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Kritischer Report zu einem hochbrisanten gesellschaftlichen Thema
Im deutschen Gesundheitssystem kann man nur mit Glück gesund werden. Dieses Fazit steht am Ende eines mehrmonatigen Leidenswegs, der die renommierte Journalistin Sonia Mikich in lebensgefährliche Situationen bringt. Auf der Basis dieser Erfahrung unterzieht sie die Prozesse im Krankenhaus, die Kommunikationsstrukturen, die Arbeitsverhältnisse und das Selbstverständnis des medizinischen Personals einer vorbehaltlosen Analyse. Warum werden Patienten auch heute noch entmündigt, warum hören Ärzte so wenig zu, warum weiß der eine nicht, was der andere tut, warum werden Patienten mit gedankenlos hingeworfenen Szenarien geängstigt? Warum hat sich nach jahrelangen Debatten über den Medizinbetrieb, der Milliarden Euro verschlingt, so erschreckend wenig verändert? Antworten sucht sie in Gesprächen mit Insidern, die nicht mehr schweigen wollen und die Ursachen der Misere klar benennen. Ein ernüchternder Report aus dem Innern eines kranken Systems, in dem der Notrufknopf längst überall rot leuchtet.
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Seitenzahl: 459
Sonia Mikich
in Zusammenarbeit mit Jan Schmitt und Ursel Sieber
Warum uns der Medizinbetrieb krank macht
C. Bertelsmann
1. Auflage
© 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München,
ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © Shutterstock / Blablo101
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-10508-2www.cbertelsmann.de
Inhalt
Vorwort
ENTEIGNET Chronik eines Krankenhausaufenthaltes
Die Kämpferin Oberärztin Dr. M. R., Chirurgin
Alle arbeiten bis zum Anschlag, wir müssen dagegen kämpfen Protokoll einer Ernüchterung
Mal schnell noch einen Katheter schieben Produktionsstätte Krankenhaus
Boni für Chefärzte: unsittlich und gefährlich Bonusverträge und Grenzverletzungen
Der Chef Professor Ulrich Joos, Deutsche Chirurgiestiftung
Heute haben Ärzte in Kliniken nichts mehr zu melden Protokoll einer Entfremdung
Der Partner Oberarzt Dr. N. N., Chirurg
Meine Motivation ist allein der Patient Protokoll einer Überzeugung
Der Aussteiger Dr. Paul Brandenburg, Notfallarzt
Selbstverleugnung brauchen wir nicht, um gute Ärzte zu seinProtokoll eines Aufbegehrens
Gefährliche Pflege Personalnotstand und Sterblichkeit bedingen sich
Die Helfer N. N., zwei Pfleger
Irgendwo hapert es immer Protokoll eines Notstands
Die Freiwilligen Erfahrungsberichte eines Zivis und eines Bufdis
Operation Geldsegen Wirtschaftliche Anreize regieren die Medizin
Die Verletzte K. D., Patientin
Man kann dieser Ärzteschaft keinen Menschen überlassen Protokoll eines Übergriffs
Die Geschichte vom erloschenen Leuchtturm Zur Privatisierung des Universitätsklinikums Gießen-Marburg
Sterben erster Klasse Lukrative letzte Lebenszeit
Das Recht auf würdevolles Sterben Palliativmedizin in Deutschland
Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach SJ
Zwischen Arzt und Patient kann es keine Marktbeziehung geben Protokoll einer Rebellion
Was uns stärker machen könnte Ein Plädoyer
Der Tröster N. N., Klinikpfarrer
Ich biete Beziehung, Zeit und Zuwendung Protokoll eines Zuhörenden
Der Selbsthelfer Siegfried Ibsch, Selbsthilfegruppe Atmen
Selbsthilfegruppen als Libero – das wäre eine tolle Sache Protokoll des Begleitens
Der Erfahrene Dr. Martin Friedrichs, Patientenfürsprecher
Der Patient ist krank, nicht sein Organ Protokoll einer Weichenstellung
Der Anwalt Dr. Boris Meinecke
Das Schweigekartell funktioniert weiter Protokoll einer falschen Kollegialität
Der Veränderer Professor Peter Sawicki
Wir brauchen einen Aufstand der Patienten und der Gesunden Protokoll einer Fehlersuche
»Menge gekloppt« Politik und Krankenkassen: keine Ideen?
Verändern, nicht verharren Eine Ermutigung
Dank
Namens- und Sachregister
(Alle nicht namentlich gekennzeichneten Beiträge sind von Sonia Mikich)
Vorwort
Nicht weinen, nicht zürnen. Sondern begreifen.
(Baruch de Spinoza)
Jeder von uns hat eine Krankenhausgeschichte zu erzählen, selbst erlebt oder bei den Liebsten, den Kollegen, den Nachbarn beobachtet. Der Blinddarm, der gebrochene Fuß, die neue Hüfte, der Infarkt, der Tumor. Vielleicht konnten auch Sie nicht fassen, wie man innerhalb eines Augenblicks von einer Person zum »Fall« wird. Vielleicht sind auch Sie verzweifelt gewesen oder irritiert oder stocksauer. Vielleicht wundern Sie sich ebenfalls, wie lange das Verarbeiten währt.
Gleich werden Sie eine solche Geschichte lesen: Eine Frau hat diffuse Beschwerden im Bauch, sie gerät in eine Maschinerie namens Krankenhaus, sie wird mehrfach operiert, zum Teil mit schlimmen Folgen, sie ist körperlich und seelisch am Ende, sie überlebt. Und seitdem gilt für sie die Zeitrechnung VOR dem Sommer 2011 und NACH dem Sommer 2011, ihre Familie und Freunde sehen das so, und im Beruf kennen ihre Kollegen diese Zäsur.
Zeit ist seit diesem Sommer gleichzusetzen mit Sterblichkeit, was ich inzwischen in Ordnung finde. Über den Rest des Lebens, den Countdown zum Tod nachzudenken – war zuvor nie meins. Das nennt man wohl den Erfahrungsschatz vergrößern.
Man stelle sich diesen Sommer als einen privaten ground zero vor. Nicht, weil ich die physischen Ereignisse um diesen meinen Bauch herum überschätze, nein. Sondern weil für etwa fünf Monate eine Gewissheit außer Kraft gesetzt wurde: als aufgeklärter, abgesicherter Mensch in Deutschland das eigene Leben gestalten und verantworten zu können. Obwohl ich mich gut ausdrücken kann und es mir nicht schwerfällt, zu fragen oder zu fordern. Obwohl ich Menschen an meiner Seite hatte, die klaglos für mich da waren, mich praktisch und emotional stützten. Obwohl ich in meinem vertrauten Heimatland krank war und eine teure Versicherung hatte. Obwohl ich nicht sonderlich ängstlich oder misstrauisch bin.
Wie mag es anderen gehen, die nicht solche Voraussetzungen mitbringen? Den Fremden, die ein Unfall in eine Klinik fern der Heimat katapultiert? Den Alten oder Armen, die ratlos und sprachlos vor dem Herrn Doktor stehen?
Viele kennen die Entmündigung, die man im Krankenhaus erleben kann. Ich bevorzuge das harte Wort Enteignung. Genommen wurde mir – zum Vorteil des Wirtschaftsakteurs Klinik – die Verfügung über meinen Körper. Der Zugriff war nicht verhältnismäßig und diente auch keinem Gemeinwohl. Genommen wurde mir zudem das Urvertrauen in andere. Ich »besaß« mein eigenes Leben nicht mehr. Ein Jahr danach, und ich sehe die zweite Agenda: die »Werte« des Marktes, die völlige Kommerzialisierung aller Lebensbereiche. Beziehungen als Ware. Das war vorher bloß Papierwissen, Talkshow-Geräusch. Darum der aus der Ökonomie entliehene Titel dieses Buches – »Enteignet«.
Dieses Buch wird nicht fragen: Wie konnte mir das passieren? Sondern: Warum passiert so etwas? Warum passiert es weiterhin? Welche Faktoren greifen ineinander und machen aus Menschen … Fälle?
Seitdem ich meine Erlebnisse mit anderen besprochen und dann, nach langem Zögern, zunächst als Zeitungsreportage veröffentlicht habe, weiß ich, dass sie nicht außergewöhnlich waren, und diese Durchschnittlichkeit macht mir zu schaffen, als Expatientin und als Journalistin. Alle Gespräche und Korrespondenzen hatten denselben Kammerton: Im Krankenhaussystem läuft etwas gewaltig schief. Die Sache fährt in einigen Jahren vor die Wand, wenn sich die Gesellschaft der Komplexität der Probleme beugt. Obwohl die Deutschen Milliarden für das Gesundheitssystem ausgeben, vergeht kaum ein Monat, in dem nicht von einem Skandal – oder von unnötig Gestorbenen die Rede ist. Insbesondere die Krankenhäuser geraten ins Visier. Wie unter einem Vergrößerungsglas bilden sich hier die Vorzüge und Defizite unseres Gesundheitssystems ab. Hier ist der Ort, wo Menschsein elementar stattfindet. Gebären, gesunden, heilen, dahinsiechen, leiden, sterben. Ein Krisenort. Ein Hoffnungsort.
In der Sendung »Monitor«, die ich fast elf Jahre verantwortete und moderierte, war fehlerhafte Gesundheitspolitik ein Muss-Thema. Und am Ende jedes Missstands, den wir aufdeckten und kritisierten, stand die bittere Erkenntnis: Die Politik müsste in unzähligen Bereichen reingrätschen, lässt sich aber von Lobby- und Verbandsinteressen lähmen oder sogar leiten. Wo mit einer patientenfreundlichen Revolution beginnen? Beim Krankenkassenverband? Bei der Ärztevereinigung? Bei den Krankenhausträgern? Und dann noch die Demografie, und dann noch das Berufsethos, und dann noch die Privatisierung. Der Blick auf Alternativen? Verstellt vom schieren Ausmaß der Defizite. Da veröffentlicht im September 2012 der MDS (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes der Krankenkassen) eine erschreckende Statistik: 12686 Patienten warfen ihren Ärzten oder Pflegern Behandlungsfehler vor und wandten sich an ihre Krankenkasse, in fast jedem dritten Fall waren die Vorwürfe berechtigt, wie Gutachter bestätigten. Dürre Zahlen, die nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigen. Die allermeisten Patienten beschweren sich erst gar nicht, möchten vergessen. Denn man kann ja doch nichts ändern …Wen wundert es, dass viele Menschen in Deutschland allein bei dem Gedanken, ins Krankenhaus zu müssen, Angstzustände bekommen. Sie haben Angst vor unnützen Operationen, verstehen Diagnosen und Therapien nicht, leiden unter schlechter Kommunikation. Groß ist die Furcht vor dem Alleingelassenwerden. Was für ein trauriges Zeugnis für eine moderne, wohlhabende Gesellschaft!
Duldungsstarre angesichts großer Probleme habe ich noch nie gut ertragen, Kopf und Herz lehnen sich dagegen auf. Ich glaube zutiefst an Aufklärung. Es darf nicht sein, dass sich nichts bessern lässt. Mails, Briefe, Anrufe von vielen fremden Menschen haben mich in dieser Überzeugung bestärkt. Und tatsächlich waren all die fremden Menschen Auslöser für dieses Buchprojekt. Denn es schwang in den Zuschriften eine leise Aufforderung mit, das Thema nicht einschlafen zu lassen. Zu einer öffentlichen Diskussion beizutragen. Vertrauen gegen Vertrauen: Unbekannte Menschen teilten mit mir ihre Erfahrungen und ihre Expertise. Schickten sogar Gedichte und Bilder. Mit einigen traf ich mich, und die langen Gespräche taten der Expatientin gut, und der Journalistin halfen die später entstandenen Protokolle durchzublicken. Einige Informanten wollten anonym bleiben, weil sie keinen Ärger am Arbeitsplatz gebrauchen konnten. Andere brauchten nur eine kleine Unkenntlichmachung, und manche wollten Stellung beziehen. Niemand machte die Kollegen schlecht.
Die »Protokolle aus dem Leben« sind der Kitt, der die Analysen festigt. Und ich weiß seitdem, dass meine Erlebnisse kein Einzelfall waren, sondern systembedingt, dass ich meinem Urteil vertrauen darf.
Ich habe zwei Medizinjournalisten gebeten, zu prüfen und zu erklären, warum wir zu Recht von der Ware Gesundheit sprechen. Jan Schmitt und Ursel Sieber haben schon oft kritische Fernsehberichte und Dokumentationen zu diesen Themen gemacht. Sie kennen die wissenschaftlichen Studien, sie haben Leidende, Wütende, Sterbende begleitet. Und haben schon lange ein Netz an Informanten und Experten. Sie erkennen an, dass das Gesundheitssystem in Deutschland große Vorteile hat. Aber sie wollen die öffentliche Diskussion weitertreiben in der unerschütterlichen Hoffnung, dass das Bessere der Feind des Guten ist.
Darum ist dieses Buch ein Hybrid geworden – intim und investigativ, persönlich und politisch. Das passt zu unserem Anliegen. Nämlich Ihnen, den Leserinnen und Lesern, Erlebnisse und Fakten aus der Krankenhauswelt nahe zu bringen, um die Entmündigung hoffentlich zu überwinden. Um eine Situation, die viele als Krise erleben, transparenter zu machen. Um Ängste abzubauen, indem wir Missstände klar benennen. Um zu zeigen, wie und wo Stärke zu holen ist. Ich stelle mir manchmal vor, dass Patienten, Medizinstudenten, ein paar Lobbyisten, ein paar Aktivisten die Schilderungen miteinander bereden und sich vornehmen, die Dinge anders zu gestalten. Wir können nicht hinnehmen, dass sich nichts bessern lässt.
Etwas Selbstverständliches will ich aussprechen: Viele Krankenhausärzte, Pflegerinnen und Pfleger sind wunderbare, sensible Profis, die an ihre Grenzen gehen, um anderen zu helfen. Sie arbeiten mehr, als sie müssen. Sie retten Leben, sie heilen Sieche, sie lindern Schmerzen. Ich erlebe es in diesen Monaten, in Echtzeit sozusagen, denn meine 82-jährige Mutter hat überraschend einen Speiseröhrenkrebs diagnostiziert bekommen und wird sehr warmherzig im Evangelischen Krankenhaus in Herne behandelt. Sie hat gütige Menschen um sich herum und weiß über jeden Schritt der Behandlung Bescheid.
Ich selbst bin immer wieder während jenes Sommers 2011 von einem (nichtbeteiligten) Arzt aufgeklärt und getröstet worden. Er nahm sich Zeit, befreite mich von der Ratlosigkeit. Er wurde ein Freund. Es ist ein Glück, an solche Menschen zu geraten.
Nur: Es darf nicht Glückssache sein.
Sonia Mikich
ENTEIGNET Chronik eines Krankenhausaufenthaltes
11. Juni 2011. Der tiefschwarze Moment: Angst, Verdruss, Misstrauen türmen sich auf. Wut auf ein Gesundheitssystem, das mich nicht gesunden lässt. Ein weiterer Eingriff wird nötig, denn meine Venen machen nicht mehr mit. Sie rutschen, sie rollen, sie sind schlapp. Nirgendwo kann gestochen werden, die Medikamente und Nährlösungen gelangen nicht mehr in die Blutbahn, die täglichen Blutentnahmen klappen nicht.
Der diensthabende Arzt wird informiert, hat keine Zeit. Nach ein paar Stunden Warterei entscheiden andere Ärzte: Runter in den Aufwachraum, dort wartet der Halskatheter, mit ihm werden Infusionen und Blutentnahmen besser funktionieren. Zum zweiten Mal erlebe ich diesen Eingriff, dieses Mal aber nicht – gnädig – nach einer OP mit Vollnarkose. Der diensthabende Anästhesist warnt:
Ich werde örtlich betäuben, aber es wird wehtun.
Der Raum ist leer, die Krankenschwester ist eine »Springerin«, kommt aus einer anderen Abteilung, kennt sich nicht gut aus mit dem Zubehör. Sie sucht und sucht und fragt und macht nervös.
Seitlich liegen und absolut stillhalten, sagt der Arzt, der am Bildschirm verfolgt, was meine Gefäße treiben. Eine Maske bedeckt mein Gesicht, mit dünnerem Gewebe vor dem Mund. Wachsende Atemnot, bin schweißnass. Dann die örtliche Betäubung. Stochern fürs Gelingen.
Seitlich liegen und stillhalten.
Das Stochern ist wie Folter, nur dass dieser Arzt Gutes will. Er schimpft ein wenig, denn auch diese Vene will zunächst nicht. Als er murmelt, dass er eine andere Stelle suchen, von Neuem stochern müsse, weine ich los. Ich hyperventiliere und bin überzeugt, dass ich aus diesem Krankenhaus nie wieder herauskomme. Dass mein Körper sich ergeben hat. Das System gewinnt. Der Patient ist die Münze, die in den Apparat geworfen wurde. Unten kommt eine Krankenakte heraus.
Zurück in den Mai 2011: Nach einer Woche vager, aber beharrlicher Bauchschmerzen raffe ich mich am 20. Mai zum Arztbesuch auf. Blut wird entnommen, Rezepte werden ausgefüllt. Zu behaupten, dass der Doktor mein Vertrauter ist, wäre übertrieben. Praxen meide ich bis auf Vorsorgeuntersuchungen, Erkältungen sollen ausgesessen werden, bin sehr selten krank oder unpässlich. Als am Tag drauf die Blutwerte aufgelistet sind, erzählt Dr. G. etwas von Anämie und erhöhten Cholesterinwerten und mehr Sport. Diagnose: Blähbauch. Kein Rat, keine Schlussfolgerung. Aber viel auf dem Rezept – Dimetican, Omeprazol, MCP.
Die Bauchschmerzen nehmen zu. Unruhe, Ratlosigkeit. Eine zweite Meinung? Der Internist Dr. B. ist erschrocken über die hohen Entzündungswerte auf dem Laborbefund, die Dr. G. ignoriert hat. Er sucht den Bauch Millimeter für Millimeter ab, der Ultraschall zeigt auffällige Stellen dort, wo Dünndarm und Dickdarm zusammenkommen.
Kann es Krebs sein?
Unwahrscheinlich, die Bilder sind untypisch. Aber doch bitte sofort ins Krankenhaus, heute noch, da ist auf jeden Fall eine schwere Entzündung.
In welches? SOFORT heißt doch, keine Zeit für eine Recherche zu haben, keine Zeit, nach Rankinglisten zu schauen, Empfehlungen und Erfahrungsberichte einzuholen. Und außerdem: Wie kann ich, als Laie, Qualitätskriterien haben und die richtigen Fragen stellen? Aber Krankenhäuser haben Apparate, und ohne Apparate kein Durchblick. Denkt man.
Es wird die Klinik P. Ein großes, städtisches Haus mit einer guten Bauchchirurgie. Tüchtige Handwerker, jedenfalls hoffe ich das.
Noch am Abend des 25. Mai werden zwei Ärzte der Notaufnahme nacheinander zwei Ultraschalluntersuchungen meines Bauchs machen. Sie stellen kaum Fragen, sie interessieren sich nicht sonderlich für die mitgebrachten Befunde von Dr. B. Keine Ahnung, ob sie voneinander wissen. Keine Ahnung, ob die Sonografie Nummer zwei sich unterscheidet von Nummer eins, der Bauch ist derselbe. Aber meine Akte bekommt Papiere.
Zwei Tage im Zweibettzimmer, von hier aus werden die Untersuchungen erfolgen. Ich wundere mich, wie viel Essen und wie viele Getränke meine Bettnachbarin gebunkert hat. Doch dann kommen um 8 Uhr, 13 Uhr und 17 Uhr die ersten Kostproben einer Versorgung bei mir an, die bestenfalls als Nahrungsmittelzufuhr bezeichnet werden kann. Ich wundere mich weniger.
Als Privatpatientin habe ich freie Arztwahl. Das bedeutet, ich mutiere zur Chefsache eines Professors oder eines Privatdozenten, und bei Visiten herrscht wichtiges Gedränge um mein Bett. Zuerst der Professor, dann der Oberarzt, schließlich ein Kometenschweif von Assistenzärzten. Als Klinikneuling bedeutet mir das wenig, bemerke aber den Groll anderer Abteilungen, wenn die Chefarztpatientin dazwischengeschoben werden muss und die Routine meinetwegen gestört wird.
Die Untersuchungen addieren sich. Eine Darmspiegelung am Tag drauf ist vieldeutig, vielleicht etwas Ernstes, vielleicht doch nicht, jedenfalls eine schwierige Stelle. Jetzt begegne ich den Apparaten. Über die Strahlenbelastung von CT-Untersuchungen kein Wort, dabei werde ich insgesamt vier Mal die Röhre besuchen.
Das erste CT-Bild ist faszinierend gruselig. Da ist ein Alien, der sich flach und hässlich streckt, wo der Dünndarm eine Klappe zum Dickdarm hat, 30 Millimeter lang. Die Schleimhäute sind entzündlich, tumorös. Professor T. erzählt, doziert. Und dann:
Wir müssen ein Stück Darm herausnehmen.
Mich schockieren die verwirrenden medizinischen Begriffe, ich kratze so viel Cool zusammen, wie es gerade geht.
Kann es Krebs sein?
Ja.
Wie wahrscheinlich, fifty-fifty?
Ja, fifty-fifty.
Dies alles im rational-paternalistischen Tonfall. Ein Dienstleister eben.
Irgendwie falle ich aus dem Alltag. Alles Fühlen und Denken reduziert sich auf fifty-fifty. Man sagt mir nach, dass bei mir das Glas immer halb voll ist, dass ich Optimistin bin. Aber jetzt kann ich weder Kraft noch Hoffnung mobilisieren, und eine mündige Patientin bin ich auch nicht. Ich höre kaum noch zu, als von ausstehenden histologischen Untersuchungen die Rede ist. Professor T. hält eine Vorlesung, die ich nicht brauche.
Wir schneiden auf jeden Fall so, als sei es bösartig, das ist sicherer.
Vorläufige Entlassung bis zur OP, das Wochenende verbringe ich zuhause. Sehr viele Liebe gibt mir mein Mann. Ich frage kein einziges Mal blöde: Warum gerade ich?
Ablenkung ist notwendig. Großes Aufräumen, Rechnungen bezahlen, Steuererklärung fertigstellen. Ich telefoniere lange mit einem Freund, der Darmkrebs hatte. Er schafft es, mit mir Szenarien durchzugehen, ohne mich zu ängstigen. Details zu erklären, die damit ihren Horror verlieren.
Im Entlassungsbrief lese ich später Diagnosen und Bewertungen, die ein Fachmensch gewiss begreifen kann. Ein Satz wird mich, wenn alles schon vorbei ist, befremden:
Die histologische Aufarbeitung stand zur Entlassung noch aus.
Ohne Befund beginnt der Countdown zum Eingriff – warum so schnell? Wie kann sich der Chirurg dann sicher sein, dass er schneiden muss? Gibt es keine Alternative? Abwarten und dann noch einmal prüfen? Das spricht er nicht an. Aber ich vertraue zunächst.
Am 30. Mai ein Anruf: Die Gewebeproben weisen nicht auf Krebs hin. Genaues erst nach der OP, aber man sei schon ziemlich sicher. Zurück in die Klinik, die OP wird am 31. Mai mikroinvasiv durchgeführt werden, Professor T. ist Experte für dieses Verfahren. Eine laparoskopisch assistierte Ileozökalresektion mit Adhäsiolyse.
Das klingt plötzlich klein und überschaubar. Ich komme nicht auf die Idee, auch jetzt noch eine zweite Meinung zu verlangen, nach Alternativen zu fragen. Zu bremsen.
Ein entzündlicher Zökumtumor. Pah.
Die Narbe wird ganz klein sein. Und in 14 Tagen können Sie Ihr altes Leben wieder aufnehmen.
Diese Aussage ist wohl die falschmöglichste Prognose für die kommenden Wochen. Diese Aussage wird massiv zu meiner Wut beitragen. Doch zunächst geht es ganz gut, wie nach einer Blinddarmentfernung. Ein paar Schmerztabletten, Antibiotika, Langeweile, wenig Appetit. Mit Freunden gehe ich zwei Tage nach der OP in die Cafeteria der Klinik, es ist schönes Wetter.
Die morgendliche Standardfrage:
Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie stark sind Ihre Schmerzen?
Meistens vier bis fünf. Zunächst.
Ein paarmal registriere ich bei den Schwestern unterdrückten Ärger, weil immer wieder ein Viggo, ein venöser Zugang, gelegt werden muss; das ist Aufgabe des Arztes, und der kommt und kommt nicht. Die examinierte Krankenschwester sieht in meinen Laienaugen kompetent genug aus, eine Vene zu finden. Nun gut, was weiß ich schon.
Übers Wochenende darf ich nach Hause, das fühlt sich an wie Geburtstag, Weihnachten und Karrieresprung gleichzeitig. Der unvermeidliche Zettel – Gegen ärztlichen Rat ist die Patientin nach Hause gegangen –, den unterschreibe ich gern. So sichert sich das Krankenhaus juristisch ab und hat doch einen Vorteil: Am Wochenende wird das System stark heruntergefahren, im Grunde ein Notdienst mit etwas Drumherum. Doch schon Samstagabend kommt ein leichtes Fieber. Dann am Sonntagmorgen starke Schmerzen im Bauch, Tabletten wirken kaum. Gegen 14 Uhr beschließen wir, zur Klinik zu fahren. Am frühen Nachmittag liege ich wieder im Einzelzimmer, während mein Mann und meine Freundin vergeblich versuchen, einen Arzt zu finden. Die Gänge sind menschenleer.
Eine einsame Schwester wird von meinem Mann bedrängt, doch schnell einen Arzt zu rufen.
Wir sind doch nicht einfach so vorzeitig zurückgekommen – räsoniert er höflich. Kein Erfolg, es ist ja Sonntag. Meine Freundin versperrt später einem weißen Kittel den Weg, in der Hoffnung, dass er Arzt ist. Die Schwester protestiert:
Er kennt Sie und Ihren Fall doch gar nicht …
Aber er hat doch wohl Medizin studiert?
Kein Doc nirgendwo. Nichts passiert. Sonntags sind Komplikationen wohl nicht vorgesehen, eigentlich eine Slapstick-Situation. Nur dass mir der Bauch unglaublich wehtut. Bin zu schlapp, um loszuschreien. Noch mehr Schmerzmedikamente. Die ich immer schlechter vertrage, mein Magen revoltiert.
Eigentlich nehmen wir gern Novalgin, nur in wenigen Fällen vertragen Patienten das nicht so gut.
Ich bin so ein Fünf-Prozent-Fall. Meine Freundin schlägt Zäpfchen vor; von Beruf ist sie Filmcutterin, nicht Apothekerin. Die geringste Berührung ist jetzt schon qualvoll. Was ist da drinnen los? Ohne Laborwerte schwer zu diagnostizieren. Aber sonntags gibt es offenbar keine Laborwerte. In der Nacht wechseln sich stärkste Magenschmerzen und ein böser Reizhusten ab.
6. Juni. Montagmorgen. Langsam läuft die Maschinerie an. Ich sitze im Rollstuhl, kann nicht mehr gehen. Ein CT muss her. Die Schwester sagt:
Fahren Sie runter in die erste Etage, die wissen Bescheid, fragen Sie nach Frau X.
Mein Mann schiebt. Niemand in der ersten Etage weiß Bescheid, eine Frau X. existiert nicht. Wir stehen vor der offenen Tür eines – leeren – Untersuchungsraums, auf dem Gang rennen Menschen vorbei, die keine Frau X. kennen.
Aber prinzipiell Sie sind hier richtig.
Nichts passiert. Das Warten macht müde, mürrisch. Mein Mann geht entnervt wieder zur Station hoch und fordert Auskunft. Die Schwestern schicken ihn zurück, sie können die Station nicht verlassen und mit ihm suchen, es ist zu viel zu tun:
Da ist eine Überwachungskamera, da wird man Sie schon wahrnehmen …
Herumhängen, im Wortsinn, ich kann kaum aufrecht sitzen. Endlich ist jemand da.
Sie sind die mit dem Blinddarm?
Nein, in der Akte, die sie ungeöffnet in der Hand hält, steht, worum es geht.
Meinen Wurmfortsatz habe ich seit vierzig Jahren nicht mehr.
Ich sage es so unfreundlich wie möglich und schlage vor, die Akte zu öffnen. Es wird noch Dutzende Male passieren. Dass diese Akte wie eine Monstranz herumgetragen, aber nicht gelesen wird. Der Patient ist für die Kommunikation von Arzt zu Arzt, Abteilung zu Abteilung, Schwester zu Schwester selbst zuständig. (Wenn er denn den Mund aufbekommt. Wenn er Deutsch sprechen kann. Wenn er die medizinischen Begriffe behält.)
Montagmittag. Die Blutwerte sind katastrophal. Das CT zeigt eine Nathinsuffizienz. Ein undramatisches Wort für die Tatsache, dass die erste OP danebengegangen ist. Dies kann in rund fünf Prozent der Fälle vorkommen, ich habe allerlei Erklärungen unterschrieben, die nichts anderes besagen als: shit happens.
In meinem ganzen Bauchraum haben sich lebensgefährliche Keime ausgebreitet. Bauchfellentzündung – ein Oberarzt und drei Assistenten operieren vier Stunden lang, spülen immer wieder durch.
Als ich gegen drei Uhr morgens im Zimmer aufwache, habe ich schwarze Spinnwebenfetzen vor Augen. Ich blinzele und blinzele, und sie gehen nicht weg. An der Wand hängt die Uhr, sie ist anders als in den Tagen vorher, denn sie rast rückwärts. Ich verstehe nicht. Die surrealistischen Zeiger der Uhr entsetzen mich. Warum geht die Zeit zurück? Wohin geht sie? Todesangst. Ich bin überzeugt, dass ich gleich meine eigene Sterbeurkunde unterschreiben soll, und will nicht. Ich will, dass die verrückt gewordene Uhr stillsteht. Mein Herz rast ebenfalls wie verrückt.
Weil so viele Schläuche an mir hängen, weil alles wehtut, erreiche ich nicht den Notrufknopf. Ich wage nicht, die Augen zu schließen, weil dann der Tod ins Zimmer kommt und mir die Sterbeurkunde entgegenhält. Der einsamste Moment meines Lebens, der fürchterlichste.
Am Morgen ist Professor T. da, zählt alle Fakten auf. Eine Bauchfellentzündung, eine fibrinös-eitrige Peritonitis – ist das nun ein Schicksalsschlag, ein Handwerksfehler oder mein persönliches Defizit? Waren die Operierenden Retter oder Pfuscher? Dazu höre ich keine Einschätzung. Aber sehen und fühlen kann ich noch: zwei ableitende Schläuche für Wundflüssigkeit, ein Urinbeutel, eine Infusion mit Nährlösung, eine mit Antibiotika. Und ein künstlicher Darmausgang. Stoma, anus praeter, Bauchafter. Ich taufe das Ding shit bag.
Den haben Sie jetzt die nächsten sechs bis acht Wochen, kann aber auch ein halbes Jahr werden.
Eine bildhübsche, liebe Krankenschwester ist mein Coach für die unaussprechlichen Dinge. Sie legt die Öffnung an der Bauchdecke frei, die ist so groß wie eine Zwei-Euro-Münze und rosig durchblutet – Darmgewebe. Es pulsiert kaum wahrnehmbar. Wahrscheinlich euphorisieren mich Betäubungsmittelreste, ich bin völlig hingerissen und schwärme der verdatterten Schwester vom Wunder der Natur vor. Sie pappt mir einen Plastikbeutel an die Bauchdecke. Die schönen Prospekte der Stomabeutel-Firma lehren mich, dass ich mit dem shit bag schwimmen und reisen kann. Für eventuellen Sex (vorher das offene Gespräch mit dem Partner suchen!) gibt es samtene Tarnbeutel, die sich angenehm an die Haut schmiegen sollen. Kamasutra ist freilich nicht empfehlenswert.
Morgens, mittags, abends, nachts Tabletten, die ich nach wie vor schlecht vertrage. Darunter Oxycodon, ein Opiat. Und magenschonende Mittel. Und etwas zum Schleimabhusten, weil ich so schlecht Luft kriege. Und eine Einschlafhilfe. Und etwas gegen den Reflux. Irgendwann kotze ich eine ganze Pharma-Industrie heraus.
Überhaupt, das Oxycodon will ich nicht. Als ich vor Jahren in den USA mein rechtes Bein mehrfach brach, wurde ich mit Oxycodon wochenlang stillgelegt. Hillbilly Heroin heißt es dort. Weil sich arme Weiße auf dem Land Oxycodon spritzen, 40 Dollar kostet eine Tablette auf dem Schwarzmarkt. Wunderbar euphorisierendes Zeug, nur macht es blitzfix süchtig. Ich verfiel in Depression, als ich es absetzte.
Darum gibt es gegen die Schmerzen dann am Mittwoch ein weiteres … Schläuchlein, dieses Mal im Rücken. Auch bei dieser Therapie muss ich unterschreiben, dass ich korrekt aufgeklärt wurde, das Krankenhaus auf keinen Fall verantwortlich ist für Komplikationen und jeder Murks meine eigene Schuld ist – nur etwas vornehmer formuliert.
Die möglichen Nebenwirkungen rauschen an mir vorbei: Infektionen, Kopfschmerzen, Nervenschäden, Lähmungen, äußerst selten Tod. Der Fragebogen, den ich ausfüllen muss, hat noch ein paar Warnungen zu bieten: Rückenschmerzen, Potenzstörungen und Hirnhautentzündung.
Fußnote im Merkblatt: Wir führen hier auch extrem seltene Risiken und Komplikationen auf. Insgesamt gesehen ereignet sich bei zehntausenden Anästhesien nur ein folgenschwerer Anästhesiezwischenfall.
Wie viel wert ist eine Statistik mit »zehntausenden Anästhesien«? In Deutschland wird im Jahr 15 Millionen Mal operiert.
Der Katheter ist mit einer Pumpe verbunden, die Opioide freisetzt, und so kann ich mir selbst die Schmerzspitzen nehmen. Aber wieder gehöre ich zur Fünf-Prozent-Minderheit der »Komplikationen«: Zuerst streikt die Pumpe, dann bekomme ich Juckreiz im Rücken, tagelang rote Hautflecken im Gesicht. Wieder ein Schmerzmittel, das ich nicht vertrage und das abgeändert werden muss. Versuch und Irrtum. Mein Leib ist angewandte Empirie.
Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie stark sind Ihre Schmerzen?
Im Zimmer liegt ein Merkblatt aus, Schmerzen müssen nicht sein. Offenbar für das Qualitätsmanagement gedacht. Dazu gehört ein Benchmarkfragebogen.
Sind Sie durch die Schmerzen in Ihrer Stimmung beeinträchtigt? Hätten Sie gewünscht, mehr Mittel gegen Schmerzen zu bekommen? Sind Sie durch die Schmerzen beim Husten beeinträchtigt?
Kann sein, dass die Daten irgendwo abgelegt werden. Kann sein, dass irgendjemand sie irgendwann liest. Die Intensität wird angeblich mit einem Lineal (darauf eine visuelle Analogskala sowie eine numerische Analogskala) ablesbar für das Personal. Zahlenschnickschnack, um Standardisierung möglich zu machen. Doch weder zwei bis drei noch fünf bis sechs beschreiben mein Körpergefühl annähernd getreu.
Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie stark sind Ihre Schmerzen?
Quantifizierung. Die Standards müssen minutiös festgehalten werden. Täglich notiert irgendein Pfleger die Schmerzintensität. »Vier« scheint mir oft angemessen zu sein. Vier besagt: Ich will nicht jammern, obgleich es mir nicht gut geht. Vier besagt: Das Wohlsein, die Nullmarke sind nicht weit entfernt. Meine Vier geht in die Krankenakte ein. Den grünen BenchmarkfragebogenVersion 1.1. Qualitätsmanagement Akutschmerztherapie bekomme ich dagegen ausgehändigt. Er wird später nicht zurückverlangt werden. Theoretisch hätte irgendjemand erfahren können, ob ich wegen der Schmerzen in meiner Mobilität eingeschränkt/nachts aufgewacht/in meiner Stimmung beeinträchtigt war. Und mehr Schmerzmittel brauchte. Theoretisch hätte meine Zufriedenheit mit der Schmerztherapie von sehr zufrieden bis völlig unzufrieden in 15 Abstufungen abgerufen werden können. Jetzt müssen Forschung und Pharma-Industrie ohne meine Vier klarkommen.
Das Bouquet von Schläuchen bewirkt, dass ich mich kaum rühren kann, irgendetwas zerrt immer. Oder ich habe Angst, dass meine Körperflüssigkeiten sich über das Bett verteilen. Gebeutelt und geschlaucht. Aufstehen und waschen ist ohne Hilfe nicht möglich, und meine Haare verfilzen so wie meine Seele.
Nein, es kann einem nicht gut gehen. Ein Krankenhaus ist eben nicht der lichte Ort, wo Menschen behütet, geheilt, getröstet werden. Ich habe nie einen Reparaturbetrieb mit einem bisschen Wellness drumherum erwartet, und ich lache zuhause immer über diese aufgemotzten Werbebroschüren für Privatkliniken mit Wohlfühlgarantie, wo die Seele baumeln darf zur Ying-und-Yang-Musik, ayurvedischer Tee inklusive. Aber muss es einem im 21. Jahrhundert, in einer abgesicherten, fortschrittlichen Wohlstandsgesellschaft mit einem milliardenteuren Gesundheitssystem so lächerlich schlecht gehen?
Umfragen zu Patientenzufriedenheit ergeben immer wieder dasselbe: Man beklagt sich an erster Stelle über das Essen, an zweiter über die Hygiene.
Mein Zimmer ist geräumig und karg: ein Bett, Kommode, Besuchertisch und -stühle, Fernseher, eine kleine Dusche. Geputzt wird in atemberaubender Geschwindigkeit. Fünf bis sieben Minuten, dann sind Boden und Flächen oberflächlich gewischt, der Mülleimer geleert, die Reinigungsfrau verschwunden. Husch-husch hätte meine Mutter die durchgetaktete Methode geschimpft.
Was ist wohl die kostensparende Vorgabe? Eine Putzfrau räumt im Flüsterton ein, die Station in drei Stunden abhaken zu müssen. Stundenlohn 8,44 Euro brutto. Im Dauer-Wettbewerb befinden sich eben auch die Dienstleistungsfirmen. Alle Jahre wieder wechseln die Anbieter, aber dahinter immer dieselben Namen. Outsourcing, Lohndrückerei, was sonst.
Ich weiß, dass ich alles wischen müsste, aber es ist einfach nicht zu schaffen in der Zeit. Ich mache bestimmte Ecken nur einen über den anderen Tag. Wenn ich vier Stunden dazu hätte …
Ich ekle mich, sehe überall Flecken, Staubflocken, Schmier. Die Desinfektionsmittelspender an der Wand kommen mir krank vor, und meine Besucher drücken lieber mit dem Ellbogen darauf. Der Putzmittelgeruch lenkt davon ab, dass es Krankenhauskeime hier nicht allzu schwer haben. Tagelang starre ich auf einen alten Blutfleck am Fuß des Infusionsständers, fotografiere ihn, damit mich niemand der Übertreibung bezichtigt. Erst als ich einem Arzt den Flecken zeige, sorgt er fürs Entfernen.
Später werde ich einer allerersten Rechnung entnehmen, dass mein erster Aufenthalt 2.245,65 Euro Fallpauschale kostet. Im Aufnahmevertrag steht, was mir in der Klinik neben der medizinischen Behandlung dafür geboten wird:
Besondere Größe der Sanitärzone. Zusatzartikel Sanitär, Dekoration, Farbfernsehen und Telefonguthaben. Bevorzugte Lage. Wahlverpflegung. Zusatzverpflegung. Täglicher Hand- und Badetuchwechsel. Häufiger Bettwäschewechsel. Tageszeitung. Persönlicher Service.
Liest sich ordentlich. Tag für Tag erlebe ich anderes. Die Bettwäsche ist schnell durchgeschwitzt und verzogen, weil die Matratze darunter plastikbeschichtet ist. Die Falten drücken nach einer Weile in die Haut. Das reizt, wenn man sich kaum bewegen kann. Ich traue mich selten, den »persönlichen Service« zu verlangen, das kommt mir verwöhnt und egoistisch vor angesichts der deutlichen Überlastung des Pflegepersonals. Meine erste Dusche (nach Tagen) muss erkämpft werden, weil so etwas den work flow durcheinanderbringt. Die Schwestern dürfen sich seit 2004 Gesundheitspflegerin nennen, was ihren Beruf aber nicht besser bezahlt oder weniger anstrengend macht. Drei Jahre Ausbildung und eine staatliche Prüfung, um für eine Bettpfanne oder für einen kalten Waschlappen gegen die Rötung auf der Haut zu sorgen? Überhaupt: Warum muss eine Fachkraft Bettwäsche wechseln? Das Essen bringen?
Die Schwestern würden wohl öfter wechseln, helfen, pflegen, tatsächlich das Bindeglied zwischen Ärzten, Therapeuten, Angehörigen und Patienten sein. Sie sind aber schlicht zu wenige.
Vor Jahrzehnten war ich einmal zu Besuch in einem griechischen Krankenhaus. Dort kauerten oder schliefen weibliche Angehörige der Patienten vor den Krankenbetten. Sie wuschen, fütterten den Kranken rund um die Uhr. Ein Dritte-Welt-Szenario. Aber meine Freundin und mein Mann machen das Gleiche, sie ersetzen fehlendes Personal. Sorgen für selbstgekochte Speisen, für saubere Haut. Muntern mich auf, fragen nach, holen Informationen ein, die nicht freiwillig gegeben werden.
Wer krank ist, muss selbst für Restkontrolle sorgen. Erklärungen? Mehr als ein paar Minuten und Allgemeinplätze sind nicht drin. Denn das System Krankenhaus macht Arbeitsverdichtung zur Norm.
Nachts ist eine einzige Person zuständig für die ganze Station; sie muss rennen, checken, verabreichen, Infusionen wechseln, die Bettpfanne bringen. Sie muss die Medikamente für den folgenden Tag zusammenstellen. Aber vor allem endloses Papier ausfüllen. Jede Handreichung, jeder Befund wird dokumentiert. Für die Versicherung? Für den Buchhalter? Den Anwalt? Liest das irgendjemand irgendwann? Und wenn ein paar Zimmer weiter der verwirrte Neuro-Patient verbotenerweise raucht, weil er es immer wieder schafft, Zigaretten und Feuer ins Zimmer zu schmuggeln, dann ist die einsame Schwester die halbe Nacht nur damit beschäftigt, die Station vor einem Brand zu bewahren.
Und wenn doch einer unter ständiger Beobachtung sein müsste?
Dann schiebt man das Krankenbett auf den Gang vor das Glasfenster des Schwesternzimmers, anders geht es nicht. Springer, die kurzfristig helfen könnten – da gibt es nur zwei fürs ganze Haus.
Eine junge Ärztin erzählt von goldenen Zeiten, als Medizinstudenten noch Geld verdienen konnten als nächtliche Sitzwachen für besonders auffällige oder notleidende Patienten. Vorbei, vorbei, kein Budget mehr.
Mein hochpreisliches Recht auf Wahlverpflegung erlaubt mir zum Beispiel ein extra Croissant am Morgen. Oder eine Cola. Es erlaubt mir aber nicht, zwei Portionen der Brühe zu bestellen, die ich mehr mag als die Hauptgerichte.
Zweimal dasselbe kann ich nicht ins System eingeben – so die Schwester mit ihrem Scanner.
Das System hat wohlklingende Namen für Mahlzeiten, deren Substanz ratlos macht. Da ist eine weißliche Scheibe, die von einer rosa Soße ertränkt wird, in der Aussparung daneben gestanzte Möhrenstücke und Matsch, der Kartoffelpüree imitiert. Alles, alles schmeckt nach feuchter Pappe in verschiedenen Stadien der Zersetzung. An einem anderen Tag gerate ich mit meinem Mann in Streit, ob das Stück feuchte Pappe (in Panade) nun Fisch oder Fleisch sei. Einfach nicht zu schmecken. Erst der Bestellzettel deklariert die Pappe als Truthahn. Natürlich, Großküchen können nicht Hochgenuss produzieren. Aber fast alles, was ich in den nächsten Wochen ausprobiere, ist trostlos schlecht.
It’s the economy, stupid. Geld regiert die Welt. Bei einer Großklinik lohnt es sich, pro Essen 20 oder 30 Cent zu sparen, das ist echte Kostensenkung. Bei einem kleinen Krankenhaus mit 200 bis 300 Betten rechnen sich Qualitätsabstriche nicht so dramatisch. Darum gilt das Essen in kleinen Häusern als viel besser.
An manchen Tagen träume ich von einer Revolte. Alle Patienten würden das weiße oder rosafarbene Zeug zum Fenster hinauswerfen. Wie Schleim würde das schlechte Essen die Fassade hinunter kriechen, ein gutes Bild für Nachrichtensendungen und Schlagzeilen. Verkrumpelte, durchgeschwitzte Laken? Aus dem Fenster damit!
Stattdessen bekomme ich mein Tablett hingestellt, es ist überschwemmt mit Brühe, eine fettig-feuchte Sauerei. Die Suppentasse war ausgelaufen. Wurde so angeliefert, kann ich auch nix für, meint der Praktikant und geht.
Die Blutwerte (Leukozyten, CRP) bleiben schlecht. Eine neue Diagnose: In meinem rechten Nierenbecken hindert irgendetwas den Urin abzufließen, und die Gallenblase sieht auch entzündlich aus. Da muss – konsiliarisch – ein Urologe her. Und diese Begegnung ist surreal:
Die Schwestern fahren mich in meinem Krankenbett zum Nachbargebäude, unterirdisch durch einen langen Gang. Fahlgelbes Licht, an den Wänden stilisierte Landschaften, ab und zu eine Tür, durch die ich Entsorgungsvorgänge, geheimnisvolle Apparate sehe. Ich werde am urologischen Arbeitsplatz in einem Souterrain-Raum abgestellt. Es erscheint Dr. S. Vielleicht hat ihn die Einsamkeit des Souterrains gesprächig gemacht, jedenfalls folgt eine Brandrede gegen die Diagnose-Fähigkeiten anderer Fachabteilungen:
Nierenbeckenerweiterung? Soso. ICH bin der Uro. Ich kann beurteilen, was da bei Ihnen vorliegt. Die Zeiten sind vorbei, dass die Chirurgen sagen, wo es langgeht. Die haben so eine Folie, wonach sie denken und handeln und glauben, immer Recht zu haben. Aber ICH bin der Uro und weiß, was mit Nieren ist, und ich sage Ihnen, ob da ein Abflusshindernis oder sonst etwas ist …
Folie? Uro? Ich, die Patientin, denke an Dr. Jekyll und Mr. Hyde – und möchte fliehen.
Die Chirurgen können bei einer Bauchoperation nämlich die Ureter verletzen, alles schon passiert. Und wie oft schicken die Leute runter, denen ICH dann sagen muss, dass sie Krebs haben.
Ich fange an zu weinen, meine Nerven liegen blank. Eine weitere Sonografie, er erzählt noch etwas von Folien und Denkweisen und Chirurgen-Dünkel. Dann bin ich entlassen und nicht klüger als vorher, aber verschreckter.
Meinem Hausarzt wird folgender Befund geschrieben:
(…) Das notfallmäßig durchgeführte CT des Abdomens zeigte ein entzündliches Konglomerat der Dünndarmschlingen im rechten Mittelbauch mit angrenzender Flüssigkeit. In diesen Prozess waren die entzündlich veränderte Gallenblase sowie der Musculus psoas inklusive des rechten Ureters einbezogen. Die rechte Niere zeigte sich zunehmend gestaut. (…) Zur genauen Abklärung des Harnstaus erfolgte die Vorstellung der Patientin in der Urologie H. Hier wurde am 22.06.11 die zystoskopische Anlage eines D-J-Katheters rechts durchgeführt.
Am 22. Juni also werde ich zum Partnerkrankenhaus gefahren, um dort eine Harnleiterschiene, ein Doppel-J, zwischen Niere und Blase eingesetzt zu bekommen. Um den Stau im Nierenbecken loszuwerden, sei das nötig.
Es kann sonst zu einem Funktionsausfall der Niere kommen. Muss nicht, kann aber. Sie wollen doch nicht die Niere verlieren.
Nein, ich will keine Niere verlieren. Aber auch nicht den Verstand. Warum addieren sich die Komplikationen? Beim Eingriff ein Augenblick der Menschlichkeit. Da ist ein Anästhesist, Dr. L., der mich nicht vor Organverlust, Krebs, Depressionen warnt, sondern mich einfach in den Dämmer hineinsingt.
Oh Danny Boy, the Pipes are calling.
Das schöne, irische Liebeslied. Ich staune und schlafe ein.
Die Chirurgen machen meine Niere für alles Böse verantwortlich, die Urologen kritisieren die Kollegen von der anderen Disziplin. Jede Fachabteilung beharrt auf ihrer Deutungshoheit, die Meinung anderer ist Beigabe, auch Störfaktor. Allmählich fahre ich jeden weißen Kittel an. Bei einer morgendlichen Visite bemerkt Professor T.:
Sie haben aber auch viele Baustellen …
Vor der ganzen Runde verliere ich die Fassung:
Kümmern Sie sich dann um Ihre Baustelle, nicht um die der anderen. Oder kommt der nächste Eingriff, wenn Sie an meiner Leber etwas finden? Und wenn Ihnen meine Gallenblase missfällt, muss auch operiert werden? Und wenn mein Knie juckt, komme ich auch unters Messer?
Überdiagnostiziert, übertherapiert. Irgendwann gebe ich auf, mir fällt kein Gegenargument mehr ein. Irgendwann weine ich nur noch gegen das System. Nosokomiophobie heißt das in der Fachsprache. Angst vor dem Krankenhaus. Ein wohlmeinender Assistenzarzt schlägt vor, einen Psychiater vorbeizuschicken:
Sie sind wohl traumatisiert …
Natürlich bin ich traumatisiert, was auch sonst? Aber einen Psychiater brauche ich nicht. Wie geht es wohl Patienten, die keinen Besuch bekommen, weil Angehörige und Freunde weit entfernt leben? Die sich Fachbegriffe nicht merken können? Was geht in einem Kranken vor, der nicht Deutsch spricht?
Die Tage und Nächte vergehen mit Blutabnahmen, Chefvisiten, Fernsehen. Der Aufenthalt wird nebenbei zu einer Studie des TV-Angebots in Deutschland mit mir als einziger Versuchsperson. Das Ergebnis: Die Programme sind bevölkert von weißen Kitteln, ob Fakt oder Fiktion. Besonders in den »frauenaffinen«, quotenstarken Serien. In aller Feindschaft: Ab ins Krankenhausbett, ihr Programmplaner und Produzenten! In euren Werken wird – Unterhaltung hin, Ablenkung her – der Zuschauer verblödet. Ich ersticke fast an der heilen und sterilen Krankenhauswelt, die da vorgelogen wird. Dass »meine« ARD diesen süß parfümierten Hirnschiss mitmacht, verübele ich ihr sehr.
Denken, denken, denken, denken. Selten in meinem Leben hatte ich so viel Zeit dazu. Der Körper macht mir keine Freude mehr, umso intensiver arbeitet der Kopf. Nächtelang erzähle ich mir, warum mein Mann liebenswert ist. Was meine beste Freundin auszeichnet. Wie ich mich als Tochter und Schwester bewähre. Ja doch, der Sinn des Lebens tut sich ausgerechnet im Siechtum auf. Lieben, lieben. Ich treffe den unoriginellen Vorsatz, mein Leben komplett zu ändern: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. So ungefähr.
Endlich beginnt der Countdown zur Freiheit. Rollstuhlfahrten nach draußen in die Sonne. Bis auf den Stomabeutel werde ich entkabelt und entschlaucht. Dreizehn Kilo habe ich abgenommen, die Muskeln sind verschwunden, ich gehe wie eine Greisin und übe mit einem Physiotherapeuten Treppensteigen. Eine Etage hinauf und wieder hinunter – das ist schon ein Erfolgserlebnis. Beim Entfernen der PDA erlebe ich noch einmal, wie miserabel Kommunikation zwischen Arzt und Patient im Krankenhaus verlaufen kann:
Wir entfernen jetzt die PDA, das tut gar nicht weh, wie Pflaster entfernen.
So ist es dann auch.
Wenn Sie aber am Rücken irgendeine Veränderung spüren oder Ihre Beine sich merkwürdig anfühlen: Sofort melden. Das kann eine Querschnittslähmung bedeuten.
Ich raste aus. Nach der gefährlichen Bauchfellentzündung, nach dem Krebs-Szenario des seltsamen Uro im Souterrain, nach dem Psychiater-Angebot, nach der Warnung vor dem potenziellen Absterben einer Niere beim Harnleiterschienen-Eingriff nun zum Schluss die mögliche Querschnittslähmung.
Wissen Sie, WAS Sie gerade WIE gesagt haben? Lernen Sie im Studium überhaupt, mit Patienten zu reden? Richtige Worte zu finden?
Die Ärztin ist beleidigt, sie hat nur die Vorschriften befolgt und die mögliche Nebenwirkung benannt.
Misslungene Kommunikation vergeben Patienten nie, gelungene Gespräche vergessen sie nie … wird später jemand klug anmerken.
25. Juni: Vorläufige Entlassung, das Leben in der Vertikalen kann wieder beginnen, ich kann nach Hause, Beutel und Schiene dürfen mit. Dafür lasse ich elf Kilo Körpergewicht zurück. Den Besuch einer Fachfrau daheim nehme ich gern an, sie berät, was ich bei der Selbstversorgung des shit bag zu beachten habe. Ich staune, wann welches Essen unten im Beutel ankommt. Habe das Timing schnell verstanden, sodass ich nie in peinliche Situationen gerate. Nichts läuft über, nichts stinkt, nichts schmerzt, nichts ekelt. Es hängt halt ein Plastikbeutel an meiner Bauchdecke, der in den nächsten sieben Wochen geleert und gewechselt werden muss. Die Verdauungssäfte sind aggressiv, sie dürfen nicht auf die Haut geraten. Der Rand der Öffnung muss sauber bleiben. Alles sehr machbar. Und es gefällt mir, ein bisschen Kontrolle zurückzubekommen.
Die Blutwerte sind nach wie vor schlecht, bestimmte Antibiotika scheinen nicht mehr zu wirken. Mein Mann ruft aus einer Apotheke an, ob sich ein Schreibfehler auf dem Krankenhausrezept eingeschlichen habe: 40 Tabletten für 3600 Euro?? Wir haken telefonisch bei unserem Internisten nach, der im Internet Preise recherchiert und die Menge einfach halbiert.
Eine Tablette für 90 Euro! Sie brauchen nicht so viele, die Hälfte müsste reichen.
Er wird Recht behalten.
Große Lust, den allerersten Arzt in der langen Kette zu konfrontieren wegen Missmanagements meines Blähbauchs. Vielleicht ein Brief, damit er sich zumindest schämt? Mit Kopie an meine Kasse?
Sehr geehrter Dr. G., nun kam Ihre Honorarabrechnung, und sie erinnerte mich an meine Beschwerden Mitte Mai und an Ihre Diagnose und Therapievorschläge. (…)
Sie haben aus meiner Sicht den »Blähbauch« unzureichend diagnostiziert und sich fahrlässig auf Medikamentengaben verlassen. Ich habe Tage verloren, in denen die Entzündungen vermutlich schlimmer wurden. Ich habe kein Vertrauen mehr in Ihre Arbeit, Sie haben mich als Patientin verloren …
Die Kasse bekommt den Brief ebenfalls, er … dient Ihrer Information und vielleicht der Qualitätssteigerung …
Erwartungsgemäß melden sich weder Dr. G. noch meine Kasse. Bezahlt und abgeheftet. Der Vertrag besteht halt zwischen dem Arzt und mir, nicht mit der Kasse. Ich kann mich wegen überzogener Honorare, falscher Angaben usw. weigern, Geld zu überweisen. Der Arzt wird mich dann verklagen, nicht meine Versicherung. Den Druck habe ich. Dr. G. kommt nicht auf irgendeine schwarze Liste wegen einer individuellen Beschwerde. Aber ich spare doch der Versicherung Geld, wenn ich prüfe, moniere? Ist für sie egal. Wenn die Behandlungen immer teurer und umfänglicher werden, dann erhöhen Versicherungen Beiträge, basta. Das System belohnt Nachfragen und Kostenbewusstsein des Einzelnen nicht.
Eine fürchterliche Angewohnheit stellt sich ein: mit allen Besuchern über Blutwerte zu reden, mit Zahlen zu jonglieren, die ich in Wirklichkeit nicht verstehe. Schein-Expertise gibt etwas Halt, und auch mein Internist ist sichtbar glücklich, wenn er verkünden darf, dass irgendetwas bald wieder im grünen Bereich ist.
Am 7. Juli geht es zurück ins Krankenhaus. Die Harnleiterschiene wird entfernt, eine Kleinigkeit, etwa vergleichbar mit dem Herausnehmen einer Verhütungsspirale. Gute Laune, keine Komplikation. Doch die szintigrafische Untersuchung am Tag drauf ergibt, dass die Schiene nicht geholfen hat, dass der Stau nach wie vor besteht.
Weil das Kontrastmittel schwach strahlt, sollen Sie sich in den nächsten Stunden nicht in der Nähe von kleinen Kindern aufhalten, scherzt die Ärztin. Sie unterstreicht: Ohne Schiene besteht der Stau weiter. Und wenn der Stau weiterbesteht, stirbt die Niere ab.
Darum muss am 19. Juli ein zweites Doppel-J her. Drei Monate soll diese Schiene nun ihre Arbeit tun und meine Niere entlasten. Sie macht mich unleidlich, ich will diesen Fremdkörper nicht und bin meiner Niere gram. Der Leiter der Abteilung stimmt mich nicht froher:
Falls es bei Ihnen mit dem Doppel-J nicht klappt, kann ich Ihnen aus einer Dünndarmschlinge einen neuen Ureter machen, ist kein großer Eingriff.
Chirurgen wollen und müssen eingreifen. Müssen machen. Der OP-Tisch ist ihr Gral, ihr Shangri-la. Tief in ihrer persönlichen und ökonomischen DNA ist dies festgeschrieben.
Die To-do-Liste eines Krankenhausarztes ist streng auf Diagnose-Therapie ausgerichtet. Was ich als Versuch und Irrtum – verstörend – erlebe, ist klassische Ausschlussdiagnostik. Aufwendig, teuer, frustrierend, zäh. Menschen schrumpfen zusammen auf Krankheit und körperliche Defizite. Jeder Arzt weiß ein bisschen, jeder legt ein weiteres Papier in die Akte. Ein »Adlerblick« auf den individuellen, kranken Menschen ist nicht vorgesehen.
Menschlichkeit ist im System ein Faktor, der sich nicht beziffern und abrechnen lässt. Gespräche? Nice to have, aber kein Recht.
Drei Minuten bei der Visite – Na, wie geht es?/ Sie sehen ja schon besser aus/ heute gefallen Sie mir/ es geht aufwärts/ da müssen wir noch ran/ jaja, ich verstehe Ihren Frust. Der blödeste Satz: … wird schon schiefgehen … Banalitäten, die Zuversicht ausstrahlen sollen, doch das Herz nie erreichen. Wie auch? Für aufrichtige Empathie ist keine Zeit, ist kein Personal da. Ich bezweifele auch, dass Einfühlungsvermögen an den Unis gelehrt wird. Vielleicht gibt man den Studenten eine Checkliste mit Satzbausteinen. Richtig wäre es, Rollentausch zu üben, direkt im ersten Semester. Noch viel besser, wenn jeder Krankenhausangestellte selbst mal als Patient in der eigenen Klinik gelegen hätte.
Das Haus, das krank macht. An meinem vorletzten Tag in der Klinik übe ich wieder das Gehen, immer den Flur entlang. Eine öde Übung, die Augen rutschen über tote Glühbirnen hinweg, die nach vielen Wochen noch nicht ausgewechselt wurden – obwohl ein Kontrollzettel dazu seit April aufforderte. Blick aus dem Fenster: Die Arbeiten an einem neuen, großen Bauabschnitt verheißen noch mehr Wachstum, am Bettenmangel soll die Produktionsstätte für Gesundheit wohl nicht scheitern. Manche mutmaßen freilich, dass Kliniken in Deutschland gern auf diese Art Schulden machen, um dann von den kommunalen Trägern an private Investoren verkauft werden zu können.
Ich höre zittrige Hilferufe. Eine alte Frau liegt in einem Zwei-Bett-Zimmer, weit entfernt vom Schwesternraum. Ihr Rollstuhl steht etwa einen Meter von der Bettkante entfernt, sie hat den kurzen Schritt nicht bewältigt und liegt nun schmerzhaft gekrümmt, in verschwitzten Laken verwickelt da, kann den Rufknopf nicht erreichen und auch Hilfe nicht herbeibrüllen. Ihr Kopf ist schief eingezwängt in verknoteter Kleidung, die sie vielleicht an- oder ausziehen wollte. Schon lange liegt sie so, wimmert und weint und röchelt. Die Patientin im anderen Bett ist regungslos. Ich schlurfe hin, schaffe nicht, den eingezwängten Körper der alten Frau zu begradigen, die Laken auseinanderzuziehen und ihren Kopf bequem aufs Kissen zu betten. Auf Klingeln reagiert niemand. Ich schlurfe zum anderen Ende des Gangs, finde eine Schwester, die sich dann sofort kümmert, sie hatte halt nichts mitbekommen. Niemand ist umgekommen, niemand »ist schuld«. Tausendmal passiert.
Die Entlassung ist am 22. August. Mein Bauch gehört wieder mir. Nehme ich an. Die letzten Dialoge mit Professor T. sind surreal:
Ihre Nierengeschichte ist ja wahrscheinlich genetisch bedingt.
Aber ich bin doch ohne irgendwelche Nierenprobleme ins Krankenhaus gekommen?!
Sie hatten aber auch eine schlimme Divertikulitis …
Was ist das, davon war bislang noch nie die Rede?
Er bietet an, bei der Suche nach einem schicken Reha-Zentrum in Bayern behilflich zu sein. Wie im Luxushotel. Für mich ist eine Fortsetzung meiner Erlebnisse mit weißen Kitteln unter Ferienbedingungen eine schaurige Option und eine unangemessene Art der Beschwichtigung. Nein.
Am 9. September beantragt der niedergelassene Internist Dr. B. eine Wiedereingliederung nach Hamburger Modell.
Lieber Dr. B., können Sie mir eigentlich in dürren Worten sagen, was ich hatte? So schlagzeilenhaft?
Nicht wirklich.
Dr. B. ist verlegen. Nie würde er einem Kollegen Fehler, Inkompetenz nachsagen. Ein befreundeter Arzt ist deutlicher: Vermutlich eine Entzündung, die man medikamentös wegbekommen hätte … Ich will es auch nicht mehr genau wissen, denn ich habe es sehr eilig, habe Sehnsucht nach Kollegen, Inhalten und Schreibtisch. Wiedereinstieg: drei Wochen eine Arbeitszeit von 50 Prozent, zwei Wochen 75 Prozent, danach Arbeitsversuch in Vollzeit. Am 15. 9. 2011 meine erste Sendung »Monitor«.
Bei einer Fernsehdokumentation käme jetzt der Abspann:
– Gut 20000 Euro bekam die Klinik, als Fallpauschalen, etwa 7000 Euro für seine Einzelleistung Professor T.
– Weitere 13000 Euro gingen an Röntgenologen, Anästhesisten, Labore, Apotheken und Urologen.
– Ein niedergelassener Urologe in Bonn entfernte die Harnleiterschiene ohne großes Gewese. Nach einem kurzem Besuch in seiner Praxis – kein Stau mehr.
– Gewichtsverlust bis heute nicht ausgeglichen.
– Vier große Narben und das Gewebe darunter machen gelegentlich Probleme.
– Merkwürdige Starre bei Ansicht eines Krankenhauses.
Die Kämpferin Oberärztin Dr. M. R., Chirurgin
Kritik am System – eine Sache der Männer? Dr. M. R. ist die einzige Ärztin, die mir schreibt, mit mir telefoniert. Kämpferisch, hellwach, bestimmend. Ihre ersten Mails sind knapp formuliert, unterstreichen aber, dass ich die Perspektive des Arztes, der Krankenschwester ebenfalls zu berücksichtigen habe. Sie kritisiert kühl meine Kurzsichtigkeit: Dass ich mich, wie die meisten Menschen, erst dann mit dem System Krankenhaus beschäftige, wenn ich selbst krank werde. Damit trifft sie ins Schwarze. Denn Kritik an den Defiziten im Gesundheitssystem kannte ich, kennen die meisten Menschen nur aus Artikeln oder Fernsehsendungen. Mal sorgen Statistiken über unnötige Hüftgelenk-Operationen für Schlagzeilen. Mal ist es der Organspende-Skandal, mal mangelnde staatliche Aufsicht. Mal gruselt sich die Republik vor Staphylococcus Aureus, dem Krankenhauskeim, der dem Kranken eine gefährliche Infektion bescheren kann: MRSA – inzwischen eine geläufige Vokabel.
Rund 15,4 Millionen Eingriffe wurden 2011 in deutschen Krankenhäusern vorgenommen. Dr. R. ist eine erfahrene Chirurgin, die den Stoff, der zu Statistiken gerinnt, tagtäglich mit ihren Händen bearbeitet. So gerne würde sie mich mitnehmen in diesen Mahlstrom der OP-Tische. Eine Woche lang, dann würde ich genug sehen und sammeln können. Aber externe Augenzeugen? Das bleibt Wunschdenken. Da müsste es Mitspieler geben, auch Klinikchefs, die eine hautnahe Reportage, über längere Zeit hinweg, ermöglichten. Das journalistische Anliegen, ein so komplexes System wie den Krankenhausbetrieb nachvollziehbar abzubilden, müsste begrüßt werden. Dazu müsste mein Fernsehgesicht unbekannt sein. Nun gut, Dr. R. kann sehr genau und lebendig beschreiben. Ich werde zuhören.
Ich fahre ein paar hundert Kilometer weit zu einem kommunalen Krankenhaus mittlerer Größe. Fast konspirativ ist das Treffen. Ich sitze im Eingangsbereich, unauffällig angezogen, ungeschminkt, verstecke mich unter meinem Schal und schaue zu Boden. Schnelle Schritte. Eine Frau winkt mir zu, ich folge ihr in den Oberarzt-Raum. Als Erstes sehe ich ihren Dienstplan und bin erschrocken über die vielen Stunden. Viel eigenes Leben bleibt ihr nicht.
Ihre Augen blitzen – trotz der langen Schicht, trotz der Arbeitsstunden, die noch vor ihr liegen. Kein Zögern unterbricht ihre Erzählung, sie weicht den Fragen nicht aus, Gefühl und Härte sind im Gleichgewicht. Dr. M. R. hat ein klares, schönes Gesicht, sie hat einen klaren, schönen Wunsch: Kranke Menschen sollen nicht mehr »Kunden« oder »Relativgewichte« sein, sondern wieder Patienten.
Alle arbeiten bis zum Anschlag, wir müssen dagegen kämpfen Protokoll einer Ernüchterung
Meine schwärzeste Stunde erlebte ich, als einer meiner besten Kollegen rausgeschmissen wurde. Er hatte spätabends bei einer alten Dame mit schweren Durchblutungsstörungen und Geschwüren das falsche Bein amputiert. Nicht wieder gutzumachen, so ein Fehler. Aber das Bein hätte später ohnehin abgenommen werden müssen. Ihm war das am Ende eines langen Tages passiert, nach fünfzehn Jahren als Oberarzt. Er war immer ansprechbar gewesen, manchmal zwanzig Stunden am Tag. Eigentlich unglaublich, was er leistete. Ein exzellenter Arzt, ein Top-Operateur, ein charakterlich einwandfreier und guter Mensch. Doch wegen eines einzigen Fehlers gefeuert. Hatte dabei eine Rolle gespielt, dass er sich der ständigen Personalreduktion im Krankenhaus widersetzt und der Geschäftsführung immer wieder die Stirn geboten hatte?
Ich erwarte keine übertriebene Dankbarkeit der Menschen, die ich täglich in unserer Chirurgischen Notaufnahme versorge. Aber ich will fair behandelt und in meinem Beruf als Ärztin anerkannt werden. In letzter Zeit muss ich mir jedoch immer öfter anhören, dass Ärzte Schmarotzer des Systems sind. Und die schrecklich langen Wartezeiten! Als ob ich, als ob unsere Krankenschwestern nur Däumchen drehen und Kaffee trinken! »Straffen Sie die Organisation«, sagen uns die schlauen Unternehmensberater im Krankenhaus. »Geben Sie das Geld besser für Ärzte und Pflegekräfte aus statt für diese Schlaumeier«, sage ich der Geschäftsführung. Es arbeiten eben höchstens zwei Ärzte gleichzeitig in der Ambulanz, die in einer Schicht bis zu hundert Patienten versorgen müssen. Und zwischendurch bringen die Rettungsdienste uns die echten Notfälle, die Schwerverletzten. Da kommt es automatisch zu langen Wartezeiten.
Die meisten Leute wissen nicht, dass wir die Hausarztpraxis nicht ersetzen dürfen, weil wir dafür im Krankenhaus keine Zulassung haben. Wir dürfen bei Notfällen nur in den ersten 24 Stunden oder bei Einweisungen durch einen Facharzt tätig werden. Wenn wir beispielsweise eine zwei Tage alte Wunde behandeln, bekommen wir Probleme mit den Krankenkassen. Sie zahlen dann nicht und sind damit juristisch im Recht. Aber was soll ich einer alten Frau sagen, die seit Tagen Schmerzen im Bein hat und sich kaum bewegen kann? Soll sie erst zum Hausarzt gehen, der keine Zeit hat und sie gleich zum Chirurgen weiterschickt, der sie wiederum an den Radiologen verweist? Drei Termine, das schafft sie doch gar nicht mehr. Und das ganze, teils irrwitzige System versteht sie sowieso nicht. Bei uns wird sie sofort versorgt. Das kostet ihre Krankenkasse übrigens nur zirka 18 Euro. Aber wir bekommen vielleicht sogar noch Ärger mit den niedergelassenen Kollegen: Wie können Sie im Krankenhaus es wagen, uns unsere Patienten wegzunehmen?
Die Arbeit in der Chirurgischen Notaufnahme ist dennoch spannend, dort lässt sich der Tagesablauf in der Regel nicht planen. Vom genervten Geschäftsmann, der mit einer Bagatellverletzung am Finger in die Notaufnahme kommt (»Ich bin Privatpatient und möchte sofort behandelt werden!«) bis zum schwerverletzten Kind, das mit dem Hubschrauber gebracht wird und sofort im Schockraum versorgt werden muss, ist alles möglich. Wir sind hier organisatorisch, körperlich und psychisch oft sehr gefordert. Dass fast 90 Prozent unserer Patienten das Krankenhaus nach unserer Behandlung zufrieden wieder verlassen, hinterlässt ein gutes Gefühl.
Mein Arbeitstag? Ich muss 40 Kilometer zu meinem Dienstort fahren, deshalb stehe ich morgens um Viertel nach fünf auf. Um zwanzig vor sieben bin ich in der Klinik, ziehe mich um und fange an. Zurzeit betreue ich einen Studenten im Praktischen Jahr. Wir gehen morgens noch vor dem offiziellen Dienstbeginn ein Thema durch, später habe ich dazu meistens keine Zeit mehr. Um sieben Uhr gehe ich auf meine Station und mache mit zwei Assistenzärzten eine kurze Visite. Wir haben eine halbe Stunde Zeit für 25 bis 30 Patienten. Weniger als eine Minute pro Patient. Aber es geht bei uns fast immer nur um schnell fassbare Probleme, etwa um einen Knochenbruch, der operiert werden muss, oder um eine Nachblutung nach der Operation oder um Beschwerden, die von einer anderen Fachabteilung mitbetreut werden müssen. Um das seelische Befinden der Patienten können wir uns nicht kümmern, dafür fehlt die Zeit. Früher haben Schwestern und Pfleger das übernommen, jetzt kommen sie wegen ihrer knappen Personalbesetzung nicht mehr dazu. Personalnot bedeutet auch, dass immer weniger Ärzte in Krankenhäusern arbeiten wollen. Wir müssen sie importieren. Sie kommen zunächst für ein Jahr; viele gehen dann in ihre Heimat zurück, weil sie unter den hiesigen Bedingungen nicht arbeiten wollen. Ich kenne einige, die kaum ein Wort Deutsch konnten, als sie zu uns kamen, und es auch in dem einen Jahr nicht gelernt haben. Gut kommunizieren – wie soll das dann gehen?
Nach der Visite haben wir eine Viertelstunde, um Entlassungsbriefe zu korrigieren und zu unterschreiben, außerdem zeichnen wir die Medikamentenbestellungen ab. Briefe diktieren wir entweder im Nachtdienst oder nebenbei, wenn ein paar Minuten Zeit ist. Wenigstens haben wir Schreibkräfte, so dass ich nur ins Diktafon sprechen muss. In kleineren Häusern werden die Schreibkräfte mittlerweile eingespart, weil die Geschäftsleitung meint, dass ein Arzt den Brief selber in den PC tippen kann (»Nicht umsonst haben Sie studiert«). So kommt es zu manchmal drolligen Briefen aus Textbausteinen, damit es schneller geht.
Vieles im Krankenhaus läuft heute über Computer, was Zeit spart, wenn Rechner und Software schnell sind. Doch für neue Programme und aktuelle Hardware haben die Krankenhäuser oft kein Geld. Unser IT-Support geht übrigens um 16 Uhr nach Hause. Wenn wir, die wir die Rechner ja 24 Stunden am Tag nutzen, ein technisches Problem haben, ist das Pech. Kommt leider öfter vor. Außerdem müssen wir uns wegen des Datenschutzes alle zwei Minuten neu anmelden, wenn wir in dem gerade geöffneten Programm nicht gearbeitet haben. Wir verlieren am Tag unnötig viel Zeit nur mit diesem sinnlosen, kurz getakteten Einloggen. Zeit, die uns für andere wichtige Dinge verloren geht. Auch der Patient erlebt, wie die Bilder, die ich ihm gerade erklären will, alle zwei Minuten vom Bildschirm verschwinden …
Um 7.45 Uhr beginnt die gemeinsame Morgenbesprechung mit den anderen chirurgischen Abteilungen. Wir tauschen aus, was in der Nacht passiert ist, wie viele neue Fälle wir aufgenommen haben, und gehen die Röntgenbilder durch. Ab 8 Uhr haben wir eine Viertelstunde Besprechung, in der die Problemfälle auf Station, die Operationen und der weitere Tagesablauf kurz berichtet werden. Spätestens um 8.20 Uhr müssen wir im OP sein. Jede Minute zählt.
Auf dem OP-Plan stehen meistens vier bis sechs Operationen. Nicht selten müssen wir von diesem Plan abweichen, weil zum Beispiel ein schwerverletzter Patient dazwischenkommt, der sofort operiert werden muss. Wenn Lebensgefahr besteht und wir mehr Hände brauchen, holen wir den Chef oder die Kollegen aus der Ambulanz. So bauen wir manchmal eine zweite OP-Mannschaft auf, damit von den ursprünglich geplanten Eingriffen nicht so viele ausfallen. Im OP