Fachbuch Hochsensibilität - Jutta Böttcher - E-Book

Fachbuch Hochsensibilität E-Book

Jutta Böttcher

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Beschreibung

Hochsensibilität - das ist nicht nur für die Betroffenen ein Thema, dass es zu verstehen gilt. Auch Angehörige und Begleitpersonen brauchen Informationen, wie sie mit diesem psychologischen Phänomen umgehen können und sollten. Mit einem Buch aus multidisziplinärer Sicht auf das Thema Hochsensibilität stellen sich sechs Autoren einem aktuell umstrittenen Begriff mit ungenauer Definition. Ihr gemeinsames Ziel: Bestimmung eines genaueren Profils und eine differenzierte Betrachtung. Praxisbezogen angesiedelt zwischen Beobachtung, wissenschaftlichen Elementen sowie gegenseitiger und persönlicher Reflexion durch die Autoren zeigt das Buch verschiedene Facetten von Hochsensibilität. Die Betrachtungen münden darin, Hochsensiblen eine Position in der Gesellschaft zuzuordnen, die ihrer persönlichen Bestimmung entspricht. Dies ermöglicht einen besseren Umgang.

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Fach·Buch

Hochsensibilität

WIDMUNG

Wir widmen dieses Buch jenen Menschen, die den Mut haben, Grenzen zu überschreiten – immer auf der Suche nach neuen Impulsen und tieferem Verstehen. Jenen, die bemüht sind, mehr Wahrheit zu erschaffen, obwohl sie wissen, dass es diese in absoluter Form nicht geben kann.

Wir widmen es all jenen, die mit uns zusammen den Raum des Nichtwissens und der Achtsamkeit eröffnen und aufrechterhalten, um den Umgang mit Phänomenen, die wir nicht vollständig verstehen, zu erleichtern und damit einen heilsamen, heil(ig)en Raum zu erschaffen.

Die Autoren

Fach·Buch

Hochsensibilität

Worauf es in der Begleitung Hochsensibler ankommt

Jutta Böttcher HERAUSGEBERIN

AURUM CORDIS – KOMPETENZZENTRUM FÜR HOCHSENSIBILITÄT

AUTOREN

Jutta Böttcher

Sabrina Görlitz

Mechthild Rex-Najuch

Christian Schneider

Dr. med. Bernd Seitz

Andrea Wandel

REDAKTION

Sabrina Görlitz

Mechthild Rex-Najuch

Jutta Böttcher (Hrsg.): Fach.Buch Hochsensibilität

Lektorat: Sandra Nowack

Projektleitung: Annika Huck-Kamphausen

© Verlag Fischer & Gann, Munderfing 2018

www.fischerundgann.com

Cover- und Innengestaltung: matrix buchkonzepte maren orlowski, Hamburg

Druck & Verarbeitung: Westermann Druck Zwickau GmbH

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2018

ISBN Print: 978-3-903072-66-4

ISBN E-Book: 978-3-903072-67-1

Dieses Buch wird auf 100% Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Alle Angaben in diesem Buch sind von den Autoren und Verlag sorgfältig geprüft. Jegliche Haftung für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist jedoch ausgeschlossen.

Inhalt

Vorwort

Dr. Gunther Schmidt

KAPITEL EINS

Jutta Böttcher

Einleitende Gedanken

KAPITEL ZWEI

Sabrina Görlitz

Grenzgänger mit einem Sinn für Wunder

i-Punkt Grenzgänger mit einem Sinn für Wunder – Mechthild Rex-Najuch

KAPITEL DREI

Andrea Wandel

Hochsensibilität und Trauma

1.Ein geschützter Raum zwischen den Grenz-Welten

2. Hochsensibilität und Trauma: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

2.1 Hochsensibilität: Angeboren oder durch ein Trauma ausgelöst?

2.2 Ein Blick in die Gehirnforschung

3. Was tun bei Hochsensibilität und Trauma?

3.1 Der Intensitätssog-Junkie

3.2 Echte Treffpunkte im Kontakt von Klienten und Begleiter

3.3 Das Geschenk in Hochsensibilität und Trauma

4. Leben und Gesundheit

4.1 Resilienz, Selbstwirksamkeit und Antifragilität

4.2 Vorurteile im Blick behalten

4.3 Dissoziation als Ressource?

4.4 Orientierung im mehrdimensionalen Sein

5. Intimität und Scham – Persönlichkeitsentwicklung und Bindung

5.1 Gesunde und toxische Scham

5.2 Intimität

5.3 Die Verletzlichkeit des Begleiters

6. Therapeutisches Werkzeug: Mimik-Lesen, Lauschen und einladende Sprache

6.1 Die Kraft der Mimik

6.2 Lauschen als kreatives Werkzeug unserer Seele

6.3 Einladende und explorierende Sprache

7. Resümee

i-Punkt Hochsensibilität und Trauma – Mechthild Rex-Najuch

KAPITEL VIER

Dr. Bernd Seitz

Hochsensibilität in der Medizin

1. Eine Welt voller Schubladen

2. Fallstricke in Anamnese und Diagnostik

2.1 Der Diagnosekrimi – Differentialdiagnostik

2.2 Vollkommen aus dem Takt

3. Der Körper – Uhrwerk und Kunstwerk zugleich?

3.1 Chronobiologie – eine Symphonie der Pausen

3.2 Herzratenvariabilität (HRV)

4. Stress an der Zelle

4.1 Freie Radikale und pro-oxidativer Stress

4.2 Alles eine Frage der Energie – Mitochondrienmedizin

5. Hochsensible – eine besonders krankheitsgefährdete Spezies?

i-Punkt Hochsensibilität in der Medizin – Mechthild Rex-Najuch

KAPITEL FÜNF

Jutta Böttcher mit Christian Schneider

Ein multidimensionaler Blick auf das Phänomen der Hochsensibilität

1. Aufgespannt zwischen zwei Welten

1.1 Die Kraft aus der Sehnsucht der Hochsensiblen

1.2 Komplexe Informationsverarbeitung und ihre Folgen

1.3 Zwischen Lebensdrama und Lebensvision – der souveräne Umgang mit einer Achillesferse

1.4 Zwischen Selbstverrat und Selbstverbindung

2. Hochsensible – Mystiker, Selbstverwirklicher und Kulturkreative

2.1 Gipfelerlebnisse – einmal Himmel und zurück

2.2 Die entscheidende Perspektive des Begleiters

2.3 Die Maslow’schen Selbstverwirklicher – eine Spur zur immanenten Gesundheit Hochsensibler

2.4 Die Kulturkreativen – Träger einer stillen Revolution

3. Hochsensibles Bewusstsein, Spiritualität und gesellschaftliche Evolution

3.1 Thesen zur Hochsensibilität

3.2 Exkurs: Hochsensible und Kulturkreative aus der Perspektive der Spiral Dynamics

3.3 Übergangsphasen und ihre Bedeutung für die Arbeit mit Hochsensiblen

3.4 Zukunftskompetenz Hochsensibilität

4. Das Gebot der Stunde – Entwicklung und Stärkung der Potenziale Hochsensibler

4.1 Das Dialoghaus und die dialogischen Prinzipien

4.2 Die Kultur des Nichtwissens und der heilsame Raum

5. Gesichter von Hochsensibilität in Therapie, Coaching und Beratung

5.1 Marit B. – zwischen Abschied und Neubeginn

5.2 Marco E. – schwer gestresst in Struktur und Funktion

5.3 Changemaker – die einsamen Wölfe unter den Hochsensiblen

5.4 Alexander – ein hochsensibles Kind

6. Hochsensibles Leben und seine Begleitung – die Suche nach einer Erfahrung von Verbundenheit

6.1 Begleitung als Treffpunkt

6.2 Hochsensibilität – Geschenk und Aufgabe

7. Christian Schneider zur Struktur des Begleitungsprozesses

7.1 Der Sinn- und Werteprozess

7.2 Higher Ground Leadership®

i-Punkt Ein multidimensionaler Blick auf das Phänomen der Hochsensibilität – Mechthild Rex-Najuch

KAPITEL SECHS

Mechthild Rex-Najuch

Zwischen Nichtwissen und Wissenschaft – am Ende einer Odyssee

1. Begleitung – Tanz ohne Choreografie

2. Psychologie und Medizin – zwei unterschiedliche Gleiche

2.1 Konsequenzen falscher Behandlung und Außenbewertung

2.2 Zwischen Abgrenzung und Empathie

3. Physik und Biologie – Erklärung natürlicher Prinzipien

3.1 Die Ökonomie der Natur und ihre Vorteile

3.2 Muster und Ordnung – Tanz verschiedener Geschwindigkeiten

3.3 Vorschriften der Natur

3.4 Quantentunnel in den Mitochondrien

4. Lernen – über ein natürliches Konzept und die Kraft der Erwartung

4.1 Neuronale Plastizität – Grundvoraussetzung für anhaltenden Lernerfolg

4.2 Lernen unter besonderen Voraussetzungen

4.3 Die Welt da draußen – Gehirn und Sinneswahrnehmung

4.4 Freier Wille – die Kraft der Entscheidung

5. Stress – ein natürliches Prinzip zum Überleben

5.1 Stress aus natürlicher Sicht

5.2 Stressstabilität – erlernbar oder natürlich angelegt?

i-Punkt Zwischen Nichtwissen und Wissenschaft – am Ende einer Odyssee – Mechthild Rex-Najuch

Schlussgedanken

Autorinnen und Autoren

Anmerkungen

Register

Abbildungsteil I – VIII zwischen 224 und 225

Vorwort

Das vorliegende Buch ist für unsere Fachwelt und für alle Menschen, die als hochsensibel beschrieben werden können, längst überfällig. Es stellt aus meiner Sicht eine sehr bedeutsame und ermutigende Hilfe dar, nicht nur für die Menschen, um deren Erlebnisprozesse und Identitätserfahrungen es hier speziell geht, sondern auch für viele andere, die im Kontakt mit unserem »Gesundheitssystem« – für das meiner Meinung nach oft besser der Begriff »Krankheitssystem« passen würde – schwächende und tief verunsichernde Erfahrungen machen mussten.

Das Buch beschäftigt sich sehr fundiert, differenziert und auf Basis herausragenden Fachwissens mit dem als Hochsensibilität definierten Thema, das von vielen immer noch als nicht existent oder völlig übertrieben und überbewertet betrachtet wird. Leider muss dies nicht nur für uninformierte Laien, sondern auch für eine erhebliche Zahl von Professionellen aus den »helfenden Berufen« gesagt werden, zum Beispiel für Psychotherapeuten und Psychiater. Ich weiß aus Rückmeldungen von leider recht vielen Betroffenen, welch abwertenden, sie pathologisierenden Erfahrungen viele von ihnen ausgesetzt waren, bevor sie nach einer leidvollen Odyssee ambulant zu mir in die Therapie oder bei uns in der sysTelios Klinik Siedelsbrunn zu einer stationären Kooperation kamen – und danach wieder mit Würde und Stolz auf ihre wertvolle Hochsensibilitätskompetenz zurück in ihr Alltagsleben gehen konnten. Typisch für diesen zuvor durchgemachten Leidensweg war und ist bei fast allen, dass ihre jeweils einzigartige Art des Erlebens und des »in der Welt Seins« sowohl durch viele Rückmeldungen aus ihrem direkten Lebensumfeld (zum Beispiel Familie, Kindergarten, Schule, Beruf), aber auch durch Angehörige der »helfenden Berufe«, oft als abnormal, als Ausdruck von Störung, Unfähigkeit und Krankheit bewertet und behandelt wurde. Dies führt zu tiefer Verunsicherung und häufig auch massiven Selbstabwertungsprozessen bei Betroffenen, die wieder in viele weitere Belastungen und Symptome münden. Wenn man immer wieder Feedbacks erlebt, die das eigene Erleben und Verhalten infrage stellen und beispielsweise als »komisch«, »zu kompliziert«, »merkwürdig« oder gar »gestört, krank« bewerten, ist die Gefahr groß, dass Betroffene diese Sichtweisen verinnerlichen und sich selbst auch so sehen und behandeln. Angetrieben von menschlichen Grundbedürfnissen wie Zugehörigkeit und Bindungssicherheit befürchten Betroffene oft (wie wir von vielen Klienten hören konnten), dass sie wahrscheinlich ausgegrenzt würden, stünden sie zu ihrem Sein mit Anerkennung für sich selbst. Dieses existenzielle Dilemma macht verständlich, dass viele zu Selbstabwertung neigen, deren Preis fatal hoch sein und zum Beispiel zu massiver Schwächung, Depressionen und auch massivem körperlichem Stress führen kann.

Dieses Buch ist eine wahre Fundgrube an hilfreichen Perspektiven und Handlungsideen. Es zeigt, wie die eigene Einzigartigkeit mit Würde, viel Anerkennung für sich selbst und wertvoller Sinn-Orientierung so kraftvoll und kreativ gelebt werden kann, dass auch die berechtigten Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Bindungssicherheit und Wertschätzung von außen viel eher erfüllbar werden.

Es wird umfassend dargelegt, dass und wie die als Hochsensibilität bezeichneten Erlebnisprozesse als wertvolle Kompetenzen verstanden und genutzt werden können, nicht nur individuell für die so bezeichneten Personen selbst, sondern auch für ihre Beziehungssysteme und für unsere Gesellschaft. Ich unterstütze diese Sicht- und Vorgehensweisen nachdrücklich. Sie machen klar (und dabei sehr nachdenklich), wie sehr die Erlebnisqualitäten, die zur Benennung »Hochsensibilität« führen, weit über das Individuelle hinaus für unsere globale zukünftige Entwicklung nicht nur wichtig, sondern unerlässlich sind. Denn obwohl hinsichtlich Umweltverschmutzung, Klimawandel, sozialer Ungerechtigkeit, Nord-Süd-Gefälle usw. längst alles relevante Wissen verfügbar ist, verhält sich die Mehrheit der Menschheit – insbesondere diejenigen, welche über gesellschaftliche Macht verfügen – oft quasi anästhetisiert, in jedem Fall empfindungsreduziert und so linear denkend eingeengt, dass dies katastrophale destruktive Wirkungen erzeugt. Wir brauchen als Bewohner dieses Planeten alle deutlich mehr Sensibilität, Gespür für Wechselwirkungen und die Fähigkeit, uns eben nicht abzuschotten von der Erkenntnis, welche Auswirkungen unsere Beiträge auch auf andere haben. Genau diese wertvollen und so notwendigen Fähigkeiten zeigen ja diese Menschen, denen sich das Buch widmet. Auch in dieser Hinsicht finde ich es gut und dankenswert, dass die Autoren und Autorinnen die behandelten Phänomene auch in diesen größeren Zusammenhang stellen.

Dazu passt hoffentlich ein Eindruck, den ich häufig in unserer Arbeit erlebe: In vielen Therapien, Coachings und Beratungen tun sich für viele Menschen plötzlich Türen von Empfindsamkeit, Gespür und Empathie für andere, die Welt und sich auf, die sie nie zuvor in ihrem bewussten Erleben gekannt haben. Dies gilt sehr wohl auch für Menschen, die sich selbst als fast gefühllos, nur auf Funktionalität und beruflichen Erfolg ausgerichtet beschrieben haben. Voraussetzung dafür aber war immer, dass vorher ein Kontext in der Begegnung geschaffen wurde, in dem sie sich nicht pathologisiert, sondern völlig sicher, angenommen und rundweg stimmig geachtet fühlten. Dann entwickelte sich plötzlich der Zugang zu anderen Welten in der Art, die im vorliegenden Buch als der »Riss in der Realität« beschrieben wird (was für mich heißt: »der Riss in der bisher als gültig definierten Realität«). Solche Erfahrungen werfen für mich die Frage auf, ob nicht alle Menschen in ihrem innersten Sein als »hochsensibel« in einer sehr wertvollen, Sinn-bezogenen Art geboren werden, diese Tür sich aber je nach Kontext und Beziehungserfahrungen bei vielen Menschen wieder schließt, als Schutzkompetenz. Ich habe darauf keine abschließende Antwort und finde auch dies stimmig. In jedem Fall aber weist die Frage für mich darauf hin, dass hochsensible Menschen eine sehr wichtige und wertvolle »Leuchtturm-Kompetenz« für uns alle haben und wir sehr von ihnen lernen können. Auch mit Blick darauf bietet die Arbeit des vorliegenden Buches nicht nur sehr wertvolle Perspektiven und Hilfen für Menschen, die als hochsensibel beschrieben werden. Sie könnte eine befreiende und ermutigende Perspektive ebenso für viele andere Menschen bewirken, auch in der Hinsicht, dass sie sich ihre eigene, bisher noch nicht entdeckte und anerkannte Hochsensibilität zugestehen und erspüren. Dafür wäre es sicher hilfreich, wenn Hochsensibilität nun nicht, quasi als Umkehrung der Pendelrichtung nach der Pathologisierungstendenz, als herausragende Qualität einer besonderen Elite hochstilisiert wird. Gerade dies könnte wieder eher zur Ausgrenzung beitragen und eben den Blick auf die wichtigen Gemeinsamkeiten der gemeinten Kompetenzen für alle behindern. Vielleicht wäre es dafür auch hilfreich, statt »Hochsensibilität« andere Benennungen zu wählen, zum Beispiel »erweiterte Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit« oder »erhöhte Kompetenz, Komplexität zu erfassen« …

Mir gefällt in den Beiträgen der Autoren und Autorinnen sehr, wie sie einfühlend und achtungsvoll vermitteln, dass es Betroffenen keineswegs ausreichend hilft, sie als hochsensibel zu beschreiben. Aus meiner konstruktivistischen hypnosystemischen Sicht, die die Basis aller meiner hier dargelegten Überlegungen ist, lässt sich das leicht erklären. Aus dieser Perspektive (die sich dabei auch auf die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung bezieht) wird jede menschliche Realitätserlebnisweise autonom von innen heraus (autopoietisch) selbst konstruiert. Dies bedeutet auch, dass kein Phänomen (kein Erlebnisprozess innen und auch kein äußeres Phänomen) an sich wirkt. Vielmehr ergibt zum Beispiel erst die Frage, welche Bedeutung, Bewertung man Phänomenen gibt und welche vielen anderen Elemente des Erlebens damit vernetzt werden (zum Beispiel Selbstbild, Selbst-Beziehung, Körper-Reaktionen, Gefühle usw.), die konkrete Wirkung jedes Phänomens für Erlebende.

Aus dieser Sicht »ist« dann auch niemand an sich »hochsensibel« im Sinne einer feststehenden »Eigenschaft«, aus der heraus die Wirkung sich quasi von selbst ergibt, generalisiert und aus jedem Kontext gerissen. Entscheidend wird, mit welcher »wirksamen Wirklichkeitskonstruktion« sich jemand identifiziert. Grundlegende Fragestellung und Aufgabe ist dann, wie die jeweiligen Erlebnisphänomene beschrieben, benannt, erklärt, bewertet usw. werden. Und: Es wird besonders wichtig, dass Betroffene (man könnte auch sagen: mit diesen Fähigkeiten Beschenkte) eine innere Haltung aufbauen können, die wir als »Steuerposition mit geschütztem Überblick und Wahlfähigkeit« bezeichnen. Mit dieser Haltung gelingt es ihnen, die enorm vielen wahrgenommenen Informationsreize zieldienlich und weiterhin einfühlsam in unterschiedlichsten Kontexten zu ordnen und in Handlungen zu überführen, die der Situation angemessen sind. Ich erlebe es als eine unserer vornehmsten Aufgaben, Menschen dabei zu unterstützen, diese Haltung und die damit verbundenen Fähigkeiten wieder aus ihrem unbewussten Erfahrungsrepertoire zu reaktivieren.

Gerade für Menschen aus den »helfenden Berufen« resultieren daraus auch wichtige ethische Verpflichtungen. Will man Menschen helfen, müssen zusammen mit den Betroffenen ebensolche Sichtweisen, Haltungen und Gestaltungsprozesse entwickelt werden, mit denen die erlebten Phänomene Kraft gebend, Würde-Erleben ermöglichend und Kompetenz-Erleben stärkend genutzt werden können. Im hypnosystemischen Konzept wird dies als Utilisation bezeichnet und durchgehend angewendet. Erfahrungen wie die eingangs bereits beschriebene, wenn Menschen, die voller Leid und tiefer Verunsicherung zu uns kommen, meist schon in kurzer Zeit wieder aufblühen, beeindruckende Kreativität entwickeln und ihre weitreichende Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit auch bereichernd für andere einbringen, zählen dann zu den schönsten unserer Arbeit. Unsere hypnosystemischen Methoden bieten hier bereits viele Möglichkeiten. Das vorliegende Buch können wir in Zukunft als außerordentlich reichhaltigen und vielschichtigen Schatz nutzen, der viele zusätzliche Chancen für unsere Arbeit birgt.

Entschieden sich – beispielsweise Therapeuten –, mit diesem Kompetenz- und Ressourcen-fokussierenden Blick zu arbeiten, stellte dies allerdings auch hohe Anforderungen an ihre eigene Kompetenz: Wer mit dem Begriff »hochsensibel« beschriebene Menschen als kompetente Grenzgänger mit vielen wertvollen Potenzialen würdigt und ihnen entsprechend begegnet, könnte in unserem »Gesundheitssystem« vom Mainstream leicht selbst als merkwürdiger, problematisch definierter Grenzgänger bewertet werden. Da muss man sich in diesen Berufen irgendwann entscheiden, welche Richtung für das eigene Selbst Sinn ergibt und auch mehr zur Selbstachtung beiträgt. Ich weiß nach einigen Jahrzehnten als Aus- und Weiterbilder Tausender von Menschen in diesen Berufsfeldern, dass sich viele Therapeuten noch immer als Anpassungshelfer an vorgegebene Durchschnittsnormen begreifen, wozu durchaus auch Kassenregelungen, ICD 10- und DSM-V-Klassifikationen tatkräftig beitragen. Arbeitet man daran orientiert mit Menschen mit Hochsensibilität, wird man leider eher zur Zusatzbelastung und nicht zur verdienten Unterstützung.

Das vorliegende Buch aber bietet so viele wunderbare Beispiele und so viele überzeugende Argumente für die reichhaltig nutzbaren Kompetenzen von Betroffenen, dass ich mir erhoffe, es regt viele Therapeuten an, den überkommenen »Normalitätsdruck« kritisch zu hinterfragen und eher zum »Ermutigungsbegleiter« zu werden. Ich wünsche diesem Buch (im Hinblick auf meine gerade geäußerte Hoffnung durchaus sogar im eigenen Interesse) und seinen Autoren deshalb den großen Erfolg, den es und sie sehr verdient haben. Ich freue mich schon auf die sicher große Resonanz, die es auslösen wird.

Dr. med. Dipl. rer. pol. Gunther Schmidt

Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ärztlicher Direktor der sysTelios Klinik für psychosomatische Gesundheitsentwicklung Wald-Michelbach/Siedelsbrunn und Leiter des Milton-Erickson-Instituts Heidelberg

KAPITEL EINS

Einleitende Gedanken

Seit mehr als einem Jahrzehnt arbeite ich für und mit hochsensiblen Menschen. So unterschiedlich die Lebensgeschichten und -wege der Menschen, denen ich in meiner täglichen Praxis begegnete, auch waren – sie einte die Tatsache, dass in der Regel umfangreiche Therapie-Erfahrungen hinter ihnen lagen. Und es gab noch eine Gemeinsamkeit: Sie alle hatten keine wirkliche, grundlegende Veränderung erreicht – keinen »Durchbruch«, der ihr alltägliches Leben erleichtert hätte. Damit meine ich nicht den Wunsch nach dem umgangssprachlichen »Platzen des Knotens«, das heißt dem Erkenntnisgewinn, wann und warum in der Biografie etwas zum heutigen Erleben geführt hat. Diese Menschen waren von der Sehnsucht getrieben, in einem persönlichen Wachstumsprozess begleitet zu werden – über die reine Bearbeitung therapeutischer Inhalte hinaus. Genau an diesem Punkt erlebte ich jedoch wiederholte Enttäuschung. Dabei konnte ich diese Sehnsucht sehr gut nachvollziehen. Selbst hochsensibel, war die Sehnsucht nach Bewusstseinsentwicklung für mich das Vehikel, 2008 das Kompetenzzentrum für Hochsensibilität, Aurum Cordis, zu gründen. Mein Ziel war es, dort einerseits einen Ort zu schaffen, an dem sich Erfahrung und Wissen zum Thema sammeln, und andererseits darauf basierend eine kompetente Begleitung für hochsensible Menschen zu entwickeln und anzubieten.

Zwischen vielen hochsensiblen Klienten und ihren Begleitern endet der gemeinsame Weg häufig an einem Punkt, an dem es keinen gemeinsamen Erfahrungshorizont mehr zu geben scheint, aus dem heraus sich sowohl sicheres Containment als auch ein gegenseitiges sinnhaftes Verstehen ergeben können. Auch die Ebene einer gemeinsamen sprachlichen Begrifflichkeit stößt an ihre Grenzen. Es gibt scheinbar nichts mehr zu sagen, was weiterhelfen könnte.

Diese immer wiederkehrende Botschaft ließ mich aufhorchen. Sie machte mich neugierig und ich begann, nach Möglichkeiten zu suchen, aus einer anderen Perspektive auf das Phänomen der Hochsensibilität schauen zu können. Ich beobachtete den Prozess, den ich mit meinen Klienten durchlief, und die daraus entstehenden Veränderungen ganz genau. Dabei hatte ich nicht die Absicht, eine neue Form von Begleitung für Hochsensible zu entwickeln. Es ging mir um viel mehr, nämlich um eine tiefergehende inhaltliche Beschreibung dessen, was nonverbal längst da war und sich vor meinen Augen entfaltete – um das Erstellen einer Art Landkarte, die zu einer anderen Form der Verortung des Phänomens der Hochsensibilität einladen könnte.

Auch meine Co-Autoren haben in den vielen Jahren ihrer Tätigkeit in der Beobachtung immer wieder innegehalten, um sich der wiederkehrenden Muster ihrer hochsensiblen Klienten und Patienten bewusst zu werden. Angesichts der umfassenden Literatur zum Thema, die schon so viele Informationen und Ratschläge für einen guten Umgang mit Hochsensibilität bereitstellt, stießen auch sie auf wesentliche Aspekte, die bisher nur wenig oder gar nicht berücksichtigt wurden.

Es war vor allem die Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen und Erfahrungswerten aus einer fachübergreifenden Perspektive, die meine Co-Autoren und mich inspirierte, weitere Fragen zu stellen. Allen Autoren war es ein tiefes Bedürfnis, sich darüber auszutauschen. Auf diesem Wege formten sich wiederkehrende Eindrücke und Bilder zu den Herausforderungen und Lösungsansätzen der Hochsensiblen. Jeder der Autoren hatte einen anderen Tätigkeitsschwerpunkt und sah damit immer einen besonderen Ausschnitt. Im Zusammenfügen der Puzzleteile wurde das Bild immer größer, das wir in Worte zu fassen suchten, um es im Rahmen eines FACH.BUCHES mit anderen Begleitern zu teilen.

Da es bisher keine ausreichende Forschung speziell zum Thema Hochsensibilität gibt, können wir nur Studien zitieren, die unsere Beobachtungen teilweise erklären helfen. Beim Durchforsten dieser Studien blieben wir an denen hängen, deren Fragestellungen und Ergebnisse die Basis weiterer Erkenntnis beinhalten könnten. Das vorliegende Buch ist also nicht zu verwechseln mit einer wissenschaftlichen Veröffentlichung. Dazu sind weiterhin zu viele Fragen ungeklärt. Statt an dieser Stelle auszuweichen, entschieden wir uns, das auf den Punkt zu bringen, was da ist – aus diesem Grund ist dieses Buch ein FACH.BUCH.

Vorhanden sind unsere Erfahrung, unsere Beobachtung und unsere Intuition, die in der konkreten Arbeit zu überzeugenden Ergebnissen führen und den Blickwinkel der Pathologisierung von Hochsensibilität zugunsten einer Sicht auf ihre natürliche Beschaffenheit erweitern. An diese Sicht sind auch die Fragen nach der Bedeutung sowohl für den hochsensiblen Menschen selbst als auch für die Gesellschaft gekoppelt.

In einem vielgestaltigen Dialog ergänzten sich die beobachteten Muster um das Wissen aus Medizin, Trauma-Arbeit, Anthropologie, Entwicklungspsychologie und spiritueller Literatur zu der Gewissheit, dass es im Verstehen des Persönlichkeitsmerkmals Hochsensibilität um viel mehr geht als darum, eine weitere Ausprägung von Vielfalt in letzter Konsequenz zu erfassen.

Mit der Erlaubnis, den Anspruch auf eine als absolut empfundene Wahrheit gehen zu lassen, entstand für uns Autoren die Chance, das je eigene Bild durch sonst nicht sichtbare Randerscheinungen zu vervollständigen – kein einfacher Prozess. Dabei war das Ringen um die richtigen Worte ein wichtiger Bestandteil unseres gemeinsamen Weges. Manchmal schwiegen wir auch »nur« gemeinsam und kamen auf diese Weise zu den wesentlichsten Erkenntnissen. Deswegen kommt der Kraft des Innehaltens und der Stille in diesem Buch eine besondere Bedeutung zu.

»Die HSP-Skala ist dazu gedacht, Sensibilität in einer Forschungssituation festzustellen, und sollte nie allein für sich verwendet werden, um herauszufinden, ob ein bestimmter Patient dieses Wesensmerkmal besitzt. Es gibt keine Normen oder scharfe Trennwerte, und da die Punkte auf Selbstbeurteilung beruhen, steckt immer ein Stück Befangenheit im Ergebnis (…).«1

Die dabei scheinbar entstehende Messlücke müssen und können meine Co-Autoren und ich durch jahrzehntelange Erfahrung überbrücken. In unserer Auseinandersetzung mit dem Thema Hochsensibilität kamen wir immer wieder an einen Punkt, an dem wir uns gegenseitig bestätigten, dass »hochsensibel« eigentlich das falsche Wort ist. Auch darum wird es in diesem Buch gehen.

Aus dem wahren Hype, der in den letzten Jahren um das Thema Hochsensibilität entfacht ist, resultierten zwei Reaktionen: Erstens das Aufatmen einer Gruppe, deren Beachtung überfällig ist. Zweitens das Aufspringen anderer auf diesen Zug. Für bestimmte Gruppen scheint es fast erstrebenswert, hochsensibel zu sein, als wäre dieses Persönlichkeitsmerkmal gleichzusetzen mit »besser, hochwertiger und wertvoller«. Der Vorwurf, eine Elitegruppe installieren zu wollen, steht schnell im Raum. Mit diesem Vorurteil möchten meine Co-Autoren und ich aufräumen.

Es ist wichtig, sich stets zu vergegenwärtigen, dass es sich bei dem Persönlichkeitsmerkmal Hochsensibilität ursächlich um eine andere Art von Informationsverarbeitung im Gehirn handelt, über die eine wahre Flut von Informationen zur Verfügung steht – daran ist eine besondere Form der Sinneswahrnehmung gekoppelt. Ich empfinde diese besondere Verarbeitungsform wie ein Talent. Ein Talent, das ich weiterentwickeln und trainieren musste, bis ich es als Werkzeug in meiner Arbeit einsetzen konnte.

Diese andere Art der Reizverarbeitung hat Auswirkungen auf Körper, emotionale Befindlichkeit und seelisch-geistige Perspektive sowie die Entwicklung der Lebensstrategien von hochsensiblen Menschen. Alle hochsensiblen Menschen leben aufgrund dieser Art von Reizverarbeitung mit einem hoch erregbaren Autonomen Nervensystem (ANS), das sie zwischen einem Leben mit Dauerstressbelastung auf der einen sowie Gefühlen tiefster Stimmigkeit und Verbundenheit mit dem Universum auf der anderen Seite pendeln lässt.

Dieses Spannungsfeld gehört zu ihnen und macht sie nicht per se zu kranken oder weniger leistungsfähigen Menschen, im Gegenteil! Diese Art zu sein ist Ausdruck ihrer Form von Gesundheit, die – wie sich im vorliegenden Buch zeigen wird – eine ausgesprochen tiefe und stabile Form psychischer und physischer Gesundheit sein kann. In einer sinnerfüllten Arbeit und Lebensgestaltung wachsen den Hochsensiblen starke Kräfte zu. Sie können davon in der gleichen Intensität profitieren, wie sie unter Unverständnis und nervlicher Dauerbelastung leiden können.

Dauerstress entsteht für sie nicht allein aus einer subjektiv empfundenen Überbelastung und Überreizung, sondern vor allem dann, wenn sie gezwungen sind, auf die Nutzung ihrer Ressourcen zu verzichten – Ressourcen, die sich aus ihrer Fähigkeit zu Gefühlen von Stimmigkeit und Verbundenheit speisen.

Ich möchte dies am Beispiel von Hercule Poirot verdeutlichen, dem Meisterdetektiv aus Agatha Christies »Mord im Orient Express«. Die Neuverfilmung des Klassikers war 2017 im Kino zu sehen. Mit Hercule Poirot an Bord fährt der Zug nicht nur durch den Orient, sondern, metaphorisch betrachtet, auch durch das Thema Hochsensibilität. Denn auch Poirot scheint einfach alles zu sehen, in jedem Fall viel mehr als seine Mitpassagiere!

Als Poirot von einem Polizisten, der die Auflösung seines letzten Falls miterlebt hat, bewundernd gefragt wird, wie er es schafft, immer so schnell alle Details zusammenzusetzen und dann den Fall zu lösen, antworte Poirot:

»Ich kann die Welt nur so sehen, wie sie sein sollte. Dann sticht das Unperfekte heraus wie die Nase aus dem Gesicht!« Dazu muss man wissen, dass die Welt für Poirot perfekt und symmetrisch sein muss. Tritt er etwa versehentlich mit einem Schuh in Pferdemist, tritt er auch mit dem anderen hinein, um Symmetrie herzustellen. Diese »Macke« trifft natürlich nicht grundsätzlich auf Hochsensible zu, wobei das sehr menschliche Merkmal, dass »alles in eine Ordnung passen muss«, bei ihnen womöglich etwas ausgeprägter ist. Worauf es mir ankommt, ist, dass Poirot trotz oder gerade wegen seines wunderlichen Verhaltens auf seine ganz eigene Art genial ist. Seine Wahrnehmung der Welt wird durch deren Unvollkommenheit gestört, und so ist diese spezielle Art der Wahrnehmung gleichzeitig die Basis für Poirots durchschlagenden Erfolg als Detektiv. Poirot hat eine besondere Art, die Dinge zu verknüpfen und zu bewerten. Sein Selbstverständnis speist er aus seinem Selbstwertgefühl und der Sicherheit, sein »Geschäft« wirklich zu verstehen. Scheinbar kann kein Zweifel von außen seinen Sinn für Symmetrie erschüttern.

Im Film oder im Roman finden wir eine solche Figur liebenswert, wir erfreuen uns an ihr. Im »richtigen Leben« stehen wir Andersartigkeit eher skeptisch gegenüber, brandmarken sie als »nicht gesund«.

Nun, jeder Mensch verfügt über seine ureigenen Bewältigungsstrategien. Tatsächlich liegen die Quellen der stärksten Bewältigungsstrategien Hochsensibler im Umgang mit den täglichen Herausforderungen nicht allein in einem angemessenen Selbstmanagement, sondern ganz besonders in einer bewusst vollzogenen Umkehr, in einer Innenwendung ihrer Aufmerksamkeit, die herkömmlich innen und außen umfasst.

Diese »Not-Wendigkeit« trifft die Hochsensiblen schneller und direkter als ihre weniger sensiblen Mitmenschen – aber wahrlich nicht allein! Immer mehr – auch originär nicht hochsensible Menschen – geraten angesichts der verunsichernden Komplexität unserer Zeit an die Grenzen ihrer nervlichen Regulationsfähigkeit, mit allen daraus folgenden Erkrankungsrisiken. Und immer mehr Menschen erkennen damit auch die Brüchigkeit der äußeren Welt, nach deren Regeln sie bisher ihr Leben gestaltet haben. Während jedoch ihre hochsensiblen Mitmenschen auf eine vernetzte Wahrnehmungsfähigkeit zurückgreifen können, die sie eine Vielzahl von Bezügen sehen, tief empfinden und damit völlig neue Lösungsmöglichkeiten erkennen lässt, führt das ansonsten in unserer Gesellschaft vorherrschende lineare Denken in dieser Situation kaum zum Ziel. Ich zitiere aus dem Glasperlenspiel von Hermann Hesse:

»Gewiß, zwei Völker und zwei Sprachen werden einander nie sich so verständlich und so intim mitteilen können wie zwei einzelne, die derselben Nation und Sprache angehören. Aber das ist kein Grund, auf Verständigung und Mitteilung zu verzichten.«2

Die hier skizzierte Sprach- und Verständigungsproblematik spiegelt gleichsam die Situation der Hochsensiblen im Verhältnis zu ihrem Umfeld wider.

Ich denke, es ist berechtigt, wenn ich die derzeitige gesellschaftliche Situation als problematisch bezeichne, in der eine neue Form von Kommunikation sowie überfällige Lösungen herbeigesehnt werden. Natürlich haben meine Co-Autoren und ich kein Patentrezept für die Lösung dieses Spannungsfeldes, aber oftmals kann das konsequente Verfolgen einer Frage zu unerwarteten Antworten führen. Dazu bräuchte es eine tief greifende Veränderung – eine Hinwendung nach innen. Wie ich bereits herausgestellt habe, ist genau das eine natürliche und große Ressource hochsensibler Menschen. Hochsensible sind also nicht nur Seismografen der Gesellschaft, sondern sie könnten sogar im gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsel eine wichtige Position einnehmen – denn sie sind damit vertraut, andere Strategien für Erfolg zu suchen. Im viel zitierten Werte- und Bewusstseinswandel könnten sie zu Protagonisten werden.

Wir können es uns daher nicht leisten, hochsensible Menschen in einem Krankheitsverständnis zu verlieren! Gerade das Zusammenwirken von 20 Prozent Hochsensiblen und 80 Prozent weniger Sensiblen in über 100 Gattungen hat sich als sinnvolles evolutionäres Verhältnis zwischen den beiden unterschiedlichen Wahrnehmungsformen und ihren daraus folgenden Strategien für Überleben und Veränderung bewährt.3 Es liegt beispielsweise nahe, dass Tiere, die Gefahren vorher bemerken oder Wasserstellen leichter aufspüren, der ganzen Herde nutzen können. Stunden vor dem verheerenden Tsunami in Thailand 2014 begannen etwa auf einmal die Elefanten zu brüllen und suchten das Weite, und zwar lange bevor die Menschen die Bedrohung erkannten. Und auch unter den Nomaden gab es Menschen, die man heutzutage als »wetterfühlig« bezeichnen würde. Sie gaben im wahrsten Sinne des Wortes die Richtung vor – und zwar nicht die, in der ein Unwetter aufzog! Vielleicht sind Hochsensible ein Marker der Evolution, den wir noch verstehen lernen müssen. Zusätzlich übernehmen sie auch eine Indikatorposition: Sie zeigen etwas an, nämlich dass etwas grundsätzlich im Argen liegt. Sie konfrontieren uns mit »Seinsfragen«, die in unserer hektischen, überlauten Zeit wenig Raum haben.

Die Spiegelung der Unvollkommenheit unserer Kenntnisse ist unangenehm. Gleichzeitig fordert sie uns heraus, uns weiterzuentwickeln, weiter zu denken und offen zu werden für eine Evolution des Bewusstseins. Ich gehe davon aus, dass jede natürlich vorkommende Variante des Gehirns und des Nervensystems für eine bestimmte Umgebungsbedingung optimal ist, denn jede Gruppe braucht verschiedene Qualitäten, um ihr Überleben zu sichern. Und darin sind sich in Medizin, Psychologie und Biologie alle Fachleute einig: Es geht immer ums Überleben.

Pathologisieren wir unnötigerweise eine dieser notwendigen Varianten, dann sind Hochsensible möglicherweise die »dauerhaft Empfindlichen«, die »immer Vorsichtigen«, jene, mit denen nicht geht, was doch mit allen anderen so einfach scheint. Eine ausschließliche Bewertung nach ihrer vernetzten Wahrnehmungsfähigkeit macht Hochsensible andererseits vielleicht zu denjenigen, die stets die Tiefe suchen. Vielleicht sind sie die Philosophen und Denker unter uns und damit jene, die innovative Lösungsideen anzubieten haben. Möglicherweise sind sie aber auch die ständigen Skeptiker, für die das Leben eher eine dauerhaft schwierige Herausforderung ist. Reduziert auf ihr sprichwörtliches Einfühlungsvermögen wären sie vermutlich immer jene, die vornehmlich in sozialen Berufen arbeiten, die Seelentröster für all die, die nicht mehr weiterkönnen, der »Schmierstoff« in guten Teams und dergleichen mehr.

Von all diesen Möglichkeiten wird für jeden hochsensiblen Menschen aus dieser Auswahl immer ein Teilaspekt stimmen. Keine einseitige Bewertung kann für Klarheit oder gar Wahrheit sorgen. Trotzdem bzw. gerade deswegen wird es in diesem Buch auch eine »pathologische Abteilung« geben. Aber auch hier soll gezeigt werden, dass die üblichen Strategien der Veränderung bedürfen, weil ein Persönlichkeitsmerkmal etwas anderes ist als eine Krankheit. Jeder Mensch hat besondere Talente, jeder Mensch braucht manchmal Unterstützung, jeder Mensch wird einmal krank – auch ein Hochsensibler. Die viel interessantere Frage ist doch: Was ist bei all diesen Unterschieden der verbindende Aspekt und welch hohe Bedeutung kommt ihm in der Begleitung hochsensibler Menschen zu?

Als Herausgeberin wie auch Co-Autorin möchte ich daher in einer Art Synopsis gemeinsam mit meinen schreibenden Kollegen die Neugierde und den Forscherdrang unserer Leser wecken. Denn es braucht nicht nur Antworten, sondern auch gute Fragen, um ein vollständig(er)es Verständnis für das Phänomen der Hochsensibilität zu erlangen und darüber hinaus die Begleitung hochsensibler Menschen so professionell wie nur möglich zu gestalten. Hochsensibilität – eine Investition in die Zukunft!

Dieses Buch stellt einen Versuch dar, aus der Unterschiedlichkeit der fachlichen Betrachtungsweisen ebenso wie aus der persönlichen Erfahrung der Autoren zu einem umfassenderen Blick auf das Phänomen der Hochsensibilität einzuladen. Wie ich bereits dargelegt habe, ist dieses Werk nicht einfach »nur« eine Sammlung von Fachartikeln über Hochsensibilität. Vielmehr präsentieren wir es seinen Lesern als das Ergebnis eines co-kreativen Prozesses. Im Sinne eines »pars pro toto« war es uns als Autorengemeinschaft ein großes Anliegen, einen Zugang zur nonverbalen Ebene von Hochsensibilität zu erleichtern. Unabhängig davon, wo diese nonverbale Ebene empfunden wird: dahinter, darüber oder darunter. Diese Mehrdimensionalität ist in der Begleitung hochsensibler Menschen entscheidend, und sie ist sogar erforderlich, um der Komplexität des Phänomens gerecht zu werden und sie für den Leser versteh- und erfahrbar zu machen. In der Sprache Otto Scharmers aus seinem inzwischen weltberühmten Buch »Theorie U« formuliert, braucht es die Öffnung des Denkens, des Herzens und des Willens, um Hochsensibilität in ihrer Erlebniswirklichkeit – für den Träger dieses Persönlichkeitsmerkmals selbst, für seine Ärzte, Therapeuten und Begleiter jeglicher Lebenssituation – wie auch in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung wirklich zu erfassen.4

Daher spreche ich eine Einladung aus: Folgen Sie uns über die geschriebenen Worte der einzelnen Kapitel hinweg bei diesem Öffnungsprozess. Er soll zu einer Vertiefung der eigenen Wahrnehmung beitragen. Und: Er soll das Thema Hochsensibilität in seinen Facetten und Schichten fühlbar und intuitiv erfassbar machen.

Meine Einladung ist allerdings an eine Bedingung geknüpft: an die Bereitschaft aller begleitend tätigen Leser, bereits im allerersten Schritt hinter das sich ihnen präsentierende Störungsbild zu schauen. Das heißt nicht, es zu vernachlässigen, aber die unbedingte Möglichkeit zu sehen, dahinter das Heile anzusprechen und als wesentliche Heilungsquelle zu integrieren. Tun wir dies nicht, werden wir immer bei der Gefahr der Fehldiagnose wie auch der Fehlbehandlung bleiben.

Es schien mir eine gute Idee zu sein, als Einstieg in dieses Buch jemandem zuzuhören, der in eigenen Worten seine hochsensible Empfindungswelt beschreibt. Damit wird eine Brücke zwischen Erfahrungs- und Fachwelt geschaffen, die es dem professionellen Leser gestattet, sowohl sich selbst als auch seinen Klienten im Phänomen der Hochsensibilität wahrnehmend wiederzufinden. Dieser Aufgabe als Brückenbauerin stellt sich Sabrina Görlitz. Ich habe sie 2015 kennengelernt und ihre Gabe, in Worte zu fassen, was eigentlich nicht in Worte zu fassen geht, hat mich bewogen, sie für dieses Buchprojekt als Autorin zu gewinnen. Im folgenden Kapitel 2 »Grenzgänger mit einem Sinn für Wunder« wird Sabrina Görlitz erzählen, worauf es für sie ganz persönlich in der Begleitung hochsensibler Menschen ankommt. Sie stellt sich damit in den Dienst eines Punktes, der im Zentrum dieses Buches steht, weil er von hochsensiblen Menschen so sehr vermisst wird: der Möglichkeit, vollständig gesehen und erkannt zu werden.

Nach Sabrina Görlitz kommen zwei Personen zu Wort, deren Hauptthema die Differenzierung zwischen Hochsensibilität und Pathologien ist. So stellt sich die Heilpraktikerin und Seminarleiterin Andrea Wandel in Kapitel 3 dem Thema »Hochsensibilität und Trauma«. Um die fließenden Grenzen zwischen Hochsensibilität und Trauma erfassbarer zu machen, hat sie ihren Beitrag bewusst »schwebend« gestaltet, um Raum für das Gefühl und die Wahrnehmung des Lesers zu lassen. Ihr Kapitel bildet einen Bezugspunkt und lässt bereits alle wesentlichen Aspekte des Themas Hochsensibilität anklingen, die von den anderen Autoren aufgenommen und wiederholt variiert werden.

In Kapitel 4 setzt sich Dr. Bernd Seitz mit dem Thema »Hochsensibilität in der Medizin« auseinander. Sein Bestreben, eine umfassendere Medizin zu gestalten, lässt ihn einerseits nachdenklich und kritisch auf das schauen, was Medizin darstellt, und andererseits alternative Methoden in sein schulmedizinisches Wissen integrieren.

Kapitel 5 wirft einen multidimensionalen Blick auf das Phänomen der Hochsensibilität. Ich bin dabei selbst Autorin. Das Kapitel ist das Ergebnis langjähriger und fruchtbarer Zusammenarbeit mit meinem Kollegen und Reflexionspartner, Christian Schneider, für die wir hier gemeinsame Worte gefunden haben. Im Rahmen des multidimensionalen Blicks stellen wir den Hochsensiblen als potenziellen Changemaker in den Mittelpunkt der Betrachtung. Unser Schwerpunkt liegt auf der Entfaltung hochsensibler Wirksamkeit über den individuellen persönlichen Kontext hinaus, hin zu einer gesamtgesellschaftlichen Ausdehnung.

Einer fachübergreifenden Sicht und Erweiterung auf das Feld des Lernens und Übens stellt sich die Heilpraktikerin Mechthild Rex-Najuch im letzten Kapitel 6 »Zwischen Nichtwissen und Wissenschaft – am Ende einer Odyssee«, indem sie sich bewusst zwischen diesen beiden Polen bewegt. Damit beschreibt sie zugleich das Ende einer Irrfahrt, das viele Hochsensible erleben, wenn sie endlich dort ankommen, wo sich ihr Potenzial entfalten kann.

Nicht nur in ihrer therapeutischen Tätigkeit, sondern auch in ihrer Funktion als Seminarleiterin und Buchautorin ist Mechthild Rex-Najuch sehr geübt darin, aus der Vogelperspektive zu schauen. Ein Vogel hat den Überblick, doch muss er gelegentlich auf den Boden stoßen, um die Beute aufzupicken. Die Kombination dieser Blickwinkel erlaubt es, sowohl die Ganzheit zu erfassen als auch die noch notwendigen Schritte zu deren Erreichung zu definieren. Mechthild Rex-Najuch vermag derartige Verbindungen zu erkennen und in ihrer täglichen Praxis couragiert zu benennen und zu pflegen. Was läge also näher, als sie damit zu betrauen, die Inhalte jedes Kapitels als Moderatorin auf den Punkt zu bringen und zu reflektieren?

Zusätzlich zu ihrem eigenen Kapitel spann sie einen moderierenden Faden des Verstehens durch das gesamte Buch. Dieser Faden besteht in der Formulierung der Zwischenkapitel, die als zentrale »Informationspunkte«, als i-Punkte, die Essenzen der jeweiligen Autorenbeiträge sichtbar werden lassen und thematische Bögen zwischen ihnen ziehen. Zugleich geben die i-Punkte Raum für die Reflexion und stellen dem Leser zusätzliches Hintergrundwissen im Sinne fachlicher Exkurse zur Verfügung. So sind die i-Punkte Informations- und Treffpunkte zugleich, von denen aus die verschiedenen Gesichter von Hochsensibilität betrachtet werden können. Alle i-Punkte zusammen ergeben einen umfassend(er)en Punkt – jenen, den wir auch im Titel eingefügt haben und um den es uns immer geht.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!

Jutta Böttcher

Herausgeberin und Co-Autorin

KAPITEL ZWEI

Grenzgänger mit einem Sinn für Wunder

Sabrina Görlitz

Sabrina Görlitz, Jahrgang 1980, pendelt in ihrer Selbstwahrnehmung ein Leben lang zwischen »richtig« und »falsch«. Als sie nach der Geburt ihres Sohnes auf den Begriff »Hochsensibilität« stößt, lernt sie, neue Parameter zu setzen: Es gibt einen Anteil in ihr, der an Wunder glaubt und manchmal melancholisch ist, und einen Anteil, der rational ist und die Wunder verstehen will. Für dieses Buch treffen sich beide zum Interview.

Wann bist du das erste Mal mit dem Begriff der Hochsensibilität in Berührung gekommen?

An diesen Moment kann ich mich ganz genau erinnern! Es war ungefähr ein Dreivierteljahr nach der Geburt meines Sohnes. Ich war total ausgelaugt von schlaflosen Nächten und Dauerstillen, gleichzeitig hatte sich die allumfassende Überwältigung, Mutter geworden zu sein, etwas gelegt und ich beschloss, mal wieder etwas »nur für mich zu tun«. Ich meldete mich für einen Creative Workshop an und freute mich darauf, mich wieder mit einer meiner wichtigsten Ressourcen zu verbinden: dem Schreiben.

Das Thema des Workshops war die »Heldenreise«, ein archaisches Erzählmuster, das bis heute die Grundlage für erfolgreiche Romane und Drehbücher liefert. Ich wollte endlich Struktur in meine losen Geschichtenanfänge, Mittelteile und Enden bringen, die mir seit frühester Kindheit wie einzelne Filmsequenzen im Kopf herumspuken. Sobald ich die Augen schließe, geht in meinem Kopf das »Kino« an: Ständig »ploppen« neue bewegte Bilder auf, und der Schnitt ist so schnell, dass ich oft nicht hinterherkomme. Ich trage so viele angefangene Geschichten in mir herum, und damals hoffte ich, dass die Heldenreise mir helfen würde, einen roten Faden durch eine Geschichte zu spinnen, von Anfang bis Ende.

Klingt spannend. Aber was hat das mit Hochsensibilität zu tun?

Im Laufe des Seminars ging es auch um die Charakterentwicklung unserer individuellen Romanhelden. Meiner hieß Antonio, ein kleiner Junge mit dunklen Locken und schwarzen Knopfaugen. Er lebte auf einer Halbinsel, auf der ein Leuchtturm inmitten eines Gartens stand, und in dem Garten wuchsen Orangenbäume. Antonio samt Kulisse hatte ich einem meiner inneren Bilder entnommen, viel mehr wusste ich zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht über ihn.

Die Dozentin riet uns, den Protagonisten eine Besonderheit zu verleihen, etwa einen hochsensiblen Charakter zu beschreiben. Jemanden, der sich in der U-Bahn mit seinem Sitznachbarn unterhält und dabei automatisch die Gespräche derer mit anhört, die auf der Bank schräg gegenübersitzen. Gleichzeitig riecht er noch das Parfüm der Frau aus der letzten Reihe, und dass der Typ weiter vorne im Abteil einen ziemlich schlechten Tag hinter sich hat, fällt ihm auch sofort auf.

Ich horchte auf: Das ist ein Charaktermerkmal? Geht das nicht allen so? Ich notierte mir das Wort »hochsensibel«, und nach dem Workshop fing ich an zu googlen. Ich hatte den leisen Verdacht, dass Hochsensibilität irgendetwas mit mir zu tun haben könnte.

Und dann bist du bei deiner Recherche auf Aurum Cordis gestoßen?

Nicht sofort. Zunächst besorgte ich mir ein Buch über Hochsensibilität. Es war wirklich eine Offenbarung: Mir war, als hätte die Autorin ein Buch über mich und für mich geschrieben, Seite um Seite beschrieb sie die Merkmale der Hochsensibilität und die Auswirkungen auf den Lebens- und Leidensweg. Ich erinnere, dass ich immer wieder zu meinem Freund sagte: »Ich muss dir diesen Absatz vorlesen, das ist ja genau wie bei mir!« Es folgte ein Aha-Moment auf den nächsten.

Dennoch blieb ich am Ende der Lektüre mit einem großen Fragezeichen zurück. Worauf das Buch nämlich nur bedingt Antworten gab, war der Aspekt, was ich denn nun mit dem Wissen um meine Hochsensibilität anfangen sollte.

Das heißt, du hattest die Zutaten, aber kein Rezept?

So ungefähr. Zwar gab es Ratschläge in diesem Buch, aber diese drehten sich hauptsächlich um Auszeiten und Abgrenzung, und das passte so wenig zu diesem aufregenden Erkenntnisgewinn, der sich in mir ausbreitete und der viel mehr nach Aufbruch als nach Rückzug schmeckte. Hinzu kam, dass ich eigentlich mehr als geübt in Entschleunigung war, nämlich so gut, dass es mich fast schon nervte und ich zunehmend das Gefühl bekam, mich von der Lebendigkeit des Lebens abzuschneiden, weil mir dieses sogenannte Leben oft zu anstrengend war.

Kannst du dafür ein Beispiel geben?

Vor der Geburt meines Sohnes hatte ich eine Weile als Personalmanagerin gearbeitet, ein Job, in den ich »irgendwie reingeraten war« wie in einige andere Stationen meiner beruflichen Laufbahn auch. Ich mochte meinen Job, aber ich ging auch nicht wirklich darin auf. Daher legte ich großen Wert darauf, nur an vier Tagen in der Woche zu arbeiten, damit ich den fünften Tag für andere Projekte zur Verfügung hatte. Ich wollte mich ehrenamtlich engagieren, und vor allem wollte ich mich dem Schreiben widmen.

Tatsächlich aber brauchte ich in der Regel den kompletten Freitag, um mich von den vorangegangen vier Arbeitstagen zu erholen und um die ganzen Eindrücke und Erlebnisse aus der Firma zu verarbeiten. Für andere Themen blieb kaum Raum.

Ich habe das als einen sehr verschwenderischen Umgang mit meiner Lebenszeit empfunden, wusste aber gleichzeitig auch nicht, was ich anders machen könnte. Auf jeden Fall stand mir der Sinn nicht nach weiteren »Schongängen«. Also schmiss ich wieder die Suchmaschine an; diesmal mit den Suchbegriffen »Coaching« und »Hochsensibilität«. So fand ich zu Aurum Cordis.

Und dann hast du direkt dort angerufen?

Ich habe eine E-Mail geschrieben, mich nach den Coachingangeboten erkundigt und ein Seminar bei Andrea Wandel gebucht.

Apropos Seminar, du hast mich vorhin neugierig gemacht: Was war denn in der Zwischenzeit aus Antonio geworden, deinem Romanhelden aus der Schreibwerkstatt?

Als ich während des Seminars an der Reihe war, meinen »Helden« und die Welt, in der er lebt, vorzustellen, meldete sich ein älterer Herr: »Am Cap Ferrat, an der Côte d’Azur, in der Nähe von Nizza, da steht ein Leuchtturm inmitten eines Gartens, und da wachsen Orangenbäume. Vielleicht solltest du da einmal hinfahren!«

Meine Neugier war entfacht, ich war sowieso auf der Suche nach einem Urlaubsziel gewesen, und ein paar Wochen später flog ich mit meinem Sohn und seinem Vater nach Südfrankreich. Als ich dann tatsächlich durch die dicken Stangen eines schmiedeeisernen Tores in den besagten Leuchtturmgarten blickte, der von einer weißen Mauer umschlossen war, war ich erst einmal sprachlos: Ja, so sieht Antonios Leuchtturmgarten aus, dachte ich.

Ich spürte eine tiefe Sehnsucht, »da rein« zu wollen, mir alles genau anzusehen, anzufassen, an den Blumen zu riechen und unter den Orangenbäumen zu sitzen. Aber der Garten war für Besucher geschlossen. Es war wie so oft in meinem Leben: Ich war ganz nah dran, aber nicht nah genug.

Wie meinst du das, nicht nah genug – nah genug wofür?

Zwar wusste ich inzwischen, wie die Heldenreise funktioniert, aber zwischen dem Antonio in meinem Kopf und seiner Geschichte auf dem Blatt Papier gab es ein »Missing Link«, eine fehlende Verbindung von innen nach außen. Immer mehr Handlungsstränge projizierten sich auf meine innere Leinwand, und bald fühlte es sich an, als müsste ich ein ganzes Universum durch ein kleines Nadelöhr pressen, damit es auf die »andere Seite«, in meinen Roman kommt. Es war ein altvertrautes Gefühl: Irgendwo in mir sprudelt eine nie versiegende Quelle, nur der Fluss fehlt, der die Ideen ins Leben trägt, um sie mit anderen zu teilen.

Ich verstehe, dass eine Geschichte nur leben kann, wenn sie geteilt wird. Die Verbindung zur Hochsensibilität ist mir jedoch noch nicht ganz klar.

Wenn ich so darüber nachdenke, verhielt es sich mit der Entdeckung meiner Hochsensibilität genauso wie mit meinen Geschichten: Mir war, als hätte ich eine verschüttete Schatztruhe aus den Tiefen meines Inneren geborgen, aber noch wusste ich mit diesem Schatz nichts anzufangen, als wären die Münzen aus der Truhe in einer Währung, mit der ich mir landläufig nichts kaufen konnte.

Aber um deine Frage zu beantworten: Antonio fristete noch eine ganze Weile ein Schattendasein. Vielleicht kann ich dir am Ende dieses Interviews ja noch etwas mehr über ihn erzählen.

Sehr gerne! Wie verlief denn nun deine erste Begegnung mit Aurum Cordis?

»Mein erstes Mal« war ein Seminar zum Thema Dissoziation bei Andrea Wandel, die sich in diesem Buch dem Zusammenhang von Trauma und Hochsensibilität widmen wird. Eigentlich hatte ich ja nur nach Coachingangeboten gesucht, aber auf der Website war mir die Seminarbeschreibung ins Auge gefallen.

Ich gebe zu, dass ich den Begriff »Dissoziation« vorher nie mit mir in Zusammenhang gebracht hatte, noch wusste ich, dass viele Menschen, die in pädagogischen Tätigkeitsfeldern unterwegs sind, ihn wahrlich »über« haben, da er andauernd und insbesondere in pathologischen Kontexten verwendet wird. In dieser Ausschreibung jedoch war von Kreativität und dem Geschenk in der Dissoziation die Rede, und ich spürte intuitiv, dass in diesem Seminar auch ein Geschenk auf mich wartete.

Bevor du weitererzählst – du sagst, du hast den Begriff der Dissoziation bislang nicht mit dir in Verbindung gebracht. Was hat denn Dissoziation mit Hochsensibilität zu tun?

Eine ganze Menge, wie ich inzwischen weiß. Dissoziation ist ein Zustand, in dem man sich auf die eine oder andere Weise aus der Realität entfernt, zum Beispiel durch Tagträume oder durch das unbewusste Ausführen von Tätigkeiten. Andrea Wandel beschreibt die Dissoziation als eine »entkörperte Welt«, die wir schon als Embryo oder Kind besucht haben, um zu überleben. Dissoziation kann also eine unbewusste Strategie sein, sich in eine Welt zurückzuziehen, in der wir nicht bedroht sind.

In meinem Fall ist es der innere Blick durch ein Kaleidoskop an Kurzfilmen, das durch Raum und Zeit, durchs Diesseits und durchs Jenseits fliegt und mich mit den wunderschönsten Aufnahmen beschenkt – vorausgesetzt, meine Augen sind geschlossen und die andere, ich nenne sie jetzt mal die »wirkliche« Welt, bleibt draußen.

Ich hatte ganz lange geglaubt, dass alle Menschen solche Bilder und Szenen sehen, bis ich anfing, nachzufragen, und erfuhr, dass die meisten Menschen buchstäblich »Schwarz« sehen, wenn sie die Augen schließen, oder aber sie stellen sich ganz bewusst etwas vor. Unter hochsensiblen Menschen treten solche unbewussten Phänomene wie bei mir allerdings gehäuft auf, was sicher auch mit der Verknüpfung von Trauma und Hochsensibilität zusammenhängt, worauf Andrea Wandel noch detailliert eingehen wird.

Ich stelle es mir sehr schön vor in diesen inneren Welten, die du beschreibst – und trotzdem hattest du offenbar Zweifel, dass etwas mit dir nicht »richtig« sein könnte.

Ja, weil ich ja gleichzeitig das Gefühl hatte, abgetrennt zu sein vom »wirklichen« Leben, und es mehr als ein Abdriften in innere Bilder wahrnahm als ein »daraus schöpfen«. Und ich war zunehmend traurig darüber, dass ich diese inneren Welten mit niemandem teilen konnte. Ich hatte einfach keinen Ausdruck dafür. Am liebsten hätte ich einen Schlitz in meinem Kopf gehabt, aus dem im Sekundentakt Polaroids rauskommen! Es mag seltsam klingen, aber das Gefühl zu haben, das Paradies in sich zu tragen, darin aber ganz allein unterwegs zu sein, kann ganz schön entmutigend sein.

Klingt einsam. Ist das ein Gefühl, dass du bereits aus deiner Kindheit kennst?

Auf jeden Fall. Als Kind war ich am liebsten draußen unterwegs, und vor allem allein. Ich suchte unermüdlich das vierblättrige Kleeblatt oder einen Marienkäfer mit mehr oder weniger als sieben Punkten, sammelte Indianerfedern im angrenzenden Waldstück oder streichelte stundenlang den Nachbarshund – das waren die besten Voraussetzungen, um mich in meine Traumwelten zu »beamen«.

In den Kindergarten ging ich nicht besonders gerne, das war mir einfach »zu viel«, ich hatte nie den Drang, wild herumzutoben oder in größeren Gruppen zu spielen. Am liebsten versank ich in meiner eigenen Welt, doch je mehr Trubel um mich herum war, desto schwieriger fiel es mir. Jeden Mittag wartete ich sehnsüchtig darauf, dass meine Mutter mich abholte und ich endlich wieder meine Ruhe hatte.

Ich habe gehört, dass hochsensible Kinder häufig krank sind. Stimmt das?

Ich litt als Kind ständig an irgendwelchen Infekten, und meine Mutter war der Ansicht, dass sie diesen nur begegnen konnte, indem sie mich bei nassem oder kaltem Wetter nicht vor die Tür ließ. So blieb mir oft nichts anderes übrig, als mich in mein »magisches Zuhause« zurückziehen. Wenn es tagsüber regnete (und da, wo ich herkomme, regnet es oft) und ich nicht draußen spielen durfte, blieb ich in meinem Zimmer und hoffte darauf, dass der Rest der Familie mich einfach in Ruhe ließ.

Mein Spielen war das Träumen, ich setzte mich auf den Boden oder legte mich aufs Bett und nahm Kontakt mit etwas auf, für das ich als Kind keinen Namen hatte. Allerdings brauchte es zwei Stifte oder zwei Barbiepuppen, in jeder Hand eine, die ich einfach nur hielt oder langsam schüttelte. Es war wie mit einem Zauberstab; wenn ich die Stifte oder die Puppen hielt, entstand eine Verbindung, die dafür sorgte, dass meine Kuscheltiere anfingen zu sprechen, dass sie untereinander kommunizierten und sich mein Zimmer und ich lebendig anfühlten.

Manchmal gesellten sich noch andere Wesen und Stimmen dazu, und erst wenn jemand aus meiner Familie ohne zu klopfen hereinplatzte, löste sich meine zweite Wirklichkeit mit einem geräuschlosen Knall auf. Beschämt warf ich die Stifte durch den Raum und hatte jedes Mal Angst, dass meine Familienmitglieder irgendetwas mitbekommen hatten.

Du hast dich geschämt? Warum?

Ich weiß es nicht, ich hatte einfach irgendwie das Gefühl, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war. Ich hatte einfach am liebsten meine Ruhe, und den anderen Kindern, die ich kannte, schien es nicht so zu gehen, im Gegenteil. Selbst in der Nähe meiner Mutter konnte ich mich nur entspannen, wenn sie strickte, und das tat sie, besonders am Abend, oft stundenlang. Ich lag dann mit dem Kopf auf ihrem Oberschenkel, über meinem Ohr die klackenden Stricknadeln, unter meiner Wange der kühle Stoff ihrer Jeans. Ich schloss die Augen und gab mich meinen inneren Bildern hin: fremde Länder, Landschaften und sogar Galaxien, in den buntesten aller Farben.

Die Abende im Schoß meiner Mutter waren die beste Zeit des Tages: Wir waren beide da und doch woanders. Heute weiß ich, das nennt sich »Co-Dissoziation«.

Haben deine Eltern wahrgenommen, dass du »verschlossener« warst als andere Kinder?

Ich erinnere, dass meine Mutter in unseren Urlauben an der Nordsee immer darauf drängte, dass ich mich mit den Kindern aus den Nachbarstrandkörben anfreundete. Dabei war ich völlig zufrieden, einfach nur im Sand zu sitzen, durch das Watt zu spazieren und meinen Gedanken nachzuhängen. In der Nähe des Meeres hatte ich schon damals das Gefühl, dass alles gut und ganz war, inklusive mir!

Aber um deine Frage zu beantworten: Ich bin in den 80er Jahren auf dem »platten Land« aufgewachsen, da war man in der Regel eher pragmatisch unterwegs und hat sich mit psychologischen Themen viel weniger befasst als heutzutage. Meine Tagträumereien haben meine Eltern jedenfalls weniger beschäftigt als ein paar andere »Macken«, die ich rückblickend ganz eindeutig in Verbindung mit meiner Hochsensibilität bringen kann.

Was für Macken waren das denn?

Ich glaube, es muss zu Beginn meiner Schulzeit gewesen sein, als mich zum Beispiel niemand mehr anfassen durfte – außer meiner Familie. Ich empfand Hautkontakt als extrem unangenehm, und jedes Mal, wenn mir jemand die Hand geschüttelt hatte (und man hatte auch mir beigebracht, dass es ein Zeichen der Höflichkeit war, einander die Hand zu geben), musste ich danach sofort ins Badezimmer, um mir die Hände zu waschen. War kein Wasserhahn in unmittelbarer Nähe, konnte ich die innere Anspannung kaum aushalten.

Das Händewaschen wurde zur ultimativen Erleichterung, allerdings mit kurzer Halbwertszeit – bei der nächsten Berührung war der innere Druck, mich waschen zu müssen, sofort wieder da. Zusätzlich waren da die Scham und die Notwendigkeit, dass die Menschen, deren Hände diese Anspannung ausgelöst hatten, nichts davon mitbekamen – niemand sollte wissen, dass mich Hautkontakt in äußersten Stress versetzte. Daher wartete ich manchmal wie gelähmt ein paar Minuten ab, bis ich es nicht mehr aushielt und ins Badezimmer stürzte.

Wie lange hat deine Haut das mitgemacht?

Eine ganze Weile. Irgendwann aber entlarvten mich meine extrem trockenen, beinahe blutig gewaschenen Hände, und meine Eltern schleppten mich zum Hautarzt. Der war so furchtbar unsympathisch, dass ich ihn niemals wiedersehen wollte. Aus Angst vor einem weiteren Arztbesuch gelang es mir, mich sukzessive »umzuprogrammieren«, und schließlich konnte ich mit dieser unbedingten Not besser umgehen.

Der Waschzwang gehört zwar längst der Vergangenheit an, trotzdem ist es bis heute noch so, dass es Menschen gibt, von denen ich einfach nicht berührt werden mag, auch dann nicht, wenn sie mir eigentlich sympathisch sind. Ich habe inzwischen aber auch gelernt, dass auch das Gesundheit widerspiegeln kann, weil es ein intuitives Wahren von Grenzen darstellt. Wenn ich zurückblicke, sind die Menschen, mit denen mir Hautkontakt eher unangenehm war, tatsächlich auch alle wieder aus meinem Leben verschwunden.

Würdest du sagen, dass dir dieses Dissoziationsseminar einen ersten Perspektivenwechsel verschafft hat?

Auf jeden Fall, aber nicht nur das! Bevor der Perspektivenwechsel überhaupt einsetzen konnte, hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben Wörter, die das beschrieben, was ich empfand, und zwar in einer Sprache, die mein Kopf und mein Herz verstanden. Da war jemand, der ganz genau zu wissen schien, wie ich und die anderen Teilnehmer uns fühlten, jemand, der diese Zustände zu keiner Zeit infrage stellte und sie erst recht nicht pathologisierte. Das war eine unglaublich tolle Erfahrung.

Kopf und Herz? Warum ist das so wichtig?

Ich glaube, dass jeder Mensch, der sich seit frühester Kindheit anders und abgetrennt fühlt, auf die eine oder andere Art auf der Suche nach seiner »Herde« ist, so wie das letzte Einhorn in dem berühmten gleichnamigen Kinderfilm. In diesem Seminar waren auf einmal andere »Einhörner«, Menschen mit ähnlichen Gefühlen und Körperreaktionen, und in diesem Seminar wurden unsere Empfindungen in eine Sprache übersetzt, in der wir uns untereinander verständigen konnten, manchmal auch innerhalb eines nonverbalen Raumes. Das war eine sehr erhebende Erfahrung.

Ist dir ein Moment aus dem Seminar besonders im Gedächtnis geblieben?

Zwischen einer Teilnehmerin und mir kam es während einer stillen Partnerübung überraschend und absichtslos zu einer ganz wundervollen Co-Dissoziation. Ich konnte meine inneren Bilder teilen, das hat mich zu Tränen gerührt. Als es im Nachgang der Übung darum ging, sich das Erlebte gegenseitig zu schildern, beschrieb meine »Reisebegleitung« denselben Ort, den ich mit geschlossenen Augen besucht hatte. Sie sagte, sie sei noch nie »so weit draußen gewesen«, und war völlig fasziniert von der Intensität der Farben, die sich ihr gezeigt hatten.

Wir waren uns also an einem Treffpunkt außerhalb der irdischen Dreidimensionalität begegnet. Ich hatte zum ersten Mal jemanden »mitgenommen« in meine Welt, völlig ungeplant – das war toll! Ich möchte diese Situation aber nicht zerreden, indem ich sie zu detailliert beschreibe, dafür war sie zu magisch.

Das klingt in der Tat schräg, aber es berührt mich auch. Warum willst du es nicht »zerreden«, wie du sagst?

Es wird immer Zweifler geben, die solche Dinge nicht für möglich halten und sie als Spinnerei abtun.

Überall liest man, wie wichtig es sei, im »Hier und Jetzt« zu leben. In meiner Erlebniswelt gibt es aber häufig noch ein zweites »Jetzt«, in dem man sich im vollen Gewahrsein des Moments begegnen und gleichzeitig über die Körpererfahrung mit dem »Hier« verbunden bleiben kann. Das kann man wunderbar trainieren.

Zusammenfassend würde ich sagen, dass ich während dieser ersten Erfahrung im Aurum Cordis Vertrauen und Hoffnung gefasst habe. Es gibt Treffpunkte außerhalb des direkten Kontakts zwischen zwei Menschen – so einen Treffpunkt hatten meine Mutter und ich damals, wenn ich in ihrem Schoß lag und sie strickte, und solche Treffpunkte haben mein kleiner Sohn und ich heute auch.

Wie sieht so ein Treffpunkt dann aus? Strickst du inzwischen auch?

Nein, aber als mein Sohn »neu« war, habe ich zunächst gegen meine »Parallelwelt« angekämpft. Ich hatte die Erwartung an mich, immer ganz präsent zu sein, körperlich und geistig, um ihm meine volle Aufmerksamkeit geben zu können. Das war ziemlich anstrengend, und mein Sohn hat mir diese Anstrengung gespiegelt, indem er bisweilen nervös oder quengelig war.

Als ich mir ganz bewusst erlaubte, in seiner Gegenwart auch mal »abzudriften« – nachdem ich verstanden hatte, dass das auch eine Ressource für mich ist, aus der ich Kraft schöpfen kann –, wurde auch mein Sohn ruhiger. Es gibt sicherlich pathologische Formen der Dissoziation, die schädlich für ein Kind sein können, da muss man sauber unterscheiden, aber auf dieser sanften Ebene profitiert unsere Mutter-Sohn-Beziehung davon, wenn mein Fokus auch mal auf Wanderschaft gehen kann. Wir sind trotzdem zusammen und miteinander verbunden.

Klingt für mich, als hättest du dir da auch ein kindliches Verhalten bewahrt!

Auf jeden Fall. Viel zu häufig werden Kinder ermahnt: »Träum nicht« oder »Hörst du mir zu?«, wenn ihr Blick länger als ein paar Sekunden abschweift. Ich finde, man sollte die Kinder ruhig ein bisschen länger »reisen« lassen oder sich einfach mal dazusetzen – vielleicht nehmen sie einen ja mit, an einen magischen Ort?

Gab es in deiner Kindheit magische Momente, an die du dich gern zurückerinnerst?

Einige davon haben mit meinem Vater zu tun. Für meinen Vater war das Tor zu meinem zweiten Zuhause einen Spalt weit geöffnet. Ich hatte wohl intuitiv die träumerische Seite an ihm ausgemacht, der ich vertrauen konnte und der gegenüber ich mich und »mein Haus« zu öffnen wagte. Aufgrund seiner Arbeit war er aber auch derjenige, der am seltensten in der Nähe war.

Ich erinnere mich, dass wir am Wochenende oft spazieren gingen, drei imaginäre Hunde an unserer Seite, oder wie wir im Frühling gemeinsam darauf warteten, dass die Schwalben wieder ihr Nest in die Dachrinne über unserem Stubenfenster bauten.

»Meine Schwalben sind zurück«, freute er sich, wenn sie endlich da waren, und ich war so unglaublich fasziniert von dem Gedanken, dass sie all den Weg aus Afrika zurückgelegt hatten, nur um wieder bei uns zu sein. Eines Jahres warteten wir vergeblich und seither blieben die Schwalben fort.

Es gibt noch einen anderen gemeinsamen Moment, an den ich immer wieder gerne »zurückfühle« und der auch manchmal ungefragt »aufploppt« wie eine melancholische Mahnung: Ich sitze im Kindersitz aus rotweißem Korbgeflecht, der vorne vor den Lenker des Herrenrads gespannt ist, und mein Vater und ich radeln im warmen Frühlingswind einen Waldweg entlang. Der Waldrand ist von einem Meer aus blühenden Maiglöckchen gesäumt. Gleich werden wir ein Picknick machen und Erdbeeren essen. Ich bin unfassbar glücklich. Ich wusste noch nicht viel vom Leben an diesem perfekten Tag und wusste doch alles, was es brauchte, irgendwie … aber an einem Tag im Herbst, vielleicht im selben Jahr, ich weiß es nicht mehr genau, verlor ich dieses Wissen wieder.

Was war passiert?

Mein Bruder, meine Mutter und ich waren auf dem Weg in die Stadt, und wir liefen wie immer an der Friedhofsmauer entlang. Der Bürgersteig war von knusprigen braunen und gelben Blättern übersät, durch die ich mir tanzend den Weg bahnte. Damals war noch keine Jahreszeit besser als die andere! Die beiden unterhielten sich über einen älteren Bekannten, der wohl bald sterben würde. Ich blickte erstaunt zu ihnen hoch: »Warum muss er denn sterben?«, fragte ich. Mein Bruder, fast sechs Jahre älter als ich, antwortete mit einem ebenso schlichten wie brutalen Satz: »Weil wir alle einmal sterben müssen.«

Meine Mutter sagte nichts, ich auch nicht, und das Gespräch war beendet. Ich hörte auf, durch die Blätter zu tanzen, das weiß ich noch. Ich lief nur noch geradeaus, mit hängendem Kopf. Irgendetwas in mir war zerbrochen. Aber an diesem Tag wurde auch meine Sehnsucht nach Reparatur geboren.

Welchen Zusammenhang siehst du zwischen dieser Sehnsucht und deiner Hochsensibilität?

Diese unfassbar tiefe Sehnsucht, die oft diffus ist und nicht genau benannt werden kann, und die Suche nach Befriedigung, wie das Stillen eines Hungers, sind für mich persönlich der größte gemeinsame Nenner vieler Hochsensibler.

Nicht die ständige Reizüberflutung, nicht die Empfindlichkeit der Sinne, nicht die daraus oftmals resultierende Überforderung – zwar sind das durchaus Themen, von denen auch ich betroffen bin und zu denen ich auch etwas zu sagen hätte, aber ich finde sie vergleichsweise langweilig und sie wurden auch schon hinreichend in anderen Büchern oder Magazinen bedient. Außerdem sehe ich die Gefahr, dass – verweilt man auf dieser eher symptomatischen Ebene der Hochsensibilität – sich Menschen als hochsensibel einstufen, die für Kritiker und Zweifler der Hochsensibilität als eigenständiges Persönlichkeitsmerkmal ein »gefundenes Fressen« sind.

Klingt fast so, als wäre die Hochsensibilität einer elitären Minderheit vorbehalten?

Nein. Minderheit: ja, elitär: nein. Das Problem ist die Wertung. Hochsensible sind weder bessere Menschen noch schlechtere. Der Begriff ist einfach unglücklich. Er schreit ja förmlich danach, entweder hochstilisiert oder abgewertet zu werden. Beides wird der Hochsensibilität nicht gerecht. Ich persönlich würde mich zum Beispiel lieber als »meta-sensibel« bezeichnen. Ich bewege mich den Großteil meines Lebens in Zwischenräumen, die für die meisten Menschen weder sichtbar noch fühlbar sind. Das macht mich aber nicht zu einer besseren Person, im Gegenteil: Es macht mich vor allem einsam, denn in diesen Zwischenräumen herrscht nicht besonders viel Publikumsverkehr.

»Meta-sensibel« – interessantes Wort. So wie eine Metaebene?

Ja, genau, wobei es da auch nicht die eine