Was bleibt - und was nicht - Jutta Böttcher - E-Book

Was bleibt - und was nicht E-Book

Jutta Böttcher

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Zu Unterordnung und Anpassung erzogen, gewöhnt Jule sich daran, keine Fragen zu stellen, nicht zu verstehen. Die Schatten des Krieges lasten noch auf den Menschen und deren Sprache. Die Kindheit spielt kaum eine Rolle in der Öffentlichkeit und in den Familien. Sie sucht ihren eigenen Weg ohne die Unterstützung durch Erwachsene, auf dem sie eine tragische Erfahrung machen muss, an der sie zu verzweifeln droht. Depressionen werden verheimlicht, als Schwäche Einzelner betrachtet, die sich nicht zusammenreißen können. Ihre Geschichte ist nicht nur eine ergreifende Erzählung über den Mut, sich selbst zu finden. Sie ist auch das Spiegelbild einer Gesellschaft im Wandel, die versucht, die Geister der Vergangenheit zu vertreiben.

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Seitenzahl: 324

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Jutta Böttcher

Was bleibt -

und was nicht

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Jutta Böttcher

Umschlag:© 2024 Copyright by

Michael Rehr-Hoffmann

Verantwortlich für den Inhalt:Jutta Böttcher

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH,

Berlin

Für Thomas

und für meine Kinder

Nicht zu wissen,

was vor deiner Geburt geschehen ist,

heißt, immer ein Kind zu bleiben.

Marcus Tullius Cicero

Das Leben kann nur

in der Schau nach rückwärts verstanden,

aber nur in der Schau nach vorwärts

gelebt werden.

SØREN KIERKEGAARD

T e i l I

1951 - Abbruch: Das Moped pflügt sich den Sandweg hinauf über feuchte Blätter und Aststümpfe. Glänzend vom letzten Regen pendeln die Baumwipfel über ihnen hin und her, als wollten sie mit den Köpfen schütteln und sie schelten. Die Borken glänzen wie von Strahlern beleuchtet. Über quer liegende Äste und Steine geht es in wilder Fahrt. Günter umklammert die Griffe des Lenkers, bis die Knöchel weiß werden und die Fingerspitzen eiskalt. Er beschleunigt noch einmal, ein letzter Versuch. Nun ächzt das Moped mit nachlassender Kraft am Gasthaus von Mutter Jansen vorbei und die Buckelpiste der Eierberge hinauf. Beeilung, die Zeit ist knapp.

Die besondere Landschaft der Eierberge zieht Besucher aus der Umgebung normalerweise an. Sie ist ein faszinierendes geologisches Phänomen, eine Ansammlung von Hügeln, die von sanften Grashängen bedeckt sind und an die Form von Eiern erinnern. Jetzt im Herbst, während sich das Laub der umliegenden Bäume in warme Rottöne, in leuchtend orange und lebendige Gelbtöne verwandelt hat, strahlen die Eierberge in malerischer Schönheit. Das Zusammenspiel der bunten Farben und die beruhigende Stille der Umgebung bieten Naturliebhabern eine einladende Atmosphäre. Aber nicht heute, wo alles nass ist, glitschig und dunkel.

Als die Verwandtschaft vor Monaten zum letzten Mal hier gewesen war, während der Osterfeiertage, da war eine andere Stimmung, da beteiligte Gerda sich der Kinder zuliebe am Brauch des Eiertrüllens, und sie hatte dieses Problem noch nicht. Sie rollten die Eier in einer gespurten Rille vom Eierberg, dem Sandhügel im Wäldchen, auf den sie sich jetzt hoch quälen. Durch eine Kuhle kullerten damals die Eier zum Gaudi der zahlreichen Kinder des Schlesierhauses den kleinen Sandhügel hinab, die gespannt beobachteten, ob die bunt bemalten Kunstwerke heil blieben. Schon damals fand Gerda den Brauch blöd, so wie sie sich auch nicht gewöhnen kann an diese nordischen Gramärsche, das Plattdeutsch und eine Gegend, als wäre jemand mit dem Plätteisen rübergegangen.

Niemand sonst hat sich hierher verirrt. Die feuchte Novemberluft und der rutschige Waldboden haben die letzten Spaziergänger vertrieben. Das schlammige Erdreich verklebt die Speichen und Schutzbleche, die verdreckten Bänder an Günters linkem Schnürschuh schleifen unbemerkt durch den Matsch und hinterlassen eine feine Rille auf weichem Grund. Er wird zu Hause ordentlich schrubben müssen. Vornüber gebeugt zählt er die Schritte, während er sich mit dampfendem Atem gegen den Lenker stemmt. Es kann nicht mehr weit sein bis nach oben. Die Finger, klamm und feucht, krallen sich um die Griffe des ausgedienten Zweirads. »Vierundzwanzig. Fünfundzwanzig.« Als ob er nichts anderes zu tun hätte, als seine Cousine hier herumzuschleppen mit ihrem blöden Problem. Er starrt auf den Boden. Bloß nicht über den Wurzeln ausrutschen und sich am Ende noch langlegen, womöglich mit ihr zusammen. Das wär's noch. Wenn jetzt jemand käme, was würde der denken? Irgendetwas stimmt mit denen nicht, wahrscheinlich, und recht hätte er. Günter späht konzentriert aus zusammengekniffenen Augen unter buschigen Brauen, in denen sich Nebelnässe in winzigen Tropfen sammelt, der Haarring um die Halbglatze schimmert feucht wie ein Silberkranz. Erschöpft sieht er aus wie alle, die im Krieg waren, dünn und ausgezehrt. Sein Gang wirkt schwach und unsicher, als müsse er sich mühsam von einem Schritt zum anderen quälen, jeder Schritt eine Anstrengung. Dennoch verrät sein Blick, dass er nicht aufgeben will und immer noch willens ist, sein Leben in den Griff zu kriegen.

Es ist kaum mehr etwas zu erkennen. Ob sich vielleicht etwas am Wegrand regt? Er zittert, aber lässt sich nichts anmerken und greift den Lenker noch fester. Die Jackenärmel rutschen ein wenig hoch und legen dünn behaarte, schmächtige Unterarme frei. Kriminell ist, was sie hier tun, und wenn sie ihn dabei erwischen, könnte er seine Polizeiuniform gleich an den Nagel hängen. Erst kann Hermann sich nicht ein bissel zusammenreißen, und dann halst er ihm das hier auf. Eine Zumutung ist das. Aber Familie ist Familie. Hilft nichts. Wirklich blöd alles. Am Ende landen sie noch alle zusammen im Herescht*. Oben angekommen, gibt der Motor einen kläglichen Laut von sich und verstummt. Das Zweirad stinkt und qualmt. Günter schwitzt unter seiner alten Armeejacke mit den Löchern dort, wo einmal Schulterklappen waren und der Stoff ausgedrieselt ist. Er versucht gar nicht erst, die Maschine wieder in Gang zu bringen. Es hat keinen Sinn. Er knöpft die ehemals blanken Knöpfe auf und zieht die Luft tief ein. Trotz der feuchtkalten Luft hat sich ein Schweißfilm auf seiner Brust gebildet, an dem das Hemd klebt wie angeleimt. Warum hat er sich darauf eingelassen? Er weiß es doch, konnte ihr nicht nein sagen. Man ist verwandt und hilft einander. Jetzt will Gerda auch noch getröstet werden. Wegschauen ist das beste. Sie rutscht schwerfällig vom Soziussitz und stöhnt leise.

»Das war's«, ächzt er.

»Verdammt kalt«, sagt sie und haucht wie er gegen klamme Finger. Sie hört ihn schwer nach Luft schnappen, mit jedem Schritt mehr, und es ist noch weit bis nach Hause. Gelegentlich schluchzt sie leise, versucht es zu unterdrücken. Das Moped wird für beide mit jedem Schritt schwerer. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie wischt sie mit dem Rocksaum weg.

»Rotzliese«, flüstert er genervt. Wie sie jammert und heult. Ob aus Verzweiflung oder aus Erleichterung? Er weiß es nicht. Wahrscheinlich weiß sie es selber nicht. Er mag ihre Flappe gar nicht mehr sehen. »Hätten wir gleich lassen sollen«, keucht er und holt Luft, dass es fiept. »Nu wein' man nich, wird alles gut.«

»Meine Strümpfe sind auch im Eimer«, sagt sie mit einem Blick auf ein Loch an der Ferse.

Während er auf die Maschine starrt, zieht er seine mächtigen Augenbrauen hoch und lässt sie stehen, wo sie sind. Das Glasige in seinen Augen tritt hervor, die schmalen zusammengepressten Lippen bilden einen unschönen Kontrast zur Augenpartie. Sie soll sein Gesicht nicht sehen und erraten, was er denkt, wo es ihr doch so jämmerlich geht. Er schüttelt sein Taschentuch aus und reicht es ihr, den dreckigen Fetzen, den er gerade für seine Stirn benutzt und mit dem er den schmierigen Lenker abgewischt hatte. Sie schnauft dankbar hinein. Ihr Schniefen und Schluchzen verschluckt die Worte fast, aber was sie sagt, versteht er trotzdem.

»Wird alles gut, meinst du? - Kein Kind wär' gut. Was glaubst denn du, was gut wird, wenn das jetzt nicht klappt?« Wütend rupft sie einen Zweig vom nächsten Haselbusch und bricht ihn in kleine Stücke, die sie achtlos zur Seite schnippt.

»Halt das verdammte Moped gerade«, sagt er barsch: »So ein lüttes Ding, was braucht das schon, und nun reg' dich man nicht so auf.«

»Was sag ich bloß zu Hause. Nicht viel brauchen ist auch schon zu viel brauchen.« Sie stemmt sich gegen den Soziussitz.

»Motor kaputt. Die reine Wahrheit.«

»Wer das wissen will«, stolpern die Worte lauter aus ihr heraus als beabsichtigt und mit spitzer Stimme.

»Deine Kraft reicht zum Meckern, und um meine Probleme kümmerst du dich einen Dreck«, murmelt er so leise, dass sie es kaum hören kann. »Fitulitum feitum«,* sagt er jetzt lauter.

»Was?«

Er grinst: »Außerdem hast du doch selbst gesagt, dass du schon vom Angucken schwanger wirst. Sieht man an deiner Figur, hast du gesagt. Allein die Zitzkis*! So durch und durch Frau! Soll sich dein Mann an die eigene Nase fassen, wenn er nicht aufpasst. Es gehören ja auch immer zwei dazu.«

Sie schüttelt den Kopf, trippelt neben ihm her und müht sich unter Tränen, mit ihm Schritt zu halten. Die dicken Locken kleben vom Heulen vor den Augen. Sie wischt sie immer wieder zur Seite. Alles drückt und zwickt. Hat sie schon zugenommen? Günter fragt sich, wie lange sie vielleicht schon schwanger ist. Das würde niemandem auffallen. Dicke Schickse. Soll sie heulen, seinetwegen auch laut, wenn sie Lust hat. Hört sowieso keiner, und sie soll ihn in Frieden lassen mit ihrem Gejammer. Er findet sie eklig mit ihrem verheulten Gesicht. Da nützt die blonde Haarpracht auch nichts, die sie in Erwartung interessierter Männerblicke sonst so gern mit geübtem Lächeln aus dem Gesicht streicht. Glaubt sie etwa, er hätte keine Sorgen? Als wäre sein Leben nicht auch schwer. Gleichzeitig tut sie ihm leid. Alles in Dutt bei Gerda und ihrer Familie, zum Glück geht es ihm besser, ein bisschen jedenfalls. Schwein gehabt - Arbeit, Wohnung, ein kleines Einkommen. So dumm wie Hermann ist er nicht. Sich in dieser Situation einen Stall voller Kinder anzuschaffen, wie blöd kann man sein? Er tut ihm trotzdem leid, und gleichzeitig ärgert Günter sich, dass der ihn mit hineinzieht in den Mist. Jetzt trottet Gerda neben ihm her und plärrt. Hermann hat gesagt, er passt auf, hat er aber nicht, und jetzt haben die den Salat. Soll er selber seh'n wie er aus dem Schlamassel rauskommt. Und sie weiß nicht, wie sie noch ein Balg groß kriegen soll und hat wahrscheinlich auch überhaupt keine Lust dazu. Verständlich. Ihre zwei sind ihr schon zu viel. Jetzt trottet sie neben ihm her und schluchzt.

»Geht's einen Schritt schneller?« drängt er.

»Was hast du denn noch vor heute?« antwortet sie schnippisch. Sie hilft von hinten, das Moped durch den tiefen Sand zu karren, bis sie den festen Weg erreichen. Mit schweren Schritten schlurfen sie über leuchtende Ahornblätter den langen Weg nach Hause.

In Bombennächten hat sie gelernt, mit ihren Gedanken herumzuspielen, als gäbe es nicht, was gerade geschieht, das Feuer, die Schreie, die Gesichter der Soldaten, die Flucht am Ende der ersten Schwangerschaft und der Verlust von allem, was ihrer Familie gehörte und ihr lieb war. Jetzt macht sie es wieder so. Trotz klebriger Haare und nasser Schuhe stellt sie sich vor, eine schöne Frau zu sein, reich, hübsch und begehrenswert. Sie sieht sich in schönen Kleidern und mit Brillantsteckern im Ohr und ist in Gedanken dort, woher sie kommt, in ihrem Haus, in ihrem Garten, in ihrer Stadt und nicht in diesem ostfriesischen Plattland. Hier wird sie sich nie heimisch fühlen. Diese Gegend kann ihr nicht geben, was sie verloren hat. Es ist zu spät für alles, grätscht ein Gedanke an das Zwicken im Bauch dazwischen. Aber sie ist doch noch jung. Wer weiß, was noch kommt. Vielleicht kann alles gut werden. Schweigend treffen sie zu Hause ein.

Die Kinder des Familok* sammeln im wilden Garten Kastanien auf. Gerdas Mutter bearbeitet hustend im letzten Tageslicht einen Teppich an der Kloppstange, aus dem Staub in dicken Flusen um sie herumfliegt. Hermann steht vor dem Gartentor und wartet. Leicht gebeugt steht er und knetet seine Finger, ein Klapidudek* wie die vielen, die lange gehungert haben. Die Erschöpfung und Entbeh-rungen der letzten Jahre sind ihm ins Gesicht geschrieben. Sein Körper ist immer noch dünn und ausgezehrt, obwohl es doch längst genug zu essen gibt. Gerda musste sich an sein Gesicht erst wieder gewöhnen, als er zurückkam. Die Wangenknochen treten hervor, seine Augen liegen tief in den Höhlen. Dunkle Schatten unterstreichen die Müdigkeit in seinem Blick. In seinen Augen erkennt sie eine Mischung aus Kränkung und Entschlossenheit, als würde er trotz der Widrigkeiten, mit denen er konfrontiert war, immer noch Hoffnung in sich tragen. Da ist eine Stärke, die sich in seinem Blick und seiner Haltung widerspiegelt und die zeigt, dass er sich nicht unterkriegen lässt. Das mag sie an ihm. Als sie noch auf ihn gewartet hatte, stellte sie sich vor, alle Last würde er ihr abnehmen und sie beschützen, wenn er zurückkommt, aber zurück kam einer, der sich nicht auskannte in seinem Leben, nicht in dem vergangenen und nicht im jetzigen, ein Bezwungener, der aufs falsche Pferd gesetzt und nun die Rechnung dafür zu zahlen hat. Früher gefiel er ihr so sehr, aber jetzt ist das, was einmal schön an ihm war, zu einem Brinkel* vertrocknet. Sie mochte seine dunklen, vollen Haare mit dem zackigen Scheitel, die hellbraunen verträumten Augen und sein verschmitztes Lächeln, das ihr nicht zeigte, ob er sich über sie lustig machte, sein selbstbewusstes Auftreten in der SS-Uniform. Die schmalen Hände mit der starken Venenzeichnung erweckten bei ihr damals den Eindruck eines sportlich aktiven und athletischen Mannes, doch jetzt nicht mehr. Der nach einem Durchschuss krumm zusammengewachsene kleine Finger links und die entzündete rötliche Nagelhaut lassen diese Gedanken nicht mehr zu. Oft sitzt er in der Küche mit einem Handtuch auf dem Schoß und pflegt seine Hände mit größter Sorgfalt, obwohl da gar nichts mehr zu machen ist. Einfach kann es nicht sein, weil sie zittern.

»Hör mit dem Gefummel auf! Das entzündet sich ja. Wie oft soll ich dir das noch sagen?« Er hört nicht auf sie. Auch jetzt wieder nicht.

»Lass das doch endlich mal!«

»Das ist ja 'ne nette Begrüßung«, sagt er.

Zornig mustert sie ihn und gleichzeitig bekümmert.

»Und?« Hermann macht Stielaugen und weiß nicht weiter. Keine Regung ihrerseits, die ihm helfen könnte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Hilflos guckt er zu Günter. Der zuckt nur die Schultern. Er hat Hermann einen Gefallen getan und erwartet ein paar nette Worte, aber Hermann denkt nicht einmal daran. Unter den Achseln des Cousins schimmert das dünn gewordene Hemd feucht und dunkel. Er löst die Metallspangen, die seine Fesseln und die Hose umspannen und hängt sie an den Lenker. Die drei stehen und schweigen. Hermann quält seine Nagelhaut weiter, biegt dann seine Finger in den Handteller und betrachtet die Nägel. In die Stille hinein zieht er die Luft hörbar durch einen Mundwinkel. Er steht schief, als würde er jeden Moment nach vorne kippen. Die Anspannung ist ihm ins Gesicht geschrieben. Die Schlappen rutschen fast von den Füßen, als er anfängt, auf und ab zu wippen wie auf einem Schiffsdeck. Der linke Latschen löst sich und landet im Matsch.

»Scheiße!« ruft er, während Gerda amüsiert gluckst. Und an sie gerichtet: »Du hast Nerven.«

Um die Bügelfalte herum schimmert seine Hose an abgewetzten Stellen. Das Hemd liegt locker über den knochigen Hüften. »Um Himmels Willen, was ist denn nun«, drängt er, zieht die Schultern hoch mit starrem Blick, was ihre Belustigung umgehend in Empörung verwandelt, ohne dass sie dafür Worte fände. Ihr Magen verkrampft sich, begleitet von einem dumpfen Pochen in den Ohren. Sie spürt, wie ihre Handflächen feucht werden.

Günter verfolgt indessen einen Kondensstreifen am Himmel und lauscht dem Fluggeräusch. Sollen sie doch klarkommen. Ist ihre Sache. Er hat genug getan. Immer noch stehen sie da wie vergessene Spielfiguren, bis endlich Gerda mit einem Spurt im Haus verschwindet. Drinnen erleichtert sie sich mit Heulen und Schluchzen. Sie muss sich plötzlich übergeben.

»Was glaubst du denn?« beginnt er nun endlich.

Hermanns Mund fühlt sich trocken an, er fröstelt, und gern würde er jetzt einen Schluck Bier trinken, sich etwas Warmes überziehen und so tun, als wäre nichts Besonderes geschehen, man stehe nur so da zum Plausch. Doch er lauscht und versteckt seine braunen Augen unter zusammengekniffenen Lidern, als Günter seinen Gedanken in einem näselnden Wortschwall Luft macht: »Also, ich fahr das Moped ja schon eine halbe Ewigkeit, es ist so Hassliebe.«

»Mann, Günter, komm zur Sache!« Hermann tritt von einem Fuß auf den anderen: »Das interessiert jetzt nicht.« Sein rechter Fuß klopft einen gleichmäßigen Rhythmus auf den Weg.

»Hab mir das Fluchen abgewöhnt, wenn der Bock wieder mal nicht anspringen will. Eine gute Sekunde Startpilot in den Luftfilterkasten, und Rums - spätestens nach der zweiten Zwangsbeatmung läuft der Motor wieder. Er hört sich immer 'was krank an und braucht 'ne Menge Öl, das ist vollkommen normal. Aber ich glaube, dass diesmal irgendwas kaputt gegangen ist, weil Öl fehlt. Er blieb einfach stehen.«

»Guter Mann - rede endlich über die Sache!« Hermanns Stimme krächzt. An der Stirn bilden sich tiefe Furchen. Die Augen, sonst eher sanft und versonnen, verfärben sich dunkel. Er faltet die Hände wie zum Gebet und schnippt die Daumen gegeneinander. Der steife kleine Finger beeinträchtigt für jeden sichtbar die Beweglichkeit. Wegen eines plötzlich schmerzhaften Krampfes verzieht er das Gesicht. Gerda erwähnte einmal unfreundlich, die Hand sehe wie eine Kralle aus. Ein leichtes Zittern erfasst ihn, als Günter endlich fortfährt: »Hallo, was mach' ich denn die ganze Zeit?«

Nach einer Pause, die nach Hermanns Empfinden ausgereicht hätte, zwei Mieten Torf zu stapeln, stößt er einen Schwall Luft aus, keucht und spuckt auf den Boden: »Wir waren ja schon eine ganze Weile unterwegs, und es hat ordentlich gerumpelt, aber ich hab' schon gemerkt, wie Gerda hinter mir auf dem Sitz immer lauter schnieft. Sie klammert sich an mir fest und versucht ihren Bauch vor dem Geholper zu schützen. Ich hätte die Maschine vielleicht wieder in Schwung gebracht, und wir hätten‘s nochmal versucht. Gerda sagt, das ist ein Zeichen, und sie will nicht warten. Wir sind dann zu Fuß den langen Weg zurück, ich hab' das Moped geschoben und sie auch. Vielleicht will sie das Ganze gar nicht.«

Günter fuchtelt mit dem linken Arm, reißt ihn hoch, wippt in den Knien, dreht mit der anderen Hand am Lenker, kann gerade noch verhindern, dass ihm die Maschine wegkippt. Dann beugt er sich auf der Suche nach dem Schaden hinunter.

Auch Hermann hockt sich hin und klopft mit spitzen Fingerknöcheln leicht gegen das Blech des Tanks: »Und jetzt?«

»Jetzt muss ich die Karre wieder klarkriegen.« Günter kennt Hermann und weiß, dass dem jedes technische Geschick fehlt mit seinen zwei linken Händen. Er braucht gar nicht zu fragen. Seine Hauptsorge gilt seinem Moped und keinesfalls Hermanns Problem. Ein Kind mehr oder weniger, meine Güte.

Hermann schnaubt in sein Taschentuch: »Es reicht hinten und vorne nicht. Miese Wohnung, leeres Portmonee, und immer diese Dragonerschnauze von Schwiegermutter. Scheiße nochmal! Zwei Kinder, bald drei? Wo soll ich das dritte denn bitte schön unterbringen? Und Gerda...?« Seine Stimme jagt in die Höhe, wird leiser und bricht schließlich ab.

»Soll ich's ihr vielleicht wegmachen? Idiot! Hab selber Mäuler zu stopfen! Du bist nicht der Einzige. Vielleicht passiert ja noch was in den nächsten Stunden, und sie wird‘s los. Man weiß es ja nicht. Wir haben es wenigstens versucht. Aufpassen hättest du müssen, Fatzke. Dann bräuchten wir hier nicht rumstehen und jammern und auf ein Wunder warten. Weißt ja hoffentlich, was zu tun ist, damit man keine Kinder kriegt. Mein Gott, zwei Gören kriegst du kaum satt, und dann reißt du dich nicht zusammen und machst noch eins! Herzlichen Glückwunsch! Aber lass' man, das kriegt sie auch noch hin, deine Gerda. Frauen haben da andere Widerstandskräfte und schaffen sowas. Das glaub' mir man. Die macht das schon, ist ein stabiles Weibsbild. Wie dämlich ist das aber auch? In diesen Zeiten! Lass mich jetzt in Frieden mit deinem Mist! Ich kann's nicht mehr hören. Ich geh' dann mal. Morgen muss die Maschine wieder laufen!« Günter schlurft neben seinem Moped her und schiebt es langsam in Richtung Schuppen. Unter einem rostigen Loch im Blech kleckert es schwarz heraus.

»Danke trotzdem«, schickt ihm Hermann leise hinterher.

»Ja, ja«, nickt Günter: »Is' schon gut.«

Hermann sieht ihm hinterher, der kopfschüttelnd davontrottet. Der hat gut reden. Wie angenagelt steht er und weiß nicht weiter. Jetzt mit Gerda zu reden hat keinen Sinn. Sie soll sich erst mal ausheulen, und dann wird man sehen. Er nimmt Kurs auf den Fußballplatz, da trainiert die Eintracht. Mit Günter würde er gern tauschen. Der hat den richtigen Riecher gehabt, 1938, als es wegen des Aufbaus der Flotte einen großen Bedarf an Tastfunkern gab. Günter bewarb sich, wurde in der Marineschule zur Ausbildung angenommen und zog mit seiner jungen Frau und seiner Mutter rechtzeitig hierher. So viel Dusel. Sie konnten mit Sack und Pack umziehen und mussten nicht abhauen ohne was wie seine Familie. Günters Mutter hat eine kleine Schneiderei eingerichtet. Gleich nach dem Krieg ist er bei der Polizei untergekommen. Für Uniformen hat er was übrig. Die Leute haben Respekt vor ihm und fühlen sich sicher in seiner Nähe. Es braucht ja niemand zu wissen, dass er nur in der Schreibstube sitzt. Die Leute mögen Uniformen, immer noch. Viel zu verdienen ist nicht, deshalb geht Günter mit ihm manchmal abends noch mit ins Moor, um etwas dazu zu verdienen und Torf für den Ofen nach Hause zu bringen. Wegen Günters Familie sind Gerda und ihre Mutter mit dem Lütten nach dem Krieg in diesem Kaff gelandet. Er hätte sich einen besseren Ort für den Neuanfang gewünscht, irgendwo in den Bergen, wo es ein bisschen aussieht wie in Schlesien. Wieder eine Uniform anziehen, das wäre auch was für ihn. Aber er ist in einer ganz anderen Situation. Man muss einen Strich unter die Sache machen. Günter will es nicht mehr hören. Dass Hermann sich noch nicht von seinen Jahren in der Gefangenschaft erholt hat und ziemlich klapprig aussieht, tut Günter schon leid, sagt er. Die Frau zu schwängern, dafür reichte die Kraft anscheinend aber doch noch, setzte er hinterher und grinste blöd. Von Günter ist keine weitere Hilfe zu erwarten, nicht mit dieser Schrottkarre und auch nicht von Gerda, die sich sträubt. Er müsste sie mal fragen, ob sie das Kind vielleicht sogar will, das wäre ja verrückt, aber sie redet nicht. Hermann zieht sein Taschentuch heraus und putzt seine Finger sauber, so gut es geht.

Eng, unruhig, schlecht versorgt rudert der Fötus mit den Armen hin und her, rollt um die eigene Achse, gequetscht in der Enge seiner Höhle, die sich fester krampft. Er ist unbeteiligt an dem, was geschieht, fühlt vielleicht, dass etwas nicht stimmt. Es würde ihm jedoch nichts bedeuten, den Körper der Mutter zusammen mit einem Klumpen Blut zu verlassen, und Gerda müsste ihn ein gutes halbes Jahr später nicht in dieser trostlosen Gegend zur Welt bringen. Dazu wird es aber kommen, dank des betagten Mopeds mit seinen zahlreichen Macken und der Tatsache, dass Gerda ihrem Bauch während der Fahrt heimlich Halt gegeben hat. Der Zufall und die Zähigkeit schützen das dritte Kind gegen die erste große Erschütterung seines noch nicht begonnenen Lebens. Es liegt hilflos in Gerdas Schoß und kommt langsam zur Ruhe. Ungeborene weinen nicht.

Dunstschwaden: Widerwillig zieht Gerda den Emailschüsseln unter dem Tisch hervor und wäscht ab. Ein paar zermatschte Reste auf den Tellern der Kinder stopft sie sich bis auf den letzten Brinkel in den Mund. Weggeworfen wird nichts und gegessen, was auf den Tisch kommt. Überall Pölsterchen. Sie mag sich nicht. Günter findet sie auch zu dick, dem muss sie ja nicht gefallen. Hermann zum Glück nicht. Pummerle nennt er sie manchmal. Sie wäre gern größer, schlank und überhaupt anders. Nichts ist richtig, seit sie nicht mehr zu Hause ist, an ihrem Körper nicht, an ihrem Mann nicht, an dem ganzen anderen auch nicht. Sie hat nichts zu tun mit dem ganzen Mist, der passiert ist. So eine verdammte Scheiße. Sie klatscht mit ihrer Hand ins Waschwasser, dass es nur so spritzt, reibt die Augen trocken, so dass unter den Tränen langsam wieder das Blau sichtbar wird, in das die jungen Soldaten im Saal früher so gerne schauten. Ihre Augen sehen aus, als wären Mispelkränze drumherum gewachsen, das muss aufhören. Sie greift nach dem Rocksaum, schnaubt hinein und kühlt die Augen mit kaltem Wasser. Wenn die nicht so dicht beieinander liegen würden, sie wären irgendwie schöner, erzählt sie dem Wandspiegel. Schon besser jetzt. Greti soll ihren Kummer nicht merken. Während der Fahrt war Gerda mit den Söckchen an einem Sicherungsblech hängengeblieben und betrachtet nun den Riss im Gewebe. Mit etwas Geschick ließen sich die Strümpfe stopfen. Helle Nähseide ist noch im Nähkorb. Die Fahrt hat ihren Haaren nicht geschadet, stellt sie fest, als sie noch einmal in den Spiegel schaut. Wenigstens die mag sie. Der frische Wind, der hier fast immer weht, konnte nicht über ihre blonden Locken siegen. Aus der spitzen Nase kleckert ein Rest Rotz über die kleine Warze am Lippenbogen. Der Rock ist während der Fahrt verrutscht, obwohl sie ihn mit einem Lackgürtel festgezurrt hatte, der allerdings schwer zu verschließen gewesen war und immer noch drückt. Der Bauch fühlt sich hart an. Sie löst den Reißverschluss ihrer Jacke und schafft Platz für den Busen, der so stark zusammengedrückt worden war, dass ihr während der Fahrt die Luft fast wegblieb. Er tut weh und spannt. Ihre Strümpfe zupft sie so zurecht, dass man den Schaden nicht sofort sieht. Die restliche Kleidung richtet sie gerade. Unter dem Wasserhahn kühlt sie ihr verheultes Gesicht noch einmal und trocknet es mit dem Geschirrhandtuch.

Greti schleicht katzengleich in die Küche. Zart und gelenkig huscht sie unter dem Tisch hindurch auf den Stuhl und streicht ihre dunkle Mähne zur Seite. Von Langeweile überwältigt kramt sie in ihrer winzigen Spielzeugkiste, aber alle Bücher sind schon mehrmals geblättert. Draußen scheint die Sonne, aber sie darf nicht allein hinaus. Mit Blick auf die Mutter beginnt sie wortlos, Bilder von Kleidern und Hosen aus der inzwischen weich geblätterten Burda auszuschneiden.

»Messer, Gabel, Schere, Licht, sind für kleine Kinder nicht! Kannst du dir das nicht merken?« Gerda nimmt Greti die Schere ab und legt sie auf den Küchenschrank: »Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

Gretis Arme baumeln lose unter dem Tisch. »Puppe, Puppe, Puppe«, klagt sie leise: »Ich will nicht immer Puppe. Spielst du was mit mir?«

Gerda schüttelt den Kopf und klappert mit dem Geschirr. »Ich mach den Aufwasch, siehst du doch. Mal was oder mach irgendwas« und reicht ihr ein kleines Blatt vom Zettelblock für die Einkäufe. Greti kritzelt darauf ein Haus und beginnt es bunt anzumalen. »Nachher vielleicht, ich hab` jetzt keine Zeit. Kinder sollen sich allein beschäftigen.«

»Ih, hier ist ja alles nass!« kreischt das Kind. Der Zettel weicht durch und reißt. »Das ist alles deine Schuld, Mama!« Sie schmeißt ihn in den Müll, beißt sich auf die Lippen und beschließt, mit der Mutter den ganzen Tag nicht mehr zu reden.

»Frech ist sie auch noch. Was das wohl nochmal wird mit dem Kind. Nichts als Ärger mit den Gören« stöhnt Gerda.

Wenn sie sich quetschen, kann auch Michael in der Küche mit auf der Bank sitzen und Hausaufgaben machen. Jetzt liegen hier nur die alten Zeitungen aus der Schneiderei, auf die es Greti abgesehen hat. Mit dem Bruder könnte sie wenigstens ein bisschen reden. Ins Wohnzimmer darf sie nicht. Da würde sie etwas schmutzig oder kaputt machen. So bleibt nur diese Nische auf der Bank. Gegenüber stehen zwei unter den Tisch geschobene Holzstühle, an der Wand der weiß lackierte Küchenschrank mit den bunten Glasfenstern in der Mitte, über deren Rillen Greti so gern mit den Fingerkuppen streicht. Ganz oben rechts im Fach, das sie erreicht, wenn sie einen Stuhl darunter schiebt, sich streckt und hinaufklettert, lockt eine Flasche mit Himbeersirup. In die steckt sie manchmal heimlich einen Finger und leckt ihn ab. Einmal erwischte Oma sie und schimpfte. Sie erzählte ihrer Mutter davon aber nichts, und es gab keinen Ärger. Glück gehabt. Greti greift nach den Rockfalten der Mutter und drückt das Gesicht hinein. Gerda schüttelt sie ab.

»Kannst du mich nicht einmal in Ruhe lassen? Geh zu Oma runter. Die ist schon in der Waschküche! Du solltest jetzt hier oben gar nicht sein.« Greti mag den Gang in den Keller, wo es nach Waschpulver und Kernseife riecht. In der Mitte der Waschküche steht der Waschkessel mit dem kupfernen Kesseleinsatz. Gestern war Einweichtag. Seitdem liegt die Wäsche zum Schmutzlösen im Zuber. Die Oma rührt mit einem schweren Holzlöffel, der größer ist als Greti, in dem heißen Seim wechselweise links und rechts herum. Greti mag die Oma, obwohl die sie selten beachtet, aber wenigstens schimpft sie nicht mit ihr. Reden tut die Oma selten, umarmen auch nicht. Der Dampf umhüllt die dicke Alte in dichten Schwaden. Jetzt im Spätherbst bleibt die Tür nach draußen geschlossen, und der schwere Dampf kann nicht entweichen. Im Nu ist alles feucht und klebt am Körper, so dass es Greti überall juckt. Im Sommer war es hier bei offenen Fenstern und Türen besser, aber jetzt sieht Greti, dass auf Omas Stirn Schweißtropfen stehen und sie misslaunig die Augen zusammenkneift. Mit einer alten Stoffwindel wischt sie sich über das rote Gesicht. Manchmal streckt sie sich und fasst an ihren Hals oder an den Rücken, um sich dann wieder über das Waschbrett zu beugen. Wortlos kommt Gerda herein, während sie sich ein Tuch um den Kopf bindet.

»Kipp' noch 'ne halbe Büchse Pulver rein, aber nicht mehr, wir brauchen noch welches für nächstes Mal,« begrüßt Emma sie, »oder hast du was besorgt?«

Wortlos macht Gerda sich an die Arbeit und schaut ihre Mutter nicht an. Sie hat das Geld dafür nicht ausgeben wollen.

»Wieso kommst du jetzt erst? Ich schrubbe mir hier die Finger wund«, schimpft Emma.

»Herberts Moped ist kaputt.«

»Ach so, der Lorbas.«* Die Alte keucht, während sie dem Holzlöffel noch ein paar Umdrehungen mehr aufzwingt.

Gerda schrubbt das Waschbrett, als ginge es um alles. Sie hat Mühe, die gelbe Pulle aus den Kinderschlüpfern zu reiben. Die Handtücher waschen sich leichter. Vielleicht hilft es, jetzt schwer zu tragen, um ihr die Sorgen zu nehmen. Davon hatte sie gehört. Man muss ganz schwer heben und tragen oder mehrmals von einem Tisch hinunterspringen. Sie weiß nichts von der Zähigkeit des Ungeborenen, das auf einem Wasserpolster im Mutterleib schwimmt. Ein Sprung kann ihm so leicht nichts anhaben. »Ich gehe mal Holz und Briketts zum Nachfeuern holen.«

»Und nimm den Dschistek* mit. Die hat hier nichts zu suchen.« Greti folgt der Mutter. »Mist, die Laterne. Greti, lauf und hol mal eben die Laterne von oben. Und vergiss die Streichhölzer nicht.« Zum Kohlenkeller führt eine schmale Steintreppe mit ausgetretenen Stufen. Das Flackern der Kerze wirft Gespensterschatten auf die kalten Wände. Greti hasst die Stiege nach unten, über die sie manchmal allein mit der Kohlenschütte Eierkohlen holen muss, aber mit der Mutter zusammen macht es ihr nichts aus. Gerda füllt nicht nur die Kohlenschütte, sondern zusätzlich die große Holzkiste, die eigentlich für die Kartoffeln bestimmt ist. Mit Mühe schleppt sie beides die Treppe hinauf, die so schmal ist, dass sie die Last vor sich her hinauf stemmen muss. Hinter ihr hebt Greti Kohleeier auf, die von den überfüllten Kisten hinunterkollern und sammelt sie in ihrem Rock, den sie an den Säumen zusammen hält wie Sterntaler. Sie will die Sache mit der Schere wieder gutmachen.

»Was willst du denn mit so viel Zeug«, stöhnt Emma, und mit Blick auf das Kind: »Und nun guck dir dieses Reitloch an! Hat sich komplett eingesaut! Da kann ich ja den ganzen Tag waschen.«

»Guck mal, Oma, ich bin Sterntaler.« Greti dreht sich im Kreis und schaut nach oben, als würde es von dort noch mehr Eierkohlen regnen. Gerda rupft Gretis Sterntalerrock unsanft herunter. Verdutzt blickt das Märchenkind auf den kalten Boden.

»Von wegen Sterntaler. Schmier dich bloß nicht nochmal ein.«

Greti unterbricht ihren Tanz so jäh, dass ihr für einen Moment der Mund offen stehenbleibt. Sie zieht ihren Pulli breit auseinander über den Schlüpfer bis hinunter zum Knie und hält ihn fest, steht schweigend und überlegt, wie es jetzt mit Sterntaler weitergeht. Wenigstens sieht jetzt niemand die Unterhose. Sie weiß, dass sie im Weg steht, aber wohin jetzt? An die Wand, ganz dicht an die Wand. Sie schaut der Mutter zu, wie sie die beiden großen Milchkannen greift, sich entfernt, dann Wasser heranschleppt und mit dem Wasser zunächst die rostige Emaillewanne mit den Tatzenfüßen befüllt, die unter dem Kellerfenster steht. Diesen Weg geht sie viele Male.

Wenn die Stimmung in der Waschküche gut ist, füllen die Frauen das letzte Spülwasser zurück in die Badewanne und lassen die Kinder darin plantschen. Danach sieht es heute nicht aus. Emma füllt Kohlen in den Feuerrost unter dem Waschkessel, die von der Glut sofort erfasst werden. Die Temperatur steigt. Gerda hebt schwitzend erneut ein Waschbrett von der Wand und hängt es über den Kessel. Schweigend rubbeln die Frauen die Weißwäsche und wringen sie aus. Die bunten Teile folgen. Greti hockt sich neben die Badewanne und spielt mit einem Stück Schnur, das sich mal in eine Schlange, mal in eine Eisenbahn verwandelt, immer wieder von vorn, bis die feuchte Wäsche gewaschen in den Körben liegt. Sie muss bleiben, in Unterhosen kann sie schlecht hinaus zu den anderen Kindern.

»Was machst du denn immer noch hier? Komm mit hoch«, sagt die Mutter. Die Kleine folgt ihr mit grimmiger Miene, sieht sich ab und zu um und hofft, dass sie unterwegs von niemandem in Unterhosen gesehen wird. Während sie Stufe um Stufe Treppen hinaufklettert, rupft sie weiter an ihrem Pulli und kann das Tempo kaum halten.

»Mach' schon Kind! Ich muss wieder runter.« Schnell holt die Mutter einen Wollrock aus dem Schrank, zieht ihn Greti über den Kopf und streicht ihr übers Haar. »Um halb sechs reinkommen, pünktlich.«

»Der kratzt, Mama. Einen Fünfer gibt es heute wohl nicht mehr«, erinnert Greti mit leichtem Zittern in der Stimme an ein Versprechen ihrer Mutter und hofft, sie möge verstehen, aber die fünf Pfennige bleiben aus. Sie flitzt hinaus und mischt sich unter die Kinder der Pappelstraße. Von den alten Bäumen ist der Sommerschnee abgefallen und klebt als graue Schmiere unter den Schuhen. Die Kinder der Straße formen sie zu Kugeln und bewerfen sich gegenseitig mit den schmutzigen Klumpen. Schneeballschlacht.

Das mehrmalige Ausspülen mit kaltem Wasser und Auswringen der schweren Wäschestücke lässt Gerdas von Hitze und Waschmittel aufgequollene Hände erstarren und blau frieren, bis sie kaum noch zu spüren sind. Es schmerzt, wenn sie sich wieder erwärmen und das Blut in sie zurückfließt. Was ist in ihrem Bauch los? Zu merken ist nichts. Bestimmt kommt die Regel diesmal nur besonders spät und sie hat sich ein bisschen den Magen verdorben. Der Waschküchendampf weckt die Erinnerung an die erste Schwangerschaft, als das Kinderkriegen bedrohlich war und sie es auch geschafft hat. Überall war Rauch von eingestürzten Häusern. Bomben fallen jetzt nicht mehr. Sie haben eine kleine Wohnung, sie müssen nicht frieren und auch nicht hungern wie damals. Gerade war der kleine Michael nach der Ankunft in Ostfriesland ein wenig aufgepäppelt worden, da erlebten sie einen frostigen Winter, der es in sich hatte, und daran schloss sich ein Dürresommer an. Das bedeutete Hungern. Hungern und frieren im Winter, hungern im Frühling und im Sommer. Aus Brennnesseln machten sie Spinat, aus Schafgarbe Salat. Es geht doch gut jetzt. Alles vorbei.

Gerda blättert in der Gala aus der Schneiderei der Tante. Wie schön Gracia Patricia, Fürstin von Monaco, aussieht. Geheiratet hat sie im selben Jahr wie sie selbst, 1944, und welch tolles Leben sie führt! Gerda hat ihr Leben in Schlesien aufgeben müssen, da war es auch schön. Hermann soll sich anstrengen, um wenigstens ein kleines Stück von dem zurück zu holen, was sie besessen hatten, und verwöhnen soll er sie auch. Bis zu ihrer Flucht waren sie wohlhabend. Hervorragende Aussichten. Regel-recht vergöttert hat ihr Mann sie, auch nach der Hochzeit noch. Hübsch will sie wieder sein und von ihm begehrt. Pelze und Schmuck, wie gern hätte sie die. Das sollte doch wieder möglich werden. So schöne Kleider. Sie setzt sich an die Tretmaschine und näht für sich, für die Kinder, für Fremde. Damit kommt ein wenig Geld in die Kasse. Hinterm Haus hat die Hausgemeinschaft einen Gemüsegarten angelegt, der sie mit frischem Gemüse in der Saison versorgt und mit eingelegten Sorten im Winter. Hermann wird dafür sorgen, dass alles besser wird. Wie gut, dass er viel unterwegs ist und tagsüber nicht herumkommandieren kann. Besonders Michael leidet unter seiner Strenge. Irgendwie kommen sie nicht klar miteinander. Soll sie ihm dazu mal was sagen? Lieber nicht. Bloß keinen Ärger. Jahrelang ist sie ohne ihn klargekommen während der schlechten Zeit, und niemand hat sie gefragt, wie sie das alles schaffte. Und jetzt spielt sich Hermann auf, als wäre er der Oberfeldwebel, obwohl er ihr doch gar nichts bieten kann und hat ihr obendrein vielleicht noch ein Kind angedreht. Und Michael wird immer verstockter. Sie kommt kaum noch an ihn ran, und dabei war er so ein süßer kleiner Bambenek*, als der Vater noch nicht zurück war. Verzweifelt schaut sie an sich hinunter. Hoffentlich wird es wenigstens ein Mädchen. Darum würde er sich nicht so kümmern. Sie sollte einen Froschtest machen. Ist ja nicht zum Aushalten diese Ungewissheit. Damit kennt sich Lotti aus.

Korridor: Geschrei im Treppenhaus. »Ich hab'n Bandwurm«, brüllt Greti von oben so laut, dass alle Türen im Schlesierhaus auffliegen. Eins von den Kindern draußen hatte von Bandwürmern erzählt. Da steht Greti und weist mit nacktem Bauch auf ihren verzweifelten Zustand hin. Drei unreife Äpfel hat sie zuvor in sich hineingestopft, das aber vergessen. Die ganze schlesische Tschelotka* tritt an das Geländer, blickt hoch zu ihr und ruft empört durcheinander.

»Halt die Gosche Fotzlik.«*

»Ruhe, dumme Lerge.«*

»Ahle Gake*, Ende mit Geplärre.«

»Sieh okke, de Brinkel* dreht durch.« »Das Reitloch macht Musike.«

Gerda springt von der Nähmaschine hoch und zerrt Greti in die Wohnung. »Du hast se nich mehr alle.«

Greti schluchzt aus der Tiefe ihrer Seele. Willenlos lässt sie sich in die Wohnung ziehen. Gerda hockt sich neben sie und wischt die Tränen aus dem Gesicht. »Heile heile Gänschen, is bald wieder gut, und nu hör auf zu heulen, Rotznase. Gibt's doch gar nicht, Bandwurm. Komm, gib Mutti einen Kuss.«

Die Kleine schnappt sich ihre Dose mit den Glasmurmeln und hält erst die eine, dann die andere gegen das Licht, neun Stück, und alle verschieden. Eine nach der anderen lässt sie über ihre heißen Wangen rollen.

Michael schleicht um die zeternden Verwandten herum.

»Was für ein hübschen Junge du geworden bist«, sagt die Oma, als alle sich beruhigt haben und bekommt leuchtende Augen. Sie streicht ihm, und nur ihm, über die festen Locken, als er an ihr vorbei schleicht. Abseits der Erwachsenen steht er still und blass, seine Augen suchen den Boden ab, als wolle er sich vor den Blicken der anderen verstecken. Er setzt sich auf die obere Treppenstufe und wartet, dass die Schwester herauskommt. Vorsichtig späht sie kurz darauf durch die Eingangstür und lauscht.

»Hab mir schon gedacht, dass du gleich wieder rauskommst.«

»Mama ist sauer, da bin ich schnell abgehauen.«

»Richtig so,« sagt Michael und zieht sie in Richtung Dachboden. Wenn Greti ihre Touren kriegt, soll er sie in Ruhe lassen, damit sie merkt, dass niemand darauf reinfällt, sagt die Mutter. Einfach nur neben ihr sitzen, das wird wohl erlaubt sein. Kurz verschwindet er und kehrt mit einem selbst gebauten Ding zurück. »Klar gibt’s Bandwürmer«, sagt er schließlich, woraufhin sie wieder anfängt zu schluchzen. »Guck mal, meine Räucherbüchse. Die hab ich heute gebaut.« Er hält ihr eine Konservendose vor die Nase, in die er Löcher gebohrt und einen Draht hindurchgezogen hat. Darin stinkt es nach Moder und Rauch. »Igitt! Das stinkt.« Ihren Rotz wischt sie mit flacher Hand weg. »Ja, und wenn ich das anbrenne, stinkt das noch mehr, und der Wurm haut ab.« Kommst du mit auf den Boden? Dann verjagen wir den.

»Wie ist der denn in mich reingekommen?«

»