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Sie waren im Büro, haben eingekauft, die Tochter zum Gitarrenunterricht gefahren, Vokabeln abgefragt und gekocht, aber Ihre Kinder starren aufs Handy, behaupten, dass sie Hühnchen hassen, und weigern sich, mit dem Hund Gassi zu gehen? Sie fragen sich, was Sie falsch machen, wo doch französische Kinder sich sogar im Restaurant benehmen und chinesische Kinder freiwillig Klavier üben? Nathalie Weidenfeld wollte wissen, was deutsche Eltern von anderen lernen können, und hat 99 Erziehungstipps aus 33 Ländern gesammelt, vom japanischen Geheimnis ausgeschlafener Kinder bis zum buddhistischen Umgang mit muffigen Teenagern. Alle für gut befunden von erfahrenen Müttern – und aufgeschrieben, um Ihr Leben besser und ein wenig entspannter zu machen.
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Cover & Impressum
Motto
Vorwort
1 Astrid aus Schweden, oder: Erziehung zur Selbstständigkeit
Astrids Erziehungstipps
2 Kaiwen aus China, oder: Bändigung der inneren Tigermutter
Kaiwens Erziehungstipps
3 Naiko aus Japan, oder: Erziehung durch wertfreie Ermahnung
Naikos Erziehungstipps
4 Magali aus Frankreich, oder: Erziehung und Zauberei
Magalis Erziehungstipps
5 Roberta aus Italien, oder: Familie und gutes Essen zuerst!
Robertas Erziehungstipps
6 Mercedes aus Brasilien, oder: Offenheit gegenüber der Welt
Mercedes’ Erziehungstipps
7 Imen aus Tunesien, oder: Über Nähe und gute Mutter-Tochter-Beziehungen
Imens Erziehungstipps
8 Benita aus Kuba, oder: Erziehung und Musik
Benitas Erziehungstipps
9 Abeba aus Äthiopien, oder: Erziehung zu Respekt
Abebas Erziehungstipps
10 Cornelia aus der DDR, oder: Kroklokwafzi? Semememi!
Cornelias Erziehungstipps
11 Familie Singh aus Nordindien, oder: Fragen Sie Ihre eigenen Eltern!
Familie Singhs Erziehungstipps
12 Charlotte aus Kanada, oder: Jedes Kind ist ein einzigartiger Kristall
Charlottes Erziehungstipps
13 Caroline aus England, oder: Wenn der Finger wehtut, schneiden wir ihn eben ab.
Carolines Erziehungstipps
14 Tamara aus der Türkei, oder: Von der Kunst, sowohl arbeitende Frau als auch aufopfernde Mutter zu sein
Tamaras Erziehungstipps
15 Yulia aus der Ukraine, oder: was Erziehung mit transformationaler Führung gemeinsam hat
Yulias Erziehungstipps
16 Natalia aus Russland, oder: Hände weg vom Akademikerdünkel!
Natalias Erziehungstipps
17 Cam-Mai aus Vietnam, oder: Über die Freude, andere glücklich zu machen
Cam-Mais Erziehungstipps
18 Madina aus Kirgisistan, oder: Warum es wichtig ist, entspannt wie ein Bär zu sein
Madinas Erziehungstipps
19 Elenia aus Griechenland, oder: Warum Erziehung wie Blumen pflanzen ist
Elenias Erziehungstipps
20 Soraya aus dem Iran, oder: Warum es wichtig ist, ruhig zu atmen
Sorayas Erziehungstipps
21 Kristina aus Serbien, oder: Ein Hoch auf die Langeweile!
Kristinas Erziehungstipps
22 Ashanti aus Kenia, oder: Es wird gegessen, was auf dem Tisch steht
Ashantis Erziehungstipps
23 Najiba aus Afghanistan, oder: Schau hin, wenn dein Kind Probleme hat!
Najibas Erziehungstipps
24 Nadine aus der Schweiz, oder: Warum es sich lohnt, als Mutter Stoikerin zu sein
Nadines Erziehungstipps
25 Valentina aus Kolumbien, oder: Eine Kindheit jenseits von rosa Barbiepuppen
Valentinas Erziehungstipps
26 Ana aus Spanien, oder: Abschied vom ungesunden Perfektionismus
Anas Erziehungstipps
27 Martha aus Ecuador, oder: Abschied vom Patriarchat
Marthas Erziehungstipps
28 Anne aus Holland, oder: Vom selbstbewussten Umgang mit Arbeitgebern
Annes Erziehungstipps
29 Manon aus Belgien, oder: Ein Hoch auf Gesellschaftsspiele!
Manons Erziehungstipps
30 Csilla aus Ungarn, oder ein Hoch auf Väter
Csillas Erziehungstipps
31 Daria aus Polen, oder: Keine Angst vor Emotionen!
Darias Erziehungstipps:
32 Jennifer aus den USA, oder: Vom buddhistischen Umgang mit muffigen Teenagern
Jennifers Erziehungstipps
33 Elea aus Israel, oder: Von der Kunst, Kinder loszulassen
Eleas Erziehungstipps
Schlusswort
Jedes Kind ist anders. Jede Frau ist anders. Und jede Situation auch. So muss man bei verschiedenen Kindern zu verschiedenen Zeiten immer etwas anderes anwenden. Jede Frau hat ihre eigene Methode.
Najiba aus Afghanistan
Astrid ist meine erste Interviewpartnerin. Wir haben uns in einem kleinen Café in der Nähe ihrer Firma verabredet, in der sie manchmal ihre Mittagspause macht. Ich bin als Erste da und bestelle einen Tee. In diesem Moment fällt mir ein, dass ich ja gar nicht weiß, wie sie aussieht. Plötzlich sehe ich eine blonde Frau in Jeans und einer Sportjacke draußen vor der Tür stehen. Da sofort die klischeehafte Vorstellung bei mir aufkommt, dass Schweden meistens blond sind, spreche ich sie an.
»Astrid?«
»Ja, die bin ich«, sagt Astrid.
Als ich ihr erzähle, dass ich automatisch nach einer blonden Frau gesucht habe, muss sie lachen. Nicht alle Schweden seien blond, wie man immer meint, sagt sie. Ich solle nur mal an die schwedische Königsfamilie denken, da seien fast alle dunkelhaarig.
Wir setzen uns an einen kleinen Tisch. Astrid ist eine dynamische junge Frau, mit einem Vollzeitjob als IT-Expertin. Sie hat zwei Söhne, die elf und vierzehn Jahre alt sind. Ihr Mann arbeitet ebenso Vollzeit. Sie wohnt mit ihrer Familie am Stadtrand von München. Jeden Morgen muss sie in die Stadt pendeln. Doch das macht ihr nichts aus. Astrid lebt gerne ein wenig außerhalb, wo die Kinder viele ihrer Aktivitäten mit dem Fahrrad erreichen können und das Leben insgesamt nicht ganz so schnell und stressig ist. Sie und ihr Mann waren sich von Anfang an darüber einig, dass sie auf dem Land leben wollten, um ihre Kinder dort gemeinsam großzuziehen.
»Wir führen eine sehr schwedische Ehe«, sagt Astrid. »Was bedeutet, dass wir uns die Arbeit mit dem Haushalt und den Kindern teilen. Anders«, lacht sie, »wäre es wohl auch nicht gegangen.«
In der Tat rangieren schwedische Männer im europäischen Vergleich auf Platz eins der Liste des Engagements im Haushalt und in der Kindererziehung. Ob ich wüsste, dass Männer, die sich aktiv an der Haushaltsarbeit beteiligen, eine höhere Lebenserwartung haben? Nein, das wusste ich nicht. Was sich wie ein Witz anhört, ist aber keiner. Aus einer Studie des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung in Bremen aus dem Jahre 2018 geht nämlich in der Tat hervor, dass Männer, die sich Hausarbeit leisten, gesünder sind und länger leben als Haushaltsmuffel.
Ich frage Astrid, worauf sie bei ihrer Erziehung am meisten Wert legt. Sie muss nicht lange nachdenken: »Ich denke, das Wichtigste ist es, die Kinder dazu zu erziehen, selbstständig zu sein.«
Ich bitte sie, mir ein Beispiel zu geben.
»Sie können zum Beispiel selbst Frühstück vorbereiten. Oder ihre Zimmer selbst sauber machen. Ich denke, diese Dinge sind wichtig.«
»Ihre Kinder machen selbst ihre Zimmer sauber?«, frage ich nach.
»Ja«, lacht Astrid. »Sogar mit dem Staubsauger!«
»Auch die Betten?«, hake ich ungläubig nach.
»Ja, auch die Betten.«
Großartig, denke ich. »Wahrscheinlich muss ich nicht fragen, ob sie auch den Tisch decken, oder?«
»Klar decken sie den Tisch«, lautet Astrids Antwort. »Und räumen hinterher sogar die Spülmaschine ein.«
Ich gebe zu, spätestens jetzt bin ich neidisch. »Wie haben Sie das geschafft?«, will ich wissen.
Astrid denkt kurz nach. »Wahrscheinlich, weil ich mich einfach geweigert habe, diese Rolle zu übernehmen. Ich sehe mich einfach nicht in der Rolle der Putzfrau.«
Klingt einleuchtend. Ich sehe mich eigentlich auch nicht in dieser Rolle. Und trotzdem bin ich es, die zu Hause das meiste erledigt. Ich frage Astrid nach ihrem Trick, nicht ohne Hoffnung, gleich einen Zauberspruch oder etwas in der Art verraten zu bekommen, womit man Kinder in kooperative Haushaltshelfer verwandeln kann. Aber Astrid hat keinen Spruch für mich.
»Ich weiß nicht«, sagt sie. »Ich mache es jedenfalls einfach nicht. Dann sehen sie schon, dass sie es selbst machen müssen. Und wenn sie ihr Zimmer nicht aufräumen, dann bleibt es eben im Chaos.«
In Schweden, erzählt mir Astrid, wird schon in den Grundschulen von den Kindern verlangt, dass sie zu Hause das Frühstück für die gesamte Familie vorbereiten und anschließend darüber schreiben. Dass Hausarbeit Frauenarbeit ist, denkt in Schweden niemand.
»Ich bin berufstätig. Da müssen sich meine Kinder nun mal selbst organisieren. Das klappt sehr gut. Mein ältester Sohn macht zum Beispiel all seine Kiefernorthopädietermine selbst aus. Und der Jüngere geht allein zu seinem Handballtraining.«
Ich seufze wieder und denke heimlich an meinen persönlichen Fahrdienst. Am Dienstag zum Taekwondo, am Montag und Mittwoch in die Ballschule für den Kleinen und am Donnerstag zum Ballett. Wenn meine Mutter nicht einen Teil der Fahrdienste übernehmen würde, würde ich wohl zusammenbrechen. Liegt es vielleicht daran, dass Astrid nur Glück gehabt hat mit ihrer Auswahl an Sportarten?
»Nein«, sagt sie. »Das liegt daran, dass ich für die Kinder das ausgesucht habe, was in der Nähe ist. Was vom Weg für sie nicht machbar ist, geht eben nicht.«
Sehr pragmatisch. Ich denke an mich selbst. Muss ich denn wirklich meine Tochter zum entfernten Handballtraining fahren? Hätte es nicht einen anderen Sport gegeben, der hier in der Nähe angeboten wird und zu dem sie alleine mit dem Fahrrad fahren könnte?
In Schweden würde sich das Problem sowieso nicht stellen, da der Staat dafür sorgt, dass an den Schulen immer genügend Sportarten angeboten werden. Gesundes Essen und Sport stehen an schwedischen Schulen ganz oben. Da gehen auch die Lehrer mit den Kindern mal zum Büfett und sorgen dafür, dass sie sich aus dem reichhaltigen Salat- und Gemüsebüfett genügend Vitaminreiches holen.
Überhaupt unterstützt der Staat Mütter und Familien enorm. Man erwartet nicht von den Eltern, dass sie alles in der Erziehung selbst übernehmen. Die Schulen und Kindergärten haben bis spätnachmittags oder bis zum frühen Abend auf, die Mütter können flexibel in ihren Buchungszeiten sein.
»Die Mütter wissen, dass sie eine super Betreuung in den Kitas und Schulen haben. Niemand macht ihnen ein schlechtes Gewissen, wenn sie selbst auch ihr Leben leben«, sagt Astrid.
Ich frage Astrid, wie es bei ihnen zu Hause mit dem Handykonsum aussieht. Ein Thema, das mich als Mutter einer pubertierenden Tochter besonders umtreibt. Astrid zögert keine Sekunde.
»Wir sind in Schweden nicht so panisch mit digitalen Medien. Wir setzen Computer schon im Kindergarten ein, und Kinder lernen früh selbst programmieren. Ich persönlich habe zu Hause kein Problem mit dem Handy. Der Ältere ist selbst so vernünftig, dass er weiß, dass man nicht andauernd mit dem Handy rummachen sollte. Und beim Jüngeren ist es so, dass er einfach so viel Sport macht, dass er gar keine Zeit fürs Handy hat.«
Ich nicke. Was für eine gute Idee, Handykonsum mit Sport zu bekämpfen!
Ich frage Astrid, wie ihre konkreten Erziehungsmethoden aussehen. Gibt es Belohnungen? Strafen? Astrid sieht mich an.
»Nein, Strafen gibt es nicht«, sagt sie. »Ich setze ganz auf Vertrauen. Wenn ich sehe, dass etwas nicht funktioniert, reden wir darüber.«
»Ist das typisch schwedisch?«, frage ich.
Astrid denkt kurz nach. »Ja, das mag sein. Wir Schweden vertrauen unseren Kindern. Dass sie sich schon richtig entwickeln werden und dass sie schon alles schaffen werden. Mein Motto lautet einfach: ›Keine Panik, alles wird sich schon lösen.‹«
In der Tat scheint Astrid so etwas wie die fleischgewordene Erziehungsphilosophie des dänischen Psychologen Jesper Juul[1] zu sein. Dieser rät Eltern, darauf zu vertrauen, dass ihr Kind die meisten Dinge in seinem Leben schon selbst und richtig entscheiden und tun wird. Er wendet sich gegen das veraltete und in seinen Augen falsche Konzept eines Familiensystems, in dem es um Macht und nicht um Kooperation geht.
Wenn eines wichtig sei, so schreibt Juul, dann sei es die gute Atmosphäre, die zwischen den Familienmitgliedern herrsche. Noch wichtiger als eine (demokratische) Auseinandersetzung sei, so Juul, dass alle sich an die demokratischen Spielregeln halten würden.
Nicht alle Schweden aber glauben an dieses partnerschaftliche Erziehungsmodell. So ist der schwedische Psychiater David Eberhard[2] davon überzeugt, das schwedische (partnerschaftliche) Erziehungsmodell sei zum Scheitern verurteilt, und zwar deshalb, weil es dazu führe, aus Kindern »Rotzlöffel« zu machen, die zu wenig Respekt vor Erwachsenen hätten. Was Eberhard ebenso kritisiert, ist, dass sich in Schweden der Staat vehement in erzieherische Belange einmischt. Wie etwa dann, wenn er Kinder ermutige, Eltern wegen Missbrauchs und Gewalt anzuzeigen. So sinnvoll das natürlich in jenen Fällen ist, in denen es tatsächlich Missbrauch gibt – das Ganze hat auch eine große Schattenseite, und das ist das Misstrauen, das damit zwischen Kindern und Eltern gesät wird. So haben sich etwa Anzeigen von Kindern gegen Eltern seit dem Jahr 2000 dramatisch erhöht – und das, obwohl Experten davon ausgehen, dass sich die Gewalt gegen Kinder de facto nicht erhöht hat, was bedeutet, dass viele Anzeigen ungerechtfertigt sind. Dass der Staat Gefahr läuft, einen Keil zwischen Kinder und Eltern zu treiben, ist für Eberhard eine desaströse Entwicklung.
Wie sehr körperliche Gewalt in Schweden im Vergleich zu anderen Ländern zu einem Tabu geworden ist, kann man gut anhand des Falls eines italienischen Vaters sehen, der vor einigen Jahren in Schweden für viel Aufsehen gesorgt hat. Dort hatte er mit seinem Kind über die Straße gehen wollen. Als das Kind loslief, ohne nach rechts oder links zu sehen, riss es der Vater an der Schulter zurück und gab ihm einen Klaps. Der Mann kam vor ein schwedisches Gericht, musste Bußgeld zahlen und wanderte ins Gefängnis. Während dieser gar nicht wusste, wie ihm geschah, erregte sich ganz Schweden über den Vorfall und war fassungslos darüber, dass dem Mann jedes Unrechtsbewusstsein fehlte.
»Wenn mir die Hand ausrutschen würde, wäre das das Schlimmste für mich«, sagt Astrid. »Ich würde es mir nicht verzeihen.«
»Worin, glaubst du«, frage ich, »liegt der größte Unterschied zwischen deutscher und schwedischer Erziehung?«
Astrid überlegt kurz. »Deutsche Familien sind stärker auf die Mutter fokussiert. Sie ist das Zentrum der Familie. Jedenfalls der meisten, die ich hier kennengelernt habe. Sie ist die erste Anlaufstelle. Sie entscheidet über die wichtigen Dinge der Familie, was einen enormen Stress für sie bedeutet. Möglicherweise liegt das auch daran, dass in Schweden die Frauen viel häufiger berufstätig sind. Da kann eine Mutter gar nicht so viel übernehmen, wie das hier in Deutschland geschieht.
Über das – zumindest aus feministischer Sicht – vorbildliche Geschlechterverhältnis in Schweden ist viel geschrieben worden. Die Frauenerwerbsquote ist in Schweden höher als in jedem anderen europäischen Land, und dass Männer sich freinehmen, um auf den Nachwuchs aufzupassen, ist in Schweden weitaus normaler als hierzulande. Um die Gleichberechtigung der Geschlechter zu gewährleisten, greift Schweden schon bei Kindergartenkindern ein. 2015 wurde das geschlechtsneutrale Wort »hen« offiziell als Pronomen eingeführt. Jungen wie Mädchen werden dabei nicht als »er« oder »sie« bezeichnet, sondern eben als »hen«, als geschlechterneutrale Person also. Die Idee dahinter ist, dass man den Kindern damit genügend Freiraum gibt, sich jenseits von geschlechterspezifischen Erwartungen zu entfalten und Respekt vor dem jeweils anderen Geschlecht zu haben. Denn Kinder sollen nicht nur selbst entscheiden, ob sie mit Puppen oder Traktoren spielen wollen, sie sollen auch lernen, dass Puppen und Traktoren gleichwertig sind. Vorreiter war der Kindergarten »Egalia«, der 2010 in Stockholm aufmachte. Konsequent setzt dieser die Idee einer geschlechtsneutralen Erziehung um, bietet den Kindern sowohl männliche als auch weibliche Puppen an sowie Puppen verschiedener Hautfarbe. Märchen werden gründlich im Hinblick auf ihre Aussagen zu stereotypen Geschlechteridentitäten untersucht und beim Vorlesen notfalls weggelassen. Mädchen werden ermutigt, wilder zu sein, und Jungs emotional expressiver.
Auch wenn viele Eltern in Stockholm von dem Konzept begeistert sind und die Warteliste für »Egalia« sehr lang ist, gibt es auch kritische Stimmen in Schweden. So kritisierte die Soziologin Elise Claeson, dass die Einführung eines dritten Geschlechts verwirrend auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität wirke. Auch der deutsche Entwicklungspsychologe Peter Zimmermann fragt, ob durch die Entfernung einer vermeintlich sexistischen Sprache nicht eine andere Ideologie etabliert würde. Eine, die sich allzu stark auf Geschlechterunterschiede fokussiert und damit erst ein Problembewusstsein für etwas schafft, das eigentlich gar kein Problem ist.
Irritierend in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass im alten Rom Sklaven ebenso mit einem geschlechtsneutralen Wort bezeichnet wurden, nämlich als »mancipium«. Die Tatsache, dass einem Individuum seine Geschlechtsidentität aberkannt wird, kann also auch einen entwürdigenden Effekt haben.
Ich frage Astrid, ob sie ein Erziehungsbuch empfehlen kann oder ob es einen Pädagogen gibt, dessen Philosophie sie schätzt.
»Ich hole mir selten Anregung aus Büchern. Nur als mein Sohn in die Pubertät kam, dachte ich, vielleicht sollte ich mal etwas lesen, um besser vorbereitet zu sein. Das Buch heißt Pubertät: Wenn Erziehen nicht mehr geht: Gelassen durch stürmische Zeiten, und es ist von Jesper Juul[3]. Ehrlich gesagt bin nie dazu gekommen, es ganz durchzulesen. Aber von ihm stammt die Idee, dass Erziehung realistisch gesehen mit zwölf beendet ist. Ab da, sagt er, kann und muss man sich nur noch um eines kümmern, und das ist eine gute Beziehung zu den Kindern. Ich denke, das ist ein wirklich guter Ratschlag, und genauso empfinde ich es auch.«
Zum Schluss frage ich Astrid, was sie ihren Söhnen, wenn sie eines Tages Eltern werden sollten, mit auf den Weg geben würde. Astrid hält kurz inne.
»Habt nicht so viel Angst und macht euch nicht so viele Sorgen. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Man ist ja mittendrin in dem ganzen Trubel, die Arbeit, das Haus, die Kinder und so weiter … trotzdem ist es wahr: Man macht sich immer zu viele Gedanken. Dass man alles richtig macht, dass man keine Fehler macht. Und doch regelt sich so vieles einfach von selbst!«
Als wir uns verabschieden, regnet es draußen. Astrid hat keinen Schirm dabei, aber sie sagt, das mache ihr nichts aus, obwohl sie noch ein ganzes Stückchen zu laufen hat. Ich sehe ihr nach, wie sie gut gelaunt durch den Regen über die Straße läuft. Hier ist eine Frau, denke ich, die keine Angst hat, nass zu werden. Eine Frau, die dem Leben genauso vertraut wie ihren Söhnen, von denen sie erwartet, dass sie schon alles richtig machen werden. Wie schön!
Vertraue deinem Kind und ermutige es, sein Leben selbst zu organisieren und Verantwortung für euer gemeinsames Leben zu übernehmen.
Achte bei der Auswahl der Hobbys der Kinder darauf, dass die ausgewählten Aktivitäten für die Kinder leicht erreichbar sind – am besten von ihnen selbst!
Hab nicht so viel Angst und mach dir nicht zu große Sorgen. Denk daran: Die meisten Probleme regeln sich von selbst.
Eine knappe Woche später fahre ich zu Kaiwen. Die gebürtige Chinesin wohnt in einem ruhigen und gepflegten bayrischen Vorort. Auch Kaiwens Haus ist auffällig gepflegt. Wir setzen uns an einen großen Holztisch im Wohnzimmer. Kaiwen ist in Peking aufgewachsen, mit zwanzig kam sie zum Studium nach Deutschland. Danach hat sie hier Fuß gefasst. Nach fünf Jahren in einem Sechzigstundenjob in einer renommierten Wirtschaftsprüfergesellschaft hat sie jetzt »nur noch« eine Dreißigstundenstelle bei einer Versicherungsfirma. Kaiwen hat zwei Söhne, einen im Alter von elf und einen kleinen Jungen im Alter von zwei Jahren.
»Während meines Studiums wurde ich schwanger. Wenn meine Mutter mir in der ersten Zeit mit dem Baby nicht geholfen hätte, hätte ich das wohl alles nicht geschafft«, sagt sie. Und damit sind wir auch schon mittendrin im Thema.
»Großmütter helfen in China viel mit. Ich glaube, das liegt daran, dass die Mütter in China nur vier Monate Mutterschutz bekommen. Danach müssen sie wieder Vollzeit arbeiten. Teilzeit gibt es in China nicht. Ohne Großmütter würde es einfach nicht funktionieren. Natürlich war es früher auch einfacher, als man noch häufiger in Großfamilien zusammenlebte. Heute hat sich das geändert.
»Als ich meinen Sohn bekam, haben meine Eltern mich bis zur Selbstaufgabe unterstützt. Da man als chinesischer Staatsbürger nur ein dreimonatiges Visum bekommt, haben sich mein Vater und meine Mutter sogar eine Zeit lang abgewechselt, um mir zu helfen. Irgendwann habe ich aber ein schlechtes Gewissen bekommen, und wir haben eine andere Lösung gefunden.«
»Woran liegt es, dass Großeltern in China so aufopfernd sind?«, frage ich.
»Kinder sind in China wie Hoffnungsträger, was durch die Ein-Kind-Politik natürlich noch verstärkt wurde. Kinder stehen im Zentrum. Sie sind das Ein und Alles der Erwachsenen.«
An diese Hoffnung sind aber auch große Erwartungen geknüpft. Vor allem die, es auf die Universität zu schaffen – das sei das große Ziel, fügt Kaiwen hinzu. »Am besten eine Uni im Ausland. In Deutschland zum Beispiel.«
Kaiwen ist dafür quasi ein Paradebeispiel. Mit exzellenten Noten und einem erfolgreich abgeschlossenen Studium in Deutschland muss sie ihre Eltern sehr stolz gemacht haben.
»Haben deine Eltern dich gelobt oder belohnt?«, frage ich.
»Nein. Meine Eltern haben einfach zu mir gesagt: ›Wir sind immer davon ausgegangen, dass du es schaffst.‹ Was irgendwie ein Lob war und mich gefreut hat.«
Kaiwen lacht und fügt dann hinzu: »In anderen Familien ist es aber anders. Dort schenken Eltern ihren Kindern, die es auf die Universität schaffen, Geld.«
In China ist der Einfluss des Philosophen Konfuzius aus dem 5. Jahrhundert vor Christus immer noch maßgeblich. Der konfuzianischen Lehre zufolge steht nicht das Überirdische, sondern das Irdische im Mittelpunkt des Lebens. Immer wieder betonte er, wie wichtig das eigene Handeln sei und das, was man aus eigener Kraft erreichen kann. Von ihm stammt der Satz: Wer besser lernt, kann besser aufsteigen. In der Tat existiert in China eine lange Tradition, die Staatselite (vor allem Beamte) aus der akademischen Elite zu rekrutieren. Kein Wunder also, dass der Wunsch fast aller chinesischen Eltern nach dem schulischen Erfolg ihrer Kinder so dominant ist.
Kaiwens Sohn stürmt mit einem Freund ins Wohnzimmer. Ein freundlicher, aufgeweckter Junge. Er sagt kurz »Hallo«, dann rennt er nach draußen.
»Ich glaube nicht daran, dass Kinder für Leistung in der Schule oder auch sonst wo, wie zum Beispiel im Haushalt, belohnt werden sollten. Sie sollten es für die Leistung an sich tun. Außerdem: Was ist, wenn sie für eine andere Leistung mehr Geld bekommen? Dann lohnt sich ja die Arbeit in der Schule oder im Haushalt nicht mehr für sie. Und außerdem nehme ich ja auch kein Geld fürs Kochen oder Putzen.«
Ich muss lachen, stelle mir vor, wie ich nach jedem Abendessen einen Beutel rumgehen oder besser noch eine Rechnung auf dem Tisch liegen lasse.
»Vor allem«, sagt Kaiwen, »versuche ich meinen Kindern, insbesondere dem Großen, zu vermitteln, dass sie alles, was sie für die Schule machen, nicht für mich, sondern für sich selbst machen. Bei mir war das anders. Ich hatte immer das Gefühl, ich mache es nur für die Eltern. Sogar als ich in der Uni war, war das noch so.«