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Der zweite „Provinzkrimi aus Berlin“ von Beate Vera: Als Tara Berthold zu sich kommt, umgibt sie nichts als Dunkelheit. Weder weiß sie, wo sie sich befindet, noch, wie sie in das finstere Verlies gekommen ist. Erst langsam dämmert ihr, dass jemand sie entführt haben muss … Lea Storm, die Protagonistin aus „Wo der Hund begraben liegt“, schwebt auf Wolke sieben. Exkommissar Martin Glander hat es geschafft, ihr Herz zu erobern. Seinen Job bei der Kriminalpolizei hat er an den Nagel gehängt, gemeinsam mit seiner ehemaligen Kollegin Merve Celik arbeitet er nun als privater Ermittler. Der erste Fall lässt nicht lange auf sich warten: Von einer Mutter wird er beauftragt, nach ihrer verschwundenen Tochter zu suchen – Tara Berthold. Beate Vera ist erneut ein mitreißender Kriminalroman gelungen, der von der Spannung zwischen scheinbar idyllischer Stadtrandatmosphäre und dem Blick in menschliche Abgründe lebt und überdies eine herzerfrischende Romanze in sich birgt.
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Seitenzahl: 318
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Beate Vera
Wenn alle Stricke reißen
Ein Provinzkrimi aus Berlin
Jaron Verlag
Originalausgabe
1. Auflage 2015
© 2015 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
www.jaron-verlag.de
Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin. Foto: © iStock
Zeichnungen S. 6/7: Sabine Lehmann, Schwäbisch Hall
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
ISBN 978-3-95552-208-7
Für
Margot und Jürgen Schulz,
meine Eltern, die Autochthonen
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Sonnabend
1
2
3
4
5
6
7
Sonntag
8
9
10
11
12
13
14
Montag
15
16
17
Dienstag
18
19
Mittwoch
20
21
22
Epilog
Anhang
Aus Leas Küche
Leises Nachwort, lauter Dank
Ebenfalls im Jaron Verlag erschienen
Tara Berthold kam zu sich. Die Dunkelheit, die sie umgab, war vollkommen. Vorsichtig tastete sie um sich. Unter ihren Händen spürte sie Beton. Tara richtete sich auf, was ihr erst mit dem zweiten Versuch gelang. Sie hatte Kopfschmerzen, und ihr war übel. Was war mit ihr passiert? Wo befand sie sich?
Sie streckte ihre Arme aus. Erst jetzt merkte sie, dass sie eine Wand im Rücken hatte, die sich genauso kalt anfühlte wie der Boden zu ihren Füßen. Sie stand auf und streckte sich vorsichtig, ohne dass sie mit dem Kopf an eine Decke stieß. Die Luft fühlte sich feucht an.
Zaghaft wagte sich Tara an der Wand entlang, die Arme schützend von sich gestreckt und ihre Schritte zählend. Nach dem fünften berührte sie eine weitere Wand. Als sie vier Ecken gezählt hatte, war sie jeweils fünf Schritte in der Länge und vier in der Breite gegangen. Jetzt machte sie zwei Schritte in die Mitte der Dunkelheit. Ihr Fuß berührte einen Gegenstand, sie bückte sich danach. Es war eine Taschenlampe. Sie knipste sie an und leuchtete in die Dunkelheit. Mit dem Licht kam die Panik. Tara Berthold schrie, bis sie heiser war.
Lea Storm war selbst für ihre Verhältnisse früh wach und wusste sofort, dass es besser war aufzustehen, als sich noch einmal in den Schlaf zu quälen. Sie schaute auf den Mann neben sich und verspürte große Lust, ihn zu wecken. Er lag auf dem Bauch, den Kopf in ihre Richtung gedreht. Glander würde sich wieder rasieren müssen. Lea betrachtete das Daredevil-Tattoo auf seinem linken Schulterblatt. Es zeigte den rotgewandeten blinden Superhelden im Sprung, seine Waffe schwingend. Der Peitschenriemen lief über Glanders Schulter weiter und endete auf dem Bizeps. Lea stand Tätowierungen eher skeptisch gegenüber, doch an dem Mann in ihrem Bett fand sie diese Körperzeichnung äußerst apart. Glander sah entspannt aus im Schlaf, er atmete ruhig und gleichmäßig. Seit sechs Wochen wachte Lea bis auf wenige Ausnahmen jeden Morgen neben ihm auf, und wenn es nach ihr ginge, könnte das immer so weitergehen.
Talisker, Leas Schottischer Hirschhund, furchteinflößend ob seiner Größe, kam ins Schlafzimmer getrottet und sah sie aus seinen dunklen Knopfaugen an. Lea rutschte vorsichtig aus dem großen Doppelbett und nahm leise ihre Laufsachen aus dem Kleiderschrank. »Come on then«, flüsterte sie dem Hund zu und gab ihm mit der Hand das Signal zu folgen.
Lea ging für wenige Minuten ins Bad, dann schnappte sie sich unten im Flur den kleinen Laufrucksack mit Tüten und Schaufel für Taliskers Hinterlassenschaften. Den Bund mit den Schlüsseln für das Gartentor und die Terrassentür steckte sie in das Seitenfach. Sie schrieb einen Zettel für Martin, brachte ihn am Badspiegel an und ging hinaus in den Garten. Es war windig und sah nach Regen aus, doch als halbe Schottin väterlicherseits ließ sich Lea davon nicht abschrecken. In dem Haus in Stirling, in das sie nach dem Tod ihrer Eltern mit ihrer Tante Patty gezogen war, hatte es stets durch die Fenster gezogen, und auch ein warmes Badezimmer gehörte nicht zu Leas Erinnerungen an ihre Jugend in Schottland.
Leas Grundstück im kleinen Eifelviertel am südlichen Berliner Stadtrand grenzte an den BUGA-Wanderweg, der auf dem ehemaligen Grenzstreifen verlief und den Stadtteil Lichterfelde Süd mit Potsdam verband. Anlässlich des Falls der Berliner Mauer waren in einer beispiellosen japanischen Spendenaktion über eintausend Kirschbäume gestiftet worden, die nun auf dem Wanderweg eine in Deutschland einmalige Allee formten. Sonnabends konnte man um acht Uhr morgens im nach den Spendern benannten Japan-Eck und entlang der dort ihren Anfang nehmenden Kirschblütenallee in der Regel bereits regem Treiben zuschauen: Hunde wurden ausgeführt, Eltern schoben Kinderwagen, vor dem Supermarkt an der Lichterfelder Allee trafen sich Trauben älterer Damen zu ihren Nordic-Walking-Runden, und erste Jogger liefen ihre Strecken, bevor sie ihre Wochenendeinkäufe erledigten. Jetzt, um kurz nach sechs Uhr früh, lag der Weg in einer Ruhe vor Lea, die in Berlin sonst nur auf Friedhöfen herrschte. Rein geographisch betrachtet, gehörte der Weg schon zu Brandenburg. Lea zog das Gartentor hinter sich zu und machte sich mit dem großen Jagdhund an ihrer Seite auf den Weg.
Acht Wochen war es her, dass Lea Martin Glander mitten in der Nacht auf dem Mauerweg kennengelernt hatte. Sie hatte dort einen Nachbarn und eine Prostituierte ermordet aufgefunden, und Martin war als Kriminalhauptkommissar des LKA Brandenburg am Fundort gewesen. Kopfschüttelnd rekapitulierte Lea die Ereignisse vom Juli. Das Berliner LKA 1 hatte den Fall übernommen. Da Glander nicht viel von dem Leiter der Ermittlungen, Kriminalhauptkommissar Prinz, hielt, stellte er heimlich eigene Nachforschungen an. Sein Plan, Lea als Lockvogel einzusetzen und so den Mörder zu fassen, der sein Unwesen im Eifelviertel trieb, kostete sie fast das Leben. Glander konnte sie in letzter Minute retten, und Lea wusste, dass er sich selbst so schnell nicht verzeihen würde, sie in Lebensgefahr gebracht zu haben. Seine Kündigung beim LKA Brandenburg reichte er aus anderen Gründen ein. Dass daraus ein einvernehmlicher Aufhebungsvertrag mit einer ordentlichen Abfindung wurde, lag allein daran, dass am Ergebnis der Ermittlungen ein wenig geschraubt werden musste, um alle Beteiligten – allen voran Kriminalhauptkommissar Prinz – in bestmöglichem Licht dastehen zu lassen. Martin betrachtete die Sache nüchtern und steckte das Geld in den Aufbau seiner privaten Ermittlungsagentur. Lea hatte sich schwerer getan, am Ende aber auch ihren Frieden mit dem Ermittlungsausgang geschlossen. Manche Windmühlen lohnten den Kampf nicht.
Am dritten Septemberwochenende lag, obwohl es noch warm war, der Herbst bereits in der Luft. Das Laub hatte begonnen, seine Farbe zu wechseln, und erste Blätter wirbelten auf die Rasenflächen. Talisker hielt seine Nase in den kräftigen Wind. Lea blickte voller Stolz auf ihren Hund, dessen Schulterhöhe bei 84 Zentimetern lag. Sie hatte fünf Jahre zuvor keinen Moment gezögert, als ihr eine Freundin von einer Züchterin in der Nähe von Dumfries erzählte, die einen jungen deerhound abzugeben habe. Der Schottische Hirschhund zählte zu den ältesten Hunderassen der Welt. Es gab eine Zeichnung aus dem Jahr 1682, die ganz eindeutig einen Scottish Deerhound abbildete. Man vermutete sogar, dass diese Rasse schon seit dem sechzehnten Jahrhundert existierte. Der Poet Sir Walter Scott hatte einen besessen, Queen Victoria hatte vier ihr Eigen genannt und war sicherlich maßgeblich für die zu ihrer Zeit große Popularität dieser Rasse verantwortlich. Der deerhound strahlte Erhabenheit aus, und der hohe Wuchs verlieh ihm ein würdevolles Auftreten. Sein Fell war an rauhes Klima gewöhnt, und Talisker brachte trotz seiner immensen Größe bei schlechtem Wetter verhältnismäßig wenig Dreck mit ins Haus. Er besaß ein so ausgeglichenes Gemüt, dass Lea ihn oft gar nicht bemerkte, wenn er sich in ihrer Nähe aufhielt. Er war stark, ausdauernd, intelligent und stolz. Talisker zeigte ihr deutlich, wenn er sich vernachlässigt fühlte, und Lea musste jedes Mal schmunzeln, wenn er ihr beleidigt nur das Hinterteil zeigte. Gleichzeitig hatte er ein untrügliches Gespür für ihre Stimmungen. Lea liebte ihren Hund innig, und sie waren nicht erst seit dem Tod ihres Mannes Mark vor etwas mehr als einem Jahr unzertrennlich. Sie hatte sich Sorgen gemacht, wie er Glanders Präsenz in ihrem Leben aufnehmen würde, aber Talisker hatte den neuen Mann an ihrer Seite ganz offensichtlich in sein Herz geschlossen, seit dieser ihm im Juli das Hundeleben gerettet hatte.
Lea wollte heute Morgen eine längere Strecke laufen. Sie würde dem ehemaligen Grenzverlauf in Richtung Marienfelde folgen, dann ein kurzes Stück an der B101 entlang und schließlich quer durch die Felder und das Wäldchen zurück zum Jenbacher Weg joggen. Wenn sie das Tempo anzog, wäre sie in anderthalb Stunden zurück und hätte sogar schon Brötchen geholt. Sie hoffte, Glander dann noch im Bett vorzufinden. Er elektrisierte sie, jede seiner Berührungen weckte ein Verlangen in ihr, das sie lange nicht mehr verspürt hatte. Als Mark erkrankt war, hatte die Sorge um ihn jedes andere Gefühl verschlungen. Vor zweieinhalb Jahren hatte alles angefangen. Mark fühlte sich immer öfter schlecht, verlor Gewicht, klagte über Kopfschmerzen und Gelenkbeschwerden und litt ständig an einem neuen Infekt. Erst nachdem er sich beim Squash den Unterarm brach, hatte sein Arzt eine Vermutung und ließ Mark auf Knochenmarkskrebs testen. Der schreckliche Verdacht bestätigte sich, und die Krankheit befand sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. Die Prognose war nicht gut. Lea hörte auf zu arbeiten, Mark begann seine Behandlung: Chemotherapie, Bestrahlungen und Medikamente. Er schien vor ihren Augen zu verschwinden. Nur zehn Monate nach der Diagnose erlag Mark im Sommer des letzten Jahres dem Krebs. Lea beerdigte ihn und nahm mit all ihren gemeinsamen Freunden bei einem rauschenden Fest Abschied. Danach ging sie im Labyrinth ihres Schmerzes verloren. Bis sie Martin Glander begegnete.
Leas Gedankenfluss verlief wieder einmal in Mäandern. Sie hatte inzwischen akzeptiert, dass es in ihrem Innern öfter wirr zuging. Letztlich erreichte sie jedoch immer ein Geistesdelta, an dem ihr Blick ganz weit und klar wurde, und so ließ sie den Schleifen ihrer Gedanken weiter ihren Lauf. Es war wohl auch endlich an der Zeit, sich mit Max Speyer, Marks einstigem Geschäftspartner, zusammenzusetzen und zu überlegen, wie es mit dem Architekturbüro weitergehen sollte. Ebenso sollte sie sich darum kümmern, ihre eigenen alten Kontakte wiederaufzunehmen und neue Übersetzungsaufträge zu akquirieren.
Während Lea auf dem Mauerweg ihren Gedanken nachhing, griff Glander neben sich ins Leere. Er setzte sich auf und sah sich um. Keine Spur von Lea, und auch kein Laut im Haus. Er grinste zufrieden, als er an den vergangenen Abend und die darauffolgende Nacht dachte. Lea hatte ein sagenhaftes Gericht aus Schweinefilet, Oliven, Sherry und Estragon kreiert. Das Dessert hatten sie dann allerdings übersprungen. Er musste noch einmal grinsen, denn bis vor kurzem hätte er Estragon nicht einmal erkannt, wenn es sich ihm persönlich vorgestellt hätte. Leas Talente lagen aber durchaus nicht nur in der Küche. Ihm gefiel ihr Stil, angefangen von der schlichten und eleganten Art, in der sie sich kleidete und ihr Haus eingerichtet hatte, über ihren bisweilen schwarzen und sehr britischen Humor bis hin zu ihrem Whisky-Tick. Lea trank, wenn sie Alkohol konsumierte, nur Malts aus der Region Speyside. Sie war loyal und belesen, schön und sportlich, und sie küsste ganz wundervoll. Glander war kein gläubiger Mensch, aber beim Anblick ihrer achtlos auf dem Boden verstreuten Unterwäsche schickte er eine Dankeshymne in Richtung Zimmerdecke. Dafür, dass er Lea begegnet war, und dafür, dass er sie nicht wieder verloren hatte.
Gegen zwei Uhr früh war Lea mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht in seinen Armen eingeschlafen. Glander sah auf den Wecker. Es war erst halb sieben, da konnte er sich noch einmal umdrehen. Vorher ging er ins Bad, um etwas Wasser zu trinken. Am Spiegel hing ein Zettel: T und ich drehen eine Biege. Frühstück im Bett. L xxx. Die Kreuzchen standen in englischen Briefen für Küsse, das hatte sie ihm erklärt. Die Chancen, an diesem Wochenende das Schlafzimmer dauerhaft zu verlassen, waren gerade rapide gesunken.
Lea befand sich kurz hinter der Bahnunterführung und wollte auf dem überwucherten Asphaltweg an der eingezäunten Brache des ehemaligen Truppenübungsgeländes der US-Streitkräfte entlanglaufen, als nur ein gewagter Sprung ins Gebüsch sie vor der Kollision mit zwei Radfahrern bewahrte, die wie die Teufel um die Kurve gerast kamen. Die beiden jungen Männer bremsten so stark, dass ihre Reifen schwarze Streifen auf dem Beton zogen und die Hinterräder seitlich wegrutschten. Der eine der beiden ließ sein Rad fallen und kam auf sie zu.
»Frau Storm, es tut mir leid! Ich habe Sie gar nicht gesehen. Sind Sie verletzt?«
Lea war zu beschäftigt mit einer schnellen Überprüfung ihrer körperlichen Unversehrtheit, um unmittelbar loszuschimpfen. Bis auf einen kleiner Kratzer an der linken Wade und humide Botanik in ihrem Nacken war sie unversehrt. Sie blickte auf und erkannte den jungen Mann vor sich. »Tobi! Was machst du denn um diese Uhrzeit hier? Ich dachte, ich sei ambitioniert mit meinem Frühsportprogramm, aber du bist wohl noch zeitiger aufgestanden.« Die Schatten unter seinen Augen sprachen Bände, und so fügte sie schmunzelnd hinzu: »Oder habt ihr zwei die Nacht zum Tag gemacht?«
Tobias Verheugen half Lea aus dem Gebüsch heraus. Er war ein Junge aus der Nachbarschaft und ein Freund ihres Sohnes Duncan. Bis zur Zehnten waren die beiden Klassenkameraden gewesen, dann hatte Tobi eine Ehrenrunde drehen müssen. Den anderen Radfahrer hatte Lea noch nie zuvor gesehen. Er stand unbeteiligt am Rand und starrte übermüdet – oder gelangweilt – den Weg hinunter, auf dem die Jungs gekommen waren. Sie sahen wirklich beide ziemlich derangiert aus, fand Lea.
Tobi lächelte sie verschwörerisch an. »Wir sind ein bisschen versackt, um ehrlich zu sein. Meine Eltern werden mir vermutlich die Hölle heißmachen. Wir waren im Schrebergarten von meiner Oma, der ist gleich um die Ecke. Dort haben wir unsere Ruhe und können so laut Musik hören, wie wir wollen, ohne dass gleich jemand meckert.«
Lea lächelte zurück. Ihr Sohn Duncan hatte mittlerweile zum Glück einen akzeptablen Musikgeschmack, und sie selbst hörte ihre Musik ja auch am liebsten laut, aber sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie unter Duncans kurzzeitiger Techno-Phase gelitten hatte. Ein paar sündhaft teure Kopfhörer hatten damals für einen Kompromiss gesorgt. Dennoch ging nichts über einige Stunden ohne Erwachsene in der Nähe, und so, wie die beiden aussahen, hatten sie diese Freiheit reichlich begossen. »Wenn ihr einen Tipp möchtet: Trinkt reichlich Wasser, esst ein paar Bananen, dreht eine Runde an der frischen Luft, und legt euch danach noch einmal hin! Dann wird der Kater vielleicht nicht ganz so übel.« Lea zwinkerte Tobi zu und blickte dann auf seinen Freund, dessen leerer Blick weiterhin in die Ferne schweifte.
Tobi sah seinen Freund an und schüttelte vehement den Kopf. »Wir haben gar nichts getrunken, es ist einfach nur sehr spät geworden. Ist bei Duncan alles klar? Wir haben eine Weile nicht gechattet.«
Leas Sohn studierte seit einem Jahr Landschaftsarchitektur und -planung an der Uni Kassel. »Es geht ihm gut. Er muss sich ordentlich ins Zeug legen, aber das macht ihm nichts aus. Vielleicht könnt ihr euch ja treffen, wenn er das nächste Mal hier ist. Sag mal, bist du eigentlich noch in der Theater-AG an der Schule?«
Duncan und Tobi waren der AG Theater und Musik in der neunten Klasse beigetreten. Tobi war jetzt im dritten Semester der Oberstufe. Er nickte. »Ja, wir proben Der zerbrochne Krug. Die Aufführung ist in drei Wochen.«
»Kleist«, freute sich Lea. »Das Stück habe ich während des Studiums auch mal gelesen. Welche Rolle hast du?«
Nicht ohne Stolz erwiderte Tobi: »Ich spiele den Richter.«
»Mir träumte, es hätt’ ein Kläger mich ergriffen«, zitierte Lea. »Ich bin beeindruckt. Und dein Freund hier, ist der auch dabei?«
Der junge Mann schien plötzlich wie verwandelt. Er legte ein strahlendes Lächeln auf, trat einen Schritt auf Lea zu und gab ihr die Hand. »Entschuldigen Sie, wie unhöflich von mir! Ich bin Leander Horten. Tobi und ich haben zusammen die Leistungskurse Mathe und Sport. In dem Stück spiele ich auch mit. Ich gebe den Licht.«
»Lea Storm.« Junge Männer mit Manieren, wie angenehm!
Tobi schaute auf seine Uhr. »Wir müssen weiter, Frau Storm. An diesem Wochenende findet das Bouleturnier der Oberstufe statt. Wir spielen nachher im Park an der Bäkestraße und sollten bis dahin wieder fit sein. Duncan wird mir bei dem Turnier fehlen, Leander ist nicht annähernd so ein guter Spieler wie er. Noch mal sorry für den Schreck! Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Bis bald!« Tobi zog seinen Freund an der Jeansjacke. Dem passte die Bemerkung über sein schlechtes Boulespiel sichtlich ganz und gar nicht, aber er sagte nichts, und die beiden stiegen wieder auf ihre Räder.
»Mach’s gut, Tobi, bis bald!« Lea sah den Jungs einen Moment lang nach. Sie diskutierten heftig miteinander, entfernten sich aber so schnell, dass Lea nichts verstehen konnte. Tobi hatte sich verändert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er wirkte älter. Nein, er wirkte härter. Aber der Junge hatte es auch nicht leicht.
Während ihres anschließenden Laufs ließ sich Lea das Gespräch mit den beiden jungen Männern noch einmal durch den Kopf gehen. Tobi hatte nervös gewirkt, vermutlich hatte er ein schlechtes Gewissen seinen Eltern gegenüber. Lea wusste, dass die sich sehr um ihre beiden Kinder sorgten. Sie zog das Tempo an. Schließlich hatte sie ein ausgesprochen attraktives Ziel.
Tara Berthold war zu erschöpft, um weiter zu schreien. Ihr Hals schmerzte, und sie hatte Durst. Erneut schaltete sie die Taschenlampe ein und leuchtete ihre Umgebung aus. Sie befand sich in einem Keller mit einer Klappe an der Decke. Tara versuchte, die Klappe zu erreichen, aber die lag zu hoch. Es gab auch nichts, worauf sie sich hätte stellen können, der Raum war völlig leer. Was, um Himmels willen, war denn nur mit ihr passiert? Tara hatte immer noch keine Erinnerung daran, wie sie hierhergekommen war. Von ihren Schläfen ausgehend hämmerte ein pochender Schmerz die Schädeldecke entlang, und ihr Magen fühlte sich wund und hohl an. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, oder gar, welcher Tag, konnte also auch nicht wissen, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Sie lehnte sich gegen die nackte Steinwand und begann, mit leiser Stimme Schillers aufzusagen:
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