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Wissen ist Macht. Oder eine tödliche Gefahr ... Eine grausam zugerichtete Leiche in den Dünen und der Mord an einem Hotelier versetzen die Polizei der Kanalinsel Jersey in Alarm. Als die Teehändlerin Emily Bloom erfährt, dass sie das nächste Opfer sein soll, nutzt sie ihr absolutes Gedächtnis, um selbst nach dem Täter zu suchen. Bald erkennt sie, warum ihr Wissen tödlich ist. Denn die Jagd auf Emily hat längst begonnen ...
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Seitenzahl: 423
Kurzbeschreibung:
Wissen ist Macht. Oder eine tödliche Gefahr ...
Eine grausam zugerichtete Leiche in den Dünen und der Mord an einem Hotelier versetzen die Polizei der Kanalinsel Jersey in Alarm. Als die Teehändlerin Emily Bloom erfährt, dass sie das nächste Opfer sein soll, nutzt sie ihr absolutes Gedächtnis, um selbst nach dem Täter zu suchen.
Bald erkennt sie, warum ihr Wissen tödlich ist. Denn die Jagd auf Emily hat längst begonnen ...
Claus Beling
Drum stirb auch du
Ein Jersey-Krimi
Edel Elements
Edel Elements
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Copyright 2017 by Claus Beling
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ISBN: 978-3-95530-965-7
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An diesem Tag herrschte ein Wetter, dem alles zuzutrauen war, wie die Fischer immer sagten. Der Strand von St. Brelade’s Bay zeigte sich auffallend menschenleer. Seit den frühen Morgenstunden zogen tief hängende, dicke Nebelschwaden über Jersey hinweg und ließen kaum die Sonne durch. Niemand hatte Lust, schwimmen zu gehen, auch weil der Westwind sehr viel heftiger wehte als sonst.
Nur am Anfang der Bucht, an der stattlichen Kirche mit ihrer kleineren Fisherman’s Chapel, parkten auffällig viele Autos. Nicht dass man in St. Brelade’s Bay besonders religiös gewesen wäre. Aber heute war der Tag, an dem der junge Vikar Godfrey Ballard verkünden wollte, wie viel Geld die Versteigerung der beiden Tagebücher des Schriftstellers Victor Hugo eingebracht hatte, die man durch Zufall auf dem Dachboden des Pfarrhauses gefunden hatte. Hugo hatte von 1852 bis 1855 im Exil auf Jersey gelebt, und der Fund seiner Tagebücher aus dieser Zeit – mit ersten Ideen für den großen Roman Les Misérables – war eine literarische Sensation gewesen. Gestern hatte bei Christie’s in Paris die Auktion stattgefunden, deren Erlös die kleine Kirchengemeinde dringend für Renovierungen benötigte.
Als schon alle in der Kirche saßen, öffnete sich noch einmal leise die schwere Holztür zum Vorraum, und Simon Stubbley schlüpfte hinein. Um nicht gesehen zu werden, blieb er in einer Nische stehen, wo er sich heftig atmend an die Wand lehnte. Er war den ganzen Weg von den Dünen bis hierher gelaufen. Den Kragen seiner unauffälligen grauen Jacke hatte er hochgestellt, sodass man nicht viel mehr sah als weiße Haare und ein weißbärtiges Gesicht. Er glaubte nicht, dass ihn hier im Halbdunkel jemand erkennen würde. Die Jacke hatten sie ihm bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis mitgegeben, und er war froh, dass er sie heute Morgen angezogen hatte.
Vorsichtig spähte Simon in das Innere der Kirche. Der Gang war mit einem blauen Teppich ausgelegt. Da der Gottesdienst noch nicht begonnen hatte und gerade erst die Gesangsbücher verteilt wurden, stand der Vikar noch an der vorletzten Bank und plauderte mit John Willingham, dem eleganten ehemaligen Richter, der jetzt wieder als Anwalt arbeitete und seinen Anteil daran hatte, dass Simon vorzeitig entlassen worden war. Willingham war für seine Schlagfertigkeit bekannt. Vikar Ballard fragte ihn etwas, worauf Willingham schnell und witzig antwortete, sodass Godfrey lachen musste.
Simon ließ seinen Blick über die anderen Bänke in der Kirche schweifen. Sie waren alle da. Es erfüllte ihn mit Befriedigung zu sehen, dass die meisten von ihnen in den vergangenen sechs Jahren ebenfalls sichtlich gealtert waren.
Dann entdeckte er endlich auch Emily Bloom.
Nur ihretwegen war er hier. Er wollte noch einmal wissen, wie sie lebend aussah.
Sie saß in der vierten Reihe. Lächelnd unterhielt sie sich mit ihrem Banknachbarn. Simon konnte sehen, dass sie immer noch eine interessante Frau war. Sie musste jetzt um die fünfzig sein und wirkte mit ihren hochgesteckten dunkelblonden Haaren wie eine wahrhafte Lady. Es schmerzte ihn.
All die Jahre im Gefängnis hatte er das kleine Foto von Emily Bloom aufgehoben und es sich von Zeit zu Zeit angeschaut. Das tat er immer dann, wenn er merkte, dass ihr Bild in seiner Erinnerung zu verblassen drohte.
Er hatte die Aufnahme vor acht Jahren an einem sonnigen Montagmorgen gemacht, als er wieder einmal auf dem Weg zum Hafen von St. Aubin gewesen war, um sich von den Fischern ein paar Seebarschköpfe schenken zu lassen, aus denen er dann Suppe kochte. Emily Bloom stand gerade vor ihrem Teeladen und pflanzte rote Blumen in die beiden Hängetöpfe rechts und links der Eingangstür. In diesem Moment hatte er abgedrückt. Aber sie hatte es rechtzeitig bemerkt, sich umgedreht und in die Kamera gelacht, sodass er schnell ein zweites Foto machte. Damals war er noch fest davon ausgegangen, dass ihr Lachen auch bedeutete, dass sie ihn mochte.
Doch das sollte sich bald als Irrtum herausstellen.
Sie war verlogen und hinterhältig. Aber das hatte er erst bemerkt, als es zu spät war und sie ihn verraten hatte.
Am meisten bereute er, dass er ihr so viel von sich erzählt hatte. Das hatte sich nur ergeben, weil er im Sommer oft am Strand campierte. Wenn sie auf ihren Spaziergängen vorbeigekommen war, hatte sie sich oft für eine Weile auf seine Decke gesetzt und mit ihm über dies und das geredet. Seinen Rotwein hatte sie nie angerührt, dazu war sie zu vornehm. Am meisten hatte ihn aber beeindruckt, dass sie niemals der Versuchung erlegen war, ihm sein Leben als Strandläufer auszureden.
Und dann ihr Verrat.
Dabei wusste er auch etwas von ihr und hatte es immer für sich behalten. Emily Blooms großes Geheimnis.
Sie hatte ihm gestanden, dass sie das absolute Gedächtnis besaß, mit dessen Hilfe sie sich buchstäblich an jeden einzelnen Tag ihres Lebens erinnern konnte. Ein Professor hatte ihr gesagt, dass es nur wenige Menschen auf der Welt gab, die über diese besondere Fähigkeit verfügten. Es war wie Hexerei.
Sie redete nicht groß darüber, weil es den Leuten Angst gemacht hätte. Erst hatte er es nicht glauben wollen, doch dann hatte sie es ihm lachend vorgemacht. Sie wusste noch ganz genau, an welchem Tag vor 15 Jahren sie ihn zum ersten Mal auf der Hafenrampe von St. Aubin getroffen hatte und mit welchem Wortlaut sie ins Gespräch gekommen waren. Sogar, dass aus dem Imbiss hinter ihnen grässlicher Zwiebelgeruch herübergeweht war, wusste sie noch.
Seit damals hatte er ihr vertraut, weil sie so herzlich war. Manchmal war sie ein Stück mitgelaufen, wenn er wieder mal in ihrer Bucht Strandgut sammelte. Eine fröhliche, burschikose Lady in Gummistiefeln.
Natürlich konnte da nicht ausbleiben, dass auch er ihr ein paar Sachen anvertraute. Wie man das eben so macht unter Freunden. Mrs. Bloom hatte es sich immer wie eine geduldige Beichtmutter angehört und ihn nicht ein einziges Mal kritisiert. Nur dass er immer so schnell wütend wurde, fand sie nicht gut.
Jetzt bereute er heftig, dass er ihr so viel erzählt hatte.
Ihr Foto besaß er immer noch, aber jetzt war ihr lachendes Gesicht mit einem dicken schwarzen Kreuz durchgestrichen. Es war ein Macumba-Kreuz, mit dem man seine Feinde für tot erklärte. Sein Zellennachbar Joaquim hatte es ihm beigebracht.
Er war ein echter Freund geworden. Seit der Brasilianer im vergangenen Jahr schwer krank gewesen war und er ihn in der Zelle gepflegt hatte, zeigte Joaquim eine fast unterwürfige Anhänglichkeit. Für dich würde ich sogar töten, hatte er voller Dankbarkeit gesagt. Ein größeres Kompliment konnte man von einem Brasilianer wohl nicht bekommen.
Dann war Simon jemand eingefallen, den man dringend töten müsste.
Er wusste zwar noch nicht, wie er Mrs. Bloom sterben lassen wollte, aber dass sie vorher richtig Angst bekommen sollte, war ihm wichtig. Erst sollte sie seine Macht spüren und dann zitternd den Tod erwarten.
Plötzlich war ihm wieder das Samuraischwert eingefallen, das sie ihm einmal in ihrem Gartenhaus gezeigt hatte. Er hatte sich aus der Gefängnisbibliothek das Lexikon ausgeliehen, in dem auf zwei Seiten historische Waffen abgebildet waren. Die Samuraischwerter hatten ihm am besten gefallen. Angeblich waren sie scharf wie Rasiermesser.
Das wäre doch was für Mrs. Blooms Hals.
Das Erste, was Emily Bloom an diesem Vormittag auffiel, als sie auf die Terrasse trat, war die aufgebrochene Tür des Gartenhauses. Sie stand halb offen, mit abgerissenem Griff und zersplittertem Türrahmen.
Doch erst der Blick ins Innere der Holzhütte offenbarte das ganze Maß der Zerstörung. Überall lagen Glasscherben herum. Mehrere der roten Sitzkissen, die aufgestapelt in der Ecke lagen, waren aufgeschlitzt und von einem heruntergefallenen Fläschchen Fahrradöl verschmiert. Das hübsche alte Vogelhäuschen hing zerfetzt an einem der Wandhaken für die Gartengeräte.
Entsetzt fragte sich Emily, wer so etwas tat. Instinktiv blickte sie sich im Garten um, als könnte sich der Einbrecher noch immer hier verstecken. Es war nichts Auffälliges zu sehen oder zu hören, nur das übliche Rauschen des Windes, der vom Meer heraufkam und über die Anhöhe von St. Brelade’s Bay hinwegstrich.
Sie zog die Hüttentür ganz auf und ging hinein. Auch wenn es ihr schwerfiel, im Durcheinander der Blumentöpfe, des Grillzubehörs und der Liegestühle festzustellen, was sonst noch fehlte, stach ihr sofort ihre hellbraune Picknickdecke ins Auge. Sonst lag sie immer ordentlich zusammengefaltet auf dem obersten Brett des hinteren Regals. Jetzt befand sie sich ausgebreitet auf dem staubigen Boden und hatte dem nächtlichen Besucher ganz offensichtlich als Schlafstelle gedient. Ein Teil der Decke war übersät mit ekligen grauen Flecken. Sie stammten vermutlich von der leeren Weißweinflasche, deren Hals unter der Decke hervorschaute.
Dann erst fiel Emilys Blick auf die linke Innenwand der Hütte.
Sie war leer. Nur ein senkrecht verlaufender heller Streifen auf dem nachgedunkelten Holz verriet, das dort etwas fehlte.
Das japanische Samurai-Schwert.
Emily erschrak. Auch wenn das Schwert nur ein Exemplar aus billigem Eisen gewesen war, konnte es doch in falschen Händen gefährlich werden. Emilys damaliger Ehemann Richard hatte das mit Drachenfiguren verzierte Stück von einem Teehändler aus Tokio als Werbegeschenk erhalten. Sie hatten es damals sofort ins Gartenhaus verbannt und ihre Scherze damit getrieben. Benutzt wurde es immer nur dann, wenn sie eine Art Machete brauchten, um Gestrüpp zu lichten.
Ihr zweiter Gedanke war, dass sie das hässliche Schwert nun endlich los war. Doch sie wusste selbst, dass es keinen Grund gab, deshalb beruhigt zu sein. Immerhin ging es um eine Waffe, eine ziemlich scharfe sogar. Und wer immer jetzt mit dieser Klinge in der Hand durch die Gegend lief, konnte einen anderen Menschen damit verletzen oder sogar töten.
Sie ärgerte sich, dass sie die Gefahr, die von dem Schwert ausgehen konnte, so wenig ernst genommen hatte. Aber für sie war es nie mehr gewesen als ein grässliches Souvenir aus Japan, nicht anders als Geisha-Puppen oder billige Saké-Tassen aus Kunststoff.
Wütend warf sie die Tür des Gartenhauses wieder zu.
Jetzt lebte sie hier schon so lange, und noch nie waren Einbrüche in ihrer Gegend vorgekommen. Jersey war eine friedliche Insel, in der es zwar wie überall auf der Welt Kriminalität gab, aber doch höchst selten und meistens nur in milder Form, wie sie ihren Freunden in London immer stolz erzählte.
Warum, fragte sie sich, war der Einbrecher ausgerechnet zu ihr gekommen, obwohl in der Nachbarschaft doch viel attraktivere Häuser standen?
Dann erst sah sie das riesige schwarze Kreuz an der Fensterscheibe ihres Arbeitszimmers. Es war aufgesprüht, wie ein Kreuz, mit dem man etwas durchstreicht. Darunter stand in unbeholfen geführter Druckschrift: MACUMBA EMILY
Ihr wurde eiskalt. Ungläubig starrte sie auf das tödlich gemeinte Zeichen.
Der Einbruch war also kein Zufall. Sie wusste, was der Macumba-Fluch bedeutete. Sie sollte sterben. Auch wenn sie solchen Hokuspokus für Unsinn hielt, war das schwarze Kreuz doch eine unmissverständliche Drohung an sie. Aber von wem?
Es war höchste Zeit, die Polizei einzuschalten.
Sie wollte gerade ins Haus zurückgehen, als sie etwas Gelbes in der steinernen Vogeltränke entdeckte. Zwischen herabgefallenen Rosenblüten schwammen Zigarettenkippen. Sie ging hin und zählte. Es waren vier Stück, französische Zigaretten aus gelbem Maispapier.
Und plötzlich kam ihr ein Verdacht.
O Gott, dachte sie, Simon Stubbley ist zurück!
Eilig rannte sie ins Wohnzimmer und schnappte sich ihr tragbares Telefon. Während sie mit dem Daumen der Rechten die Telefonnummer der Polizeidienstelle in St. Aubin wählte, zog sie mit der linken Hand ihre blaue Gartenjacke aus und warf sie auf die Couch.
Am anderen Ende meldete sich Constable Officer Leo Harkins. Er schien erfreut, wieder einmal Emily Blooms Stimme zu hören. Als er die Nervosität in Emilys Worten bemerkte, stellte er das Gespräch schnell an den Chef de Police weiter. Wie jeder auf dem kleinen Polizeirevier wusste auch Harkins, dass Harold Conway der Exschwager von Mrs. Bloom war.
Es dauerte, bis sie weiterverbunden war. Der plötzlich veränderte Klingelton verriet Emily, dass man sie auf Harolds Handy umgestellt hatte. Als er sich endlich meldete, klang er kurz angebunden. Im Hintergrund war Straßenlärm zu hören.
»Was gibt’s, Emily?«
Er war kaum zu verstehen. »Entschuldigung, Harold … Sekunde, es ist extrem laut bei dir … Wo störe ich dich gerade?«
»Bei einem Außentermin.« Offensichtlich wollte er nicht weiter darüber reden. »Deshalb wäre mir eigentlich lieber, du würdest es später nochmal versuchen …«
»Solange kann ich leider nicht warten«, sagte sie. »Heute Nacht ist bei mir eingebrochen worden.«
»Was? Moment, ich gehe mal ein Stück zur Seite.« Es wurde ruhiger bei ihm. »Also – was genau ist passiert?«
Sie schilderte es ihm. Harold hörte zu, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen, was ungewöhnlich war, denn ihr Verhältnis befand sich seit einiger Zeit wieder auf Frosttemperatur. Doch als sie das Schwert erwähnte, konnte er sich nicht mehr zurückhalten und blaffte in den Hörer:
»Ein Samurai-Schwert? Und das hängt einfach so in deiner Hütte?«
»Ich weiß mittlerweile selbst, dass es nicht sehr schlau war«, gestand Emily. »Aber es hing nun mal da, und wir haben uns nie was dabei gedacht.«
»Was meinst du, wie oft ich diese Sätze höre«, antwortete Harold tadelnd. »Also weiter. Hast du zufällig ein Foto von dem Schwert?«
»Kann sein. Doch, ja … Jonathan hat mich mal damit im Garten fotografiert.«
»Ich brauche das Foto. – Was ist dir noch aufgefallen?«
Emily erwähnte die französischen Zigarettenkippen.
»Lass die Kippen bitte dort liegen, wo sie sind. Ich schicke dir gleich Leo Harkins mit einem anderen Kollegen vorbei. Sie werden sich ein Bild machen und Spuren sichern.«
»Bin ich denn die Einzige, bei der eingebrochen wurde?«, wollte Emily wissen.
Harolds Stimme klang plötzlich verschlossen, wie in einer Kapsel.
»Ja.«
Emily wurde hellhörig. »Und was die französischen Zigaretten betrifft … Denkst du dabei zufällig an dieselbe Person wie ich? Ist Simon Stubbley etwa aus dem Gefängnis zurück?«
Der Chef de Police schwieg.
»Bist du noch da, Harold?«
Mit leisem Aufstöhnen sagte er: »Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, Emily. Er ist vor vier Tagen entlassen worden.«
Also doch. Emily brauchte ein paar Sekunden, um die Nachricht zu verdauen. Als sie sich vorstellte, dass sie Simon womöglich begegnet wäre, ohne dass man sie vorgewarnt hatte, überkam sie Zorn. »Du hättest es mir sagen müssen, Harold! Als Chef de Police bist du nämlich zum Schutz deiner Mitbürger da, falls du das vergessen haben solltest. Du bist nicht gewählt worden, um wegzuschauen, wenn es Ärger gibt!« Es regte sie heute noch auf, dass er damals ihren Mut, gegen Simon auszusagen, so wenig gewürdigt hatte.
Halbherzig versuchte er, sie zu beruhigen. »Es tut mir wirklich leid … Aber wie sollte ich wissen, dass Simon gleich wieder Mist bauen würde ? Er war doch eher der Typ des gutmütigen Trottels…«
»Aufwachen, Harold! Dieser Mann hat damals im Affekt fast einen Totschlag begangen! Egal, wie harmlos er sonst sein mag – sobald er wütend wird, ist er unberechenbar.« Emily spürte förmlich, wie Harold am anderen Ende der Leitung in Verteidigungshaltung ging. Sie beschloss, wieder auf ihre eigene Situation zurückzukommen. »Also – was soll ich jetzt machen? Mich verbarrikadieren?«
Wie immer spürte er ihren winzigen ironischen Unterton. Er hatte ihre selbstbewusste Art schon immer gehasst, auch als er noch mit Emilys Schwester Edwina verheiratet gewesen war.
»Nein, aber du solltest in den nächsten Tagen besonders aufmerksam sein. Ich meine – noch mehr als sonst.«
Emily ging über diese kleine Anspielung hinweg. Ihr war völlig klar, dass er damit die Art und Weise meinte, mit der sie vor ein paar Monaten ihr ungewöhnliches Gedächtnis im Mordfall Debbie Farrow eingebracht hatte. Doch momentan verspürte sie wenig Lust, mit ihm zu streiten.
»Gut, dann warte ich jetzt auf Leo Harkins«, sagte sie. »Ruf mich bitte an, wenn es irgendwas Neues gibt.«
»Moment! Da ist noch eine Sache, die du wissen solltest«, rief Harold, kurz bevor sie auflegen wollte. »Zusammen mit Simon ist auch sein Zellengenosse entlassen worden, ein weißer Brasilianer namens Joaquim Sollan. Saß wegen schweren Raubes in La Moye. Er hat früher in London schon einmal jemanden totgeprügelt. Die Gefängnisleitung vermutet, dass er Simon jetzt begleitet und jederzeit gewaltbereit ist.«
»Auch gegen mich?«, fragte Emily schockiert.
»Ich hoffe nicht«, antwortete Harold. »Aber zur Sicherheit werde ich in deiner Straße verstärkt Streife fahren lassen. Lass nachts überall das Licht an und nimm dein Handy mit ans Bett.«
Die Sorge in seiner Stimme war nicht zu überhören. Plötzlich fand sie es albern, dass sie ihm wegen seiner barschen Art immer so stachelig begegnete, zumal in dieser Situation. Ihre kleinen Auseinandersetzungen konnten sie auch ein andermal wieder aufnehmen.
»Danke, Harold«, sagte sie warmherzig. »Ich weiß das sehr zu schätzen.«
»Schon gut«, murmelte er und verschwand aus der Leitung.
Emily legte das Telefon weg. Sie fühlte sich aufgewühlt nach diesen Nachrichten. In ihrer Unruhe stand sie auf, verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und blickte nachdenklich durch die große Scheibe nach draußen aufs Meer.
Simon Stubbley. Der Strandläufer.
Viele Jahre lang hatte Simon zu Jerseys Stränden gehört wie die Möwen, die Felsen und der Sand. Jeder kannte den heute Sechzigjährigen, der woanders vielleicht ein normaler Landstreicher geworden wäre, hier auf der Insel aber eine Aufgabe gefunden hatte, die allen diente. Die Leute nannten ihn den Strandläufer, nach dem Vogel aus der Familie der Regenpfeifer, der den ganzen Tag vor den auslaufenden Wellen am Strand herumtrippelt und mit seinem langen Schnabel aufpickt, was zu finden ist.
Obwohl ihn niemand dazu berufen hatte, war Simon Stubbley als Hüter der Strände eine Institution auf Jersey gewesen. Bei Wind und Wetter – selbst im Herbst, wenn die Stürme über die Insel rasten – wanderte er mit dem Rucksack auf dem Rücken und einer alten Segeltuchtasche in der Hand die Küste entlang, freiheitsliebend und mit der Natur verbunden. Während er von Bucht zu Bucht zog, suchte er die Strände nach angeschwemmten Gegenständen ab, sammelte zerbrochene Flaschen ein, die im Sand lagen, oder befestigte Fischerboote, deren Ketten sich im Sturm gelöst hatten. Nichts von alledem tat er für Geld. Das Schwemmholz benutzte er für seine Strandfeuer oder zum Schnitzen kleiner Figuren, die Glasscherben vergrub er tief zwischen den Felsen, damit sich kein Kind daran verletzen konnte, und die rostigen Eisenteile aus den Schiffsbäuchen, die hin und wieder mit der Flut angelandet wurden, schleppte er zu den Feldwegen hinter den Stränden, wo die Bauern sie irgendwann auf ihren Traktoren mitnahmen und entsorgten. Einmal hatte er in der Bouley Bay zwei achtjährige Kinder aus dem Wasser gerettet. Ein anderes Mal, er war nachts bei La Rocque Harbour in einem alten deutschen Bunker gewesen, hatte er Flammen in einem Cottage entdeckt, auf der Straße zwei Autos angehalten und die Fahrer gebeten, die Feuerwehr zu rufen. Die Jersey Evening Post hatte groß über ihn berichtet und damit auch die Bezeichnung Der Strandläufer unter die Leute gebracht.
Nur wer ihn näher kannte, hatte erlebt, dass Simon Stubbley auch ein ganz anderes Gesicht zeigen konnte. Er war ein eigenwilliger Mann, innerlich zerrissen und aus armen Verhältnissen stammend. Wie Emily wusste, hatte er in jüngeren Jahren sein Glück in London versucht, als Kellner in einem Pub, als Hafenarbeiter und als Tellerwäscher. Aber an allem war er gescheitert, weil ihn die Sehnsucht nach seiner Heimatinsel Jersey und nach einem freien Leben geradezu auffraß. Seine cholerische Seite, die immer dann aufflammte, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte, hatte etwas Mitleiderregendes. Es war der eruptive Zorn eines Menschen, der zwar in Mutter Natur eine Verbündete gefunden hatte, aber tief in seiner Seele nie vergessen konnte, dass er auf der Verliererseite des Lebens stand.
Der einzige wirkliche Lichtblick in seinem Leben war seine Tochter Suzanne, die bei einer Tante aufgewachsen war. Sie lebte ebenfalls auf Jersey und hatte schon in ihrer ersten Wohnung extra ein Zimmer für ihren Vater eingerichtet, auch wenn er meistens am Strand schlief. Simon liebte Suzanne über alles und war unendlich stolz darauf, dass aus ihr eine junge Geschäftsfrau mit einem eigenen Modeladen geworden war. Dass er um ihretwillen fast zum Mörder geworden war, hatte eine besondere Tragik …
Bei allem Mitleid, dachte Emily, ich muss aufhören, Simon Stubbley zu verharmlosen. Das brutale Verbrechen, für das man ihn ins Gefängnis geschickt hatte, war aus genau diesem Jähzorn entstanden.
Plötzlich musste sie sich eingestehen, dass sie jetzt doch Angst vor ihm hatte. Es war nicht anzunehmen, dass Simon im Gefängnis ein anderer Mensch geworden war. Eher war wohl das Gegenteil der Fall. Seine sechs Jahre in La Moye, unter Kriminellen und voller Verbitterung über sein Schicksal, hatten ihn mit Sicherheit nur härter und nicht reumütiger gemacht.
Als Emily zu ihrem Flurschrank ging, um dort in einer der Schubladen nach dem alten Zeitungsartikel über Simons Prozess zu suchen, sah sie im Spiegel ihre Blässe. Selbst ihr Haar wirkte ungebändigter, ein Zeichen dafür, wie unausgeglichen sie momentan war.
Nein, sie durfte sich nichts mehr vormachen.
Simon Stubbleys Gift wirkte bereits.
Aus guten Gründen hatte Harold Conway gegenüber Emily Bloom verschwiegen, dass er an diesem Tag nicht hinter seinem Schreibtisch in der Polizeistation St. Aubin saß, sondern schwitzend im Gelände unterwegs war. Gerade passierte seine Gruppe den St. Ouen’s Pond, einen Teich, dessen Mückenschwärme dankbar für jedes vorbeiziehende Lebewesen waren. Gleich ein Dutzend dieser Plagegeister fielen über Conway her und setzten sich auf seine nackten Beine. Genervt schlug er nach den lästigen Insekten.
Im Pulk seiner Mitwanderer fiel Conway durch weiße Beine, dunkelrote Bermudashorts, blaue Kniestrümpfe und ein gelbes Polohemd auf. Das Militärische an ihm – seine gerade Haltung, das kurz geschnittene rötliche Haar und sein hageres Gesicht – ließen ihn selbst in dieser Aufmachung noch drahtig erscheinen. Auf dem Rücken schleppte er seinen alten Khaki-Rucksack, den er jahrelang nicht mehr aus dem Keller geholt hatte.
Als Chef de Police kam er sich ziemlich albern vor in einer solchen Freizeitausstattung, fast würdelos. Er bereute heftig, dass er sich von Generalstaatsanwalt Kingsley zu dieser lächerlichen Dienstwanderung hatte überreden lassen. Nach Kingsleys Vorstellung sollte die Honorary Police auf diese Weise für Jerseys freundliche Ordnungshüter werben.
Es ging um Conways Teilnahme an der jährlichen Around theIsland Charity, einer Wohltätigkeitstour, bei der jeder, der dazu Lust hatte, für einen guten Zweck einmal rund um die Insel marschieren konnte. Heute war wieder der große Tag. Im vergangenen Jahr hatten sich mehr als 1400 Teilnehmer zu diesem Gewaltmarsch eingefunden, diesmal vermeldete die Turnierleitung einen noch höheren Rekord. Wer eine gute Kondition besaß, lief bereits nach acht Stunden durchs Ziel. Die meisten benötigten jedoch mehr Zeit oder begnügten sich damit, nur für ein paar Meilen dabei zu sein. Der jüngste Teilnehmer war neun Jahre alt, der älteste – es handelte sich um den unverwüstlichen Colonel Archibald Buckley – hatte soeben seinen 90. Geburtstag gefeiert.
Um drei Uhr morgens waren sie am Elizabeth Terminal in St. Helier losmarschiert. Bis spätestens Mitternacht musste die beachtliche Strecke von 48 Meilen bewältigt werden.
Wie üblich hatten sich im Laufe des Tages die Felder der Teilnehmer verteilt. An den Kontrollstellen zogen immer wieder neue Gruppen vorbei, Freunde, Familien und Individualisten. Fröhlich gab jeder sein Bestes, so wie es bei solchen Anlässen auf Jersey üblich war. Ein paar junge Männer hatten sich mit schrägem Humor als Teletubbies verkleidet, andere trugen originelle Hüte.
Conway versuchte mit einer Gruppe jüngerer Frauen mitzuhalten, die vor ihm herliefen. Ob er wollte oder nicht, die ganze Zeit hatte er ihre hübschen Hinterteile in den knappen Shorts und ihre gut trainierten Beine vor Augen. Die Mädels hatten offensichtlich viel Spaß. Schwatzend und lachend kletterten sie über einen Rinderzaun und bogen dann auf den Strandweg ein, das letzte Stück der neunten Etappe. Conway fragte sich irritiert, wie Frauen es immer schafften, in so kurzer Zeit so viele Gesprächsthemen aus dem Hut zu zaubern.
An einer Abzweigung stand etwas hilflos Vikar Godfrey Ballard, in der Hand eine Landkarte. Er schien irgendetwas darauf zu suchen.
»Kann ich Ihnen helfen, Godfrey?«, fragte Conway, als er näher kam.
Der Vikar blickte auf. »Oh, Mr. Conway! Ja, ich versuche verzweifelt, den Hof der Perriers zu finden, bei denen ich morgen zur Hochzeits-Nachfeier bin.« Er zeigte auf die Hügel Richtung Golfplatz. »Er soll irgendwo da oben liegen.«
Der Chef de Police nahm ihm die Landkarte ab.
»Lassen Sie mal sehen …«
Auf der Stirn des Pfarrers von St. Brelade’s Bay standen Schweißperlen. Ohne seinen Talar sah er immer aus wie ein etwas pummeliger 40-jähriger Chorknabe, über dessen Bauch der graue Pullover bereits auffällig spannte. Seinem kirchlichen Amt zuliebe wanderte er heute in einer langen schwarzen Hose. Auch er trug einen kleinen Rucksack, aus dem verschämt eine Stange Baguette und ein verschweißter Räucheraal herausschauten. Wie jeder wusste, war der Pfarrer bekennender Feinschmecker, denn sicher hatte Gott nicht zufällig auch so leckere Sachen wie Hummer oder Créme brulée erschaffen.
Conway hatte das Haus der Perriers gefunden und zeigte es dem Vikar auf der Karte. »Hier oben, Sie müssen nur Le Mont Rossignol hochfahren.«
»Vielen Dank.«
Godfrey faltete wieder seine Karte zusammen. Gemeinsam wanderten sie weiter. Der Vikar hatte einen überraschend schnellen Schritt.
»Wieso wird die Hochzeit der Perriers denn nachgefeiert?«, fragte Conway beim Gehen. Er kannte die Bauernfamilie nur flüchtig. »War jemand krank?«
»Wie man’s nimmt«, sagte Godfrey mit verschmitztem Gesicht. »Da kamen wohl ein paar Dinge zusammen. Die Braut war bei der kirchlichen Trauung hochschwanger, dann stellte sich noch im Gottesdienst heraus, dass in der hintersten Bank eine Freundin der Braut saß, die gerade Zwillinge vom Bräutigam erwartete, und schließlich hatten wir noch diese Schlägerei mit den Brüdern der Braut … «
»Hört sich nach einer netten Familie an«, meinte der Chef der Police trocken. »Wo ist die Kirche von England bloß gelandet, dass Sie solche Leute noch als Mitglieder behalten?«
Der Vikar lachte. »Ach, wir haben ein großes Herz, Mr. Conway.« Er wurde wieder ernst. »Das ist doch nichts gegen das, was Sie alles erleben. Unser Rektor lässt mir immer den Kriminalitätsbericht der Polizei zukommen. Deshalb finde ich auch großartig, dass Sie heute hier mitwandern …«
»Gern geschehen«, murmelte Conway. Mit schmalen Lippen stapfte er über eine Plattform aus Beton, von der ein schmaler Pfad an den Dünen entlang weiterführte. Das Lob war ihm unangenehm. Wahrscheinlich hätte er in letzter Minute doch noch gekniffen, wenn man ihm nicht gesagt hätte, dass der Vertreter der Britischen Krone, Gouverneur Sir Peter Kenzie, auch in diesem Jahr wieder einen Teil der Strecke mitlaufen würde. Damit saß Conway in der Falle und musste wohl oder übel die ganze Tour mitmachen, wenn er die Honorary Police nicht blamieren wollte.
Über ihnen am Himmel tauchte ein kleines Flugzeug auf und begann, das lockere Band der Wanderer zu überfliegen. Sie blickten neugierig nach oben. Der Vikar schirmte seine Augen mit den Händen gegen die Helligkeit ab.
»Man kann nichts sehen, aber das ist sicher die BBC. Letztes Jahr haben sie auch vom Flugzeug aus gefilmt.«
»Ich erinnere mich«, sagte Conway mit zynischem Unterton, während er seinen Rucksack von der Schulter nahm. »Der Bericht handelte vor allem davon, wie der Gouverneur in Wandersachen aussah.«
Godfrey Ballard amüsierte sich über den kleinen Hieb. Er wusste, dass der Chef de Police die Dinge gerne auf den Punkt brachte. Er wusste aber auch, dass unter Conways rauer Schale – wenigstens gelegentlich – ein weicher Kern zu entdecken war. In seinem festen Glauben an die Unabhängigkeit der Honorary Police, Jerseys ehrenamtlicher Polizei, konnte er mitunter ein Rebell gegen die Obrigkeit sein, was in den Augen des Pfarrers keine so schlechte Eigenschaft war.
Endlich hatten sie die Le Braye-Bootsrampe erreicht, an der die nächste Pause eingeplant war. Erschöpft und mit ihren Rucksäcken in den Händen schlenderten Conway und Ballard auf die wartenden Streckenkontrolleure zu und warfen brav ihre Zettel für Wanderabschnitt neun in die Eimer. Sie wussten, dass das nicht nur ein Trick gegen Schummelei war, sondern auch eine Sicherheitsmaßnahme, damit niemand an den gefährlichen Teilen der Küste unbemerkt verloren gehen konnte.
Nachdem sie neue Wasserflaschen in Empfang genommen hatten, suchten sie sich einen ruhigen Platz auf der Schutzmauer. Immer neue Wanderer trafen ein. Der Strand unter ihnen war übersät von Seetang, dem vraic. Es roch herrlich nach Meer und Fisch. Draußen vor der Küste ragte der runde Rocco Tower aus dem Wasser, ein alter Wehrturm aus dem 18. Jahrhundert. Er stand auf einem Felsen und wirkte so mächtig, als könnte er heute noch die Jersianer bewachen.
Der Vikar öffnete seinen Rucksack und teilte mit dem Chef de Police das Baguette und den Räucheraal. Einträchtig saßen sie nebeneinander und aßen mit den Fingern. Auch ein Fläschchen Weißwein zauberte Godfrey hervor. Dass irgendwo am Strand jemand Saxophon spielte, gab der Rast eine ganz besondere Note.
»Köstlich, der Aal«, lobte Conway zufrieden, während er sich ein weiteres Stück in den Mund schob. Über ihm schwebte eine Möwe im Wind, die äugend darauf wartete, dass man etwas für sie in die Luft warf.
Godfrey Ballard nickte kauend. »Ja, so muss Aal sein, zart und rauchig. Er ist übrigens von Sebastian Picard.«
»Einen besseren Fischer als Picard gibt es einfach nicht«, sagte Conway voller Respekt. »Ich beziehe meinen Seebarsch von ihm. Er liefert ihn uns jeden Freitag aufs Revier.«
Ihre Fettfinger wischten sie im Gras ab. Überall standen Wanderer herum. Ein Stück neben ihnen, auf dem Parkplatz, wurden kostenlos Blasenpflaster verteilt. Plötzlich hatte Conway das Gefühl, dass es doch nicht so falsch gewesen war, an dem Marsch teilzunehmen. Er war auf der Insel geboren und liebte hier jeden Stein. Besonders die eigenwilligen Menschen, die auf Jersey zu Hause waren, vermittelten ihm das schöne Gefühl, an einem besonderen Fleck leben zu dürfen.
Am Himmel tauchte erneut die einmotorige Cessna auf. Merkwürdigerweise kreiste sie jetzt unentwegt über dem großen Dünengebiet von Les Blanches Banques, das auf der anderen Straßenseite begann.
Aus der Menschenmenge auf dem Parkplatz löste sich eine Gestalt. Es war Archibald Buckley, der mit einem dicken Schinkensandwich in der Hand auf sie zukam. Er wirkte wie ein alter Habicht, knorrig und mit faltigem Gesicht. Für Conway repräsentierte Buckley wie niemand sonst ein längst vergangenes Jersey. Er war ein Phänomen. Trotz seiner 90 Jahre hatte der ehemalige Colonel die bisherige Wanderstrecke immer noch aufrecht und ohne Stock geschafft.
Buckley zeigte auf das Flugzeug über ihnen. »Das ist ja gerade so, als ob die Deutschen wiederkommen«, sagte er mit knarziger Stimme. »Als wir 1940 oben in den Dünen lagen, kam die erste Maschine auch über Rocco Tower. Und nach ein paar Monaten hatten sie schon die ersten verdammten Bunker gebaut.«
»Keine Sorge, Archibald«, sagte Conway und nahm einen letzten Schluck aus Godfreys Weinflasche. »Die Deutschen sind jetzt anderweitig beschäftigt …«
In diesem Moment sahen sie, wie die Cessna aus mittlerer Höhe einen Sturzflug machte und erst knapp über den Bäumen wieder abgefangen wurde. Dann begann sie erneut über den Dünen zu kreisen.
»Was bedeutet das wohl?«, fragte der Vikar sorgenvoll.
»Keine Ahnung«, sagte Conway. »Jedenfalls sieht es nicht nach einem normalen Flug aus.«
Gespannt blickten sie weiter zum Himmel. Tatsächlich sahen die Manöver von Minute zu Minute gefährlicher aus. Die Maschine flog jetzt so tief, dass man dachte, sie müsste jeden Augenblick eine Notlandung machen, was aber unwahrscheinlich war, weil hinter dem Dünengebiet der Flughafen von St. Peter lag, wo sie leicht landen könnte.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, murmelte Conway, während er mit angehaltenem Atem die gewagten Aktionen des Piloten verfolgte.
Nachdem die Cessna sich ein weiteres Mal in die Kurve gelegt hatte, flog sie einen Bogen bis zum Strand, um von dort erneut Kurs auf die Dünen zu nehmen. Instinktiv zogen alle die Köpfe ein, als die Maschine über sie hinwegdonnerte.
Auch Conway erschrak, wenn auch aus einem ganz anderen Grund. Im Cockpit sah er für Sekunden seine Nichte Jennifer hinter dem Steuerhorn sitzen, rechts neben ihr schaute ein kräftiger Mann aus dem Fenster.
Conway wusste, dass Jennifer heute ihren ersten Tag als Berufspilotin hatte. Da nicht anzunehmen war, dass sie den Auftrag hatte, im Kreis über die Dünen zu fliegen, musste sie in Schwierigkeiten sein.
Alarmiert beobachtete er jede Bewegung der Maschine.
Sein untrüglicher Instinkt für Katastrophen sagte ihm, dass ein Unglück bevorstand.
Dass Jennifer Clees, die neue Pilotin der kleinen Fluggesellschaft Jersey Charter Aviation, gleich bei ihrem ersten Einsatz eine ausgerückte Jersey-Kuh suchen sollte, hatte ihre männlichen Kollegen erheitert. Feixend hatten die drei Männer hinter der Glasscheibe des Towers gestanden und zugeschaut, wie Jennifer in ihrer schwarzen Lederjacke vor der weißen Cessna warten musste, bis ihr Auftraggeber, der Farmer Dave Troy, seinen Zwei-Zentner-Körper in die Maschine gequetscht hatte. Dann war auch sie eingestiegen und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Minuten später war die einmotorige Cessna 172 gestartet.
Als sie in der Luft war, hatte Jennifer mit ohrenbetäubendem Lärm demonstrativ eine Runde vorbei am Tower gedreht und kurz mit den Tragflächen gewackelt. Natürlich waren ihr die grinsenden Gesichter hinter dem Fenster nicht entgangen. Doch als junge Fliegerin kannte sie die Arroganz der männlichen Piloten und konnte souverän damit umgehen. Dass sie den Job bei Jersey Charter Aviation so schnell bekommen hatte, war ohnehin ein Wunder. Zwar hatte ihr Onkel, der Chef de Police von St. Brelade, ein wenig mitgeholfen, den ersten Kontakt zur Firma herzustellen, aber die Prüfungsflüge hatte sie dann schon selbst meistern müssen.
Sie hielt die Maschine auf niedriger Höhe. Unter ihnen lag der endlos lange goldene Strand der St. Ouen’s Bay. Sie konnten sehen, wie auf dem Fußweg entlang der Sturmschutzmauer gerade ein seltenes Schauspiel stattfand. In einer endlosen Kette zogen hunderte von Menschen die Küste südwärts. Aus der Luft wirkte es wie eine Völkerwanderung.
Dave Troy konnte sich mit ihr über Kopfhörer unterhalten. »Die werden uns beneiden da unten«, rief er grinsend gegen den Lärm des Motors an. »Ich habe die Tour mal mitgemacht. Wenn man erstmal in St. Ouen ist, geht man schon auf dem Zahnfleisch.«
Da sie relativ niedrig flogen – für ihren kurzen Ausflug hätte es sich nicht gelohnt, höher zu gehen – blieben einige der Wanderer stehen und schauten neugierig zu ihnen nach oben.
Jennifer lachte. »Die Armen. Dann wollen wir sie jetzt mal nicht länger ärgern.«
Sie drehte nach Südosten ab, Richtung Noirmont. Der Himmel über ihnen war wolkig. Bereits nach zwei Minuten kam die weite Bucht zwischen St. Aubin und St. Helier mit ihrem sichelförmigen Strand in Sicht. Plötzlich riss für einen Moment der Himmel auf und tauchte St. Aubin wie eine einzelne Perle in helles Licht.
Dave Troy stieß Begeisterungsrufe aus. Es war erst der zweite Flug in seinem Leben. Wegen der Aufregung war sein blaues Baumwollhemd unter den Achselhöhlen nass geschwitzt. Fasziniert schaute er nach unten auf die Landstraße, wo sich ein kleiner Auffahrunfall ereignet hatte.
Sie überflogen die Unfallstelle und erreichten ein Waldgebiet.
»Achtung«, sagte Jennifer. »ich gehe jetzt noch tiefer.«
»Ich bin bereit«, sagte Troy mit seiner Bassstimme.
Während sie in den Sinkflug übergingen und sich die Maschine für einen Augenblick in Schräglage befand, deutete er nach unten auf die große grüne Fläche hinter dem Wald.
»Da ist ja schon Noirmont!«
Es war das Gebiet, in dem seine Kuh verschwunden war. Die an vielen Stellen undurchdringliche Wildnis hatte eine beachtliche Ausdehnung und endete erst an den Klippen. Ihre Vegetation bestand aus dichten Ginsterhecken, Farnen, Bäumen und unzugänglichen Wiesen. Eine Suche zu Fuß war hier kaum möglich. Troy vermutete, dass sich die Kuh ungefähr in die Mitte des Geländes zurückgezogen hatte, nachdem sie ihm auf der Landstraße bei St. Brelade aus dem Viehtransporter entwischt war.
Jennifer ging bis auf 300 Fuß hinunter. Die Innenverkleidung des kleinen Flugzeugs vibrierte hörbar und ergänzte das laute Motorgeräusch um eine weitere akustische Nuance. Sie griff nach dem Fernglas und reichte es an den Farmer weiter.
Als erfahrener Jäger wusste Dave Troy, nach welchem System er das Gelände unter ihnen mit dem Glas absuchen musste. Er tat es seelenruhig, ohne Hektik und vollkommen konzentriert, mit der berühmten Gelassenheit der jerseymen. Das Flugzeug zog einen Schatten über die sonnigen Wiesen. Aufgeschreckt hoppelten ein paar aufgeschreckte Kaninchen unter die nächstgelegenen Bäume.
Sie hatten bereits gut die Hälfte des Geländes überflogen, als Troy plötzlich seine linke Hand hob.
»Ich hab sie!«
Aus der Luft sah der Rücken der Kuh wie ein braunes Rechteck im hohen Gras aus. Das Rechteck bewegte sich nicht, weshalb Jennifer vermutete, das Tier sei tot. Doch als sie über die Kuh hinwegflogen, drehte sie plötzlich den Kopf und versuchte aufzustehen, vermutlich, weil sie vom Lärm aus der Luft aufgeschreckt wurde. Schnell legte Jennifer das Flugzeug in eine scharfe Kurve, um das Tier diesmal von der Seite anzufliegen.
»Verdammt!« fluchte Dave Troy. »Sie hängt in einem Wasserloch fest!«
Jetzt konnte auch Jennifer deutlich sehen, dass die Vorderläufe der Kuh bis zum Bauch in einem schlammigen Tümpel steckten. Angestrengt versuchte das Tier, sich mit Hilfe seiner Hinterläufe aus dem Matsch zu ziehen, doch vergeblich. Selbst aus der Luft konnte man erkennen, wie das Rind mit seinen großen sanften Hirschaugen, die für Jersey-Kühe typisch sind, verzweifelt zum Himmel schielte. Es war ein trauriger Anblick.
»Die Arme!«, sagte Jennifer voller Mitleid. »Gibt es eine Chance, sie da wieder rauszubekommen?«
»Ich denke schon. Wir müssen nur irgendwie einen Traktor da hinkriegen.«
Als verantwortungsbewusste Pilotin wusste Jennifer, dass jetzt keine Zeit für Sentimentalitäten war. Troy sah es offensichtlich genauso. Er schob die Ärmel seiner Jacke hoch, als müsste er zupacken, und sagte: »Ich brauche mal die genauen Koordinaten.«
Jennifer las sie von ihrem GPS ab und teilte sie ihm mit. Er kritzelte sie auf einen Zettel, drückte dann den Mikrofonknopf und rief über Funk den controller. Eigentlich durfte er das ohne Funksprechzeugnis nicht, aber er kannte die Jungs im Tower persönlich und wusste, dass man sich in der Not auf ihre Großzügigkeit verlassen konnte. Trotz seiner Unerfahrenheit im Cockpit blieb die Stimme des Viehzüchters erstaunlich ruhig. Vermutlich war es nicht dass erste Mal, dass er ein Tier seiner großen Herde aus irgendeiner Kalamität retten musste.
»Hallo, hier spricht Dave Troy. Hören Sie mich? Okay. Dann gebe ich Ihnen jetzt eine Nachricht für meinen Partner Edgar Harvey durch …«
In weitem Bogen flog Jennifer Richtung Flughafen zurück. Das Hin und Her der krächzenden Stimmen über Funk begleitete sie dabei. Das Flugzeug schaukelte leicht im Wind. Genau das war es, was sie am Fliegen so liebte, das Gefühl von Leichtigkeit und Gemeinschaft.
Plötzlich sah sie eine dünne Rauchfahne vor sich. Der gekräuselte dunkle Faden stieg aus der Dünenlandschaft auf, die sich von der St. Ouen’s Bay bis zum Flughafen hinzog. Im Hintergrund, an der Küste, waren immer noch die Wanderer unterwegs.
Kurz entschlossen senkte Jennifer die Maschine wieder ab und nahm Kurs auf den Rauch. Dave Troy war noch in sein Gespräch mit dem controller vertieft, sodass er gar nicht mitbekam, wie niedrig sie plötzlich über die Baumwipfel hinwegflog.
Aus der Luft war gut zu erkennen, wie dicht die Dünen von Strandhafer bedeckt waren. Dazwischen wuchsen Disteln und Lupinen, vereinzelt gab es auch Bäume. Schon von weitem erkannte sie, dass der Rauch von einem Lagerfeuer stammte. Es war zwar heruntergebrannt, aber die Reste glimmten noch. Als einzige Nahrung für die Glut lag ein dicker Ast in der Asche. Umgeben war die Feuerstelle von einem Dutzend Steine, die kreisförmig angeordnet waren. Es sah so aus, als hätte hier jemand dauerhaft einen Lagerplatz aufgeschlagen. Vielleicht waren es Jugendliche, die in den Dünen ihren geheimen Treffpunkt hatten.
Sie flog mehrere Runden über den Platz. Um langsamer zu werden, fuhr sie bis zur ersten Stufe die Landeklappen ihrer Maschine aus. Diesmal schaute sie auch nach rechts und links neben die Feuerstelle.
Dann sah sie ihn.
Im Gras neben den Steinen lag ein Mann. Erst dachte Jennifer, dass er schlief, doch schnell bemerkte sie, dass der rechte Fuß des Mannes unnatürlich zum Himmel verdreht war, so als würde er auf dem Rücken liegen. Aber er lag auf der Seite und sein Gesicht mit dem weißen Bart war voller Blut. Es stammte aus grauenvollen Wunden am Hals und an der Stirn. Die Blutlache hatte sich rings um den Oberkörper im Gras ausgebreitet.
Neben ihm lag ein großes Schwert mit rotem Griff. Gefährlich glänzte die Klinge in der aufblitzenden Sonne. Es sah brutal aus.
Dave Troy hatte sein Gespräch mit der Flugverkehrskontrolle beendet und schaute ahnungslos aus dem Fenster nach unten. Als er den leblosen Mann in der Blutlache entdeckte, wurde er blass.
»Oh Gott! Da ist ja alles voller Blut …«
»Bleiben Sie ganz entspannt sitzen«, beruhigte ihn Jennifer. »Ich habe alles im Griff.«
Er gehorchte, verzichtete aber darauf, ein weiteres Mal nach unten zu blicken. Ängstlich klammerte er sich am Sitz fest. Ihm entging nicht, dass plötzlich ein lauter Alarmton im Cockpit ertönte, die Überziehwarnung der Cessna. Jennifer musste aufpassen, dass sie nicht zu langsam wurde.
Mit jeder neuen Linksrunde, die sie über der Feuerstelle und dem verletzten Mann drehte, entdeckte sie mehr grausige Details. Sie hatte inzwischen keinen Zweifel mehr, dass dort unten ein Toter lag.
Die Wanderer, die auf dem gegenüberliegenden Parkplatz an der La-Braye-Bootsrampe ihre Rast machten, waren inzwischen auf sie aufmerksam geworden und gestikulierten verärgert zu ihr hinauf, weil sie mit ihrem Lärm die Ruhe störte.
Beim letzten Anflug machte sie eine weitere schreckliche Entdeckung. Unweit des Lagers, unter den tief hängenden Zweigen eines Baumes, lauerten in geduckter Haltung zwei streunende Hunde. Erwartungsvoll starrten sie auf die schwarze Blutlache vor ihnen.
Mit lautem Getöse raste das Flugzeug ein letztes Mal über die verhängnisvolle Feuerstelle hinweg. Die Hunde flohen erschrocken.
Krampfhaft hielt Jennifer ihr Steuerhorn fest. Sie kämpfte mit einem starken Ekelgefühl, nahm sich aber zusammen. Pflichtgemäß wollte sie gerade auf der Notfallfrequenz das Dringlichkeitssignal aussenden, als ihr etwas Besseres einfiel. Da sie unterhalb von 2000 Fuß flog, hatte sie gute Chancen, dass ihr Mobiltelefon funktionierte. Sie zog es aus der Tasche und wählte die private Handynummer ihres Onkels. Als Chef de Police der Gemeinde St. Brelade war er für dieses Gebiet zuständig. Sie betete inständig, dass er ihre Nummer sofort erkannte und sich meldete. Es rauschte, die Verbindung war miserabel. Doch plötzlich hörte sie seine Stimme.
»Jennifer?«
»Ja. Onkel Harold, ich fliege gerade über das Gebiet von Les Blanches Banques …«
»Ich weiß. Ich bin genau unter dir und kann dich sehen. Was ist los bei dir da oben? Warum fliegst du so tief?«
»In den Dünen, an einer Feuerstelle, liegt ein verletzter Mann. Alles ist voller Blut … Ich glaube, er ist tot. Mir ist ganz schlecht, Onkel Harold.«
»Ganz ruhig, Jenny! Kannst du mir beschreiben, wo er liegt?«
»Etwa 500 Meter südöstlich von einem länglichen Bunker. Kannst du den Rauch sehen, der von der Feuerstelle aufsteigt?«
»Ja, ich sehe was, wenn auch nur schwach.«
»Das ist die Stelle, daran kannst du dich orientieren.«
»Gut. Dann fliegst du jetzt am besten zurück und wartest am Flughafen, bis einer von meinen Leuten kommt und deine Beschreibung zu Protokoll nimmt. Das müssen wir leider so machen. Schaffst du das?«
»Kein Problem. Zum Glück hab ich einen verständnisvollen Fluggast bei mir.« Jennifer schaute dankbar zu Dave Troy hinüber. Er lächelte gequält zurück. Plötzlich fiel ihr noch etwas ein. »Ach, Onkel Harold, ich hab was vergessen …«
»Ja?«
»Neben dem Mann liegt etwas, das wie ein Schwert mit rotem Griff aussieht. Vielleicht ist das von Bedeutung.«
Er schwieg.
»Hörst du mich noch?«, fragte Jennifer irritiert.
Aber der Chef de Police fand keine Worte mehr.
Der Platz um die Feuerstelle war mit Bändern abgesperrt. Am Waldrand stand ein kleiner Mannschaftswagen, mit dem die vier Männer der Spurensicherung eingetroffen waren. In ihren blauen Schutzanzügen waren sie die einzigen, die hinter der Absperrung tätig sein durften.
Als Emily Bloom aus dem Polizeiwagen stieg, mit dem sie von Constable Officer Sandra Querée zu Hause abgeholt worden war, hatte sie das Gefühl, auf einem anderen Planeten anzukommen. Die sonst so schöne Dünenlandschaft war kaum wiederzuerkennen. An zahlreichen Stellen war der Sand zwischen dem Heidekraut mit grauen Planen abgedeckt worden, damit kein Unbefugter etwas zerstörte. Gipsspuren im Sand verrieten, wo die Polizei Fußabdrücke gefunden hatte. Man hatte sie mit nummerierten Markierungen gekennzeichnet.
Im Gras neben der Feuerstelle konnte Emily noch den Umriss des Toten erkennen, der von der Polizei mit einem weißen Pulver nachgezeichnet worden war. Die Leiche war bereits von der Gerichtsmedizin abgeholt worden. Dass es sich bei dem Ermordeten um Simon Stubbley handelte, stand inzwischen fest. Egal, ob man es nun himmlische Gerechtigkeit oder Ironie des Schicksals nennen wollte – ausgerechnet er, der gestern noch gedroht hatte, Emily umzubringen, war jetzt selbst das Opfer der gestohlenen Waffe geworden.
Harold Conway stand zusammen mit einem anderen Polizisten aus seinem Stab vor einem provisorisch aufgebauten Klapptisch, auf dem mehrere Gegenstände lagen, die man in der unmittelbaren Umgebung des Lagerfeuers gefunden hatte. Am auffälligsten war dabei das rote Samuraischwert. Es war blutig und steckte in einer überdimensionalen Plastiktüte.
Als Harold Emily kommen sah, ließ er seinen Kollegen stehen und ging ihr entgegen. Er trug ein blaues Jackett mit dem kleinen Abzeichen des Chef de Police. Auch wenn Emily ihrem Exschwager kritisch gegenüberstand, bewunderte sie doch sein Engagement. Die Honorary Police – Jerseys ehrenamtliche Polizei, der er angehörte – übernahm auf der Insel alle Aufgaben, die in anderen Ländern von der staatlichen Polizei wahrgenommen wurden, von der Verkehrskontrolle bis zu Festnahmen. Erst seit 1882 gab es auch eine staatliche Polizeibehörde, einschließlich der Kriminalpolizei. Freiwillige wie Harold Conway waren dagegen nur für drei Jahre gewählt. Sie kamen aus normalen Berufen – Conway war zum Beispiel vereidigter Bausachverständiger –, ließen sich zu Polizisten ausbilden und taten jeweils für eine Woche im Monat Dienst als Ordnungshüter. Als Chef de Police hatte er noch drei Constable Officers unter sich.
»Tut mir leid, dass du dich hierher bemühen musstest«, sagte er mit sachlicher Stimme, »aber das hättest du dir alles ersparen können, wenn du nicht eine Waffe in deinem Gartenhaus aufbewahrt hättest.«
Emily hatte zwar erwartet, dass dieser Vorwurf von ihm kommen würde, war aber nicht darauf vorbereitet, ihn gleich anstelle einer Begrüßung serviert zu bekommen. So ruhig wie möglich antwortete sie: »Danke für deine freundliche Begrüßung, Harold. Und was das Gartenhaus betrifft – es war verschlossen. Gegen einen Einbruch hättest nicht einmal du etwas tun können.«
Er verzog das Gesicht. Sein militärisch kurz geschnittenes Haar gab ihm etwas Drahtiges. »Herrgott, Emily, sei nicht immer so empfindlich. Natürlich spielt das Samurai-Schwert eine Rolle, und natürlich bist darin involviert – ob dir das passt oder nicht.«
Er führte sie an den Klapptisch, auf dem die Waffe lag. Daneben waren auch einige andere Gegenstände aufgebaut, konserviert in großen Plastiktüten: Zwei blutbefleckte Steine, ein Spaten, hellblaues Plastikgeschirr, eine leere Geldbörse aus braunem Kunstleder und einige andere Dinge aus dem Besitz des Toten. Harold deutete auf die Tüte mit dem Schwert. »Schau es dir bitte genau an. Erkennst du es wieder?«
Erst jetzt bemerkte Emily, dass die Scheide aus glänzendem Lack nicht mehr auf der Klinge steckte, sondern daneben lag. Doch es war unzweifelhaft ihr Schwert, leicht gebogen und von seltsam gefährlicher Eleganz. Sie nickte. »Ja, es gehört mir. Ich erkenne es an den zwei Kratzern auf dem Griff.«
»Gut«, sagte Harold Conway zufrieden. »Dann dürfte es auch keinen Zweifel mehr geben, dass es wirklich Simon Stubbley war, der dich gestern Nacht besucht hat. Die Spurensicherung sagte mir, dass man in deiner Hütte auch massenhaft Fingerabdrücke und DNA gefunden hat.«
»Und der andere Mann, von dem du heute Morgen gesprochen hast, dieser Brasilianer – gibt es von dem auch schon eine Spur?«
»Nein, aber wir fahnden gerade nach ihm. Vielleicht ist er sogar Simons Mörder.« Er zuckte mit den Schultern. »Was wissen wir schon über Kumpanei im Gefängnis ? Da liegen Freundschaft und Hass oft dicht beieinander.«
Emily war überrascht, wie weltklug Harold argumentierten konnte, wenn er wollte. Normalerweise war sein Naturell das eines sturen Brechers, alles musste sich seiner eigenen Logik unterordnen. Doch sie wusste, dass er vor ein paar Monaten an einem psychologischen Seminar der Honorary Police teilgenommen hatte. Offenbar hatte er dabei doch einiges gelernt.
Sie drehte sich zur Feuerstelle um, wo die Bänder der Absperrung im Wind flatterten. »Darf ich mir mal den Tatort ansehen?«
Harold nickte und führte sie zu der Stelle, an der Simon Stubbley gefunden worden war. Emily blieb respektvoll neben dem Kreis aus Steinen stehen und versuchte sich vorzustellen, wie die Situation gewesen sein könnte, als Simon mit dem Schwert erstochen wurde. So schrecklich der Gedanke auch war, auf düstere Weise faszinierte sie etwas an diesem Ort. War es die Stille der Einsamkeit, die durch das Verbrechen entweiht worden war? Oder war es die Gegenwart des Todes, der Blutspuren und der Gewalt, die man noch immer wie ein unsichtbares Gewicht über sich zu spüren glaubte ? Dass seit ein paar Minuten die Sonne verschwunden war und stattdessen dunkle Regenwolken am Himmel aufzogen, verstärkte die bleierne Stimmung zusätzlich.
Von der Absperrung aus war deutlich zu sehen, wo zwischen Simon und seinem Mörder ein Kampf stattgefunden hatte. Dass es so gewesen war, hatte ihr Sandra Querée im Auto erzählt. Um die Feuerstelle herum war der sandige Boden zertrampelt und mit kleinen schwarzen Blutflecken gesprenkelt. Erst ein Stück weiter, wo der kahle Sandboden wieder in eine Fläche aus Strandhafer überging, sah man die markierte Stelle, an der der Tote gelegen hatte. Die schwarzrote Blutlache, die im Sand eingesickert war, wirkte erschreckend groß.
Der Chef de Police registrierte Emilys Blickrichtung. »Wir gehen davon aus, dass Simon an den Schwerthieben in seinen Hals gestorben ist. Auch an der Stirn ist er getroffen worden. Offensichtlich wollte er noch weglaufen, aber mit einer solchen Verletzung …« Er hob die Schultern. »Der Arme ist gerade mal bis zur Wiese gekommen.«
»Wo lag mein Schwert?«, fragte Emily leise.
»Neben ihm. Der Mörder hat es einfach fallenlassen. – Sekunde, ich bin gleich wieder bei dir, ich muss nur schnell Sandra Querée etwas sagen …«
»Lass dir Zeit.«
Er ließ Emily stehen und ging zu der jungen Polizistin hinüber, die am Auto stand.
Schaudernd schlang Emily ihre Arme um sich und blickte gedankenversunken auf die Feuerstelle. Sie stellte sich Simon vor. Er hatte immer etwas an sich gehabt, das Beschützerinstinkte in ihr geweckt hatte. Vielleicht hatte sie sich deshalb so oft Zeit für ihn genommen, wenn er ihr am Strand zuwinkte, während er Miesmuscheln kochte, die er zwischen den Felsen fand. Meistens hatte er einen blauen Anorak getragen. Sein Vollbart war nur selten kurz gewesen, eigentlich immer nur dann, wenn ihm der Friseur von St. Brelade gerade mal wieder einen Gratisschnitt verpasst hatte. Dennoch war er ihr nie verwahrlost oder ungepflegt vorgekommen, was vielleicht an seiner hohen Stirn und dem schütteren braungrauen Haar lag. Beides hatte ihn aufmerksam und intelligent wirken lassen.
Harold kam zurück. Emily zog einen vergilbten Zeitungsausschnitt aus der Tasche und zeigte ihn dem Chef de Police. »Hier, das habe ich heute Morgen in meinen alten Unterlagen gefunden.«
Es war der Zeitungsartikel der Jersey Evening Post über Simon Stubbleys Verurteilung. Harold nahm ihn in die Hand und überflog ihn.