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»Ab und zu ist es schön, sich einfach anzusehen, was Sprache alles kann.« Warum sagen wir, der Wein ist »alle«, wenn die Flasche leer ist, »geben etwas auf« - den Brief wie den Plan - oder benutzen »mutterseelenallein« als vermeintlich ur-deutsches seelenvolles Wortgebilde? Waltraud Legros zerlegt gängige Alltagswörter in ihre Bestandteile, nimmt Wendungen wie »nicht ganz bei Trost sein« unter die Lupe und berichtet von etymologischen Wurzeln. So erfahren wir in diesem äußerst unterhaltsamen und dabei lehrreichen Buch, was die Wörter über die Sprache erzählen – und diese wiederum über uns, die wir sie benutzen, verändern und erneuern.
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Seitenzahl: 223
Waltraud Legros
Was die Wörter erzählen
Eine kleine etymologische Fundgrube
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe 2010
©1997Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978-3-423-41192-9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-20642-6
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Vorwort
Wanderwörter
Abenteuer
kaputt
Sanssouci
Streik
heil
heuer
Kartoffel
Stiefmütterchen
Alltagswörter
heißen
die Deutschen
arbeiten
verdienen
faul
Tüchtigkeit
Schuld
Geld
Macht
Recht
mündig
gehorchen
Bürger
Biedermeier
Wortspaltereien
meinen
aufgeben
Opfer
Gift
fasten
Leben
Seele
Tod
Trost
denken
auswendig
Zweifel
Baukasten Sprache
Satzbau
Buchstabenprozessionen
Enttäuschung
urig
nicht
Begriff
Buchstabe
Umlaut
lesen
Baumeister
Eine junge Sprache
Wortregister
|4|Für Frau Fabian, unsere Tante Julie, die so gern Geschichten erzählte, wie sie in keinem Buch stehen.
Jeder von uns hat gelegentlich in seiner Heimatstadt Fremdenführer gespielt und diese seltsame Erfahrung gemacht: Man wird von einer nie gesehenen Hausfassade überrascht, obwohl man seit Jahren täglich an ihr vorbeigeht; man entdeckt staunend einen Erker, einen Torbogen, ein altes Ziegeldach, weil unser Gast stehenbleibt, ein Photo macht oder wissen möchte, was die Inschrift über dem Tor bedeutet...
Genauso ergeht es dem, der seine Muttersprache als Fremdsprache unterrichtet. Vertrautes sieht er wie zum ersten Mal, Selbstverständliches wird fragwürdig, er erfährt die eigene Sprache als fremdartig: als gleichzeitig bekannt und sonderbar. Das ist nicht etwa nur anfangs so, sondern immer wieder. Und man erfährt nicht nur seine Sprache aus einer anderen Perspektive, sondern natürlich auch sich selbst. Denn warum lernt der andere unsere Sprache? Doch nicht nur, weil sie als Unterrichtsfach auf dem Stundenplan steht oder damit er im Fall einer Reise nach dem Weg fragen kann. Er lernt unsere Sprache ja auch, um uns besser zu kennen und zu verstehen, um ein wenig zu wissen, aus welchem Stoff wir gemacht sind. Und dieser »Stoff« ist nicht nur unsere Geschichte, unsere Lebensweise, unsere »Kultur«, wie wir zu sagen pflegen, sondern vor allem– das heißt zuerst und grundlegend– unsere Sprache.
Aus dieser Perspektive also, aus der das Bekannte als Fremdes betrachtet wird, entstanden die Wortgeschichten dieses Buchs. Anlaß war jedesmal eine konkrete Situation im Dialog zwischen Menschen verschiedener Muttersprachen, im Dialog zwischen diesen Sprachen, wo ich durch Staunen, Fragen und »Fehler« meiner Studenten, meiner Kinder oder meiner Freunde die eigene Sprache »entdeckte«. Ich wurde aufmerksam auf so manche Ungereimtheit der deutschen Sprache, auf ihre |8|schöpferische Lebendigkeit, auf die oft abenteuerlichen Lebenswege ihrer Wörter.
Freilich gibt es bei solchen Entdeckungen nicht nur die freudigen Aha-Erlebnisse, sondern auch verblüfftes Schweigen, wenn zum Beispiel Wörter wie »Kartoffel«, »Marzipan« oder »Porzellan« plötzlich in leere Silben zerfallen, nur weil man sie ein wenig unter die Lupe nehmen wollte. Oder wenn Wörter wie »aufgeben«, »faul«, »kosten«, »Rolle«, »versuchen« verschiedene Bedeutungen anbieten und sich die Frage stellt, ob das nun Zufall sei oder nicht. Auch wenn Ausdrücke wie »bei Trost sein« oder »das gehört sich nicht« von den Studenten wörtlich übersetzt werden, also keinen Sinn geben, weil man sich von der Vokabel »Trost« oder »gehören« freidenken muß, um die Bedeutung des Ausdrucks nicht nur zu registrieren, sondern auch zu verstehen. Denn mit »richtig« oder »falsch« ist es ja nicht getan. Was ist »falsch«, wenn ein Student in einem Aufsatz über Heinrich von Ofterdingen schreibt: »Er sehnsucht die ideale Frau«? Ist dieses Verbkonzentrat aus romantischer Sehnsucht und träumerischem Suchen wirklich ein »Fehler«, nur weil noch kein deutscher Dichter auf die Idee gekommen ist, das Verb »sehnsuchen« zu bilden? Warum, fragt der Deutschlernende, ist »Schwerarbeit« richtig, »Schwerkoffer« aber falsch? Warum kann ich nicht sagen: »Ich bedeute den Text«, wohl aber »ich beantworte den Brief« oder »ich beschreibe das Bild«? Man sieht: Mit Logik ist solchen »Fehlern« nicht beizukommen. Sprache ist eben nicht logisch. Sondern eigensinnig, unergründlich, unberechenbar.
Dennoch hat bekanntlich jede Sprache ihre Regeln und Gesetze. Man glaube aber nicht, daß nicht auch die einfachste Regel zum Diskussionsthema werden kann. Wer zum Beispiel Franzosen begreiflich machen will, wie ein deutscher Satz konstruiert ist, wo das »nicht« hingehört, wie man Wörter zusammensetzt und auseinandernimmt, erntet zunächst ungläubiges Kopfschütteln. Wie denken und fühlen Menschen, fragen sie, die alles »verkehrt« sagen? Wie verhalten sich Menschen, die |9|von klein auf daran gewöhnt sind, sich auf keinen Satz zu verlassen, bevor nicht das sinngebende Schlußwort gefallen ist?
Fragen wie diese machen natürlich hellhörig und neugierig, und wer einmal angefangen hat, der Sprache beim Reden zuzuhören, die Wörter beim Wort zu nehmen oder in sie hineinzuhorchen, der kommt aus dem Fragen nicht mehr heraus: Wie ist das nun eigentlich mit der vielzitierten Beherrschung der Sprache? Wer beherrscht da wen? Denken wir mit Worten oder in Worten? Wer ist zuerst da, unsere Gedanken oder die Sprache? Denken wir womöglich immer nur so viel und so weit wie die Wörter, die wir kennen oder zu kennen glauben?
Sicher: Wir Menschen haben die Sprache »erfunden«, wir arbeiten an ihr, feilen und basteln ständig an ihr herum, heben vorübergehend gewisse Wörter auf Podeste, schicken andere von der Bühne, treiben Export- und Importgeschäfte mit ihnen, je nach Bedarf. Doch arbeitet auch die Sprache an uns. Wir werden von ihr geprägt, vielleicht mehr als wir es wahrhaben wollen. Denn mit der Muttersprache lernen wir ja nicht nur eine bestimmte Sprache verstehen und sprechen, wir lernen gleichzeitig, in ihr zu denken, Gefühle zu unterscheiden, wahrzunehmen. Wir erfahren die Welt, die anderen und uns selbst durch die Wörter und Strukturen dieser ersten Sprache, die wir »Muttersprache« nennen. Warum wohl? Doch nicht nur, weil sie uns in der Regel zuallererst durch die Stimme und die Worte unserer Mutter vermittelt wird, sondern wohl auch, weil wir uns in dieser Sprache daheim fühlen: geborgen und in Sicherheit.
Dennoch liegt aber gerade in diesem schönen Gefühl der Geborgenheit auch die Gefahr, das Gewohnte und Bekannte für so selbst-verständlich zu halten, daß es uns gar nicht in den Sinn kommt, es in Frage zu stellen oder auch nur kennen-zulernen. Das mag Goethe gemeint haben, als er behauptete: »Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.« Doch müßte man zweierlei hinzufügen: Selbst wenn wir später die Erfahrung machen, daß andere Sprachen die Welt anders wahrnehmen und benennen, bleibt unsere erste Sprache doch |10|lange Zeit unser Maßstab für das »Normale«. Sie bleibt Muttersprache im Sinne von Matrize. Und zweitens wird die Einsicht, daß Wort und Ding, Sprache und Wirklichkeit nicht identisch sind, im Grunde niemandem erspart, mit oder ohne Fremdsprachen. Denn auch die Muttersprache vermittelt ja nicht ein einziges Weltbild, sondern gibt jedem die Möglichkeit, seine persönliche »Ansicht« auszudrücken, ein Glas »halbvoll« oder »halbleer« zu nennen.
So ist also der Umweg über »fremde« Sprachen nicht die einzige Möglichkeit, seine eigene Sprache mit anderen Augen zu sehen. Man kann sich auch vorstellen, daß man sie jemandem zeigen will, so wie man einem Besuch eben seine Stadt zeigt. Oder sein Haus, seinen Garten, sein Familienalbum. Denn auch das, was wir am besten zu kennen glauben– fast möchte ich sagen: gerade das, was wir am besten zu kennen glauben–, kann uns in seiner plötzlichen Fremdheit überraschen.
Jede der Wortgeschichten dieses Buchs ist also ein Spaziergang durch bekannte Landschaften, eine Einladung, Vertrautes neu zu entdecken. Jede ist ein geschlossenes Ganzes, auch wenn dieses Ganze nie vollständig ist, es nicht sein kann, da wir uns ja in einer lebenden Sprache bewegen. Es kann vorkommen, daß die Geschichten ineinander übergreifen, sich kreuzen oder einander gar in die Quere kommen. Auch das liegt in der Natur der Sprache: Es gibt in ihr keinen Anfang, keinen Mittelpunkt und kein Ende.
Wenn die verschiedenen »Wortschaften« dennoch nach vier lockeren und unverbindlichen Themen gruppiert sind, so geschah dies also nicht, um irgendeine Hierarchie zu suggerieren, sondern um dem Leser einen der möglichen Wege vorzuschlagen: von den reiselustigen Wanderwörtern über gängige Wörter unseres Alltags und solche, die uns durch ihre schillernde Vielschichtigkeit erstaunen, bis hin zu einigen Besonderheiten deutscher Wortgebilde und Satzstrukturen. Denn wirklich spannend wird es ja erst, wenn wir sehen, wie aus Wörtern Sprache entsteht.
»Die deutsche Sprache kommt ab, eine andere schleicht sich ein!« Dieser Warnruf stand nicht etwa gestern in der Zeitung, sondern im Jahre 1689 im ›Altberliner Bilderbogen‹. Damals klagte ein gewisser Hans Ludwig über den »französisch-deutschen Modegeist«, ähnlich wie heute so mancher gegen die anglo-amerikanischen Eindringlinge wettert, welche unsere ehrwürdigen europäischen Kultursprachen bedrohen. »Heute muß alles französisch sein«, hieß es vor über dreihundert Jahren, »wer nicht französisch kann, kommt zu Hofe nicht an,... wer nicht französisch redet, der muß ein Dummkopf sein.« In die heutige Zeit übersetzt, ergäbe das etwa: »Wer heute nicht mit einem handy durch die Straßen rennt, sich nicht regelmäßig um seine fitness kümmert, wer von Aussehen und Kleidung spricht statt von look und outfit, der ist nicht etwa ein Dummkopf, viel schlimmer: Er ist einfach nicht in!« Und man müßte hinzufügen, daß die Anglizismen gar nicht daran denken, »sich einzuschleichen«, im Gegenteil: Sie kommen angesurft und bestimmen, was Sache ist. Wie soll man sich dagegen wehren?
Die Frage ist alt wie die Welt. Schon immer haben Menschen, die andere Länder eroberten, ihre Wörter mitgebracht, ihre Gedanken und Bräuche, ihre Siebensachen und deren Namen. Caesar und das Christentum brachten die lateinische Sprache in die Länder nördlich der Alpen; die Kreuzzügler, die Ordensbrüder des Deutschen Ritterordens, die Kaufleute der Hanse trugen deutsche Vokabeln bis weit über die Grenzen ihres angestammten Landes; die von Richelieu angeworbenen Söldnerheere des Dreißigjährigen Kriegs, später die aus Frankreich vertriebenen Hugenotten, noch später die französischen Revolutionsemigranten bescherten der deutschen Alltagssprache |12|eine Unzahl von Wörtern, die wir aus unserem Wortschatz nicht mehr wegdenken könnten. Oder haben wir etwa ein deutsches »Pendant« gefunden für »Bluse«, »Soldat«, »Balkon«, »Partei« oder »Garage«?
Und so können wir auch heute nicht verhindern, daß die Wörter mit den Dingen ins Land kommen. Wir haben weder die Jeans erfunden, noch das dazugehörige T-shirt, auch nicht den Computer, den Job, den Streß oder den Walkman. Barbarisch sind nicht die Wörter einer anderen Sprache, barbarisch ist die Art, mit ihnen umzugehen: Powerfrau, Haarspray, Fitmachersind hybride Gebilde– wie übrigens auch Herzinfarkt, Pferdelotto oder Ölkrise … Doch wenn jemand lieber sagt, er sei down, wenn er sich mies fühlt, und high, wenn es ihm richtig gutgeht, dann sollte man ihm das nicht übelnehmen. Die Zeit wird schon zu wählen wissen und uns sagen, was bleiben soll und was nicht. Auch »fair«, »charmant«, »Skandal« und »Galerie« waren einmal solche Modewörter, und sie haben sich, wie viele andere auch, in der deutschen Sprache bestens eingelebt.
Wörter wandern eben. Sie sind Handelsreisende in Sachen Weltanschauung und Lebenskunst (was immer man darunter verstehen mag), und sie haben sich nie besonders um Staatsgrenzen oder Bündnisse gekümmert. Viele waren Eintagsblüten einer Mode, andere haben Kassandrarufen von drohender Überfremdung sowie erzürnten Sprachpolizisten tapfer standgehalten, wieder andere sind innerhalb des Landes umgezogen. Und alle haben sie etwas zu erzählen. Was wären wir, was wären unsere Sprachen ohne diese Wanderwörter?
Es gibt eine ganze Reihe von Wörtern, die wir zwar als deutsch empfinden, die sich aber weder in sinnvolle Einheiten zerlegen noch als Ableitung oder Abwandlung von deutschen oder germanischen |13|Stammwörtern identifizieren lassen. Abenteuer zum Beispiel: Ob es sich um ein waghalsiges Unternehmen handelt, um eine nicht ungefährliche Reise oder eine Liebesaffäre, wir wissen alle, was das Wort bedeutet und was in ihm mitschwingt: Spannung, Aufregung, Gefahr, Ungewöhnliches, Unerwartetes. Trotzdem stockt die Feder, und nicht nur bei Kindern, wenn wir es schreiben sollen. Wie von selbst bietet sich Abend-teuer an, was zwar den Sinn nicht gerade erhellt, sich aber zumindest deutscher ausnimmt. Und Kinder kommen mit »Abend«, das sie mit Dunkelheit, Nacht, mit Ins-Bettgehen-Müssen verbinden, sicherlich besser zurecht als mit »Aben«, das doch wohl wirklich nichts aussagt.
»Abenteuer« ist, wie die Erwachsenen wissen, ein teilweise eingedeutschtes Lehnwort. Es kommt vom lateinischen adventura und bezeichnet das, »was auf einen zukommt«, also ein kommendes Ereignis. Genaugenommen ist »Abenteuer« unserem friedlichen »Advent« näher als irgendeinem aufregenden Wagnis. Doch die verschiedenen Sprachen haben das Wort aufgenommen und seinen Sinn verändert: Das lateinische adventura wurde zum italienischen avventura, dann zum französischen aventure und schließlich zum deutschen »Abenteuer«.
Auch Marzipan läßt sich nicht in genußvolle Silben zerlegen. Die Italiener nennen es marzapane, die Spanier mazapan, die Franzosen massepain, und dies sind lauter Wörter, die in der jeweiligen Sprache ebensowenig nach Mandeln, Zucker und Rosenwasser schmecken wie »Marzipan«. Etymologen (diese Sprach- und Wortforscher, die ihre Berufsbezeichnung vom griechischen etymos – »wahr«– herleiten und die es also wissen müssen) erzählen von einer langen Reise: Zur Zeit der Kreuzzüge entdeckten die Kreuzfahrer mautaban, ein arabisches Wort, das das Bildnis Christi auf den byzantinischen Münzen bezeichnete. Nach und nach wurde mautaban der Name für ein Hohlmaß, dann für eine Schachtel und schließlich für das süße Mandelbrot, das diese Schachteln enthielten. Im 16.Jahrhundert |14|suchte die Volksetymologie nach einer etwas weniger entlegenen Herkunft und behauptete, Marzipan käme von Marci panis, dem »Markusbrot«. Warum nicht? Die sogenannte Volksetymologie ist zwar keine Wissenschaft, aber es geht ja vor allem um die schöne Geschichte. Schließlich heißt der »Etymologe« wörtlich übersetzt »Wahr-sager«, und dem geht es bekanntlich mehr um Magie als um Wahrheit.
Porzellan, das feine, zerbrechliche, hat immerhin einer ganzen Reihe von Verwandlungen standhalten müssen, bis es zum Stolz unserer Vitrinen wurde. Angefangen hat es ganz trivial mit dem lateinischen porcus, dem Schwein, und seinem italienischen Diminutiv porcella, zunächst Schweinchen, dann aber familiäre Bezeichnung für die weibliche Scheide. Die Venezianer veredelten Bild und Wort, indem sie auch eine Meeresmuschel– oder vielmehr eine Meeresschnecke mit weißglänzender Schale– porcella nannten. Und als das erste Porzellan aus China kam, meinten sie zunächst, diese hauchzarten Gebilde seien aus zerriebenen weißen Muscheln hergestellt und nannten diese Materie porcellana, das das Deutsche dann als »Porzellan« übernommen hat.
Der Hugenotte hat eine andere Reise hinter sich: »Eidgenossen« nannten sich die Genfer, die sich 1520 gegen den Herzog von Savoyen verbündet hatten. Die Franzosen verballhornten diese »Eidgenossen« zu eyenets, dann zu huguenots, und bezeichneten mit diesem Spottnamen alle Anhänger des Calvinismus, die um die Mitte des 16.Jahrhunderts immerhin ein Fünftel der französischen Bevölkerung ausmachten. Als 1685Ludwig XIV. das Edikt von Nantes aufhob (welches seit 1598, nach blutigen Machtkämpfen zwischen protestantischem Adel und katholischem Königshaus, Religionsfreiheit gewährt hatte), suchten viele Calvinisten Zuflucht im Ausland, vornehmlich im protestantischen Norden Deutschlands, wo sie »Hugenotten« genannt wurden.
|15|Auch unsere Boulevardpresse war mit einer Rückfahrkarte unterwegs. Das so französisch klingende Wort boulevard ist in der Tat deutschen Ursprungs. Es ist eine Lautassimilation von »Bollwerk«, dem Festungswall, einem Wort, das außer in Resten alter Stadtmauern nur noch im »Böllerschießen« weiterlebt, und eben in der zitierten »Boulevardpresse«. Denn diese Gazetten wurden zunächst– in Frankreich zumindest– in den peripheren Stadtvierteln verkauft, auf den boulevards, die etwa unserem »Ring« oder »Gürtel« entsprechen, also ursprünglich der Festungsmauer entlangliefen und daher immer kreisförmig sind (im Gegensatz zu den geradlinigen avenues). Inzwischen ist die Boulevardpresse allerdings auch im Stadtinneren daheim, und sie kommt manchmal einem verbalen Böllerschießen recht nahe. Aber dafür wollen die Etymologen bitte nicht verantwortlich gemacht werden!
Daß mutterseelenallein ein eingewandertes Wort ist, mag erstaunen. Mutter-seelen-allein: deutscher geht’s doch nicht! Von Mutter und Vater, Gott und der Welt verlassen, sozusagen ein Superlativ der Einsamkeit. Und das bedeutet das Wort wohl, nur ist es eben nicht so urdeutsch, wie wir meinen, denn es kam folgendermaßen zustande: Am Anfang war da das französische moi tout seul, »ich ganz allein«. Dieses moi tout seul ergab in der phonetischen Eindeutschung zunächst »mutterseel«. Ein schönes Wort zwar, aber der Sinn war weg. Man fügte also den Sinn hinzu, »allein«, und schuf das schöne deutsche »mutterseelenallein«.
Wer totschick (nach exakter Rechtschreibung eigentlich »todschick«) in voller Gelassenheit aussprechen könnte, würde natürlich das französische chic heraushören. Aber eben: »totschick« ist so schick, daß man Riechsalz braucht, um den Schock zu überleben– wobei mit »man« natürlich die beste Freundin oder sonst ein Opfer gemeint ist, denn »schick« ist nicht unbedingt »schicklich« (ein seit dem 14.Jahrhundert |16|belegtes deutsches Wort), und »totschick« ist nicht zufällig »der letzte Schrei«. Ach, diese Sprache! In Wirklichkeit ist es nämlich viel weniger aufregend: »totschick« kommt von tout chic, heißt also einfach »ganz schick«, oder total elegant, oder überaus vornehm, wie man will. Doch ist es bestimmt kein Zufall, daß sich »totschick« sozusagen wie von selbst angeboten hat. Das schöne Geschlecht hat eben auch seine Waffen, und daß diese tödlich sein können, ist ja bekannt.
Das Wort Muckefuck wiederum klingt eher barbarisch, aber barbarisch ist ja auch das Getränk, das es bezeichnet. Dennoch kommt auch dieser seltsame Name aus dem Französischen. Als nämlich am Ende des 18.Jahrhunderts in Preußen der Kaffee knapp und teuer zu werden begann, entdeckte ein findiger Mann namens Ohlde, daß man aus der Wurzel der Wegwarte, auch Zichorie genannt, nach entsprechender Behandlung– nämlich rösten, mahlen und aufgießen– ein kaffeeähnliches, oder doch zumindest kaffeefarbenes Getränk brauen konnte. Dieses wurde von den Berlinern französischer Abstammung mocca faux, »falscher Kaffee«, genannt, und die Berliner machten daraus den »Muckefuck«, ihren Unkaffee für Notzeiten.
Die Wiener versuchten es ebenso erfolgreich mit gebrannter Gerste, der einige Kaffeesieder auch noch andere, höchst geheimnisvolle Zutaten beimengten. Es ging den Wienern ja nicht so sehr um den Kaffee als um die Erhaltung ihrer Kaffeehäuser, dieser Hochburgen des geistigen Lebens. Dennoch machte auch der Ersatzkaffee der Wiener Karriere, und zwar unter dem Namen »Feigenkaffee«. Völlig korrekt: Es war ja auch kein echter Muckefuck.
Für unser inzwischen zum Diätbrot avanciertes Pumpernickel geben die deutschen Sprachforscher poesielos an, das Wort sei ursprünglich ein Schimpfwort für einen ungehobelten Kerl gewesen, eine Art »Furzheini«, und später habe man auch die vermeintliche Ursache, nämlich das blähende und schwer verdauliche |17|Schwarzbrot so genannt. Wie aber war »Pumpernickel« zum Schimpfwort geworden? Nun: Bergknappen, welche im Erzgebirge aus dem kupferfarbenen Nickel vergeblich Kupfer zu machen versuchten, sollen diesen Mißerfolg dem bösen Bergkobold, dem »Kupfernickel«, in die Schuhe geschoben haben, und so sei der ursprüngliche Kurzname für Nikolaus, »Nickel«, zum Schimpfnamen geworden. »Pumper«, heißt es weiter, käme vom Verb »pumpern«, dessen Effekt sich schon bei Luther recht bombastisch anhörte: »bombart«. Dieses Wort wurde dann bei den alles übertreibenden Franzosen zu bombarder, und zur bombe, die wir uns dann wieder geholt haben für die »Bombe«, »bombardieren«, das »Bombardement«, aber auch für den »Bombenerfolg« oder das »Bombengeschäft«.
Die Franzosen erzählen die Geschichte anders: romantischer, humorvoller und vor allem... französischer: Als die Truppen Napoleons gegen Preußen ins Feld zogen, erzählte man mir im Volkskundemuseum des elsässischen Wissembourg, kamen sie durchs Elsaß, wo den Soldaten Schwarzbrot serviert wurde. Die Soldaten, allen voran die grognards – die alte Garde–, fanden dieses angebliche Brot unzumutbar und erklärten, es sei »bon pour Nickel«: gerade gut genug für Pferde. Später erfuhr ich aus ebenso befugter Quelle, »Nickel« sei das Pferd Napoleons gewesen, so genannt wegen der weißgrauen Farbe, denn das Metall trägt im Französischen tatsächlich den deutschen Namen: nickel. Doch ob unser Pumpernickel damals wenigstens den Pferden geschmeckt hat, konnte mir niemand sagen.
Mit dem Wörtchen alle, etwa in dem Ausdruck »das Brot ist alle«, kommen wir wieder nach Berlin zurück. Die Anekdote erzählt, daß zwei hugenottische Schwestern, die in Berlin ihre Stickereien und Spitzen verkauften, ihren Kunden »c’est allé« sagten, »es ist (aus)gegangen«, wenn etwas nicht mehr auf Lager war. Wenn es also in Schillers ›Räubern‹ heißt: »Der Wein ist all’ in unsern Schläuchen«, so bedeutet das nicht, daß er sich samt |18|und sonders in den Eingeweiden befindet, wie dies von einem– ausgerechnet französischen!– Übersetzer angenommen wurde, sondern ganz schlicht, daß die Weinschläuche leergetrunken sind und es also keinen Vorrat mehr gibt.
Es darf uns nicht wundern, daß französische Vokabeln in der deutschen Sprache so zahlreich sind. Das kommt nicht nur daher, daß im 17. und 18.Jahrhundert an den deutschen Fürstenhöfen vorwiegend, wenn nicht ausschließlich französisch gesprochen wurde. Schon die Söldnerheere des Dreißigjährigen Kriegs haben sprachliche Spuren hinterlassen, später haben Hugenotten und Revolutionsemigranten vorwiegend in Preußen Zuflucht gesucht und vor allem die Berliner Alltagssprache mit allerlei französischen Wörtern bereichert, die ihre ausländische Herkunft heute nur noch dadurch verraten, daß sie auf der letzten Silbe betont werden. Ob es sich um Speisen handelt– Boulette, Haschee, Kotelett, Filet, Omelett –, um Kleidung und Mode– Bluse, Kostüm, Manschette, Volant, Toilette, Taille, Friseur, elegant –, um die Armee– Militär, Soldat, Bravour, Revanche, Sabotage –, oder um gängige Alltagswörter– Cousine, Kommode, Parterre, Salon, Balkon, Vase, Skandal, Galerie, Partei, Garage, Maschine, Büro –, alle diese »Einwanderer« sind in der deutschen Sprache heimisch geworden. Sicher: Es soll am Ende des 17.Jahrhunderts jeder fünfte Berliner französischer Abstammung gewesen sein, hundert Jahre später immerhin noch jeder zehnte, obwohl sich die Berliner Bevölkerung inzwischen vermehrfacht hatte.
Doch Wien steht– auch ohne Einwanderungswellen– nicht hinter Berlin zurück, wenn es um französische Lehnwörter geht. Nur werden dort Wörter wie gênant, galant, Trottoir, Blamage, Tête-à-tête, Vis-à-vis, amüsant ... allesamt möglichst durch die Nase ausgesprochen, was ihnen einen Hauch von Snobismus verleiht (man denke an Helmut Qualtingers ›Der Papa wird’s scho richten‹), manchmal auch einen ironischen Unterton. So ist eben ein Malheur kein wirklich ernstzunehmendes |19|Unglück, und wer sich geniert, schämt sich nicht wirklich, er ziert sich bloß.
Aber auch ganz unprätentiöse, Verzeihung: bescheidene Wiener Alltagswörter kommen aus dem Französischen. Wie zum Beispiel das köstliche Weinschato, das nicht auf château, also irgendein königliches Schloß anspielt, sondern von chaude eau kommt, dem heißen Wasser. Womit aber nicht eine der Zutaten gemeint ist, sondern die Zubereitung im Wasserbad. Das volkstümliche Lawur wiederum kommt von lavoir, dem Waschhaus, das die Österreicher zwar auf bescheidenste Dimensionen reduzierten, durch den französischen Namen aber deutlich über die gewöhnliche Waschschüssel stellten. Doch so sehr französische Vokabeln dem österreichischen Ohr auch schmeicheln mögen: Wer würde den Mut haben, einem Wiener zu sagen, daß sein urwienerischer Fiaker aus Paris kommt? Genauer: aus der rue St. Antoine und der Droschkenstation vor dem Hotel »Saint Fiacre«?
Glauben wir aber bloß nicht, daß es anderen Sprachen besser ergeht. So nennen zum Beispiel die Franzosen das Sauerkraut choucroute: Das Wort benennt zwar in der ersten Silbe das »Kraut«, chou, bezeichnet aber mit der zweiten bestenfalls– das heißt, wenn man dem u den hütchenförmigen Akzent aufsetzt– croûte: die »Rinde«, die »Kruste«, in der Umgangssprache auch so etwas wie die »Jause«. Wahrscheinlich kam das Sauerkraut über das elsässische Sürkrüt in die französische Sprache, das Ergebnis jedenfalls besteht aus zweimal Kraut, einmal als sinnvoller chou und dann als phonetische Angleichung an Kraut: croute. Was nun das Gericht selbst betrifft, so gilt es in Frankreich als elsässische Spezialität, deren Üppigkeit keinen Platz läßt für säumige Fragen über Herkunft und Sinn des Wortes.
|20|Auch das Wort Tunnel ist nicht englischer Herkunft, obwohl doch die Engländer die ersten Tunnelbauer waren. Aber die sachlichen Briten können auch romantisch sein: Als sie nämlich am Ende des 18.Jahrhunderts einen Namen suchten für die neuen Bahnstollen, die sie durch die Berge gebohrt hatten, wollten sie dem düsteren Loch wenigstens einen hübschen Namen geben. Sie fanden, daß ja auch die schattigen Gartenlauben in den Parks der französischen Schlösser so ähnlich aussähen und machten aus der französischen tonnelle, der Laube also, ihren tunnel – ein Wort, das dann die Deutschen 1839 entlehnt haben, als nämlich zwischen Leipzig und Dresden der erste deutsche Tunnel gebaut wurde. Jedoch auch die Franzosen nennen unterirdische Verkehrswege tunnels und denken dabei, wenn überhaupt, weder an die kühle tonnelle noch an deren Urgroßmutter, die alte tonne. Jene tonne nämlich, welche die Bezeichnung für ein großes Faß war und von der wir Deutsche nichts Geringeres als unsere »Tonne«, das »Tonnengewölbe« und... die »Mülltonne« hergeleitet haben.
Nicht einmal für den urenglischen Sport, das Tennis, ist ein angelsächsischer Ahne Pate gestanden. Das Wort ist– noblesse oblige! – französischer Herkunft. Da nämlich der Tennissport in seinen Anfängen noch eher ein stilvoller Zeitvertreib für Leute aus besten Kreisen war, ging’s auch dementsprechend vornehm zu. So sehr, daß der Aufschläger seinem Partner ein höfliches »Tenez!« (»Bitte, nehmen Sie!«) zurief, wenn er den Ball losschickte. Aus diesem »Tenez!« wurde »Tennis«. Auch dieses Wort haben sich die Franzosen zurückgeholt. Sie nennen den Sport »tennis« und sind überzeugt, sich einer angelsächsischen Vokabel zu bedienen.
Neben solchen Irrtümern gibt es aber auch regelrechte Fehler in der Übersetzung. Eines der berühmtesten Beispiele ist wohl der Erlkönig, der im Französischen als Roi des Aulnes geradezu zum Inbegriff eines gewissen Deutschland geworden ist: Der |21|Roi des Aulnes steht bildhaft für den neblig-düsteren deutschen Norden– etwa in der Art von Droste-Hülshoffs »O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn«–, er ist für die Romanen, mehr noch als Vater Rhein, Undine oder die Lorelei, das andere schlechthin. Daß in Goethes ›Erlkönig‹, wenn überhaupt Bäume, so Weiden erwähnt werden (»es scheinen die alten Weiden so grau«) und nicht Erlen, also aulnes, ist den ersten Übersetzern entgangen. Doch auch wenn man inzwischen weiß, daß »Erlkönig« vom dänischen ellerkonge kommt und also »Elfenkönig« heißt, ist der Irrtum nicht mehr rückgängig zu machen: Der Roi des Aulnes ist zum Begriff geworden und hat als solcher Karriere gemacht. Auch das kann vorkommen.
Wohl wenige deutsche Wörter haben sich international so beliebt gemacht wie kaputt. Sicher: keine sehr schmeichelhafte Beliebtheit, da doch Zerstörung oder Zerstörtes gemeint ist, in welcher Form auch immer– etwas kaputtschlagen, sich kaputtmachen, völlig kaputt sein, sich kaputtlachen–, aber das Wort ist knapp, sprechend, praktisch. Ist es denn überhaupt ein deutsches Wort?
Ja und nein. Jedenfalls hat es eine Reise gemacht und kann also was erzählen. Am Anfang stand das lateinische caput, aus dem sich in der deutschen Sprache zwei Wörter entwickelten, nämlich »Haupt« und »Kopf«, die sich zwar ihrem Sinn nach decken, nicht aber in ihrem Gebrauch. Haupt ist das poetischere Wort– »O Haupt voll Blut und Wunden...«; »und neigte das Haupt und verschied«– und verhält sich zu »Kopf« etwa wie »Antlitz« zu »Gesicht«. In zusammengesetzten Wörtern allerdings, wo es eine übertragene Bedeutung hat, dient »Haupt« auch zur Bildung prosaischer Begriffe wie etwa Hauptstadt, Hauptsache, Hauptrolle, Hauptbahnhof..., ganz zu schweigen von Ableitungen wie »Häuptling« und »Haube« |22|oder vom österreichischen »Krauthappl«, dem »Häuptlsalat«, der in anderen Regionen »Kopfsalat« genannt wird.
Der Kopf, der also ebenfalls und direkter vom lateinischen caput lehnübersetzt wurde, ist der konkretere Begriff. Er bezeichnet diesen Schädel, diesen Sitz unseres Gehirns, den wir uns manchmal einrennen oder mit dem wir gelegentlich durch die Wand wollen. Wir stürzen uns kopfüber in ein Abenteuer, verlieben uns Hals über Kopf, geben Dinge von uns, die uns kopflos erscheinen lassen, nennen unseren Nachbar einen Dummkopf, einen Dickkopf, einen Schwachkopf oder finden, daß er Köpfchen hat.
Übrigens: In anderen Sprachen werden wir an eine sehr praktische erste Verwendung des Schädels erinnert: englisch cup, französisch coupe, italienisch coppa heißt die Schale– ein Trinkgefäß, das ursprünglich nichts anderes war als eben caput,