten Möglichkeit kommt in einer ganz und gar nicht ungewöhnlichen bayerischen Petition vom 10. Januar 1850 zum Ausdruck, die gegen die Gleichstellung der Juden Protest erhob. In diesem Dokument forderten 83 Bürger der Stadt Hilders im Bezirk Unterfranken, der achtzig Jahre später eine Hochburg der Nationalsozialisten wurde, die Widerrufung der Emanzipation und vor allem, dass Juden nicht zu Rechts- und Steuerämtern zugelassen werden sollten, damit die nichtjüdischen Bürger sich nicht vor den Juden erniedrigen müssten.14

Diese emotionalen und praktischen Folgen der Emanzipation erklären zu einem erheblichen Teil den heftigen Widerstand gegen sie und ihre stockende und ungleichmäßige Umsetzung. Nach dem Sturz Napoleons 1815 hielt Österreich an den Reformen fest, die Joseph II. eingeführt hatte, aber im übrigen Europa drehte nur Frankreich die Uhr nicht zurück. Als einziger rechtlicher Unterschied zwischen Christen und Juden blieb es dort dabei, dass der Staat Priester und Pfarrer bezahlte, nicht jedoch Rabbiner. 1830 verschwand auch dieser Unterschied. Aber überall dort, wohin die Franzosen die Emanzipation getragen hatten, machten die alten oder wieder eingesetzten Herrscher die Entwicklung wieder rückgängig, wenn auch manchmal nur für kurze Zeit. Zwischen 1830, als Belgien nach Erlangung der Unabhängigkeit die Gleichheit aller Bürger verkündete, und 1871, als das frisch geeinte Deutschland es ihm gleichtat, hoben alle Länder, die einmal unter französischer Herrschaft gestanden hatten, und dazu einige Länder in West- und Nordeuropa, für die das nicht galt, wie Großbritannien, Schweden und die Schweiz, den Rückschritt wieder auf und vollendeten den Prozess der Emanzipation.

Die Emanzipation drang jedoch nicht bis in die Länder des russischen Reichs vor, einschließlich des Gebiets mit der größten jüdischen Bevölkerung in Europa: den Ansiedlungsrayon, also die Teile des heutigen Polens, Litauens, Weißrusslands und der Ukraine, in denen die meisten Juden bis zum Sturz des Zaren durch die Revolution 1917 leben mussten. Auch in Rumänien waren die Juden bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nicht gleichgestellt, dort erlangten sie die Emanzipation erst auf Druck der siegreichen Alliierten. Dass die Emanzipation in diesen Regionen erst spät Fuß fasste und der Widerstand heftig war, ist im Zusammenhang mit unserem Thema wichtig, denn in diesen Gebieten fanden die Nationalsozialisten später den größten Teil ihrer Opfer und erhielten bei ihren Mordtaten die breiteste Unterstützung durch die lokale Bevölkerung.

Die Emanzipation war das politische Projekt der sogenannten Liberalen, überall stand und fiel es mit deren Stärke. Wer waren die Liberalen? Das Wort »liberal« geht auf das lateinische liber zurück, was »frei« bedeutet. Die Liberalen propagierten politische und wirtschaftliche Freiheit: a) die von der Gnade des Herrschers unabhängige Herrschaft des Rechts, niedergelegt in Verfassungen und verwirklicht in Wahlen; b) offene, kompetitive Märkte im Gegensatz zu Zünften, die den Zugang zu bestimmten Tätigkeiten regelten, sowie Zöllen und Abgaben, die den Güterverkehr einschränkten; und c) im Gegensatz zum aristokratischen Prinzip den Vorrang von Fähigkeiten vor der Geburt. Gemeinsam war den politischen und wirtschaftlichen Zielen der Liberalen eine allgemeine Offenheit für Wandel, wie sie in der französischen Wendung laissez faire zum Ausdruck kommt, »tun lassen« oder »geschehen lassen«. Laissez faire bezeichnet die Bereitschaft, ökonomischen Vorgängen ihren Lauf zu lassen und einen kontinuierlichen Prozess der »kreativen Zerstörung« in Gang zu setzen, wie Joseph Schumpeter das später nannte.

Die Liberalen erlebten ihre Hochzeit in Europa genau in der Phase, als die Emanzipation triumphierte, in den Jahren zwischen 1830 und 1870. Aber wie das Tempo der Emanzipation nahm auch die Stärke des Liberalismus von West nach Ost ab, von Großbritannien und Frankreich nach Russland. Je weiter westlich, desto schneller gelangten Liberale an die Macht und desto schneller kam die Emanzipation voran; je weiter östlich, desto weniger Einfluss hatten die Liberalen und desto langsamer änderten sich die rechtliche Stellung der Juden und ihr Austausch mit Nichtjuden. Im England der 1860er Jahre konnte ein Mann jüdischer Abstammung, Benjamin Disraeli, Premierminister werden. Im Russischen Reich war so etwas undenkbar; die in der Religion verwurzelte Ablehnung der Juden blieb die offizielle Staatsdoktrin, jederzeit waren gewaltsame Übergriffe auf Juden möglich. Wie wir noch sehen werden, war Deutschland »das Land in der Mitte«, sowohl geografisch als auch im Hinblick auf Tempo und Ausmaß der Emanzipation.

Die Liberalen triumphierten nicht vollständig, weil sie fast überall in unterschiedlichem Grad auf Widerstand stießen. Um zu verstehen, warum das so war, müssen wir uns ansehen, was sonst noch passierte, während die Emanzipation sich verbreitete. Sechs große Entwicklungen veränderten im 19. Jahrhundert die europäische Gesellschaft.

Erstens erlebte Europa eine Bevölkerungsexplosion von rund 190 Millionen Einwohnern im Jahr 1800 auf rund 420 Millionen im Jahr 1900. Mancherorts waren die Zuwächse sogar noch größer: Die Zahl der Einwohner von England, Schottland und Wales zusammen verdreifachte sich von 1821 bis 1911; das Bevölkerungswachstum der Niederlande, Dänemarks, Norwegens und Deutschlands verhielt sich von 1816 bis 1909/10 fast genauso, und die Einwohnerzahlen von Belgien und Schweden wuchsen um 250 Prozent. Inmitten dieses gewaltigen Umbruchs vervielfachte sich die jüdische Bevölkerung Europas noch rascher, von 1,5 Millionen im Jahr 1800 auf 8,7 Millionen im Jahr 1900 (beinahe das Sechsfache). Und sie wuchs am schnellsten dort, wo die Juden am ärmsten waren und am stärksten verfolgt wurden, im Russischen Reich, das enormen Druck auf sie ausübte, irgendwie irgendwohin auszuwandern.

Zweitens erlebte Europa eine Industrialisierung auf breiter Front, die Landschaften veränderte, riesige Fabriken entstehen ließ, der wachsenden Bevölkerung Arbeit verschaffte, das Warenangebot vervielfältigte und dabei ganze Tätigkeitsbereiche auslöschte. Fabriken, nicht Schuster, stellten die meisten Schuhe her. Textilmühlen produzierten Stoffe viel schneller und billiger als einzelne Weber an ihren heimischen Webstühlen. Ganze Gewerbe verschwanden – wie viele Menschen wissen heute noch, was ein »Küfer« ist oder ein »Wagner«? –, und die qualifizierten Arbeiter, die sie ausübten, die Handwerker, verloren ihren Lebensunterhalt und ihre soziale Stellung. Aber die Massenproduktion litt unter den Schwankungen von Angebot und Nachfrage. Die Eigentümer der Fabriken luden die Folgen der Schwankungen auf ihre Beschäftigten ab mit dem Ergebnis, dass die Industrialisierung Zyklen von Aufschwung und Niedergang erzeugte, und landauf, landab Unzufriedenheit und Bestrebungen, sich in Form von Gewerkschaften und sozialistischen Bewegungen zur Wehr zu setzen, sowie enorme soziale Spannungen hervorrief.

Drittens kam mit der Industrialisierung die Urbanisierung. Die Einwohnerzahl von London wuchs zwischen 1800 und 1900 von 900 000 auf 4,7 Millionen, die von Paris von 600 000 auf 3,6 Millionen und die von Berlin von 170 000 auf 2,7 Millionen. Im Jahr 1800 hatten nur zwei europäische Städte, London und Paris, mehr als eine halbe Million Einwohner, im Jahr 1900 waren es 23 Städte, darunter sieben mit mehr als einer Million. Überall waren die Juden sichtbar beteiligt an dieser Abwanderung vom Land in die Städte, und ihr Anteil an der städtischen Bevölkerung nahm zusammen mit ihrer Sichtbarkeit stark zu, besonders in Wien, Berlin, Warschau und Budapest.15

Viertens beschleunigten große Verbesserungen im Transportwesen, insbesondere Eisenbahn und Dampfschifffahrt, den Handel und öffneten Europa für vermehrten Wettbewerb, vor allem in der Landwirtschaft, aus Regionen, die ihre Entwicklung gerade erst begonnen hatten wie die Great Plains in den Vereinigten Staaten und die argentinische Pampa. Das übte Druck auf die Preise aus, die europäische Bauern für ihre Ernten erzielen konnten. Es bedeutete auch, dass die handwerklichen Erzeugnisse mancher Regionen durch die Industrieprodukte anderer Regionen weggefegt wurden. Die Erfahrung, den Kräften des Markts ausgeliefert zu sein, brachte große Unsicherheit und ein diffuses Bedürfnis mit sich, einen Schuldigen dafür zu finden.

Fünftens breitete sich die Demokratisierung aus, zuerst durch die Ausdehnung des Wahlrechts, wenn auch zunächst nur für Männer, und dann durch den allmählichen Abbau der Privilegien und der politischen Macht des Adels. In der Folge entstanden politische Massenbewegungen und politische Parteien sowie Zeitungen, viele davon Boulevardzeitungen, die sich an die breite Masse richteten. Politische Agitation war an der Tagesordnung, weil die Zeitungen versuchten, mit spektakulären Geschichten über geheimnisvolle Machenschaften hinter den Kulissen ihre Auflage in die Höhe zu treiben. Der Begriff »Sensationsjournalismus« entstand um diese Zeit; die letzten dreißig Jahre des 19. Jahrhunderts lieferten reichlich Stoff, als ein Finanzskandal oder politischer Skandal den anderen jagte.

Sechstens spielte der Glaube zwar weiterhin eine wichtige Rolle, doch das 19. Jahrhundert erlebte eine beträchtliche Säkularisierung im Denken und in der Bildung. Das Papsttum, viele Protestanten und die orthodoxe Kirche im Osten leisteten diesem Trend heftigen Widerstand. Auf so unterschiedlichen Gebieten wie der Theologie, wo David Friedrich Strauß die historisch-kritische Jesus-Forschung einführte, oder der Biologie, wo Darwin seine Theorie der allmählichen Evolution allen Lebens durch Anpassung formulierte, gerieten die christliche Weltanschauung und die traditionelle Frömmigkeit in die Defensive. In gebildeten Kreisen galten sie zunehmend als obsolet. Vielleicht am weitesten fortgeschritten war die Säkularisierung in Frankreich. Dort wurden zwischen 1879 und 1886 die »Lois Ferry« erlassen, benannt nach dem Bildungsminister Jules Ferry, die die Elementarbildung von der Kontrolle der katholischen Kirche befreiten und ein explizit antiklerikales Schulsystem etablierten.

Kurzum, das 19. Jahrhundert war ein Zeitalter des raschen, ununterbrochenen, oft verwirrenden Wandels, und Wandel verunsichert immer und/oder bringt Nachteile für manche Menschen mit sich. Die »Verlierer« waren offenkundig: der Klerus, der registrierte, dass der Respekt vor seinen Mitgliedern und seinen Ansichten sank; Adlige, die nicht länger exklusiven Zugriff auf Ämter hatten oder darauf bauen konnten, dass ihre Ländereien Reichtum garantierten; Konservative, die Wandel aus Prinzip nicht mochten und konkret die parlamentarische Regierung; Bauern, die sich internationaler Konkurrenz gegenübersahen und damit Druck auf ihre Einkommen; Handwerker, die durch die Produktion der Fabriken aus dem Geschäft gedrängt wurden; Fabrikbesitzer, die die im Lauf des Jahrhunderts erstarkenden Arbeitervereinigungen und politischen Arbeiterbewegungen fürchteten, insbesondere den Sozialismus; und sogar Universitätsabsolventen, die harte Konkurrenz um berufliche Positionen erlebten. Natürlich erfuhren nicht alle Angehörigen dieser Gruppen im 19. Jahrhundert Einbußen an Vermögen oder Status, aber vielen erging es so.

Angehörige all dieser Gruppen suchten Erklärungen für das, was passierte, und vor allem für das, was ihnen widerfuhr. Vor diesem Hintergrund fielen Verschwörungstheorien auf fruchtbaren Boden. Sie waren leicht zu verstehen, und – das galt damals wie heute – so abenteuerlich sie auch klingen mochten, es ging bei solchen Theorien genau darum, wer die Schuld für bestimmte Ereignisse trug, nämlich wer offensichtlich davon profitierte. Das ewige Motto von Verschwörungstheoretikern ist die lateinische Formel cui bono. Wer profitiert davon? Oder modern ausgedrückt: »Folge der Spur des Geldes.«

Viele Juden gehörten zu den größten und offensichtlichsten Nutznießern dieser offenen, kompetitiven Welt, die der Liberalismus beförderte. Viele Juden blieben auch bitterarm, besonders je weiter in den Osten Europas man blickte. Aber die Zahl derjenigen, die im 19. Jahrhundert reich wurden, die Zahl derer, die die Chancen der Emanzipation ergriffen, war erheblich und auffällig. Das galt ganz besonders für das Bankwesen, für Handel, Recht und Medizin. In gewisser Weise durchliefen die Juden im Europa des 19. Jahrhunderts das, was Soziologen und Historiker als die klassische Aufwärtsmobilität der Immigranten der ersten Generation in den Vereinigten Staaten beschrieben haben. Frisch emanzipierte Juden suchten ihren Platz in lukrativen und sicheren Verhältnissen, strebten nach Tätigkeiten, die ihre Existenz und die ihrer Kinder verlässlicher verbessern würden als die ihrer Eltern. Und tatsächlich waren die meisten dieser Juden Immigranten, zumindest Migranten im eigenen Land. In großer Zahl zogen sie aus den östlichen Provinzen der österreichisch-ungarischen Monarchie (Galizien, Ruthenien und der Bukowina) nach Wien und in die Umgebung von Wien, wo ihre traditionelle Kleidung und ihre jiddische Sprache, die für Deutsche wie eine fehlerhafte und grammatikalisch vereinfachte Form ihrer eigenen Sprache klang, später den Zorn von Adolf Hitler erregten. Ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung von Paris kam im 19. Jahrhundert aus dem Elsass, der Grenzprovinz, die Deutschland 1871 Frankreich abgenommen hatte. Nach Berlin strömten Juden aus Posen, einer überwiegend ländlichen Provinz, die Preußen im späten 18. Jahrhundert von Polen abgetrennt hatte.

Um 1800 waren Juden unter Studenten, Anwälten und Ärzten unsichtbar gewesen und unter Unternehmensführern selten. In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. und noch mehr in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts schienen sie nun an vielen Orten in diesen geschätzten Rollen überproportional präsent zu sein. Dazu einige erhellende Zahlen aus Mitteleuropa:16

In den 1880er Jahren waren nur drei bis vier Prozent der österreichischen Bevölkerung Juden, aber Juden stellten 17 Prozent aller Studenten und ein Drittel der Studenten an der Universität Wien. In Ungarn machten Juden fünf Prozent der Bevölkerung aus, aber 25 Prozent aller Studenten und 43 Prozent der Studenten an der führenden technischen Universität. In Preußen, dem größten Staat im Deutschen Kaiserreich, war 1910/11 weniger als ein Prozent der Bevölkerung Juden, aber sie stellten 5,4 Prozent aller Studenten und 17 Prozent der Studenten an der Universität Berlin.

Um die Jahrhundertwende waren in Wien 62 Prozent der Anwälte, die Hälfte der Ärzte und Zahnärzte, 45 Prozent der Medizinstudenten und ein Viertel aller Universitätslehrer Juden, ebenso 55 Prozent der Journalisten, 40 Prozent der Direktoren von börsennotierten Banken und 70 Prozent der Aufsichtsratsmitglieder der Wiener Börse. In Ungarn stellten die Juden zur selben Zeit 34 Prozent der Anwälte und 48 Prozent der Ärzte.

1912 waren 20 Prozent der Millionäre in Preußen Juden; in Deutschland insgesamt machten die Juden 0,95 Prozent der Bevölkerung aus, aber 31 Prozent der reichsten Familien waren jüdisch.