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Zwei Romane in einem Band Was du nicht weißt Was Du nicht weißt, bringt Dir den Tod ... Zwei brutale Morde an jungen Frauen erschüttern die sonst so friedliche Kanalinsel Jersey und geben dem Chef de Police Rätsel auf. Dass dabei gefährliche und nie geklärte Ereignisse aus der Vergangenheit eine Rolle spielen, findet ausgerechnet die Zeugin Emily Bloom heraus. Denn die sympathische Teehänderlin mit dem absoluten Gedächtnis hat die seltene Begabung, sich an alles in ihrem Leben genauestens zu erinnern. Doch schon bald muss Emily wegen dieser Fähigkeit um ihr eigenes Leben bangen ... Drum stirb auch du Wissen ist Macht. Oder eine tödliche Gefahr ... Eine grausam zugerichtete Leiche in den Dünen und der Mord an einem Hotelier versetzen die Polizei der Kanalinsel Jersey in Alarm. Als die Teehändlerin Emily Bloom erfährt, dass sie das nächste Opfer sein soll, nutzt sie ihr absolutes Gedächtnis, um selbst nach dem Täter zu suchen. Bald erkennt sie, warum ihr Wissen tödlich ist. Denn die Jagd auf Emily hat längst begonnen ...
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Seitenzahl: 834
Kurzbeschreibung:
Was du nicht weißt
Was Du nicht weißt, bringt Dir den Tod ...
Zwei brutale Morde an jungen Frauen erschüttern die sonst so friedliche Kanalinsel Jersey und geben dem Chef de Police Rätsel auf. Dass dabei gefährliche und nie geklärte Ereignisse aus der Vergangenheit eine Rolle spielen, findet ausgerechnet die Zeugin Emily Bloom heraus. Denn die sympathische Teehänderlin mit dem absoluten Gedächtnis hat die seltene Begabung, sich an alles in ihrem Leben genauestens zu erinnern. Doch schon bald muss Emily wegen dieser Fähigkeit um ihr eigenes Leben bangen ...
Drum stirb auch du
Wissen ist Macht. Oder eine tödliche Gefahr ...
Eine grausam zugerichtete Leiche in den Dünen und der Mord an einem Hotelier versetzen die Polizei der Kanalinsel Jersey in Alarm. Als die Teehändlerin Emily Bloom erfährt, dass sie das nächste Opfer sein soll, nutzt sie ihr absolutes Gedächtnis, um selbst nach dem Täter zu suchen.
Bald erkennt sie, warum ihr Wissen tödlich ist. Denn die Jagd auf Emily hat längst begonnen ...
Claus Beling
Was du nicht weißt Drum stirb auch du
Zwei Romane in einem Band
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg
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Copyright © 2018 by Claus Beling
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-182-9
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Was du nicht weißt
Kurzbeschreibung
Titlepage
Impressum
Die Vergangenheit ist Nie Tot, Sie ist Nicht Einmal Vergangen.
Drum stirb auch du
Kurzbeschreibung
Titlepage
Impressum
Ein gutes Gedächtnis ist ein Fluch, der einem Segen ähnlich sieht
Kurzbeschreibung:
Was Du nicht weißt, bringt Dir den Tod ...
Zwei brutale Morde an jungen Frauen erschüttern die sonst so friedliche Kanalinsel Jersey und geben dem Chef de Police Rätsel auf. Dass dabei gefährliche und nie geklärte Ereignisse aus der Vergangenheit eine Rolle spielen, findet ausgerechnet die Zeugin Emily Bloom heruas. Denn die sympathische Teehänderlin mit dem absoluten Gedächtnis hat die seltene Begabung, sich an alles in ihrem Leben genauestens zu erinnern. Doch schon bald muss Emily wegen dieser Fähigkeit um ihr eigenes Leben bangen ...
>>Mord ist auch auf einer schönen, friedlichen Insel nicht ausgeschlossen. Ein Krimi mit Spannung bis zuletzt und eine empfehlenswerte Reiselektüre.<< TERRY NEALE, JERSEY EVENING POST
Claus Beling
Was du nicht weißt
Ein Jersey-Krimi
Edel Elements
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Dass ausgerechnet der eitle und scharfzüngige Richter John Willingham die erste der beiden Leichen finden sollte, und das auch noch an seinem letzten Arbeitstag am Königlichen Gerichtshof Jersey, war schon ein pikanter Zufall.
Leicht angeheitert und beseelt von den Feierlichkeiten zu seinem Abschied trat Willingham um kurz nach acht Uhr abends aus dem Eingang des ehrwürdigen Gerichtsgebäudes auf den Royal Square hinaus. Es war noch hell draußen, aber in der Innenstadt war die Abendkühle vom Meer bereits zu spüren. Während er unter den Kastanienbäumen auf sein Taxi wartete, atmete er in tiefen Zügen die frische Luft ein und ließ für einen Augenblick das Fest und die vielen Reden in sich nachwirken. Mit dem weißen Haarkranz und seiner aristokratischen, eleganten Gestalt war er immer noch eine eindrucksvolle Persönlichkeit.
Er liebte es, wenn andere sich für ihn Mühe machten. Als Oberster Richter hatte der Bailiff ihm zuliebe einen feierlichen Abschied in der ehrwürdigen Bibliothek des Royal Court gegeben. Einige der Reden hatten zwar bei Weitem nicht die intellektuelle Brillanz besessen, für die er, Willingham, berühmt war, doch er war zufrieden. Auch der Abschied von seinen Mitarbeitern war ihm so bewegend erschienen, dass er sich in diesem Moment überaus glücklich fühlte – trotz der anstehenden Veränderungen. Mit sechzig hatte er sich den Ruhestand redlich verdient. Auf ihn wartete eine kostspielige Leidenschaft, die er seit seinem Studium in Oxford pflegte – der Reitsport. Er konnte sich zwar beim besten Willen nicht vorstellen, wie das Magistratsgericht künftig ohne ihn auskommen würde, aber das war nun nicht mehr seine Sache.
Von seinem Taxi war immer noch nichts zu sehen. Langsam schlenderte er zum benachbarten Pub The Cock & Bottle hinüber, dessen vollbesetzte Tische sich an der historischen Häuserfront des Royal Square entlangzogen. Interessiert musterte er die lärmenden Touristen, die dort saßen und ihr Bier tranken.
Plötzlich rief jemand seinen Namen. Er drehte sich um. Gwyneth Trollop, seine langjährige Assistentin, kam auf ihn zugelaufen. Wegen des eng geschnittenen schwarzen Rockes, den sie heute ihm zu Ehren angezogen hatte, konnte die kräftige junge Juristin nur kleine Trippelschritte machen. In der Hand trug sie eine schwere Plastiktüte, gefüllt mit Weinflaschen, die man ihm zum Abschied überreicht hatte.
»Sie haben Ihre Sachen liegen lassen, Richter Willingham!«, rief sie atemlos.
Er ging ihr ein paar Schritte entgegen. »Danke, Gwyneth. Da sehen Sie mal – Zeit, dass ich aufhöre. Sonst habe ich nie etwas vergessen.«
Gwyneth wusste genau, wie sie mit ihm umgehen musste. Während sie ihm die Tüte gab, sagte sie schelmisch: »Einspruch, Euer Ehren. Ich habe Sie beobachtet. Sie haben die Weine nur liegen lassen, weil sie Ihnen nicht gefallen.«
»Ertappt, Gwynnielein.« Willingham seufzte zerknirscht. »Aber ich schwöre Ihnen, früher hat diese Methode immer funktioniert.«
Die junge Frau hob resigniert die Schultern. »Früher hatten Sie ja auch keinen Nachfolger, der aufgepasst hat und schon morgen früh Ihr Büro beziehen will. Wetten, dass er mich am Ende doch nicht in sein Team übernehmen wird?«
Willingham wiegelte ab. »Ach was. Sie werden sehen, man kann gut mit ihm zusammenarbeiten.«
Es war eine gnädige Lüge, denn Edward Waterhouse konnte ziemlich arrogant sein. Aber Gwyneth hatte seiner Meinung nach ein bisschen Hoffnung verdient.
Das Taxi rollte über den belebten Platz auf sie zu. Richter Willingham gab dem Taxifahrer mit einem kleinen Handzeichen zu verstehen, wo der Wagen halten sollte. Dann wandte er sich wieder an seine Mitarbeiterin.
»So, und jetzt gehen Sie wieder zu den anderen. Ich glaube, Waterhouse will gleich noch seine Antrittsrede halten.«
Bissig erwiderte Gwyneth: »Schon allein das ist eine Stillosigkeit!«
Die Kofferraumklappe des Taxis sprang automatisch auf. Der dicke Taxifahrer machte keine Anstalten, den fetten Hintern von seinem Platz zu bewegen. Normalerweise hätte der Richter sich geweigert, dem Fahrer die Arbeit abzunehmen. Doch heute hatte er keine Lust, sich von einem Flegel den Abend verderben zu lassen.
Vorsichtig hob er die schwere Tüte mit dem Wein in den Kofferraum, als er plötzlich stutzte.
Vor ihm – neben zwei schmuddeligen Tupperdosen mit irgendetwas Essbarem – lag der blutverschmierte, jämmerlich gekrümmte Körper einer jungen Frau mit dunklen Haaren. Unter ihrem Oberkörper ragte das Ende eines öligen Wagenhebers hervor. Sie trug Jeans und ein grünes T-Shirt, auf dem das Blut riesige schwarze Flecken hinterlassen hatte. Ihre starren Augen waren weit aufgerissen.
Er musste kein zweites Mal hinschauen, um Gewissheit zu haben, dass der Taxifahrer ihm soeben eine Tote serviert hatte. Wenn das kein Mordopfer war, würde er die Weinflaschen in der Tüte freiwillig austrinken.
Zögernd blickte Willingham zu Gwyneth Trollop hinüber, die mit verschränkten Armen unter einem Baum stand und ihm still zulächelte.
Zynisch fragte er sich, was jetzt wohl besser wäre – die Kofferraumklappe einfach wieder zu schließen, mit seinem Wein auf dem Rücksitz Platz zu nehmen und seinen noblen Abschied für immer in guter Erinnerung zu behalten, oder seinem Nachfolger Edward Waterhouse ein bisschen Arbeit zu bescheren, denn dieser Mordfall würde unweigerlich auf dessen neuem Schreibtisch landen.
Er entschloss sich, seinen moralischen Prinzipien treu zu bleiben. Heftig winkend signalisierte er Gwyneth Trollop, dass sie rasch zum ihm kommen solle.
Es war bitter, aber wie es aussah, war der Rest dieses schönen Abends für ihn gelaufen.
Die überschaubare, bis auf ein paar harmlose Wochenendschlägereien und Drogendelikte recht friedliche Welt auf Jersey hatte einen Riss bekommen. Es war, als hätte über Nacht eine riesige Welle die Kanalinsel überrollt und Ratlosigkeit zurückgelassen. Der brutale Mord war eine Bedrohung der Sicherheit, wie man sie sonst nur vom Festland kannte. Für das behagliche Landleben hinter den Hecken und Steinmauern der Cottages konnte es nichts Schlimmeres geben.
Auch wenn man in der Hauptstadt St. Helier – dort, wo die Leiche gefunden worden war – sehr viel realistischer mit dem Mordfall umging, sorgten vor allem die ständigen Fernsehberichte für zusätzliche Anspannung in den Pfarrbezirken. Am besten brachte es der eiserne alte Mr. Buckley auf den Punkt, als er frühmorgens am Hafen von St. Aubin seine Zeitung kaufte.
»Es geht los«, sagte er, »Europa kommt immer näher.«
Jeder wusste, dass Buckley 1940 besonders tapfer gegen die Besetzung der Insel durch die Deutschen gekämpft hatte und daher eine Menge von Gefahr verstand.
Vor allem den Frauen machte der Mord Angst. Die propere Mrs. La Pierre, deren Familie im Hinterland von St. Aubin die berühmten kleinen Jersey Royal züchtete – winzige wohlschmeckende Kartoffeln, die ebenso zum Ruhm von Jersey beigetragen hatten wie die Strickwaren, die Tomaten und die Kühe –, organisierte mit ihren Freundinnen noch am selben Vormittag, als die Tat bekannt wurde, einen Selbstverteidigungskurs bei John Lee, dem jungen, muskulösen Tai-Chi-Lehrer des Sportclubs.
Die Einzige in der Gegend, die auch künftig an der guten alten Sitte festhalten wollte, die Türen ihres Farmhauses niemals abzuschließen, war die selbstbewusste Helen Keating. Ihr gehörte eine der beiden Lavendelgärtnereien auf Jersey, ein großes Gelände bei St. Ouen. Da sie nach Feierabend ehrenamtlich das Zeitungsarchiv des Jersey-Museums in Schuss hielt, beruhigte sie alle, indem sie versicherte, dass es früher bereits viel schlimmere Verbrechen auf Jersey gegeben hatte. Doch bis auf Mrs. Bloom, ihre beste Freundin, wollte niemand eine so nüchterne Einschätzung hören. Stattdessen brannte jeder darauf, endlich neue Details des Kriminalfalles serviert zu bekommen.
Selbst zwei Tage nach dem Verbrechen gab es morgens im hellblauen Bus nach St. Helier keinen Fahrgast, der nicht in seine Zeitung vertieft war und den Polizeibericht las. Man hatte den Mörder immer noch nicht gefasst.
Debbie Farrow saß wie jeden Tag in der ersten Reihe hinter dem Busfahrer, diesmal auffallend schweigsam mit ihrer Zeitung beschäftigt. Sie stammte aus St. Brelade’s Bay, genauso wie der Mann hinter dem Lenkrad, mit dessen Tochter sie zur Schule gegangen war. Normalerweise unterhielt sie sich während der Fahrt mit ihm, doch heute hatte sie keine Lust zu reden. Wie gebannt verschlang sie den neuesten Artikel über das schreckliche Verbrechen.
Während sie las, bewegten sich ihre blonden Haarspitzen im Fahrtwind. Die frische Luft drang durch das offene Schiebefenster über ihr herein und wehte leicht über die Seiten ihrer Zeitung. Niemand sagte etwas. Mit konstantem Brummen, als wollte der Fahrer die angestrengte Lektüre seiner Gäste nicht durch unnötige Motorgeräusche stören, fuhr der Bus an der leeren Strandpromenade entlang.
Debbie hob den Blick und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Sie hatte immer noch Probleme damit, etwas über den Tod eines Menschen zu lesen. Was diesem Opfer passiert war, klang besonders grausam.
Das Mordopfer war eine 24-jährige Polin namens Jolanta Nowak. Man hatte sie durch fünf bestialische Messerstiche umgebracht. Ein Arzt im Krankenhaus hatte sie wiedererkannt. Sie war erst vor vier Tagen bei ihm in Behandlung gewesen. Statt der von ihr erwarteten Entzündung der Eierstöcke hatte er bei ihr eine Schwangerschaft im zweiten Monat diagnostiziert.
Schnell verdrängte Debbie den aufkeimenden Gedanken an die ersten Ultraschallbilder ihres eigenen Kindes. Auch sie war damals erst vierundzwanzig gewesen und auf ein Kind in keiner Weise vorbereitet. Jetzt, mit Anfang dreißig, hätte sie vieles anders gemacht.
Als sie wieder in die Zeitung schaute, stach ihr das Foto der Toten ins Auge. Es war ganz offensichtlich ein Passfoto, das die Polizei veröffentlicht hatte. Am Rand konnte man noch einen blassen polnischen Stempel erkennen. Es zeigte eine schüchterne, schmalgesichtige junge Frau mit großen traurigen Augen und halblangen braunen Haaren.
Angestrengt dachte Debbie nach.
Wo war ihr diese Frau schon einmal begegnet? Als Kundin in der Bank? Am Strand von St. Brelade’s Bay? In der Stadt?
Es fiel ihr nicht ein.
Auch der Taxifahrer, der die Tote unfreiwillig transportiert hatte, fand in dem Artikel Erwähnung. Offenbar hatte man ihm die Leiche heimlich in den Kofferraum gelegt, während er seinen Wagen für einen kurzen Arztbesuch auf einem Platz hinter dem Strand geparkt und nicht abgeschlossen hatte.
Als Debbie mit einem erneuten Blick aus dem Fenster feststellte, dass sie gleich aussteigen musste, faltete sie die Zeitung zusammen und ließ sie in ihrer Handtasche verschwinden. Später im Büro würde sie sie noch einmal lesen. Sie rutschte aus der Sitzbank, zupfte ihren Rock zurecht und stellte sich vor die automatische Tür.
In der Scheibe konnte sie sehen, wie sich ihr blondes Spiegelbild über die vorbeiziehende Häuserfront der Victoria Esplanade hinwegbewegte. In ihrem dunkelblauen Kostüm mit der beigefarbenen Bluse sah sie aus wie all die anderen Bankangestellten draußen auf der Straße – dezent bis zur Langweiligkeit. Andererseits konnte sie froh sein, den Job in der Bank überhaupt bekommen zu haben. Nach dem Tod ihres kleinen Sohnes war sie psychisch in einen tiefen Krater gesunken. Viele Monate lang hatte es nicht so ausgesehen, als wenn sie es jemals wieder schaffen würde, im Beruf Fuß zu fassen.
Doch der Krater hatte sie wieder ausgespuckt. Es war alles so ungerecht. Sie lebte, aber ihr Sohn lag auf dem Friedhof. Immer wenn sie kurz die Augen schloss, konnte sie den lachenden kleinen David mit seinen lockigen braunen Haaren vor sich sehen. So machte sie es jeden Tag, wann immer sie wollte. So wie jetzt.
Mit einem Ruck bremste der Bus ab. Debbie öffnete schnell ihre Augen und hielt sich an der Haltestange fest, um nicht umzufallen.
Genau in diesem Moment fiel ihr wieder ein, wo sie die junge Polin gesehen hatte. Es war seltsam, sofort empfand sie den Gedankenblitz als Himmelsgeschenk von David.
Es war vor zehn Monaten gewesen, auf seiner Beerdigung.
Inmitten der Menge dunkel gekleideter weinender Menschen war die Unbekannte nach der Grabrede hinter Davids kleinem Kindergrab aufgetaucht. Sie war die Einzige unter den Trauergästen gewesen, die Debbie nicht gekannt hatte.
Was hatte Jolanta Nowak dorthin getrieben?
Debbie bekam Angst. Schon lange hatte sie den Verdacht, dass sie nicht die ganze Wahrheit über den Tod ihres Sohnes wusste. Seine fünf jämmerlich kurzen Kinderjahre hatten am Ende nur noch aus Krankenhausaufenthalten und aus der Tortur schrecklicher Asthmaanfälle bestanden. Irgendetwas hatte seinen kleinen Körper so geschwächt, dass er den Krankheiten keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte. Auch die Ärzte hatten nicht mehr weitergewusst. Sie hatte David beerdigt in dem ohnmächtigen Gefühl, sie müsse ihn aus Unwissenheit gehen lassen. Heute bereute sie heftig, dass sie damals einer Obduktion nicht zugestimmt hatte.
Der Bus hielt an, zischend öffnete sich die automatische Tür. Debbie stieg aus, bis zur Verwirrung beschäftigt mit der Frage, was sie jetzt tun sollte. Unschlüssig blieb sie an der Bushaltestelle stehen.
Es gab eigentlich nur einen Menschen, der ihr jetzt weiterhelfen konnte – ihr Cousin Oliver. Auch wenn er das schwarze Schaf in der Familie war, um den kleinen David hatte er sich immer rührend gekümmert. Sie wusste, wo sie ihn um diese Zeit finden konnte.
Während sie ihre Schritte bereits Richtung Hafen lenkte, wählte sie kurz entschlossen die Handynummer ihrer Kollegin Lindsay in der Bank. Debbie hatte Glück, sie saß bereits an ihrem Platz.
»Lindsay? Könntest du bitte dem Chef sagen, dass ich heute etwas später komme?«
»Nicht nötig. Mr. Arnold kommt selbst erst nachmittags von den Verhandlungen in London zurück. Irgendwelche Probleme? Du klingst so aufgeregt.«
»Nein … oder doch, ja … Es ist wieder mal was Familiäres. Ich muss noch schnell meinen Cousin treffen, bevor ich ins Büro komme.«
»Ah – den Netten mit den Locken? Der immer in Archies Pub rumhängt?«
Lindsay hatte Oliver so in Erinnerung, wie er vor einem halben Jahr ausgesehen hatte. Jetzt würde sie ihn höchstwahrscheinlich nicht mehr wiedererkennen.
»Ja, den. Ich beeil mich auch.«
»Lass dir ruhig Zeit. Und grüß ihn schön.«
»Mach ich. Bis später.«
Während Debbie über die große Kreuzung ging und auf eine schmuddelig wirkende Eckkneipe gegenüber dem Hafen zusteuerte, bereitete sie sich innerlich auf das Treffen mit Oliver vor. Er war drei Jahre jünger als sie und als Schulabbrecher die meiste Zeit arbeitslos. Mit seinem gutmütigen Charakter hätte er leicht eine Ausbildungsstelle finden können, das sagte jeder, der ihn kannte. Aber durch seine krankhafte Faulheit – die Psychologen des Arbeitsamtes nannten es in ihren Papieren rücksichtsvoll Lethargie – hatte er jede sich bietende Chance vertan.
Dennoch war Oliver viele Monate lang für Debbie ein Rettungsanker gewesen. Als alleinerziehende Mutter war sie oft genug mit dem kränkelnden Kind und den ständigen Geldsorgen überfordert gewesen. Ihre Mutter war tot, ihre einzige Schwester lebte in England. Wann immer sie Überstunden machen musste, um zusätzlich ein paar Pfund zu verdienen, hatte Oliver bereitwillig seinen kleinen Neffen zu sich genommen und auf ihn aufgepasst.
Debbie empfand es als besonders tragisch, dass Davids Tod ihn noch ein Stück weiter aus der Bahn geworfen hatte.
Natürlich hatte sie versucht, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Sie hatte in seinem Namen auf Stellenanzeigen geantwortet, knüpfte Kontakte für ihn, half ihm gelegentlich mit einer kleinen Summe – doch er weigerte sich hartnäckig, sein Leben zu ändern. Warum, blieb ihr ein Rätsel.
Seit einiger Zeit hing er schon morgens in seinem Stammlokal herum. Nur wenn er zweimal, bestenfalls dreimal die Woche Aushilfsjobs im Hafen bekam, riss er sich für ein paar Stunden zusammen.
Als Debbie die rote Tür zu Archies Pub öffnete und eintrat, hoffte sie inständig, dass Oliver heute halbwegs ansprechbar war.
Laute Popmusik dröhnte ihr entgegen. Offenbar hatte Archie das Radio nur für sich selbst aufgedreht, denn Gäste waren um diese Uhrzeit noch nicht zu sehen. Der ganze Raum roch nach schalem Bier. Mit müdem Gesicht und zerstrubbelten Haaren stand Archie hinter dem Tresen und trocknete Gläser ab. Als er Debbie erkannte, hob er kurz das Kinn in Richtung der Treppe, die zu den Toiletten hinunterführte.
Mit mulmigem Gefühl ging Debbie weiter, bis sie schließlich ihren Cousin entdeckte. Als ewiger Stammgast saß er am letzten Tisch in einer schummrigen Nische. In seiner verwaschenen Jeansjacke sah er zwar immer noch jungenhaft aus, aber sein Äußeres war ziemlich ungepflegt. Die blonden Locken, die ihn früher immer so fröhlich aussehen ließen, waren fettig und lang, das löchrige Hemd war schmutzig. Mit gekrümmtem Rücken hing er über seinem Teller, auf dem ein angebissenes Croissant lag. Daneben stand ein Glas starkes dunkles Lagerbier, das er schon fast leer getrunken hatte.
Debbie hätte heulen können darüber, wie heruntergekommen Oliver wirkte. »Hallo, Oliver.«
Erstaunt ließ er seinen müden Blick an ihr hochwandern.
»Debbie? Was machst du denn hier?«
Sie setzte sich ihm gegenüber und legte die Hände auf den braunen Tisch, aber die Tischplatte war so klebrig, dass sie sofort wieder davon abrückte.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie.
Oliver wirkte, als hätte er die ganze Nacht durchgefeiert. Meistens spielte er mit seinen Freunden Karten.
»Reden ist immer gut …« Er nickte mit halb geschlossenen Lidern. »Aber versuch bloß nicht, mir wieder irgendeinen blöden Job unterzujubeln …«
»Nein«, sagte Debbie, »du kannst beruhigt sein. Ich komme wegen einer anderen Sache.«
Sie zog die Zeitung aus ihrer Handtasche, faltete sie auseinander, schob Olivers Teller zur Seite und breitete die Seite mit dem Foto der Ermordeten vor ihm aus.
»Kennst du diese Frau?«
Gehorsam stierte Oliver auf das Foto. Für einen Moment hatte Debbie den Eindruck, als würde Wut über sein Gesicht huschen, während er die Kiefer aufeinanderpresste. Doch als er wieder aufblickte, war nichts mehr davon zu sehen.
Kopfschüttelnd sagte er: »Nie gesehen. Wieso glaubst du, dass ich sie kenne?«
»Weil ich mich erinnert habe, dass die Frau bei Davids Beerdigung war.«
Mit einer fahrigen Handbewegung winkte Oliver ab. »Quatsch … Hör endlich auf, immer in der alten Geschichte rumzurühren … Hey Baby, das ist nicht gut für dich, glaub mir …«
Sie atmete tief durch. Traurigkeit klang aus ihrer aufgebrachten Stimme. »Alte Geschichte? Oliver, es geht um mein Kind! Siehst du ihn noch vor dir? Wie er geweint und gewimmert hat, bis er tot war? Ja?«
Oliver hielt sich die Ohren zu. Seine langen Fingernägel starrten vor Dreck. »Hör auf! Wie kann ich das vergessen?«
»Dann sag mir jetzt die Wahrheit. Du kennst das Mädchen. Ich hab’s dir angesehen.«
Auf seinem Stuhl vor und zurück wippend, schaute er sie eine Weile schweigend an. In seinen Mundwinkeln stand Spucke. Debbie ertappte sich dabei, wie sie sich vor ihm ekelte. Das war nicht mehr der Oliver, der ihr immer aus der Patsche geholfen hatte. Sie hatte den Verdacht, dass er seit einiger Zeit Drogen nahm.
Plötzlich war es ihr egal, wie abgewrackt er vor ihr saß. Er sollte sich gefälligst fünf Minuten zusammennehmen.
»Ich kriege jetzt eine Antwort von dir, okay? Oder ich rufe deinen Vater an und erzähle ihm, wie du hier vor die Hunde gehst.«
Das wirkte. Oliver erschrak. Vor seinem Vater, einem stiernackigen Vorarbeiter, hatte er immer noch große Angst. Seit Jahren ging er ihm aus dem Weg.
Kleinlaut sagte er: »Also gut, meinetwegen … Kann sein, dass du recht hast … Dass die Polin da war, meine ich …«
»Wer hat sie mitgebracht?«
»Keine Ahnung.«
»Du lügst, Oliver.«
Er protestierte mit weinerlicher Stimme. »Hey, hab ich mich nicht immer super um deinen Sohn gekümmert? Ist das jetzt der Dank dafür?«
»Darum geht es nicht. Du lügst, und ich will wissen, warum. Was hatte diese Polin mit meinem Kind zu tun?«
»Bitte hör auf zu fragen«, bettelte Oliver. »Du machst alles nur noch schlimmer.«
Debbie wurde wütend. Mit einer schnellen Bewegung beugte sie sich über den Tisch, packte ihn am Kragen seiner Jeansjacke und schüttelte ihn heftig.
»Sag’s mir, verdammt noch mal! Was ist damals mit meinem Kind passiert? Und wie hängt das mit der Toten zusammen?«
Sie konnte sehen, wie die Farbe aus Olivers Gesicht wich. Auf einmal war er kalkweiß. Es schien ihn unendlich viel Überwindung zu kosten, weiterzureden. »Kannst du dir nicht denken, wer da seine Finger im Spiel hat?«, sagte er schließlich. »Der Scheißkerl hat unser Leben ruiniert …«
Stockend begann er zu erzählen.
Mit aufgerissenen Augen hörte Debbie ihm zu. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.
Eine Insel der Sicherheit.
Richter Willingham verzog gequält das Gesicht, als er den Satz in der Zeitung las.
Noch vor einem Jahr hatte der Justizsprecher mit dieser Formulierung die verschwindend geringe Verbrechensrate auf Jersey in höchsten Tönen gelobt. Dass die Presse ihn jetzt auf bissige Weise damit zitierte, konnte ja nicht ausbleiben.
Die Jersianer waren verdammt hart im Austeilen, wenn man sie in ihrem gemütlichen Alltag störte. Ihr höchstes Gut war die Freiheit. Das hatten sie von ihren Vorfahren, den Normannen, geerbt. Nicht nur der Reichtum an französischen Familiennamen auf Jersey und das nur noch selten gesprochene Jèrriais zeugten bis heute von dieser historischen Verwandtschaft. Auch wenn das Jersey-Französisch schon lange der englischen Sprache gewichen war – in den Namen der Verwaltungsbezirke, Orte, Straßen und Häuser spiegelte sich der französische Geist der Insel noch immer wider.
Niemand wusste das besser als Richter Willingham. Nach so vielen Jahren als Strafrichter war er ein exzellenter Kenner seiner Landsleute. Mochte die Insel heute auch für viele nur ein Steuerparadies sein – in ihrem Herzen waren die jerseymen Menschen geblieben, die stets eine Krume Erde in der Tasche hatten. »Inselbewohner voller Selbstvertrauen, mit klugem Geschäftssinn, enorm fleißig, schweigend und sparsam« – diese Beschreibung des Historikers G. R. Balleine, der ein enger Freund seines Vaters gewesen war, traf nach Willinghams Erfahrung immer noch zu.
Nicht gerade gut gelaunt saß er unter dem weißen Sonnenschirm auf seiner gepflasterten Terrasse, blätterte stirnrunzelnd die Zeitungen durch und frühstückte dabei. Selbst der schöne Blick auf den kleinen Park und die weißen Villen unterhalb seines Grundstücks konnte ihn heute nicht milde stimmen. Kein Wunder, dass sich seine Frau schon sehr früh zum Golfspielen aufgemacht hatte.
Nein, so hatte er sich seine neue Freiheit vom Richteramt nicht vorgestellt.
Die Verhöre nach seinem Leichenfund waren sehr langwierig gewesen. Doch er hatte sie geduldig ertragen, damit ihm später keiner nachsagen konnte, er hätte die Schlafmützen von der Polizei nicht ausreichend unterstützt. Was ihm dagegen zunehmend auf die Nerven ging, war der Ansturm der Journalisten. Freundlicherweise hatte Gwyneth Trollop es in alter Verbundenheit übernommen, die zahlreichen Telefoninterviews zu koordinieren und ihm allzu dumme Fragen vom Hals zu halten.
Um sich etwas abzulenken und den Kopf frei zu bekommen, hatte er heute eigentlich gleich nach dem Frühstück ausreiten wollen. Sein Pferd stand ganz in der Nähe im Reitstall von Frank Guiton, einem jungen, smarten Züchter, den der Richter außerordentlich schätzte. Guiton war nicht nur ein ausgezeichneter Pferdekenner, er besaß auch glänzende Kontakte zur Rennbahn von Windsor. Schon manches Mal hatte Willingham dort über ihn Karten für beste Logenplätze erhalten.
Doch mit dem geplanten Ausritt wurde es heute nichts. Vor einer halben Stunde hatte ihn Guiton aufgeregt angerufen. Über Nacht war eine seiner wertvollsten Zuchtstuten aus dem Stall entführt worden. Eine Spur zu den Tätern gab es nicht, niemand hatte etwas bemerkt. Willingham wusste, dass das Rennpferd mit einer Viertelmillion Pfund versichert war, sodass Guiton wenigstens kein allzu großer finanzieller Schaden entstand. Dennoch hatte der Züchter ziemlich deprimiert geklungen.
Willingham konnte ihn gut verstehen. Was für ein mieser Tag.
Eine Insel der Sicherheit!
Ironischer hätte das Schicksal gar nicht darauf antworten können.
Als das Telefon erneut klingelte, war Willingham auf alles gefasst. Ein Terroranschlag, eine Brandkatastrophe – plötzlich erschien ihm alles möglich.
Er fischte den Hörer unter dem Stapel der gelesenen Zeitungen hervor, hielt ihn sich ans Ohr und blaffte so unfreundlich wie möglich hinein: »Ja?«
Es war sein Nachfolger, Richter Edward Waterhouse. In saloppem Ton, der typisch war für den schlaksigen fünfundvierzigjährigen Harvard-Absolventen, sagte Waterhouse: »Guten Morgen. Wollte nur mal hören, ob Sie die Aufregungen gut überstanden haben.«
»Danke der Nachfrage«, antwortete Willingham betont höflich. »Bis auf den Zirkus mit den Journalisten will ich mich nicht beklagen. Gibt es schon irgendwelche Neuigkeiten?«
»Nicht wirklich, aber der Nebel lichtet sich … Wir wissen jetzt, dass die Polin eine Art friedlicher Engel war.«
»Was heißt das?«, fragte Willingham irritiert.
»Sie war hier, um eine alte Tante zu pflegen, die seit zwanzig Jahren auf Jersey lebt und seit einiger Zeit bettlägerig ist.«
»Und wovon hat sie gelebt?«
»Ausschließlich vom Geld der Tante. Die Nachbarn sagen, sie war nett, bescheiden und zurückhaltend. Hat angeblich nur selten das Haus verlassen.«
»Trotzdem …« Willingham kam so viel Bescheidenheit merkwürdig vor. »Sie muss doch irgendwelche Kontakte gehabt haben. Was ist mit einem Freund? Mit anderen Landsleuten?«
Waterhouse lachte. Es klang auf jugendliche Weise überheblich. »Moment, Moment – so weit ist der Staatsanwalt noch nicht!«
Willingham begriff sofort, was sein Nachfolger ihm damit sagen wollte: Finger weg, du alter Sack!
Indigniert brach er das Thema ab. Er kannte die Jungs aus Harvard. Sie taten locker und waren in Wirklichkeit arrogant. Und sie hielten zusammen. Der Leitende Staatsanwalt war auch so einer, dem die britischen Universitäten nicht mehr gereicht hatten.
Gereizt fragte er: »Gibt es wenigstens schon einen Sonderstab der Polizei?«
»Ja«, sagte Richter Waterhouse. »Seit heute Morgen.«
»Und? Wer leitet die Gruppe?«
»Eine Frau.«
Willingham stöhnte vernehmlich auf. »Etwa das schmale blasse Wesen, das aussieht wie eine Marathonläuferin kurz vor dem Ziel?«
»Genau die«, sagte sein Nachfolger genüsslich. »Detective Inspector Jane Waterhouse. Meine Schwester.«
Nachdem Debbie Farrow den Pub wieder verlassen hatte, irrte sie aufgewühlt durch die Innenstadt. Was Oliver ihr erzählt hatte, war schockierend gewesen. Jetzt, da sie wusste, dass das furchtbare Leiden ihres Kindes zu verhindern gewesen wäre, schien ihr Herz endgültig zu zerreißen. Gleichzeitig spürte sie, wie ein dumpfes Rachegefühl in ihr wuchs, stark wie ein Baum, der in rasender Geschwindigkeit neue Äste hervorbrachte.
Ihre Entschlossenheit wuchs. Sie würde den Mörder ihres Kindes vor Gericht bringen. Und sie wollte ihm dabei ins Gesicht sehen, wenn er erfuhr, dass sie die Wahrheit wusste.
»Hallo Debbie«, sagte plötzlich eine freundliche Stimme neben ihr.
Es war Mrs. Bloom. Sie stand neben der verbeulten Tür eines uralten roten Ford, in der Hand ein verschnürtes Paket. Offensichtlich hatte sie gerade eingeparkt, jedenfalls zog sie mit der freien Hand ihren Autoschlüssel aus dem Schloss und schaute Debbie dabei freundlich an.
»Äh … Hallo Mrs. Bloom«, antwortete Debbie schnell. »Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.«
»Du kommst ja auch nur selten bei mir im Laden vorbei. Geht’s dir gut?«
»Danke, alles okay.«
Debbie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen und ihr die Wahrheit zu sagen. Sie zeigte auf Mrs. Blooms Paket. »Kann ich Ihnen was abnehmen?«
»Geht schon. Sind nur ein paar Kartons Tee drin. Adrian Fletcher vom Ceylon Tea Room hat heute Morgen gejammert, dass ihm der Darjeeling ausgegangen ist.«
»Oh ja! Das kann Adrian gut, jammern«, stimmte Debbie ihr zu. »In den Ferien habe ich mal bei ihm gejobbt. Er ist der größte Geizhals, den man sich vorstellen kann.«
»Wir sind eben eine Insel voller Individualisten«, meinte Mrs. Bloom humorvoll. »Da kommen alle Varianten reichlich vor. Gehst du ein Stück mit?«
»Gerne. Ich muss zurück zur King Street.«
Sie gingen los.
Schon auf den ersten Blick konnte man Mrs. Bloom ansehen, dass sie eine herzliche und bodenständige Lady vom Land war. Sie war zwar schon fünfzig, hatte aber auffallend lebhafte, jung gebliebene Augen. Ihre dunkelblonden Haare hielt sie mit einem schicken braun marmorierten Reif in Form, sodass sie auf interessante Weise damenhaft und gleichzeitig burschikos aussah. Ihr sympathisches Gesicht, dessen unverblühte Schönheit durch ein paar Fältchen nur noch interessanter geworden war, ließ allerdings auch ahnen, wie willensstark Mrs. Bloom sein konnte. Die paar kleinen Pfunde zu viel, die sich unter ihrem weißen Pulli und der blauen Windjacke andeuteten, zeigten ihren einzigen Schwachpunkt. Mrs. Bloom kochte für ihr Leben gern.
Sie war zweifellos eine höchst eigenwillige Persönlichkeit. So hatte sich Debbie früher immer die kluge und witzige Lehrerin aus ihren Internatsbüchern vorgestellt, eine in die Jahre gekommene Mary Poppins, die einem aus der Patsche half.
Niemand, der Mrs. Bloom näher kannte – und Debbie war seit ihrer Kindheit oft bei ihr in dem winzigen, bewusst traditionell eingerichteten Teeladen gewesen –, konnte sich ihrer warmherzigen und humorvollen Art entziehen.
Wenn man Mrs. Bloom etwas erzählte – während sie nach der ungeliebten Lesebrille griff, den Tee abwog und auf den silberfarbenen Tüten handschriftlich die Teemischung notierte –, hörte sie mit geduldiger Aufmerksamkeit zu. Doch dann überraschte sie mit geschickten Zwischenfragen, verblüffenden Schlussfolgerungen und wohltuend pragmatischen Ratschlägen. Man fühlte sich auf angenehme Weise durchschaut. Wie Mrs. Bloom das machte, wusste Debbie bis heute nicht, wahrscheinlich hatte sie einfach nur eine Menge Lebenserfahrung. Vor allem aber vergaß sie nie etwas, was man ihr einmal erzählt hatte, wirklich gar nichts, nicht einmal Winzigkeiten. In diesem Punkt war sie wie ein lebendes Archiv. Vielleicht erschien sie Debbie deshalb auch immer ein bisschen geheimnisvoll.
»Irgendwie siehst du blass aus«, stellte Mrs. Bloom mit kritischem Seitenblick fest, während sie in die Mulcaster Street einbogen. »Hast du was?«
»Ach, nur ein bisschen privaten Ärger …« Debbie versuchte ein kleines Lachen. »Sie merken aber auch alles.«
»Das hat deine Mutter auch immer gesagt …« Mrs. Bloom und Debbies Mutter hatten sich in der Jugend gut gekannt, draußen auf dem Land, wo selbst heute noch der unverwechselbare Geruch nach vraic über den Wiesen hing. Vraic war das getrocknete Seegras, das man auf Jersey seit jeher zum Düngen der Felder benutzte. »Also im Ernst, Debbie – wenn du jemanden zum Reden brauchst …«
»Ich komm schon allein klar«, antwortete Debbie und hob trotzig ihr Kinn. »Sie wissen doch, unsere Familie ist ganz groß, wenn es darum geht, allein zurechtzukommen.«
Mrs. Bloom lachte leise. »Oh ja! Darin seid ihr wirklich Weltmeister.« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Es ist nicht zu glauben – du bist Mary-Ann so was von ähnlich! Weißt du das eigentlich?«
Debbie zuckte etwas verloren mit den Schultern. »Ich wünschte, es wäre so … Mum hätte bestimmt nicht so viele Fehler gemacht wie ich … Sie ist viel zu früh gestorben.«
»Das kann man wohl sagen.«
Mit traurigem Nicken und zusammengekniffenem Mund, so als würde sie sich über die Gemeinheit des Schicksals, dass Menschen sterben mussten, sehr ärgern, stellte Mrs. Bloom den Kragen ihrer Windjacke auf und schaute in den Himmel. Trotz des strahlenden Wetters wehte ein scharfer Wind durch die Straßen.
Sie gingen über einen Zebrastreifen und konnten jetzt den Jachthafen und die kleine Insel mit den Ruinen des alten Elizabeth Castle sehen. Draußen auf dem offenen Meer zog ein weißes Kreuzfahrtschiff vorbei, was wegen des extremen Tidenhubs von fast vierzig Fuß nur sehr selten vorkam. Es war ein erhabener Anblick.
Debbie schaute auf die Uhr und erschrak.
»Oje, ich müsste schon längst im Büro sein.«
»Dann lass uns ein bisschen schneller gehen.«
Als sie die Pier Road erreichten, zeigte Debbie plötzlich nach rechts auf ein heruntergekommen wirkendes mehrstöckiges Wohnhaus. An der Fassade bröckelte der schmutzig graue Putz, neben der Haustür quollen die Müllcontainer über. Aus einem der Fenster lehnte sich ein alter Mann im Unterhemd.
»In dem Haus wird demnächst ein großes Apartment frei. Ich überlege, ob ich da einziehe. Das wäre näher an meiner Bank.«
Mrs. Bloom erschrak. »In den hässlichen Schuppen? Da wohnst du jetzt aber schöner.«
Debbie seufzte. »Ich weiß. Aber die neue Wohnung wäre erheblich billiger. Die andere habe ich damals ja nur wegen David genommen …«
»Ach so … Daran habe ich nicht gedacht …« Mrs. Bloom sah, dass Debbie mit den Tränen kämpfte. Mitfühlend fragte sie: »Ist es immer noch so schlimm?«
Debbie zuckte mit den Schultern.
»Mein Leben geht irgendwie weiter …«, sagte sie traurig. »Mehr aber auch nicht.«
»Und das ist zu wenig, um wieder glücklich zu werden, oder?«
»Vielleicht ist ja mein neuer Job bei der West Island Bank ein guter Anfang.« Sie machte eine kurze Pause und lächelte zaghaft. »Ich versuch’s wenigstens.«
»Ich wünsche es dir von Herzen«, sagte Mrs. Bloom. Ihre Augen strahlten eine ehrliche Anteilnahme aus, die Debbie guttat. »Gerade weil du David so geliebt hast, musst du lernen, ihn loszulassen – ohne ihn zu vergessen. Das musste ich auch erst lernen, als ich meinen Mann verloren hatte.«
Debbie nickte. »Und trotzdem … Egal, wie ich mich ablenke …« Debbie suchte zögernd nach den richtigen Worten. »Alles bleibt … so leer. In Wirklichkeit denke ich den ganzen Tag an ihn. Ich gehe jeden Morgen vor dem Büro zum Friedhof, bete für ihn und hoffe, dass ich irgendwann alles begreife. Aber ich mache Fortschritte. Ich weiß jetzt von Dingen, die ich vorher nicht wusste.«
Mrs. Bloom wurde hellhörig. »Darf ich fragen, was das für Fortschritte sind? In psychologischer Hinsicht? Indem du den Tod deines Kindes besser verarbeiten kannst?«
Debbie wich aus.
Plötzlich klingelte das Handy in ihrer Handtasche. Sie blieb stehen, griff hektisch in das kleine Fach neben Schminkzeug, Geldbörse und Babyfotos und fischte ihr Telefon heraus.
Mrs. Bloom schaute wartend zu, wie Debbie das Handy ans Ohr drückte. Es war pinkfarben.
»Debbie Farrow … Ja?« Sie wandte sich ab und ging ein paar Schritte bis zum nächsten Schaufenster, wo sie sich ungestört glaubte.
Mrs. Bloom bemerkte, dass Debbies Gesichtsausdruck sich schlagartig änderte, während sie zuhörte. Ihre Stirn legte sich in Falten, gleichzeitig erhielt ihr Mund einen trotzigen, kämpferischen Zug. Im Nu war aus der lieben Debbie eine kleine Furie geworden.
»Natürlich müssen wir uns treffen!«, fauchte sie in den Hörer. »Wo, ist mir egal … Um wie viel Uhr? … Von mir aus. Ich muss sehen, ob ich das schaffe … Nein, das werde ich dir garantiert nicht sagen! Und wehe, du bist nicht pünktlich!«
Mrs. Bloom gab ihr ein Zeichen, dass sie schon einmal allein weitergehen wollte. Am Ende der Straße leuchtete das verschnörkelte goldfarbene Firmenschild von Adrians Ceylon Tea Room in der Sonne.
Debbie war so konzentriert auf ihr Telefonat, dass sie nur flüchtig die Hand hob, sich dann gleich wieder wegdrehte und weiterredete.
Nachdenklich steuerte Mrs. Bloom auf den Tea Room zu. Sie war ernsthaft in Sorge. So aufgeregt hatte sie Debbie noch nie erlebt. Vielleicht sollte ich dieses gebrochene, ziellose Geschöpf einmal zu mir nach Hause einladen, dachte sie mit mütterlichem Instinkt. In gewisser Weise war sie das Debbies Mutter schuldig.
Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie Debbie mit dem Telefon am Ohr erregt hin und her gehen.
Die Nacht war merkwürdig fahl und still, was auf Jersey nicht oft vorkam. Normalerweise sorgte nach Sonnenuntergang eine kühle Brise für klare Luft, während der Mond reflektierende Lichter auf die Oberfläche des Meeres zauberte. Dadurch wurde es auf der Insel nie ganz dunkel, es sei denn, es war gerade Neumond und ein Wetterwechsel stand bevor. Doch diesmal war die Mondsichel schon seit Stunden von einem Ring aus Nebel umgeben, und das war immer ein schlechtes Zeichen.
Emily Bloom wachte schweißgebadet auf. Ihre Albträume waren zurückgekehrt, und sie hatte im Schlaf geschrien. Ein paar Wochen lang hatte sie Ruhe gehabt, doch jetzt gewann ihr aufdringliches Gedächtnis wieder die Oberhand. Sie hatte es kommen sehen. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn die Albträume diesmal ausgeblieben wären.
Das schweißnasse Nachthemd klebte ihr an der Haut. Emily setzte sich auf, knipste das Licht an und nahm die Uhr vom Nachttisch.
Kurz nach zwei.
Oh, mein Jubiläum hat begonnen, dachte sie selbstironisch, während sie sich wieder auf ihr zerwühltes Kopfkissen zurücksinken ließ.
Heute, am 23. Juni, auf den Tag genau vor zwölf Jahren, hatte sich ihr Leben verändert.
Ein schwarzumränderter Tag. Einer, der alles verändert hatte.
Bis heute wunderte sie sich, dass sie damals nicht daran zerbrochen war. Es musste ihr angeborenes positives Naturell gewesen sein, dass sie vor Schlimmerem bewahrt hatte.
6.45 Uhr, eine Viertelstunde bevor ihr Wecker geklingelt hätte, war sie aufgewacht. Richard bekam mit, wie sie aus dem Bett schlüpfte. Er öffnete kurz die Augen, wünschte ihr mit heiserer, verschlafener Stimme für ihren Termin alles Gute, drehte sich dann wieder um und schnarchte sofort weiter. Nachdenklich blieb Emily am Fußende des Bettes stehen und schaute ihren Mann lange an. Sie hatte gespürt, dass er in den vergangenen Jahren immer egoistischer geworden war. Aber dass er sich nur noch so wenig interessiert zeigte an ihrem Schicksal, war ein Schock für sie.
Als um 7.30 Uhr der Verkehrsbericht auf BBC Jersey lief, saß sie am Küchentisch und frühstückte. Draußen war es verdächtig windstill. Die gezackten Blätter des hohen Ahorns vor dem Fenster hingen so unbeweglich an den Ästen, als wären sie gar nicht echt. Auch das Meer – von der Küche aus als tiefblauer Streifen über dem Rosenbeet zu erkennen – schien sich kaum zu rühren, was ungewöhnlich war für einen Morgen an der Küste von Jersey. Lustlos kaute Emily auf einem aufgewärmten Croissant herum.
Noch vor zwei Tagen hatte sie im Garten fröhlich ihren achtunddreißigsten Geburtstag gefeiert, heute dagegen war ihre schöne Unbeschwertheit verschwunden. Schon während der ganzen Nacht hatte ihr Unterbewusstsein sie wie eine tickende Zeitbombe daran erinnert, dass ihr an diesem Vormittag der Termin im Krankenhaus bevorstand. Um neun Uhr wurde sie von Professor Riddington im General Hospital in St. Helier erwartet. Und sie machte sich nichts vor – diese Schlussbesprechung würde ihr ganzes weiteres Leben verändern.
7.50 Uhr, noch Zeit für ein paar Zeilen an Jonathan, ihren sechzehnjährigen Sohn, falls sie wider Erwarten doch ein oder zwei Tage im Krankenhaus bleiben musste. Jonathan war auf Klassenfahrt in Frankreich. Emily wollte vermeiden, dass er wiederkam und keinen Gruß von ihr vorfand, denn Richard hatte ab morgen die Steuerprüfer in der Zentrale seines Teegroßhandels und würde voraussichtlich für mehrere Tage ausfallen.
8.53 Uhr. Emily trat beklommen aus dem Fahrstuhl. Die Station für Neurologie war ihr inzwischen halbwegs vertraut. Fünf neuropsychologische Gedächtnistests waren dem heutigen Termin bereits vorausgegangen, fünf Tage voller irritierender Fragen, Versuchsreihen mit einem EEG-Gehirnschreiber und Röntgenaufnahmen.
Aus einem der Krankenzimmer kam eine der Schwestern. Emily kannte sie von ihrem letzten Termin.
»Nehmen Sie ruhig schon in Behandlungszimmer zwei Platz, Mrs. Bloom.«
Emily ging an den Plakaten und Fotodrucken des langen kalten Flures entlang und öffnete die letzte Tür auf der rechten Seite. Es war das Behandlungszimmer mit dem großen bequemen Kippsessel, in dem sie schon mehrmals während der neurologischen Sitzungen gelegen hatte.
9.05 Uhr. Schon während der Begrüßung war Professor Riddington auf seinem Schreibtischstuhl an ihren Kippsessel herangerollt, sodass sie sich jetzt direkt gegenübersaßen.
Emily spürte das Zittern ihrer gefalteten Hände auf den Knien. Sanft legte er eine Hand auf ihren Arm. Er war Anfang fünfzig und nicht unattraktiv. Seine Stimme hatte einen jugendlichen Klang, der beruhigend wirkte.
»Bleiben Sie ganz entspannt, Mrs. Bloom! Hören Sie einfach nur zu.« Er machte eine kleine Pause, bis sie sich etwas beruhigt hatte. »Wir haben nun also ein Ergebnis. Und es ist tatsächlich ein Phänomen, das es so erst wenige Male gegeben hat, zuletzt bei einer Frau in den USA …«
»Was heißt das?«, fragte sie zaghaft. »Ist es eine Krankheit?«
Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Nein. Ganz im Gegenteil – ich würde sagen, es ist eher ein besonderes Geschenk der Natur.«
Mit leiser Stimme fragte sie: »Was bedeutet das genau?«
»Nun, wir haben ja in der vergangenen Woche darüber gesprochen, dass es in jedem menschlichen Gedächtnis Regionen gibt für die Speicherung von Faktenwissen und Regionen für das episodisch-autobiografische Wissen. Letztere sitzen in der rechten Gehirnhälfte.«
Sie nickte. »Ich erinnere mich.«
Er quittierte ihre Bemerkung mit einem kleinen Schmunzeln. »Daran habe ich nicht gezweifelt.« Dann wurde er wieder ernst und wandte sich dem umfangreichen Gutachten zu. »Wir wissen nun: Das episodische Erinnern ist bei Ihnen offensichtlich von Geburt an in einem Maße ausgeprägt, wie man es bisher kaum für möglich gehalten hat. Unsere neuropsychologischen Tests haben das ebenso erwiesen wie sämtliche andere Untersuchungen. Kurz: Ihre Gedächtniskapazität – und wir reden ausschließlich über das Langzeitgedächtnis – sprengt jedes bisher gekannte Maß.«
Mühsam versuchte sie, sich auf Professor Riddingtons Ausführungen zu konzentrieren. Seine hohe Reputation als international angesehener Hirnforscher war unumstritten. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er auch in ihrem Fall die richtigen Schlussfolgerungen zog.
Behutsam begann er ihr klarzumachen, warum sie im wahrsten Sinne des Wortes einzigartig war. Sie besaß die ungewöhnliche Fähigkeit, sich detailgenau an die Abläufe jedes einzelnen Tages zu erinnern, den sie jemals erlebt hatte.
Der 5. Mai vor sieben Jahren? Kein Problem für Emily. Ohne Zögern konnte sie sagen, dass sie sich damals mittags um Viertel nach zwölf mit ihrer Freundin Helen zum Essen im Bistro Central getroffen hatte, was sie gespeist hatten und dass es in ihrem Gespräch um Helens neuen Liebhaber gegangen war. Am Nachbartisch hatten drei junge Banker in schwarzem Anzug und dunkelblauer Krawatte gesessen.
Der 30. April 1983? Eine heftige Auseinandersetzung mit ihrem Schwager Harold Conway, der behauptet hatte, Emily würde sich zu wenig um ihre Schwiegereltern kümmern. Jedes Wort dieser Diskussion wusste sie noch, als sei es gestern gesagt worden. Ihr Gehirn war ein Kalender mit sämtlichen Eintragungen aller dreihundertfünfundsechzig Tage eines Jahres, jederzeit abrufbar nach Terminen und Ereignissen.
»Am erstaunlichsten in Ihrem Fall«, fuhr Professor Riddington fort, »ist für uns aber die komplette Vernetzung ihrer situativen Erinnerung mit den Einzelerinnerungen Sprache, Geruch und Raumerlebnis. Alle Tests, die wir in den vergangenen Wochen gemacht haben, konnten das bestätigen.«
»Ich habe es befürchtet«, sagte Emily so ruhig wie möglich. Sie wusste, es hatte keinen Zweck mehr, sich gegen die Erkenntnis zu wehren, dass sie anders war als andere Menschen.
Sie war selbst oft genug erschrocken gewesen über dieses Phänomen. Denn nicht nur längst vergangene Begegnungen und Gespräche konnte sie jederzeit wie Filmaufnahmen wieder vor ihren Augen und in ihren Ohren lebendig werden lassen, sie erinnerte sich auch problemlos daran, wo und wann ihr bestimmte Gerüche und Düfte in einem Raum begegnet waren, welchen Klang einzelne Stimmen besaßen oder welche Kleidung sie selbst oder andere zu irgendeiner Gelegenheit getragen hatten.
Mit zwölf Jahren hatte es angefangen, und es hatte nie mehr aufgehört. Es war Fluch und Segen zugleich. Warum, fragte Emily sich in diesem Moment verzweifelt, hatte es ausgerechnet sie treffen müssen? Ihre Schwester Edwina hatte ein ganz normales Gedächtnis.
Sie brauchte jetzt dringend eine Pause. »Können wir einen Augenblick unterbrechen?«, fragte sie.
»Kein Problem«, sagte Professor Riddington. »Gehen Sie ruhig eine Viertelstunde an die frische Luft.«
9.42 Uhr. Aufgeregt ging Emily auf dem Parkplatz hin und her. Was sie gerade erfahren hatte, war nur schwer zu verdauen, auch wenn sie das meiste davon ja schon geahnt hatte. Sie beschloss, Richard anzurufen. Mit wem sollte sie darüber reden, wenn nicht mit ihrem Mann? Mit blassem Gesicht klopfte sie an das Glashaus des Pförtners und bat darum, kurz ein Ortsgespräch führen zu dürfen.
Als Richard nach langem Klingeln endlich ans Telefon kam, wirkte er merkwürdig unkonzentriert, als sei er gerade mit etwas anderem beschäftigt gewesen. Atemlos berichtete sie ihm, was der Professor ihr mitgeteilt hatte. Natürlich erwartete sie, dass er ihr irgendetwas Tröstliches sagte, doch stattdessen zögerte er einen Moment und meinte dann in sachlichem Ton: »Klingt irgendwie beängstigend … Vielleicht musst du doch noch einen anderen Fachmann fragen.«
Sie war irritiert. »Ist irgendwas, Richard?«
Seine Stimme nahm einen gereizten Ton an. »Nein, wieso? Ich frühstücke gerade.«
Enttäuscht beendete sie das Gespräch.
10.00 Uhr. Sie lag wieder auf Professor Riddingtons weißem Kippsessel. Mit ängstlichen Augen schaute sie den Arzt an und stellte ihre wichtigste Frage. »Was kann ich tun, um diese Fähigkeit wieder loszuwerden? Geht das überhaupt?«
Professor Riddington schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, im Gegenteil. Es könnte sogar sein, dass Sie mit fortschreitendem Alter manche Erinnerungen noch intensiver, noch farbiger und noch nachdrücklicher speichern werden. Die guten Erfahrungen, aber auch die schlechten.«
Verzweiflung und plötzliche Furcht vor ihrem eigenen Körper stiegen in Emily hoch. Sie spürte, wie ihre Haut glühte. Ohne dass sie es selbst merkte, wurde ihre Stimme lauter und angestrengter, als könnte sie das Problem mit Worten aus der Welt schaffen.
»Aber es muss doch Strategien geben, meinen Kopf von all diesen Dingen wieder zu befreien! Hypnose, psychoanalytische Behandlungen, was weiß ich … Nennen Sie mir einen Weg, und ich werde ihn gehen!«
Professor Riddington ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass es falsch wäre, sie jetzt zu schonen. Nur wenn sie die vollständige Wirkungsweise der so ungewöhnlich ausgeprägten Amygdala-Region ihres Gehirns und des Hippocampus begriff, konnte sie ihr Leben neu einrichten.
»Lassen Sie es mich so erklären«, sagte er so sachlich wie möglich, »Ihre Erinnerung ist wie ein Film, von dem bei jedem Löschen automatisch eine neue Kopie hergestellt wird, ohne dass Sie etwas dagegen tun können. Das Vergessenwollen ist eine Sisyphusarbeit – Sie können sie niemals vollenden, sosehr Sie sich auch bemühen, während der gewaltige Felsen des Erinnerns immer größer wird.«
Emilys Stimme zitterte. »Und wie soll ich damit fertig werden? Sagen Sie es mir!«
Er hob beschwichtigend die Hand. »Aber Mrs. Bloom! Es ist doch nicht nur eine Last, wie Sie jetzt denken. Es ist auch ein großes Geschenk. Vergessen Sie das nicht. Sie sind jetzt achtunddreißig, sie haben noch viele Jahre vor sich. Die meisten Menschen sehnen sich nach einer so ungewöhnlichen Fähigkeit, wie Sie sie besitzen. Nie mehr zu vergessen erscheint uns wie ein Abbild der Unsterblichkeit. Das gelebte Leben – für immer festgehalten.«
Langsam begann sie zu begreifen, was diese Sätze bedeuteten.
Ihr bisheriges Leben, aber auch ihr zukünftiges erschienen ihr plötzlich in einem neuen, erschreckend grellen Licht. Dass die alltäglichen, harmlosen Erinnerungen stets präsent waren in ihr, damit konnte sie seit Langem gut leben. Es waren Gedächtnisfetzen, die sie wie andere Menschen auch ganz nebenbei für ein anregendes Gespräch benutzte: Erinnerungen an empfundene Zärtlichkeiten und unvergessene schöne Stunden, aber auch an einen kleinen Streit mit Richard und die anschließende romantische Versöhnung. Daran dachte sie gern.
Doch was war mit den schlimmen Erinnerungen?
Mit den schrecklichen Minuten des Autounfalls, bei dem ihre Eltern umgekommen waren und den sie als Sechzehnjährige auf dem Rücksitz überlebt hatte? In vielen Nächten kehrten die blutigen Bilder mit grausamer Realität in ihren Kopf zurück, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.
Was war mit den unerträglichen Schmerzen, den ihr ein Beinbruch vor fünf Jahren beschert hatte? Noch heute – sie brauchte sich nur mit dem Küchenmesser in den Finger zu schneiden – spürte sie diese bohrende Mischung aus dumpfen, scharfen und knochentief vibrierenden Schmerzen in ihrem Bein, als sei es gerade erst passiert.
Was war mit den schlaflosen Nächten voller Angst, als sie vor einigen Jahren einen Knoten in ihrer rechten Brust ertastet hatte, der sich später zum Glück als harmlos herausgestellt hatte?
Mit dem Handrücken fuhr Emily sich über das Gesicht. Feuchte Spuren schwarzer Wimperntusche blieben auf den Wangen zurück.
»Und meine Albträume? Wie ertrage ich die?«, flüsterte sie unter Tränen.
Professor Riddington gab keine Antwort. Sie wusste, was sein Schweigen bedeutete. Für den Rest ihres Lebens würde sie dazu verdammt sein, sich jeden Tag neu mit den dunkelsten und schmerzhaftesten Momenten ihrer Erinnerung zu quälen.
Das Geschenk des Vergessens war ihr nie wieder vergönnt.
11.35 Uhr. Wie ausgebrannt kam sie nach Hause zurück. Ihr schönes altes Cottage auf der Anhöhe über St. Brelade’s Bay erschien ihr plötzlich grau, obwohl genau in diesem Augenblick ein Strahl Sonne durch die Wolken brach und über den blühenden Garten wanderte. Ohne es zu bemerken, schloss sie die dunkelgrün lackierte Haustür. Sie hoffte inständig, dass Richard dahinter stand und sie in den Arm nahm.
11.43 Uhr. Er war nicht da. Auf dem Küchentisch stand noch sein Frühstücksteller voller Krümel, darauf die blaue Teetasse. Kein Gruß, gar nichts. Bitter enttäuscht ging Emily durch den Flur ins Schlafzimmer, um sich auszuziehen. Sie hatte nur noch den Wunsch, sich von allem zu reinigen, was ihr heute widerfahren war.
Als sie den Raum mit der niedrigen alten Balkendecke betrat, fielen ihr sofort die offenen Schranktüren auf. Entsetzt musste sie feststellen, dass Richards Hälfte der Fächer, seine Kleiderbügel und sämtliche Schubladen für Strümpfe und Unterwäsche leer geräumt waren. Ungläubig trat sie einen Schritt zurück und ließ sich aufs Bett fallen. Es gab keinen Zweifel – Richard hatte sie verlassen.
Ihr wurde schwindelig.
18.20 Uhr. Ein Anruf der Polizei ließ Emily endgültig zusammenbrechen. Drei Meilen vor der französischen Küste hatte man Richards Segelschiff entdeckt, herrenlos auf dem Meer treibend. Nur die beiden Reisetaschen mit seinen persönlichen Sachen standen noch in der Kajüte. Das vordere Deck war voller Blut. Zwei blutbeschmierte Messer, die im Ankerkasten versteckt waren, deuteten auf einen Kampf hin, machten aber Richards mysteriöses Verschwinden nur noch rätselhafter.
Emilys Finger verkrampften sich um den Telefonhörer. Sie konnte nicht einmal schreien …
Fast wütend über ihre Erinnerung warf Emily die warme Daunendecke zur Seite, setzte sich auf den quietschenden Bettrand und atmete ein paar Mal tief durch. Langsam kam sie wieder zur Ruhe. Eigentlich hatte sie diese schlimme Zeit überwunden. Das Einzige, was sie in all den Jahren nicht fertiggebracht hatte, war, ihren Mann für tot erklären zu lassen. Seine Leiche hatte man nie gefunden.
Alles, was Professor Riddington ihr prophezeit hatte, war eingetroffen. Mit jedem Jahr, das sie älter geworden war, hatte ihre besondere Gedächtnisleistung zugenommen. Heute war sie so weit, dass sie ohne Probleme nicht nur Gespräche, sondern sogar ganze Zeitungsinhalte oder Fernsehsendungen, die sie vor Monaten gesehen hatte, wortwörtlich wiedergeben konnte.
Um andere Menschen nicht zu erschrecken, machte sie jedoch nur selten Gebrauch davon. Sie versuchte, das Ganze mit Humor zu nehmen. Nur einige enge Freunde wussten Bescheid. Sie kam sich vor wie eine Hexe, die ihre Fähigkeiten für sich behalten musste, damit sie nicht die Sympathie der anderen verlor.
Gedächtnishexe hatte ihr Sohn sie einmal im Spaß genannt.
Auch der Chef de Police der Gemeinde St. Brelade, Harold Conway, glaubte an die negative Kraft schlechter Mondnächte, und so fühlte er sich heute unausgeschlafen und gerädert. Nach so wenig Schlaf frühmorgens am Flughafen herumstehen zu müssen, ärgerte ihn sehr.
Obwohl er Glück hatte, weil er heute von Constable Officer Sandra Querée begleitet wurde, die wenigstens attraktiv und fröhlich war, machte ihn dieser Einsatz geradezu mürrisch. Da er aber nun einmal in dieser Woche Dienst hatte und für die Verhaftung von Frank Guiton zuständig war, musste er sich wohl oder übel gedulden. Eigentlich hätte der Fall Guiton zum Polizeirevier St. Ouen gehört, doch dort grassierte die Sommergrippe, und man war dramatisch unterbesetzt.
Sie warteten auf dem seitlichen Parkplatz, wo die Mietwagen zurückgebracht wurden. Von dort aus konnten sie den Eingang der Abflughalle am besten im Auge behalten. Erstaunlich, wie viele Menschen morgens um sieben die ersten beiden Flieger nach London nehmen wollten. Ein goldfarbener Bentley fuhr vor. Der Chauffeur sprang heraus und öffnete die hintere linke Tür. Ein teuer gekleideter Fahrgast mit silbernem Haar und arroganter Attitüde stieg gemächlich aus. Der Chauffeur reichte ihm eine lederne Aktentasche. Ohne sich weiter von seinem Fahrer zu verabschieden, verschwand der Mann in der Abflughalle.
Mit verschränkten Armen lehnte Conway an der Backsteinmauer neben dem kleinen Holzkasten, in den die Mietwagenkunden zum Schluss ihre Autoschlüssel einwerfen mussten. »Was macht so ein arroganter Pinsel wohl nachher in London?«
Sandra Querée spielte mit ihren braunen Haaren, die zu einem frechen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. In ihrer schwarzen Jacke und Hose, die zusammen fast wie ein Overall aussahen, wirkte sie beinahe keck.
Abschätzig verzog sie den Mund. »Wahrscheinlich geht er erst zu seiner Bank und anschließend zu seinem Herrenausstatter in die Savile Row.«
»Die Sorgen möchte ich auch haben.«
Conway trug nur selten die eng anliegenden Polizeijacken, die seine jüngeren Kollegen bevorzugten. Als Chef liebte er es dezenter. Meistens trug er einen Anzug mit blauem Polizeihemd und Krawatte. Auf seinem Revers prangte das Abzeichen der Honorary Police von Jersey. Sein hageres Gesicht wirkte im Morgenlicht wie holzgeschnitzt. Durch seine großen Segelohren, die das militärisch kurze, rötliche Haar begrenzten, war er eine unverwechselbare Erscheinung.
Mit ironischem Unterton zitierte er einen Spruch, den jeder auf Jersey kannte: »Wie sagt man so schön? Ruft das Geld, rennt die Welt.«
Sandra lachte. »Das hat Frank Guiton sicher auch gedacht, als er sein eigenes Rennpferd geklaut hat.« Sie beugte sich etwas vor, um die Halle besser im Blick zu haben. »Sollten wir nicht mal langsam zu den Abflugschaltern rübergehen?«
Conway sah auf seine Fliegerarmbanduhr. »Schon zwanzig nach sieben … Hoffentlich kommt er überhaupt.«
Sie hatten gestern Abend einen anonymen Hinweis bekommen, wo die verschwundene Stute versteckt war und dass Frank Guiton, ein junger, angeblich hoch verschuldeter Züchter, die Sache von vornherein als Versicherungsbetrug angelegt hatte. Guiton sei seit gestern Abend absichtlich untergetaucht und wolle sich heute Morgen mit einem der ersten Flüge nach London absetzen.
»Da ist er!«, sagte Sandra plötzlich.
Vor dem Eingang zur Abflughalle stieg Frank Guiton gerade aus einem Taxi. Polohemd, Jeans, braun gebrannt, dunkle Haare, Ende dreißig – er wirkte wie einer der lässigen, gut aussehenden jungen Polostars aus England, die Conway am vergangenen Sonntag bei einem Turnier gesehen hatte. In der Rechten trug Guiton eine Reisetasche, in der Linken eine schwarze Sportjacke.
Conway gab Sandra ein Zeichen. »Los geht’s!«
Dass sie eine solche filmreife Festnahme vornehmen mussten, kam nicht allzu oft vor. Harold Conway hatte deshalb beschlossen, diesen Auftritt als Polizeichef auch ein wenig zu genießen.
Sie gingen mit schnellen Schritten über die Straße, betraten die Halle, in der sich die Check-in-Schalter befanden, und erwischten Frank Guiton in dem Moment, als er abseits der langen Schlangen vor den Schaltern an einem der neuen Automaten selbst einchecken wollte.
»Mr. Frank Guiton?«
»Sekunde … Ja?« In aller Ruhe nahm er sein Flugticket aus dem Automaten, dann erst drehte er sich um.
Mit lauter Stimme sagte Conway: »Honorary Police St. Brelade! Dürfen wir Sie bitten, uns zu einer Vernehmung nach St. Aubin zu begleiten?«
Guiton schien weit weniger erschrocken zu sein, als Conway erwartet hatte. Er schaute irritiert, aber seelenruhig von einem zum anderen. Seine kräftigen Augenbrauen verliehen ihm eine sehr männliche Ausstrahlung. Die ruhige und dunkle Stimme passte gut dazu. »Ich nehme an, es geht um den Pferdediebstahl.«
Er schien das Ganze immer noch für Routine zu halten.
»Ja, aber wir möchten das ungern hier diskutieren«, antwortete Conway knapp. Mit seinem knochigen Zeigefinger deutete er auf die schwarze Reisetasche. »Darf ich fragen, was Sie in London wollen?«
»Ich bin Mitglied im Vorstand eines großen Pferdezuchtverbandes. Und um zwölf Uhr beginnt eine wichtige Sitzung auf der Rennbahn von Windsor.« Offensichtlich ging er immer noch davon aus, dass er die Maschine erreichen würde. »Soll ich umbuchen und eine Stunde später fliegen? Hilft Ihnen das?«
»Vergessen Sie Ihren Flug«, sagte Conway. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass heute noch was draus wird.«
»Geht es auch weniger geheimnisvoll?«, fragte Guiton.
In Conways Jacke klingelte das Handy. Er zog es aus der Tasche und sah auf dem Display, dass es das Büro des Staatsanwalts war. Wieder einmal rief es zur unpassenden Zeit an.
»Sekunde.«
Er ließ Guiton stehen und trat hinter eine Säule, um zu telefonieren.
Guiton nutzte die Gelegenheit, um sich an Sandra Querée zu wenden, die auf ihn den Eindruck machte, als sei sie etwas entgegenkommender als der Chef de Police. Sie war nur unwesentlich jünger als er, und ihm war nicht entgangen, dass sie ihn die ganze Zeit mit weiblicher Neugier betrachtet hatte.
»Bekomme ich wenigstens von Ihnen einen Tipp, worum es geht?«, fragte er leise und ließ seinen ganzen Charme spielen.
Sandra biss sich auf die Unterlippe. »Darüber darf ich nicht sprechen …«
»Bitte! Nur eine Andeutung! Stellen Sie sich vor, Sie wären selbst in so einer unangenehmen Situation …«
Sein hilfloser Blick aus den tiefblauen Augen verfehlte nicht seine Wirkung. Plötzlich konnte Sandra sich wieder erinnern, wo sie dieses magisch männliche Gesicht schon einmal gesehen hatte. Es hatte ihr von einem großen Werbeplakat für irgendwelche Veranstaltungen auf der Pferderennbahn entgegengelacht. Verwegen wie ein Cowboy hatte er ausgesehen.
Ihr Mitleid siegte. Nachdem sie sich vorsichtig nach Conway umgeschaut hatte, der immer noch gestikulierend an der Säule stand, sagte sie hastig: »Man hat Ihr Pferd wiedergefunden, gestern Abend. Auf einer Wiese bei St. Aubin. Und es gibt Zeugen, die behaupten, dass Sie selbst es waren. Die Staatsanwaltschaft geht jetzt von Versicherungsbetrug aus …«
Frank Guiton schien ehrlich entsetzt zu sein. »Was?! Aber das ist doch verrückt! Warum sollte ich so was tun? Ich habe einen guten Ruf zu verlieren!«
»Vorsicht, mein Chef kommt zurück«, raunte Sandra ihm warnend zu.
Sie taten so, als hätten sie sich die ganze Zeit angeschwiegen, doch in Guitons Kopf arbeitete es sichtlich. Conway trat zu ihnen und steckte knurrend sein Handy wieder ein. »Sind wir so weit?«
»Ich denke, ja.« Sandra nickte. Sie vermied es, Guiton anzublicken.
Conway legte eine Hand auf Guitons Schulter und deutete zum Ausgang. »Gehen wir. Unser Wagen steht dort drüben auf der anderen Seite.«
Mit hoch erhobenem Kopf ging Guiton los, flankiert von Conway und Sandra. Der Kragen seines weißen Polohemdes hatte sich aufgestellt. Sandra sah es und hätte ihm den Kragen am liebsten ordentlich heruntergeklappt. Das Klappern ihrer Handschellen am Gürtel erinnerte sie jedoch an ihre Pflichten als Polizistin.
Sie verließen die Halle und traten hinaus auf den Vorplatz. Dort setzten sie den Verhafteten in den kleinen silberfarbenen Peugeot, der an den Seiten gelb-blau lackiert war und das Wappen des Staates Jersey trug. Darüber war der Name der zuständigen Polizeidienststelle St. Brelade angebracht.
Der Chef de Police klemmte sich hinter das Steuer, während Sandra sich neben Guiton auf die Rückbank setzte. So wollten es die Regeln. Stumm und mit angespannt mahlendem Unterkiefer starrte Frank Guiton aus dem Seitenfenster. Während der Fahrt sagte er kein Wort.
Inzwischen war es taghell geworden. Während ihr Chef den Dienstwagen steuerte, warf Sandra heimlich einen schnellen Blick auf den gut aussehenden Mann neben ihr. Er duftete angenehm nach Rasierwasser, und sie fragte sich, wie sie wohl aufeinander reagiert hätten, wenn sie sich am Wochenende in einer Diskothek kennengelernt hätten. Ihr war es durchaus nicht unangenehm, dass sich ihre und Frank Guitons Beine immer wieder kurz berührten, während ihr Chef mit flottem Tempo durch die vielen Kurven fuhr.
Im Rückspiegel registrierte Conway den musternden Blick seiner jungen Kollegin. Es ärgerte ihn, dass Sandra ihr Interesse an Männern so offen zeigte.
Wir sind alle viel zu nett, dachte er düster und kritisch. Das ist der Preis, den Jersey für seine ehrenamtliche Polizei bezahlt.
Es war ein System, das einmalig auf der Welt war. Seit Jahrhunderten verwalteten die Bürger der Kanalinsel – 160 Kilometer vom britischen Festland entfernt und 21 Kilometer vor der französischen Küste in der Bucht von St. Malo gelegen – ihre Sicherheit selbst. Polizeiarbeit, kommunale Verwaltung und viele andere Aufgaben speisten sich aus dem System der Freiwilligkeit. Erst seit 1853 gab es in der Hauptstadt St. Helier zusätzlich eine hauptberufliche Polizei für die übergeordneten Aufgaben.
Doch der größte Teil der alltäglichen Polizeiarbeit wurde nach wie vor von den vielen freiwilligen, unbezahlten Polizisten in den einzelnen Gemeinden übernommen. Bis heute ließ die Verfassung von Jersey eine Anklage als Grundlage für einen Gerichtsprozess nur dann zu, wenn sie von der ehrenamtlichen Polizei erhoben wurde. Das sorgte für ihren hohen Stellenwert.
Die Honorary Police