Was den Raben gehört - Beate Vera - E-Book

Was den Raben gehört E-Book

Beate Vera

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Beschreibung

Im nasskalten Berliner Advent trotzt Lea Storm einer fiebrigen Erkältung und erwartet sehnlichst ihren Freund, den Privatermittler Martin Glander, aus dessen norddeutscher Heimat zurück. Auf traute Zweisamkeit hat sich Lea jedoch zu früh gefreut. Im Keller ihrer neuen Nachbarn, der Familie Wallace, wird ein grausiger Fund gemacht: zwei skelettierte Leichen. Schon bald steht fest, dass es sich bei einem der beiden Toten um die Mutter zweier Nachbarinnen von Lea handelt, der Lehmann-Schwestern. Die soll in den Sechzigerjahren mit einem Liebhaber durchgebrannt sein. Unterstützt von Lea, nehmen sich Glander und seine Kollegin Merve Celik des ungelösten Falles an. Doch dann verschwindet Julia Wallace spurlos … Beate Vera setzt die Reihe ihrer erfolgreichen Krimis aus dem Berliner Südwesten mit einem atemberaubenden Band fort, der zeigt, dass hinter manch einer beschaulichen Reihenhausfassade der Hass auf alles Fremde lauert.

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Beate Vera

Was den Raben gehört

Ein Provinzkrimi aus Berlin

Jaron Verlag

Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin. Foto: © iStock,

Gregor Bister

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN: 978-3-95552-240-7

Für

Maarten

Never f***ing ever!

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1: März 1965

Kapitel 2: Advent 2012

Kapitel 3: Juni 1964

Kapitel 4: Advent 2012

Kapitel 5: Juni 1964

Kapitel 6: Advent 2012

Kapitel 7: Juli 1964

Kapitel 8: Advent 2012

Kapitel 9: Juli 1964

Kapitel 10: Advent 2012

Kapitel 11: August 1964

Kapitel 12: Advent 2012

Kapitel 13: September 1964

Kapitel 14: Advent 2012

Kapitel 15: September 1964

Kapitel 16: Advent 2012

Kapitel 17: Oktober 1964

Kapitel 18: Advent 2012

Kapitel 19: November 1965

Kapitel 20: Advent 2012

Kapitel 21: Dezember 1965

Kapitel 22: Advent 2012

Kapitel 23: Januar 1965

Kapitel 24: Advent 2012

Kapitel 25: 4. März 1965

Kapitel 26: Advent 2012

Kapitel 27: 4. März 1965

Kapitel 28: Weihnachten 2012

Epilog

Aus Leas Küche

Thanks & Slainte

In dieser Reihe bereits erschienen

1

März 1965

Im Keller eines noch fertigzustellenden Hauses in einem Neubaugebiet im Süden West-Berlins sitzt ein Mann und rührt Mörtel an im Schein einer Taschenlampe. Er hat die Ziegelsteine, die er benötigen wird, ordentlich neben eine Aussparung unter der Kellertreppe gestapelt. Bei dem Schutt und dem Dreck, den die Bauarbeiter dort liegen gelassen haben, wird niemand die Blutflecke bemerken, die auf dem Boden bereits gefroren sind. Der Mann haucht Wärme in seine Hände und schiebt den Eimer mit dem Mörtel vor die Nische. Während er die erste Reihe Mauerziegel setzt, blickt er auf die beiden Körper, die in der kleinen Erweiterung der Waschküche liegen und zügig ihre Wärme verlieren. Die Eiseskälte um sich herum spürt er nicht, zu heiß kocht die Wut in ihm. Heute hat er den Beweis für ihren Verrat gesehen – und gehandelt. Er greift in seine Jackentasche und knirscht mit den Zähnen, als seine kalte Hand die Medaille an dem feinen Silberkettchen berührt.

Anfang Dezember war ein strenger Winter eingebrochen. Die Kinder aus den bereits fertiggestellten Häusern im Neubauviertel hatten sich über weiße Weihnacht freuen können. Sie waren entzückt gewesen von der Schneedecke, die alles überzogen hatte und erst im Januar wegen hoher Temperaturen kurz einer unangenehmen Schmelze gewichen war. Ende Februar brachte dann ein eindrucksvoller Schneesturm die Stadt zum Stillstand. Am 4. März liegt der Schnee noch immer dreißig Zentimeter hoch. Die Stadt hat zweitausend zusätzliche Helfer eingestellt, die hunderttausend Kubikmeter Schnee räumen. Es ist viel zu kalt, um mit den Bauarbeiten in der Neubausiedlung fortzufahren, und so umgibt eine gespenstische Stille den letzten Bauabschnitt des Eifelviertels.

Die neue Mauer wird den Arbeitern nicht auffallen, da ist der Mann sich sicher. Ihr Schaffen hat sich bislang weder durch große Akribie noch durch gesteigerte Arbeitsmoral ausgezeichnet. Keine Wand innerhalb der quaderförmigen Häuser, die nach der Mittagspause errichtet wurde, haben sie gerade gezogen. Fliesen und Innenausstattungen einiger geplanter Küchen und Bäder sind auf wundersame Weise aus den ihnen bestimmten Häusern in andere gelangt, deren Eigentümer über gute Verbindungen zur Baufirma und deren Subunternehmen verfügen. Vermutlich werden die Arbeiter annehmen, dass ein anderer Trupp bereits tätig geworden ist, und im Nebenhaus weitermachen.

Er benötigt etwas über eine Stunde, um die rund sechzig Ziegelsteine in der Eiseskälte zu setzen. Mehrfach muss er das Wasser, das er braucht, um den Mörtel anzurühren, auf einem kleinen Gasbrenner erwärmen. Konzentriert setzt er Stein um Stein. Als die Mauer fertiggestellt ist, schiebt er den Mörteleimer in die Ecke zurück, aus der er ihn geholt hat. Er wirft einen letzten Blick auf die neue Wand. Dann nimmt er das kleine Kind an die Hand, das seiner Arbeit regungslos beigewohnt hat, steigt mit ihm die Kellertreppe hinauf und verlässt das Haus am Ende der Straße. Er zieht das Kind auf einem Schlitten hinter sich her, den Dürener Weg hinunter, und summt dabei leise den neuen Hit dieser Band aus Liverpool. Seine Stiefel knirschen im Schnee.

2

Advent 2012

Rolf Prinz’ Mangel an Empathie wurde nur noch von seiner Inkompetenz übertroffen. Der gering geschätzte Ermittlungsleiter der vierten Berliner Mordkommission, die an jenem Tag Rufbereitschaft hatte, war clever genug, sich smarte Assistenten an Land zu ziehen, die die Arbeit für ihn erledigten und ihn gut dastehen ließen. Auch riss er sich gerne Fälle unter den Nagel, bei denen keine unmittelbaren Ergebnisse erwartet wurden. Dabei störte es ihn nicht, wenn die gar nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fielen. Auch die anstehenden Ermittlungen wären eigentlich Sache des LKA-Dezernats 12 gewesen, dessen Aufgabe neben den sogenannten Vermisstensachen Identifizierungsmaßnahmen zur Namhaftmachung von unbekannten Toten war, doch Prinz hatte ohne großen Widerstand seinen Willen durchsetzen können und die Ermittlungsleitung übernommen.

Nachdem er sich den Tatort kurz und lustlos angeschaut hatte, stand er nun vor dem Reihenmittelhaus, in dessen Keller zwei skelettierte Leichen gefunden worden waren. Geräuschvoll putzte er sich die Nase, hustete lautstark und stöhnte beim Betrachten des Inhalts seines Taschentuchs erbarmungswürdig, sodass niemand den geringsten Zweifel daran haben konnte, wie schlecht es um seine Gesundheit stand. Feingefühl gehörte wahrlich nicht zu seinen Stärken, und er vergaß keinen einzigen Affront gegen seine Person. Nach wie vor war er beleidigt, weil ihn seine Kollegin Merve Celik vor drei Monaten hatte sitzenlassen, um sich mit diesem Küstenheini Martin Glander selbstständig zu machen. Celik & Glander – Private Ermittlungen, dass er nicht lachte! Zähneknirschend erinnerte er sich an den letzten Fall, bei dem sich ihre Wege gekreuzt hatten: die Entführung einer Oberschülerin im September. Er selbst war auf einer falschen Fährte gewesen, und Glander und Celik hatten den Täter überführt. Und jetzt diese Geschichte hier, schon wieder in direkter Nachbarschaft zu Glanders neuer Flamme – wie hieß die noch gleich? – Lea Storm. Würde er den Mann denn nie loswerden?

Prinz’ Laune hatte sich seitdem genauso wenig gebessert wie das Wetter. Der Berliner Advent war wie immer nass, kalt und einfach nur zum Abgewöhnen. Oder zum Auswandern. Prinz spielte regelmäßig mit dem Gedanken, eine Eigentumswohnung auf den Kanaren zu kaufen. Noch reichte das Geld nicht, aber jedes Jahr im November wurde sein Wunsch konkreter. Alt würde er jedenfalls nicht in diesem Moloch Berlin. Auf gar keinen Fall!

Prinz fühlte eine Erkältung im Anmarsch. Vor dem Reihenhaus zog es wie Hechtsuppe. Und alte Fälle wie dieser interessierten ihn nicht die Bohne, schon gar nicht an einem Freitag, kurz vor dem Wochenende, und noch dazu jwd, janz weit draußen, am Stadtrand. Seinen Mangel an Enthusiasmus musste er aber verbergen. Die beiden Frauen neben ihm sahen ihn schon vorwurfsvoll genug an.

Sigrun und Gudrun Lehmann, die eine Bankerin, die andere Maklerin von Beruf, wie sie ohne Umschweife preisgegeben hatten, als sie sich ihm vorgestellt hatten, wohnten direkt im Haus nebenan und piesackten ihn mit ihren Fragen und Informationen. Wenn er ihr Geschnatter richtig verstanden hatte, waren sie direkt um die Ecke, im Monschauer Weg, aufgewachsen und hielten sich für Expertinnen in allen Kiezbelangen. Hatten diese beiden Schrapnells denn nichts Besseres zu tun? Jetzt quasselten sie schon fünf Minuten unablässig auf ihn ein, und er hatte ihnen nicht wirklich zugehört. Sein Assistent Fellner würde später alles zu Protokoll nehmen, das würde vollkommen ausreichen. Prinz ging sowieso nicht davon aus, dass sie einen Täter finden würden. Dieser Fall war kälter als seine Füße – aber es half ja alles nichts.

Lutz Harnack, Professor der Pathologie und rechtsmedizinischer Leiter des forensischen Teams, das Prinz für diesen Fall zugeteilt war, trat aus dem Haus und kam zu ihm herüber. Harnack schien das schlechte Wetter gar nicht zu bemerken, oder vielleicht trug er auch etwas sehr Warmes unter dem weißen Overall des Kompetenzzentrums Kriminaltechnik des LKA Berlin, kurz KT. Er hatte an diesem Freitag den Dienst eines Kollegen übernommen, der den Hochzeitstag mit seiner Gattin in Paris verbrachte, und würde nun die Untersuchungen des Tatorterkennungsdienstes koordinieren.

»Auf den ersten Blick handelt es sich bei den Skeletten um einen Mann und eine Frau, die Beckenknochen weisen eindeutig darauf hin. Beide waren zum Zeitpunkt des Todes erwachsen, die Handwurzelknochen sind erkennbar zusammengewachsen. Der Mann starb vermutlich an einem Schlag auf den Schädel mit einem stumpfen Gegenstand, zumindest klafft ein großes Loch in seinem Pericranium, und sein Kiefer ist zertrümmert. Ein Ziegelstein oder ein großer Hammer, so etwas in der Art kämen dafür in Frage. Die Frau wurde erwürgt, ihr Zungenbein ist gebrochen, das konnte ich deutlich sehen. Weitere Fremdeinwirkung konnte ich bei einer groben Betrachtung der Knochen zunächst nicht ausmachen. Ich denke, ich werde neben den Kollegen vom Personenerkennungsdienst, die die üblichen DNA-Spuren – falls wir noch welche finden – und die Zahnprofile auswerten werden, noch die 45 zurate ziehen und die Überreste der Textilien genau prüfen lassen. Ich hoffe, dass sie uns Aufschluss über die Herkunft der beiden Toten geben können. Die beiden Skelette werden eine Reihe von Kollegen beschäftigen, das ist bereits abzusehen.«

Die KT 45 war die für Textilkunde zuständige Unterabteilung der Abteilung KT 4 des Landeskriminalamtes. Dort arbeiteten die Naturwissenschaftler unter den Kriminaltechnikern.

Prinz zog einen Flunsch. Was das wieder alles kosten würde!

Harnack hielt Prinz einen der kleinen Folienbeutel entgegen, die die KT zur Beweissicherung verwendete. »Diesen Ring habe ich bei der weiblichen Leiche sicherstellen können.« Erst jetzt schien er die zwei Frauen neben Prinz zu bemerken und räusperte sich mit einem Seitenblick auf die beiden. Harnacks Beruf erforderte eine vielen seiner Mitmenschen unangenehme Faszination für den Tod in all seinen grauenvollen Facetten. Harnack war beseelt von seinem Fachgebiet und ein weltweit gefragter Dozent und Sachverständiger. Den Tod zu entschlüsseln war sein Lebensinhalt, und er schien keinen Kripobeamten darum zu beneiden, sich mit lebendigen Menschen auseinandersetzen zu müssen.

Die beiden Damen neben dem Kriminalhauptkommissar starrten kreidebleich auf das durchsichtige Plastiktütchen, das Harnack Prinz immer noch vor die Nase hielt. Die Frau in Türkis griff die Hand der Frau in Zyklam neben sich und flüsterte entsetzt: »O mein Gott, Siggi, das ist Mamas Ring! Sieh doch nur! Das ist der Ring mit dem Diamantsplitter, den sie als Ehering trug. O Gott, Siggi, das ist Mama da unten im Keller!«

Danach brach das blanke Chaos um Rolf Prinz aus.

*

Während das Drama in und vor dem Reihenhaus in ihrer Zeile im Dürener Weg in den nächsten Akt ging, fror Lea Storm auf ihrer Hunderunde erbärmlich. Dem Winterbeginn in Berlin hatte sie noch nie viel abgewinnen können. Er war ihrem Empfinden nach immer grau, nasskalt und trostlos. Schnee fiel, wenn überhaupt, erst im Januar – dann, wenn man ihn nicht mehr brauchte. Und dem black dog, dem schwarzen Hund, den einem diese Jahreszeit aufzwingen wollte, musste man aktiv entgegentreten. Warum der frühere britische Premierminister Winston Churchill gerade einen Hund als Sinnbild für Depressionen gewählt hatte, hatte Lea nie begriffen. Wenn sie selbst dieses Krankheitsbild mit einem Tier in Verbindung bringen müsste, würde sie eher an einen hässlichen Kraken denken. Viel passender fand Lea aber den Vergleich mit glitschigen dunklen Schlingpflanzen, in denen man sich verhedderte. Und gelang es einem, sich aus diesem Gewächs zu befreien, fand man sich in der Ödnis eines niedergebrannten Ackers wieder, in der man alleine auf weiter, karger Flur stand, ohne Hoffnung auf neues Grün. So fühlten sich Depressionen an. Auf gar keinen Fall rief diese Erkrankung das Bild eines so wunderbaren Tieres wie eines Hundes in ihrer Vorstellung hervor.

Am sonst so grünen südlichen Stadtrand der Hauptstadt zeigte sich die Natur Anfang Dezember von ihrer spärlichen Seite. Kahle Bäume und Büsche säumten die Wege des ehemaligen Grenzstreifens, auf dem Lea in Richtung Teltowkanal geradelt war. Schmuddelige Grau- und Brauntöne dominierten die Umgebung. Die Grünflächen entlang des Mauerwegs wie auch innerhalb der kleinen Reihenhaussiedlung im Eifelviertel, in der Lea wohnte, boten ein von Kälte und Mangel geplagtes Erscheinungsbild. Sie verlangten nach einer Lage Schnee, um unter dieser weißen Decke zu ruhen und sich zu erneuern.

Leas übliche Taktik, Datum und Wetter zu ignorieren und sich warm anzuziehen, um fünf Kilometer am Tag zu laufen, zeigte heute keine Wirkung. Sie litt an einer fiebrigen Erkältung. Ihren großen rotbraunen Schottischen Hirschhund Talisker beeindruckte das wenig. Er musste sich bewegen, über vierhundert Jahre des Jagens in rauem Klima prägten den Charakter seiner Rasse. Und so stand Lea nun neben ihrem Fahrrad am Ufer des Teltowkanals und wartete darauf, dass Talisker aus dem Unterholz zurückkehrte. Ihr Schädel dröhnte, ihre Nase war wund, und ihre Gelenke schienen vor Schmerz zu vibrieren. Sie hatte 39 Grad Fieber, und elend war eine reichlich unzulängliche Beschreibung ihres Zustands. Martin war auch noch nicht wieder von der Kieler Förde zurückgekehrt. Am achten Tag in Folge ohne ihren Freund, den Privatermittler, schrie jede Faser ihres Körpers nach ihm. Vermutlich war diese Gefühlswallung aber bloß auf die Grippe zurückzuführen. Lea wünschte sich sehnlichst zurück in ihr Bett. So schön die Vorstellung von ihrem großen Doppelbett, den warmen Decken und den vielen Kissen auch war, sie rückte in weite Ferne, als Lea ihre Nachbarin Carola Sabersky auf sich zukommen sah.

Carola war mit Horst unterwegs, dem Basset der Familie Sabersky, der seiner Kennung als Niederlaufhund immer mehr Ehre machte, da ihn fünf Mitglieder des sechsköpfigen Haushalts stets mit Leckerlis verwöhnten. Sein Bauch war nur noch wenige Zentimeter vom Boden entfernt, und seine prallen, kleinen Beinchen schienen unter der Last seines Wanstes immer krummer zu werden. Ein jedes Mal, da Lea Horst begegnete, musste sie breit grinsen – der Hund strahlte eine ansteckende Gemütlichkeit aus. Da er Talisker gerade einmal bis zum Kniegelenk reichte, fühlte sie sich immer an Pat und Patachon erinnert, die beiden dänischen Komiker aus den Stummfilmen der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, wenn sie die zwei Hunde zusammen sah.

Carola gestikulierte wild, während sie sich Lea näherte. »Hast du es schon gehört?« Ohne Leas Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. Die Geschichte musste gut sein, wenn sie sich so beeilte, sie Lea zu erzählen. »Deine neuen Nachbarn haben heute Morgen eine unglaublich gruselige Entdeckung gemacht, als sie im Keller mit der Kernsanierung weitermachen wollten. Ich hab sowieso nicht verstanden, warum die bei diesem Winterwetter ihre Bude renovieren wollen. Wenn sie Pech haben und die Temperaturen richtig tief unter null sinken, können sie sich warm anziehen! Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich meine, sie haben das Haus ja bereits bezogen und die alte Wohnung aufgegeben. Aber jetzt sind sie wohl doch erst mal in eine Pension gezogen. Kein Wunder, nach dem Fund!«

Lea mochte Carola Sabersky, deren Mann Arne, wie Carola immer wieder erklärte, nicht mit dem Gutsbesitzer Max Sabersky verwandt war, dessen früherer Landbesitz im nahegelegenen Teltow seit rund zwanzig Jahren für Restitutionsklagen sorgte, sondern aus Hamburg stammte. Lea bewunderte ihre Nachbarin für die unerschütterliche Ruhe, mit der sie ihr Familienleben managte. Vier Kinder an zwei verschiedenen Schulen und mit diversen Hobbys zu koordinieren, Haus und Garten in Schuss zu halten und die Familie samt den zahlreichen Haustieren zu versorgen war kein einfaches Unterfangen, zumal Arne seit drei Monaten vollkommen in seiner neuen Aufgabe als Schuldirektor des nahegelegenen Albrecht-Berblinger-Gymnasiums aufging. Der gutdotierte Posten verlangte ihm eine Menge Überstunden ab. Und Arne war ein Tausendprozentiger, für ihn gab es keine halben Sachen. Seine asketische Gestalt entsprach durchaus seinem Lebensethos. Carola dagegen hatte den Kampf gegen ihre Kleidergröße schon vor Jahren souverän aufgegeben. Schließlich war sie die Klügere, und die gab bekanntlich nach. Was ihre Hosenbunde auch alle taten, Gürtel hatte sie seit der Geburt der Zwillinge nicht mehr getragen. So lange Carola gelegentlich brauchte, um auf den Punkt zu kommen, so lange benötigte Lea so manches Mal, um auf den Punkt zu denken. Vielleicht war ihr die etwas jüngere Nachbarin deshalb so sympathisch.

»Was denn für einen grausigen Fund? Ich hab gar nichts mitbekommen, als ich aus dem Haus ging«, fragte Lea.

Carola schüttelte den Kopf. »Das sieht dir wieder ähnlich. Du bist sicher hinten raus und durch den Garten direkt auf den Mauerweg, was? Dabei muss da gerade das ganz große Kino in eurer Zeile losgegangen sein. Stell dir vor: Die haben im Keller zwei Skelette gefunden!«

Lea traute ihren Ohren kaum. Die neuen Nachbarn waren vor drei Wochen angekommen, nachdem der Vorbesitzer, Erwin Bäcker, in eine Wohnung in der Nähe seines Bruders und dessen Familie gezogen war. Bäcker war ein unkomplizierter Zeitgenosse gewesen, und alle hatten gehofft, dass sich auch die neuen Besitzer gut in die Nachbarschaft einfügen würden. Die Familie Wallace hatte Lea sofort zugesagt, allein wegen der Tatsache, dass Ryan Wallace, ein Studiomusiker – er spielte Gitarre, Bass und Klavier – aus Edinburgh kam. Leas Vater war Schotte, und sie hatte einen Großteil ihrer Jugend in Stirling verbracht, das nicht sehr weit entfernt von Edinburgh lag. Ryan Wallaces Frau Julia, eine geborene Almendinger aus dem Schwabenland, besaß einen Abschluss in Finance der Harvard Business School und hatte mit nur dreißig Jahren die Leitung des Controllings eines Biotechunternehmens übernommen, das seinen Sitz in Teltow hatte. Ryan wollte mit dem gemeinsamen Baby Danny zu Hause bleiben. Zu dem kleinen Rotschopf passte der schottische Name, dessen eigentliche Form Aidan so viel wie Feuer bedeutete, zumindest optisch sehr gut. Die glücklichen Eltern hatten ihrem neuen Leben am südlichen Berliner Stadtrand voller Zuversicht entgegengesehen. Lea mochte sich gar nicht ausmalen, wie sich die zwei nach dem Fund in ihrem Keller fühlten.

Ihre Neugier war sofort geweckt – zwei menschliche Skelette! Die mussten seit der Errichtung der Siedlung dort liegen, denn bislang war an dem Haus nichts Grundlegendes verändert worden. Lea selbst wohnte seit zwanzig Jahren im Dürener Weg. Ihr Grundstück grenzte an den ehemaligen Mauerstreifen, jetzt Teil des BUGA-Wanderwegs, und war eines der Filetstücke in der kleinen Siedlung im Süden Berlins. Ihr verstorbener Mann Mark hatte das Haus von seiner Großmutter geerbt, bei der er aufgewachsen war. Als sie nach deren Tod dort eingezogen waren, hatte Erwin Bäcker schon in der Siedlung gelebt, zwei Häuser von ihnen entfernt. Zwischen ihnen wohnten die Lehmann-Schwestern. Die Vorbesitzer von Bäckers Haus hatte Lea deshalb nie kennengelernt, eventuell stünde ihr Name noch in ihrem Grundbuchauszug. Da es sich um eine Eigentümergemeinschaft handelte, war der vollständige Grundbuchauszug Teil des Kaufvertrags, die Vorbesitzer würden darin erfasst sein, denn Marks Großmutter und ihr Mann hatten zu den ersten Käufern eines der Neubauten im Eifelviertel gehört.

Carola riss Lea aus ihren Gedanken. »Stell dir mal vor, du ziehst in ein Haus, in dem schon seit Jahren zwei Tote im Keller liegen! Gott, ist das fies! Ich mag gar nicht darüber nachdenken. Und dann passiert das Ganze auch noch im Advent, das ist wirklich hart. Apropos, was macht ihr denn zu Weihnachten? Feiert ihr zusammen? Duncan kommt doch sicherlich heim über die Feiertage, oder?«

Leas Miene verdunkelte sich. Weihnachten war ein heikles Thema zwischen ihr und Martin. Das Tempo, das sie vorlegten, seit sie sich im vergangenen Juli begegnet waren, war atemberaubend, die Sinne betäubend und allgemein so verwirrend wie beängstigend. Lea berührte unwillkürlich ihren linken Oberarm, auf dem eine wellenförmige Narbe sie dauerhaft an die Gefahr erinnerte, in der sie im letzten Sommer geschwebt hatte. Obwohl beide Situationen ganz und gar nicht miteinander vergleichbar waren, verspürte sie ein ähnlich beunruhigendes Gefühl bei der Festtagsplanung.

Martins Schwester Melanie lebte mit ihren zwei Kindern in Teltow, und Martin verbrachte den Heiligen Abend gewöhnlich bei ihnen und übernachtete anschließend dort. Laut Martin war es der einzige Abend im Jahr, an dem seine geschiedenen Eltern an einen Tisch zu bekommen waren. Um siebzehn Uhr kam stets ein Nachbar als Weihnachtsmann verkleidet vorbei und verteilte Geschenke. Gegessen wurden Würstchen mit Kartoffelsalat, und später am Abend gingen sie zum Weihnachtsgottesdienst. Martin tat seiner Schwester diesen Gefallen, obwohl er der Institution Kirche mehr als skeptisch gegenüberstand.

Als halbe Schottin feierte Lea das Weihnachtsfest auf eine sehr andere, weitenteils angelsächsische Art. Und sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie gewillt war, von ihrer Tradition abzurücken.

»Duncan kommt mit Nina, seiner Freundin. Aber wir suchen noch nach einer angemessenen Form des Feierns, die uns unter den neuen Umständen allen zusagt. Du weißt ja, dass ich Weihnachten immer etwas anders als hier üblich verbringe.«

Ich, nicht wir. Es war das zweite Weihnachten ohne Mark. Wie die Zeit verging! Unter den neuen Umständen – gemeint hatte sie damit: mit ihrem neuen Mann. Da hatte sie aber fix Ersatz gefunden – Lea wusste, was einige Nachbarinnen so tuschelten. Auch wenn ihr und ihrem Sohn Duncan in der Regel schnuppe war, was über sie getratscht wurde, in diesem Punkt war Lea empfindlich, es traf sie sehr. Alles ging einfach zu schnell, es war zu früh, und – bloody hell! – sie verabscheute Mietweihnachtsmänner und alles, wofür sie standen! Je länger sie darüber nachdachte, desto größer wurde ihr Problem.

Carola lächelte sie an, ihr blieb Leas innerer kafkaesker Prozess verborgen. »Und ich fand immer, das klingt so entspannt und gemütlich. Ich darf gar nicht an das ganze Weihnachtstheater denken, das mir dieses Jahr wieder blüht. Arnes Mutter verbringt die gesamten Feiertage bei uns, und ich kann ihr nichts recht machen. Die Kinder sind davon auch nicht begeistert, weil sie noch näher zusammenrücken müssen, damit ihre Oma ein eigenes Zimmer hat. Ich ärgere mich jedes Jahr aufs Neue über diesen Ablauf. Na ja«, seufzte sie, »eines Tages fasse ich mir ein Herz und ändere alles. Ihr findet bestimmt eine Lösung. Ich muss weiter, Arne bringt heute die erweiterte Schulleitung mit zum Abendessen. Es ist ihre Weihnachtsfeier, und ich hab noch viel zu tun.«

In Gedanken versunken, schob Lea ihr Fahrrad zurück nach Hause. Gerne hätte sie Carolas Zuversicht geteilt. Was Weihnachten anging, hatte sie so grundsätzlich andere Wünsche als Martin. Noch mehr als ein schottisches Weihnachtsfest wünschte sie sich aber in diesem Moment ein Bett. Trotzdem wählte sie nicht den kürzeren Heimweg durch ihren Garten, sondern ging durch die Straßen des kleinen Eifelviertels zurück. Schon von Weitem sah sie die Polizeifahrzeuge am Ende des Dürener Wegs. Neben einem Streifenwagen parkte ein großer dunkler Volvo, und in der Einfahrt zu ihrer Zeile standen ein VW LT Kleinbus sowie ein weiteres Fahrzeug, das vermutlich auch der Kriminalpolizei gehörte. Die Autos ihrer Nachbarn kannte sie, diese nicht.

Prompt hielt sie ein Streifenbeamter am Anfang ihrer Straße auf. »Hier ist im Moment kein Zutritt.«

»Ich wohne hier. Lea Storm, Hausnummer 60.«

»Können Sie sich ausweisen?«

Bevor Lea ihren Ausweis zücken konnte, rief eine ihr bekannte Stimme: »Frau Storm! Ich habe gerade bei Ihnen geklingelt.«

Kriminalkommissar Harald Fellner, der Assistent von Glanders unsympathischem Exkollegen Rolf Prinz, kam Lea entgegen und wandte sich an den Schutzpolizisten. »Ist schon gut, Uwe, ich kenne die Dame. Sie wohnt hier. Kommen Sie, Frau Storm! Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Lea stöhnte innerlich. Eigentlich wollte sie nur unter ihre warme Bettdecke. Aber was hatte sie erwartet? Sie rang sich ein Lächeln ab, gab Talisker ein Zeichen und bat den Kommissar in ihr Haus.

*

Im Norden der Republik war das Wetter nicht besser, es war nass, kalt und für viele sicherlich trostlos. Martin Glander zog den Reißverschluss seiner Softshelljacke bis ans Kinn. Als Kind der Küste kannte er kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung. Er verriegelte die Tür seiner Fischerkate in Dänisch-Nienhof und verließ das Grundstück durch den länglichen Vorgarten. Bevor er in sein Auto stieg, blickte er noch einmal auf das kleine Häuschen, das er vor rund zehn Jahren von seinen Großeltern geerbt hatte.

Seine Eltern waren von der Kieler Förde nach Berlin-Wannsee gezogen, als er sechs Jahre alt gewesen war. Da Mutter und Vater viel gearbeitet hatten, hatten Glander und seine drei Jahre jüngere Schwester Melanie nahezu alle Ferien bei den Großeltern an der Ostseeküste verbracht. Die Bilder seiner Kindheit waren geprägt von diesen Wochen am Meer: Fischen mit Opa Jan mit anschließendem Flicken des kleinen Netzes, der frischgebackene Apfelkuchen seiner Oma Ellie mit dicker warmer Vanillesoße, Bücher, die ihm die Großeltern zuerst vorgelesen hatten und die er dann selbst in der Hängematte im Garten der Kate wieder und wieder gelesen hatte – Defoe, May, Lindgren und Kästner. Dörte kam ihm in den Sinn, das Mädchen, von dem er seinen ersten Kuss bekommen hatte. Was wohl aus ihr geworden war? Glander hatte eine halbe Ewigkeit nicht mehr an seine Sandkastenliebe gedacht.

Sein Leben hatte einen packenden Verlauf genommen. Nach dem vergeigten ersten Anlauf für sein Abitur hatte er die Chance bekommen, es in Eckernförde mit dem Eintritt in die Marine zu wiederholen. Darauf war die Ausbildung zum Waffentaucher gefolgt. Glander erinnerte sich gerne an diese Zeit zurück. Damals, mit zwanzig Jahren, war er sich unverwundbar vorgekommen. Er liebte das Wasser und war einer der besten Schwimmer seiner Einheit gewesen. Dennoch hatte er sehr schnell feststellen müssen, dass er sich nicht für den Dienst zur See fürs Vaterland eignete. Sein Ausbilder verfügte über gute Kontakte zur Berliner Kriminalpolizei und sorgte dafür, dass man Glander eine Chance als Kommissarsanwärter gab. Glander stieg zum Kriminalhauptkommissar auf und erreichte eine überdurchschnittlich hohe Aufklärungsrate, bevor sich wieder die alte Unruhe in ihm ausbreitete. Er war nicht geschaffen für enge Strukturen, unabhängig davon, ob sie militärischer oder bürokratischer Natur waren. Dennoch hatte er seinen Beruf nicht aufgegeben. Er hatte keine Alternative gesehen, denn er liebte das Ermitteln, die Suche nach Spuren und ihre Auswertung, das Denken out of the box, wie man jetzt neudeutsch zu sagen pflegte, also außerhalb der gängigen Muster. Seit es sie gab, löste er die Eckstein-Rätsel in der Zeit in weniger als einer Stunde.

Eine ganze Dekade lang hatte sich Glander mit seiner Situation arrangiert und das nagende Gefühl der Unzufriedenheit verdrängt. Erst als er von der Affäre zwischen seinem Kollegen und besten Freund und seiner Freundin Jessica erfahren hatte, war er wach geworden. Das war nun rund zehn Monate her. Er hatte überreagiert, das mochte sein, doch immerhin hatte er seinen besten Freund im Bett mit seiner Freundin erwischt. Und er hatte Kai nur ein blaues Auge geschlagen, damit war der doch noch gut weggekommen. All die Jahre, die man in seine Arbeit investiert hatte, zählten offensichtlich gar nichts, wenn man das Spiel nicht mitspielte. Seine Versetzung nach Brandenburg hatte Glander das deutlich vor Augen geführt. Er hatte schon zu lange auf der Abschussliste gestanden. Auch die schützende Hand seines Mentors Brachniks hatte die Abmahnung nicht abwenden können. Und nachdem kurz darauf im vergangenen Sommer erneut ein Fall an seinen verhassten Kollegen Rolf Prinz gegangen war, hatte Glander endlich den letzten Schritt getan: Er hatte gekündigt. Glander hatte sich eingestehen müssen, noch nie gerne ein Teamplayer gewesen zu ein. Seine Eltern hatten ihm größte Vorwürfe gemacht, immerhin verzichtete er auf einen erheblichen Teil seiner Pension. Sie wussten nichts von der üppigen Abfindung, die der Ausgang seiner letzten, inoffiziellen Ermittlungen als Kripobeamter im Sommer im Zuge seines einvernehmlichen Aufhebungsvertrags mit sich gebracht hatte. Es war ein turbulentes Jahr für ihn gewesen.

Glander war stolz auf die alte Fischerkate. Sie war ein Kleinod in der durchsanierten Ortschaft im Schwedeneck, in der viele alte Häuschen größeren und mondäneren Eigenheimen gewichen waren. Nichts mehr erinnerte an das pittoreske Fischerdörfchen, das seinen Großeltern Heimat gewesen war und in dem die Wurzeln seiner Familie lagen.

Glander brauchte das Wasser, Bergurlaube waren ihm ein Gräuel. Und er war froh, dass es im Berliner Südwesten genug Seen und Flüsse gab, in denen er sich, sooft es ging, tummeln konnte. Da er nur wenigen Lastern frönte, hatte er sich auch mit Mitte vierzig eine gute Figur bewahren können. Das Herumsitzen bei gleichzeitigem Leeren von Chipstüten gehörte nicht in sein Feierabendrepertoire. Glander liebte es, in Bewegung zu sein, auch geistig. Er war zufrieden damit, den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt zu haben. Vier Monate zuvor hatte er mit einer ehemaligen Kollegin vom Berliner LKA, Merve Celik, eine eigene private Ermittlungsagentur gegründet.

Glander nahm noch einen letzten Zug von der rauen Meeresluft, die baldigen Schneefall ankündigte, zog die Jacke aus, warf sie auf den Rücksitz seines Audi A4 und stieg in den Wagen, um nach Berlin aufzubrechen, in sein neues Leben – und zu Lea. Beim Gedanken an das Wiedersehen mit ihr drückte er aufs Gaspedal.

3

Juni 1964

Die neue Siedlung mit familienfreundlichen Reihenhäusern im Süden Berlins befindet sich kurz von ihrer Fertigstellung. In die Häuser am Stolberger Ring und an seinen Querstraßen, Monschauer Weg und Eupener Weg, sind die ersten Eigentümer eingezogen. Lediglich im Bauabschnitt Dürener Weg sind noch einige Häuserzeilen im Rohbau. Verkauft sind bereits alle Parzellen des etwa zwanzig Hektar großen Viertels – ausschließlich an Ehepaare, die sich schriftlich verpflichtet haben, innerhalb der ersten fünf Jahre nach dem Einzug eine Familie zu gründen, wenn sie noch keine Kinder haben. Gewerkschaftsmitglieder erhielten Vorzugskonditionen, sodass eine bunte Mischung von Bewohnern entstanden ist: Arbeiterfamilien, Akademikerpaare, Selbstständige. Hier ist die breite Berliner Wirtschaftswundergesellschaft vertreten, die sich ihren Traum vom kleinen Eigenheim mit Garten erfüllen will.

Sigrun Lehmann ist gerade sechs Jahre alt, nach dem Sommer wird sie eingeschult werden. Ihre große Schwester Gudrun geht schon in die zweite Klasse der neuen Schule. Sigrun steht an der Hand ihrer Mutter in dem neuen Haus im Monschauer Weg und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie und ihre Schwester werden ein eigenes Zimmer bekommen! Ein ganzes Zimmer für sich alleine. Wie zwei Prinzessinnen! Dabei hatten sie sich zuerst gar nicht über den Umzug gefreut.

Ihre Mutter kniet sich neben sie und legt den Arm um ihre Hüfte. »Na, Spatz, was meinst du, gefällt dir unser neues Zuhause?«

Sigrun kann gar nichts sagen und drückt ihr Gesicht an die Brust ihrer Mutter. Die riecht so wunderbar, nach Marmorkuchen und nach ihrer Seife – einfach nach Mami. Bislang haben Gudrun und sie in einer Nische im Flur ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in Moabit geschlafen.

Gudrun kommt aufgeregt ins Zimmer gerannt. »Siggi, hast du den Garten schon gesehen? Wir haben einen Garten! Los, komm mit, da steht ein Bäumchen!«

Annie Lehmann sieht ihren beiden Mädchen nach. Ihr Lächeln weicht einem besorgten Blick. Wie stellt Ernst sich das nur vor? Wie sollen sie diesen Kredit abbezahlen und dann auch noch ihrem Schwiegervater das Geld für die Anzahlung wiedergeben? Ernst verdient nicht viel, er baut Fernseher für Telefunken im Werk in Moabit. Es reicht gerade so für sie beide, die Mädchen und den kleinen Holger. Trotzdem hat Ernst darauf bestanden, eine Waschmaschine und einen Fernseher für das neue Haus zu kaufen. Dass sie wieder arbeiten geht, kommt für ihn nicht in Frage.

Sie folgt den Kindern in den Garten. Auf der Terrasse schläft Holger friedlich in seinem Kinderwagen. Die beiden Mädchen spielen Fangen, dann knien sie sich vor eine der wenigen Stauden, die Annie in die Beete, die den Rasen umrahmen, gepflanzt hat, und betrachten ein Insekt. Vor dem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen einige Bauarbeiter und rauchen, das scheinen sie immer zu tun. Annie ist froh, dass sie keine Arbeiten mehr an ihrem Grundstück ausführen müssen. Die Arbeiter lösen Unbehagen in ihr aus. Manche von ihnen riechen schon am Morgen nach Alkohol. Jetzt sehen sie zu ihr herüber. Einer dreht sich kurz zu seinen Leuten, sagt etwas, und alle grölen. Der Arbeiter schaut wieder in ihre Richtung, hebt seine Bierflasche und prostet ihr laut zu: »Ein schöner Tag heute, junge Frau! Viel Glück im neuen Heim!« Er lacht anzüglich.

Sie sind grob, diese Männer, ungehobelt, und sie gehen derb miteinander um. Annie Lehmann kennt Männer dieses Schlages sehr genau. Sie wendet sich ab und geht zurück in die Küche. Ernst hat seinen Vater eingeladen, sie muss sich bei der Vorbereitung des Abendessens Mühe geben.

4

Advent 2012

Natürlich war Glander bei Wittstock / Dosse wieder einmal abgelichtet worden. Sicher hatte er auch dieses Mal kein gewinnendes Lächeln aufgesetzt. Aus keinem ersichtlichen Grund wurde die Geschwindigkeit dort auf achtzig Stundenkilometer begrenzt, und keine zweihundert Meter dahinter stand der Blitzer. Glanders Ärger legte sich erst, als er im Norden Berlins auf den Stadtring fuhr. Auf Höhe des Kaiserdamms hatte die Vorfreude auf sein Wiedersehen mit Lea dem Ärger über den bevorstehenden Bußgeldbescheid um Längen den Rang abgelaufen. Bei der Ausfahrt Steglitz war er aufgeregt wie ein Teenager vor seinem ersten Date, als sein Handy die Titelmelodie der alten Fernsehserie Die Profis spielte. Die beiden MI5-Agenten waren die Helden seiner Jugend und sicherlich prägend für seinen Berufsweg gewesen. Glander schaute kurz auf den angezeigten Teilnehmer und nahm das Gespräch über die Freisprechanlage entgegen. »Lutz! Was macht das Formaldehyd?«

Ganz seiner Art entsprechend kam Harnack ohne Umschweife zur Sache. »Martin, ich fürchte, was ich hier habe, wird dir gar nicht gefallen. Ich sitze bei Lea im Wohnzimmer, zusammen mit ihren beiden Nachbarinnen, den Damen Lehmann. Im Keller der Nummer 56, also im Nachbarhaus der Lehmanns, wurden die skelettierten Überreste zweier Toter entdeckt, die eines Mannes und einer Frau. Ich fand bei dem weiblichen Skelett einen Ring, und die Lehmann-Schwestern sind überzeugt davon, dass er ihrer Mutter gehört habe, die Mitte der Sechzigerjahre spurlos verschwand. Ein in den Ring eingraviertes Datum scheint das zu belegen, es ist das Hochzeitsdatum des Ehepaars Lehmann. Ich schätze, ein Gebissvergleich des weiblichen Leichnams wird abschließend bestätigen, dass es sich bei der Toten um Annie Lehmann handelt. Den gehen wir direkt am Montag an.«

Glander schüttelte den Kopf. In dem kleinen Viertel am Stadtrand gab es nicht wenig Klatsch und Tratsch, aber vom Verschwinden Annie Lehmanns hatte er noch nichts gehört. Dabei wurden ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit potenziell verwerfliche Handlungen von Nachbarn angetragen. Das fand er nach wie vor kurios. Viele der älteren Anwohner hielten ihn offenbar für eine Art richterliche Instanz. Und Glander hatte in den letzten Wochen seit seinem Einzug bei Lea mehrfach klarstellen müssen, dass er kein Kripobeamter mehr war. Einige Nachbarn hatte er aber nicht davon überzeugen können. Kurz bevor Glander nach Dänisch-Nienhof aufgebrochen war, hatte ihn Hartmut Michalke, ein Anwohner des Dürener Wegs, mit seinen Schwadronaden über Handfeuerwaffen genervt, und Glander hatte sich beim besten Willen und der Anwendung aller ihm bekannten Gesprächstaktiken nicht aus der Situation herauswinden können.

Die Michalkes waren aktive Schützen. Das Ehepaar hatte einen Waffenschrank im Keller, beide hatten entsprechende Lizenzen und wähnten nun, in Glander endlich einen ebenbürtigen Gesprächspartner in der Nachbarschaft gefunden zu haben. Glander war immer wieder baff über diese sehr speziellen West-Berliner Charaktere, die ohne Unterlass redeten. Antworten waren dabei gar nicht vonnöten, Hauptsache, sie erzählten. Zu dieser Sorte Mensch gehörten auch die Lehmann-Schwestern. Glander hatte für seine Verhältnisse zu oft Ausreden erfinden müssen, warum er keine Zeit hatte, um mit ihnen über die neuesten Entwicklungen des ehemaligen Parks-Range-Geländes zu reden. Dieses Areal hatte eine sehr umstrittene Baugenehmigungshistorie, bei der sich der Berliner Senat einmal mehr von seiner inkompetenten Seite gezeigt hatte. Das Verschwinden der eigenen Mutter mochte allerdings die Verschrobenheit der beiden Lehmann-Schwestern erklären. Die waren, objektiv betrachtet, keine unangenehmen Nachbarinnen. Das lag auch daran, dass sie nur selten daheim waren. Gudrun und Sigrun Lehmann besaßen je ein eigenes Pferd, das in einem Reitstall in Brandenburg untergebracht war. Ihr sehr spezieller Kleidungsstil sorgte regelmäßig für ein Schmunzeln bei den Nachbarn. Besondere Favoriten aus den Kleiderschränken der Schwestern waren die wattierten Morgenmäntel, die ihren Farbkonzepten entsprachen und ein breites Grinsen auf den Gesichtern der Nachbarn hervorriefen. Gudrun, die ältere der beiden Schwestern, bevorzugte ein kräftiges Rosaviolett, Sigrun ein leuchtendes Blaugrün. Glander zog eindeutig Leas Stil vor, der sich durch viele gedeckte Farbtöne auszeichnete.

Bevor seine Gedanken in Leas Richtung abdriften konnten, fragte Glander Harnack: »Wer ermittelt denn? So ein alter Fall ist vermutlich eine ziemlich harte Nuss.«

»Und auch das wird dir nicht gefallen: Prinz hat sich den Fall an Land gezogen. Und er zeigt sich so motiviert wie eh und je.«

Glander fuhr sich durchs straßenköterblonde Haar. Lea hatte ihm einmal eine perfekt passende englische Beschreibung für seinen ehemaligen Kollegen geliefert: Rolf Prinz sei nicht in der Lage, seinen Weg aus einer Papiertüte heraus zu ermitteln, strotzte aber vor Selbstbewusstsein. Niemand konnte sich erklären, wie er seinen Posten so lange hatte halten können. Sicherlich spielten dabei die hervorragenden Assistenten, die er sich stets auszusuchen pflegte, eine bedeutende Rolle. Nicht umsonst hatte Glander sich gemeinsam mit Merve Celik selbstständig gemacht, Prinz’ letzter Assistentin. Sie war eine ausgezeichnete Kripobeamtin gewesen und hatte eine hohe Aufklärungsrate vorzuweisen, auch wenn Prinz sich mit diesen Erfolgen geschmückt hatte. Man munkelte, dass er beste Verbindungen in die oberste Führungsebene hatte. Glander vermutete, dass er das Glück gehabt hatte, vor vielen Jahren bei irgendeiner Schmutzwäsche das Waschbrett gehalten zu haben, und nun davon zehrte.

»Na, da erwartet hoffentlich niemand unmittelbare Erkenntnisse«, konstatierte Glander trocken.

Aufgeregt warf Harnack ein: »Eben! Und deshalb möchten die Damen Lehmann, dass du dich des Falles annimmst. Warte mal, ich gebe dir Lea, die hat die beiden gerade mit Hochprozentigem versorgt. Hier ist sie.«

»Hallo, Martin! Bist du noch weit weg? Die beiden sind völlig durch den Wind. Es gibt da auch noch einen kleinen Bruder, Holger, zu dem sie aber schon jahrzehntelang keinen Kontakt mehr haben. Was ich bislang aus ihnen herausbekommen habe, ist nur, dass die Familie all die Jahre dachte, die Mutter habe sich aus dem Staub gemacht und die Familie sitzenlassen. Schon das wäre ja hart genug …«

Glander konnte sich eines leichten Anflugs von Stolz nicht erwehren. Lea war offiziell keine Mitarbeiterin seiner Agentur, dennoch hatten die Ereignisse im September ihr Interesse für seine Arbeit geweckt. Das war nicht von der Hand zu weisen. Lea hatte in Schottland Anglistik, Germanistik und im Nebenfach Psychologie studiert. Nach der Krebsdiagnose ihres Mannes hatte sie ihre langjährige Tätigkeit als Simultandolmetscherin aufgegeben und bisher noch nicht wieder aufgenommen. Sie hatte erst einmal wieder Boden unter den Füßen gewinnen müssen, wie sie es formulierte. Trotz einiger sehr guter Angebote schien sie nicht in ihren alten Beruf zurückkehren zu wollen. Der Fall im September hatte zudem etwas ganz anderes bei ihr in Bewegung gesetzt: Lea hatte ein paar alte Kontakte spielen lassen und sich eine Gasthörerschaft für Forensische Psychiatrie an der Freien Universität Berlin verschafft.

Erst jetzt bemerkte Glander, wie erkältet Lea klang. »Lea, mach langsam, ich bin in zehn Minuten bei euch. Ist deine Erkältung nicht besser geworden?«

»Nein, im Gegenteil, ich bin ziemlich erschöpft, aber ich kann die beiden jetzt auch nicht heimschicken. Ich meine, stell dir vor, du hast beinahe fünfzig Jahre in dem Glauben gelebt, deine Mutter habe dich und die Familie im Stich gelassen, und dann findest du heraus, dass sie ermordet wurde!«

»Ich weiß. Das muss sehr schlimm für die beiden sein. Wie gesagt, ich bin gleich da, und dann rede ich mit ihnen. Ich bin schon am Hindenburgdamm.«

Sie verabschiedeten sich, und Glander rief Merve an.

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