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Beschreibung

Die sozio-technischen Verhältnisse der digitalen Transformation fordern Vorstellungen des »souveränen Staates« und des »souveränen Subjekts« heraus. In den Debatten um die »digitale Souveränität« werden diese Herausforderungen problematisiert. »Souveränität« ist allerdings ein komplexes Konzept. Es wird Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften sein, im Dialog mit den Technikwissenschaften differenzierte Perspektiven auf »(digitale) Souveränität« herauszuarbeiten und damit Orientierungswissen für die gesellschaftliche Selbstverständigung im digitalen Zeitalter sowie die Gestaltung der digitalen Transformation zu entwickeln. Die Beiträger*innen des Bandes stellen sich dieser Aufgabe und bieten Impulse aus den Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen der Geistes-, Sozial- und Technikwissenschaften.

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Die Reihe wird herausgegeben von Jeanette Hofmann, Norbert Kersting, Claudia Ritzi und Wolf J. Schünemann.

Georg Glasze, Eva Odzuck, Ronald Staples (Hg.)

Was heißt digitale Souveränität?

Diskurse, Praktiken und Voraussetzungen »individueller« und »staatlicher Souveränität« im digitalen Zeitalter

Die Forschungsgruppe »Diskurse & Praktiken digitaler Souveränität« wurde gefördert durch das EFI-Programm der FAU Erlangen-Nürnberg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.

(Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Georg Glasze, Eva Odzuck, Ronald Staples (Hg.)

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Lektorat: Katrin Viviane Kurten, geo-lektorat

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5827-9

PDF-ISBN 978-3-8394-5827-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-5827-9

https://doi.org/10.14361/9783839458273

Buchreihen-ISSN: 2699-6626

Buchreihen-eISSN: 2703-111X

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

 

Einleitung: Digitalisierung als Herausforderung – Souveränität als Antwort?Konzeptionelle Hintergründe der Forderungen nach »digitaler Souveränität« Georg Glasze, Eva Odzuck, Ronald Staples

»Wir müssen als Deutsche und Europäer unsere digitale Souveränität zurückgewinnen!« Historische Rekonstruktion und internationale Kontextualisierung der Diskurse einer »digitalen Souveränität« in DeutschlandFinn Dammann, Georg Glasze

Soziotechnische Einflussfaktoren auf die »digitale Souveränität« des Individuums Zinaida Benenson, Felix Freiling, Klaus Meyer-Wegener

»Digitale Souveränität« als Kontrolle Ihre zentralen Formen und ihr Verhältnis zueinander Max Tretter

»Demokratische digitale Souveränität« Plädoyer für einen normativen Begriff am Beispiel des digitalen Wahlkampfs Eva Odzuck

Souveränität, Integrität und Selbstbestimmung – Herausforderungen von Rechtskonzepten in der digitalen Transformation Christian Rückert, Christoph Safferling, Franz Hofmann

»Digitale Souveränität«: Zielperspektive einer Bildung in Zeiten tiefgreifender Mediatisierung? Jane Müller, Rudolf Kammerl

Konturenbildung im Gestaltungsraum der digitalen Transformation Eine Reflexion der Debatte über »digitale Souveränität« aus betriebswirtschaftlicher Sicht Albrecht Fritzsche

»Digitale Souveränität« in der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation Die Beziehung zwischen Rezipient*in und Gatekeeper Katharina Leyrer, Svenja Hagenhoff

Der relationale Charakter von »digitaler Souveränität« Zum Umgang mit dem »Autonomie/Heteronomie«-Dilemma in sich transformierenden Arbeitswelten

Einleitung: Digitalisierung als Herausforderung – Souveränität als Antwort?Konzeptionelle Hintergründe der Forderungen nach »digitaler Souveränität«

Georg Glasze, Eva Odzuck, Ronald Staples

AbstractAusgangspunkt der Einleitung sind die Problematisierungen von Digitalisierung, v.a. seit den 2000er-Jahren, welche Risiken digitaler Vernetzung betonen. Forderungen nach »digitaler Souveränität« reagieren auf diese Problematisierungen und greifen dabei auf ein neuzeitliches Konzept zurück, das mit Referenzen auf Eigenständigkeit und Abgrenzung noch vor wenigen Jahren vielfach als überkommen betrachtet wurde. Wir skizzieren daher zunächst eine Geschichte des Konzepts »Souveränität« und differenzieren dabei unterschiedliche Vorstellungen und Praktiken des »souveränen Staates« und des »souveränen Subjekts«. Forderungen nach Souveränität wurden und werden dabei von sehr unterschiedlichen Akteuren erhoben. So lässt sich zeigen, dass Souveränität einerseits mit emanzipativen Forderungen nach Selbstbestimmung verknüpft wurde, aber auch mit der Legitimation absoluter Herrschaft. »Souveränität« ist insofern ein zweischneidiges Schwert. Vor diesem Hintergrund betrachten wir es als Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften, im Dialog mit den Technikwissenschaften differenzierte Perspektiven auf Forderungen nach »(digitaler) Souveränität« herauszuarbeiten und damit Orientierungswissen für die gesellschaftliche Selbstverständigung im digitalen Zeitalter und für die Gestaltung der digitalen Transformation zu entwickeln. Die am Ende dieser Einleitung vorgestellten Beiträge dieses Bandes steuern dazu Perspektiven aus verschiedenen Disziplinen bei.

1.Die neue Problematisierung von Digitalisierung

Der gesellschaftliche Blick auf die soziotechnischen Umbrüche, die als Digitalisierung bzw. richtiger als digitale Transformation beschrieben werden, hat sich seit den 2000er-Jahren grundlegend verschoben – auch in Deutschland: Standen in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren vielfach die Möglichkeiten einer potenziell universellen, digitalen Informationsverarbeitung (s. der Beitrag Benenson/Freiling/Meyer-Wegener 2022) und damit die gesellschaftlichen Chancen von neuen Vernetzungen sowie einer Überwindung von Grenzen im Fokus, so werden seit einigen Jahren vielmehr Risiken problematisiert. Neue Vernetzungen werden zunehmend als »Entgrenzungen« problematisiert. Neben Chancen und Möglichkeiten werden verstärkt »Gefährdungen«, »Disruptionen« und »Abhängigkeiten« betont (s. die historisch angelegte Diskursanalyse von Dammann/Glasze 2022 in diesem Band).

Forderungen nach »digitaler Souveränität« reagieren auf diese Problematisierungen und greifen dabei auf ein neuzeitliches Konzept zurück, das mit Referenzen auf Eigenständigkeit und Abgrenzung noch vor wenigen Jahren zumindest teilweise als überkommen betrachtet wurde. Dabei lassen sich verschiedene Begriffsverwendungen differenzieren: einerseits Bezüge auf das Konzept des souveränen Staates und andererseits Bezüge auf das Konzept des souveränen Subjekts. Daneben wird der Begriff teilweise auch im Hinblick auf nicht staatliche Organisationen verwendet – also kollektive Akteure wie Unternehmen, zivilgesellschaftliche Organisationen oder Kommunen.

Vor dem Hintergrund der vielschichtigen und teilweise vehement vorgebrachten Forderungen nach »digitaler Souveränität« bietet der vorliegende Sammelband Angebote zur Systematisierung und Klärung aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Hervorgegangen ist der Band aus den Diskussionszusammenhängen in der interdisziplinären Forschungsinitiative »Diskurse und Praktiken digitaler Souveränität«, die 2019-2022 durch eine Anschubfinanzierung im »Emerging Fields«-Programm der FAU Erlangen-Nürnberg gefördert worden ist.

Diese Einleitung wirft dabei zunächst einen Blick auf die Geschichte des Begriffs »Souveränität«. Dabei wird deutlich, dass der Begriff kein einheitliches Konzept vermittelt, sondern in verschiedenen gesellschaftlichen Konstellationen und von verschiedenen Akteuren unterschiedlich verwendet wurde und wird. Die Verwendung des Begriffs ist daher selbst politisch (vgl. im Hinblick auf die staatstheoretische Debatte so bereits auch Schmitt 2008 [1922]: 25). Wir skizzieren im ersten Schritt, wie sich Konzepte und politische Praktiken souveräner Staatlichkeit entwickelt haben, bevor wir im zweiten Schritt danach fragen, wie eine Geschichte des Konzepts individueller Souveränität skizziert und dabei auch die Übertragung auf kollektive Akteure eingeordnet werden kann. Eine solche Perspektive hilft, die vielfältigen Funktionen des Begriffs »Souveränität« in den zeitgenössischen Forderungen nach einer »digitalen Souveränität« zu verstehen, und rahmt die disziplinären Beiträge im Sammelband, die wir am Ende dieser Einleitung vorstellen.

2.Eine kurze Geschichte des Konzepts »Souveränität«

2.1Der »souveräne Staat« als neuzeitliches Konzept

Souveränität ist ein neuzeitliches Konzept, das vielfach als Übertragung bzw. »Säkularisierung« der christlichen Vorstellung eines allmächtigen Gottes auf weltliche, d.h. gesellschaftliche Verhältnisse interpretiert wurde (vgl. bspw. Derrida/Roudinesco 2006: 156; Schmitt 2008 [1922]; Klein 2016). In der neuzeitlichen Staatstheorie entwickelt sich in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts eine Konzeption von Souveränität als eine dem Staat und seinen Repräsentant*innen eigentümliche, höchste, allumfassende, nach außen und innen unbeschränkte Hoheitsgewalt über ein bestimmtes Territorium. Die Territorialität liefert erstens dabei die Grundlage für die Unterscheidung einer Außendimension und einer Innendimension des Souveränitätsbegriffs: Nach außen bezeichnet »Souveränität« hier eine Gleichrangigkeit souveräner Staaten im Völkerrecht – vor allem das Recht, selbst über Bündnisse, Außenpolitik und Krieg zu befinden. Nach innen bedeutet Souveränität hierbei rechtliche und politische Hoheitsgewalt, d.h. das Recht, Recht zu setzen, und das Recht und die Fähigkeit, alle auf dem Territorium lebenden Personen diesem Recht zu unterwerfen – notfalls mit Gewalt (vgl. zur Begriffsbestimmung Kiersch 1977). Selbstbestimmung über die inneren Angelegenheiten eines Staates ist dabei angewiesen auf die Freiheit von Fremdbestimmung in den Außenbeziehungen (vgl. Grimm 2009: 11). Deutlich wird an dieser Bestimmung zweitens, dass Souveränität in eine Rechtsdimension und eine Machtdimension zerfällt: das Recht zu souveräner Herrschaft einerseits und die Fähigkeit bzw. Macht zu souveräner Herrschaftsausübung andererseits. Betrachtet man holzschnittartig einige zentrale Entwicklungspunkte des modernen Souveränitätskonzepts, dann wird drittens deutlich, dass die Rechtsdimension des Souveränitätsbegriffs in praktisch-politischer Absicht sowohl zur Begründung neuer als auch zur Ausweitung, Kritik oder Einhegung bestehender Machtverhältnisse verwendet werden kann: Im 14. Jahrhundert wurden mit dem Souveränitätsbegriff Herrschaftsstrukturen von Kirche und Reich durch Städte und Fürsten zurückgewiesen. Die erste systematische Behandlung des neuzeitlichen Souveränitätskonzepts in Jean Bodins Six livres de la République (1576) ist wiederum vor dem Konflikt zwischen Fürsten und König zu sehen – wobei Bodin klar Position für die Stärkung der Herrschaft des Königs bezieht. Souveränität umfasst bei ihm die folgenden Merkmale (vgl. Voigt 2016: 2):

a)Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden,

b)letztinstanzliche Gerichtsbarkeit,

c)Recht, Amtsträger ein- und abzusetzen,

d)Besteuerungsrecht,

e)Begnadigungs- und Dispensierungsrecht,

f)Recht, den Geldwert zu bestimmen,

g)Recht, einen Eid zu fordern.

Während bei Bodin der Herrscher in eine naturrechtliche Ordnung eingebunden war, löst ein weiterer zentraler Theoretiker des neuzeitlichen Souveränitätsgedankens – der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes – diese Begrenzung der Souveränität weiter auf: Als Ausleger des Naturrechts kann der Souverän bei Hobbes weitgehend selbst entscheiden – es ist die Autorität und nicht die Wahrheit, die Gesetze macht: »Auctoritas non veritas facit legem«, schreibt Hobbes im Leviathan (1651). Der Souverän ist weitgehend herausgelöst aus Bindungen und Verpflichtungen und besitzt unbeschränkte Gesetzgebungskompetenz (legibus absolutus).

In der realpolitischen Entwicklung gilt der Westfälische Frieden von 1648 als Geburtsstunde des modernen Territorialstaates und als Durchbruch des modernen Souveränitätsdenkens. Durch den Vertrag wird der 30-jährige Krieg (1618-48) beendet und die Souveränität der europäischen Fürsten und deren Recht auf Kriegsführung anerkannt. Gegen die Idee der unumschränkten Fürstenherrschaft wird in der Zeit der Aufklärung die Idee der Volkssouveränität gerichtet. Die ideengeschichtliche und die realpolitische Entwicklung laufen dabei nicht immer parallel, weil Ideen der Volkssouveränität lange schon gedacht und vorbereitet wurden, bevor diese dann ihren exemplarischen Ausdruck in der französischen Revolution 1789 finden. Auf Hobbes, der mit seiner Vertragstheorie den Gedanken ausdrückte, dass sich Herrschaft vor dem als rational und frei begriffenen Individuum zu rechtfertigen hat, folgte ideengeschichtlich Locke (1632-1704), der in seiner Vertragstheorie die gesetzgebende Gewalt nicht als Souverän, sondern als trustee des Volkes bezeichnet. Rousseau kann in dieser Entwicklungslinie als zentraler Vordenker der Idee der »Volkssouveränität« begriffen werden, der gegen Locke einwendet, dass die Souveränität nicht repräsentiert werden kann. Die gesetzgebende Gewalt, die in Demokratien beim Volk liegt, wird in liberalen Demokratien durch Prinzipien des Konstitutionalismus, Grundrechtsgarantien und Gewaltentrennung begrenzt und flankiert – was mancherorts zur These führte, der demokratische Verfassungsstaat kenne keinen Souverän mehr, bzw. was zur typologischen Unterscheidung von Volkssouveränität und Verfassungssouveränität führte (vgl. für einen Überblick Voigt 2016).

Bereits der kurze Blick auf die Geschichte des Begriffs »Souveränität« als staatstheoretischem Konzept offenbart also dessen Funktionalität in sehr unterschiedlichen Kontexten. Eine gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit Souveränität kann daher nicht sinnvoll als Auseinandersetzung mit einem vermeintlich gegebenen Wesenskern des Begriffs organisiert werden, sondern muss vielmehr sensibel für die verschiedenen politischen Funktionalisierungen und damit für die vielfältigen Forderungen und Ziele sein, die mit Souveränität verknüpft werden (vgl. dazu auch bereits Krasner 2001; Coleman 2009; Barkan 2015).1

Die mit dem Begriff der Souveränität erhobenen Forderungen und legitimierten Praktiken stehen zudem immer in einem Verhältnis zu historisch und geographisch spezifischen soziotechnischen und soziomateriellen Kontexten: So haben verschiedene Autor*innen darauf hingewiesen, dass die Durchsetzung von Konzept und Praxis moderner, staatlich-souveräner Herrschaft in der europäischen Neuzeit nicht zuletzt mit spezifischen Techniken der Erfassung und Verwaltung von Territorium und Bevölkerung verknüpft waren, die sich im späten 18. sowie dann v.a. im 19. Jahrhundert durchgesetzt haben: insbesondere die Entwicklung der exakt-vermessenden Kartographie und der Statistik (vgl. Hannah 2000; Elden 2013; Branch 2014). Ende der 1990er- und zu Beginn der 2000er-Jahre weisen zahlreiche Autor*innen darauf hin, dass im Kontext von Globalisierung und Digitalisierung der Nexus von staatlicher Herrschaft und Territorium herausgefordert werde und sich die infrastructural power des territorial organisierten Staates auflöse (vgl. Sassen 1996; Agnew 2005). Schlagworte vom »Ende des Nationalstaats« (vgl. bspw. Panić 1997; Dittgen 1999) oder einer »Postsouveränität« (vgl. MacCormick 1993; Gümplová 2015; Klein 2016) wurden laut. Vor diesem Hintergrund wurde vielfach ein Verlust an staatlicher Steuerungsfähigkeit und damit letztlich staatlicher Souveränität konstatiert (August 2021). Mit der Etablierung supranationaler Organisationen und der Übertragung von Hoheitsrechten an diese Organisationen verbanden sich diesbezüglich Hoffnungen auf eine Wiedergewinnung von Steuerungsfähigkeit im Sinne einer gobal governance (vgl. Grimm 2009: 9).

Zu Beginn der 2020er-Jahre hat sich allerdings die Debattenlandschaft radikal verändert: In zahlreichen Kommentaren wird ein »Ende der Globalisierung« (vgl. bspw. Löw et al. 2021) sowie eine »Wiederkehr des Nationalstaates« (vgl. Engelbrekt et al. 2020) konstatiert bzw. eingefordert. Ansprüche zur Wiedergewinnung staatlicher Souveränität werden zahlreicher und scheinen politische Auseinandersetzungen oftmals zu bestimmen (vgl. dazu auch Agnew 2020).2 Die Debatte um »digitale Souveränität« muss daher auch als Element sich verändernder politischer Diskurse zu Staatlichkeit und globalen politischen Ordnungen verstanden werden (s. dazu auch Abschnitt 3).

2.2Das »souveräne Subjekt« als neuzeitliches Konzept

Wie bereits zu Beginn des Beitrags angedeutet, beziehen sich zahlreiche Forderungen nach »digitaler Souveränität« – insbesondere in der Debatte in Deutschland – nicht (nur) auf staatliche Souveränität, sondern vielfach auf eine Souveränität von Individuen sowie ggf. auch nicht staatlichen Organisationen, also handlungsmächtigen kollektiven Akteuren. Ein solches Konzept von selbstbestimmten Subjekten als souverän kann ebenfalls als ein dezidiert neuzeitliches Konzept verstanden werden (vgl. Reckwitz 2006; Behrens 2021). In gewisser Weise kann die neuzeitliche Vorstellung von Staaten als eigenständig, einheitlich und quasikörperlich abgegrenzt, wie wir sie oben rekonstruiert haben, damit als Übertragung der Vorstellung des körperlichen und selbst-bestimmten Subjekts interpretiert werden (vgl. dazu Coleman 2009; zur Ikonographie des souveränen Staates als Körper, bspw. bei Hobbes, vgl. Bredekamp 2003 – grundsätzlich vgl. bspw. Melzer/Norberg 1998; Skinner 2012; Münkler 2016): Der Staat wird beispielsweise bei Hobbes als artificial man betrachtet, der Wille des Souveräns ist Gesetz, das den politischen Körper bewegt. Die Metaphorik verweist auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des als Quasiperson begriffenen Staates und dem Selbstbestimmungsrecht des Individuums: Hobbes’ Vertragstheorie liegt die Idee des freien, selbstbestimmten Subjekts, das in Form eines freien, wechselseitigen Vertrags und damit durch seine individuelle, freiwillige Zustimmung eine staatliche Autorität erst schafft, zugrunde. Für die Tradition des europäischen Liberalismus ist die Idee individueller Souveränität zentral – also die Idee von individuellen Rechten und Grenzen, die der Staat nicht verletzen dürfe. So führt beispielsweise John Stuart Mill in seiner Schrift über die Freiheit, in der er das Schädigungsprinzip als Kriterium für legitimen staatlichen Zwang einführt, aus: »In dem Teil, der nur ihn selbst berührt, ist seine Unabhängigkeit im rechtlichen Sinn absolut. Über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist, ist das Individuum souverän.« (Mill 1969: 17)

Eng verbunden mit einem derart auf das Individuum bezogenen Souveränitätsbegriff ist im moralischen und politischen Denken der Moderne der Begriff der Autonomie – der die Idee der Selbstbestimmung bzw. der Selbstgesetzgebung transportiert. Im Allgemeinen wird darunter eine Fähigkeit verstanden, moralische Prinzipien zu erkennen und auf sich selbst anzuwenden – eine Fähigkeit, die entsprechende Akteure moralisch verantwortlich macht, aber umgekehrt auch Achtung vor solchen moralfähigen Akteuren gebietet und zudem paternalistischen Eingriffen (auch solchen des Staates) enge Grenzen setzt. Im politischen Kontext bezeichnet Autonomie die Fähigkeit der Bürger*innen, die Regeln des Zusammenlebens selbst zu bestimmen (vgl. auch Christman 2008). Liberale Gerechtigkeitstheorien gehen in der Tradition des Gesellschaftsvertrags davon aus, dass sich staatliche Herrschaft vor dem Subjekt, das als frei, gleich und autonom begriffen wird, zu rechtfertigen hat – und dass liberale Staaten Integritätsrechte und die Privatsphäre von Individuen anerkennen und schützen müssen. Allerdings wurde an der Idee des autonomen Subjekts bzw. des liberalen Individuums bereits seit seiner Etablierung auch z.T. vehemente Kritik geübt: Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemängelten u.a. kommunitaristische und feministische Theorien die vermeintlich »hyperindividualistischen« Prämissen und Konsequenzen der Idee des liberalen Akteurs, und identitätspolitische Ansätze warnen vor den potenziell ausschließenden Effekten solcher abstrakten Konzepte der autonomen Person (vgl. Christman 2008: 101).

Unter dem Label »Poststrukturalismus« finden sich ab den 1960er-Jahren theoretische Ansätze, die ein autonomes Subjekt radikal infrage stellen. Es wird als eine Konstruktionsleistung oder gar historische Fiktion der modernen Gesellschaft beurteilt. Michel Foucault sieht das moderne Subjekt beispielsweise als Ergebnis von modernen Wissensordnungen und damit letztlich als eine »Erfindung« (1971 [1966]). Er weist darauf hin, dass die neuzeitlichen Vorstellungen von und Ansprüche an Autonomie letztlich uneinlösbar sind, da immer Machtverhältnisse vorgeschaltet sind, die das jeweilige historische Subjekt erst ermöglichen. Gegenwärtig wird vor allem in den science and technology studies um einen adäquaten Subjektbegriff gerungen3. Vor dem Hintergrund einer technisch durchdrungenen und in radikal gesteigerter Weise von Technik abhängigen Gesellschaft stellt beispielsweise die actor network theory die etablierte Vorstellung infrage, dass alleine der Mensch handlungsfähiges Subjekt sei, und betont die Verwobenheit der menschlichen Akteure in eine Vielzahl von weiteren nicht menschlichen Aktanten (vgl. Callon 1984; Latour 2007).

2.3Vielschichtige Forderungen nach Souveränität – auch jenseits von Staat und Subjekt

Die Idee des souveränen Akteurs wurde jedoch nicht nur auf den Staat übertragen, sondern findet Anwendung auf ganz unterschiedliche nicht staatliche kollektive Akteure und Organisationen. Feindt, Gissibl und Paulmann haben 2021 vorgeschlagen, diese Vervielfältigung, Dezentrierung und Dynamisierung von Souveränitätsforderungen heuristisch mit dem Konzept einer »kulturellen Souveränität« zu fassen.

Dabei wird einerseits eine (zu) große Machtfülle nicht staatlicher Akteure kritisiert und diese als »neue Souveräne« problematisiert: so beispielsweise multinationale Konzerne (vgl. George 2015) oder die neuartigen Plattformunternehmen des digitalen Zeitalters (vgl. Grumbach/Zanin 2022). Gleichzeitig werden Ansprüche auf Selbstbestimmung im Namen von Organisationen mit dem Schlagwort der Souveränität verknüpft, wenn z.B. im Namen von Städten wie Berlin, Barcelona und Amsterdam4 oder von Unternehmen selbst mehr »digitale Souveränität« gefordert wird. Die Souveränitätsansprüche haben dabei ganz unterschiedliche Reichweiten.

Als Kommune ist in Deutschland beispielsweise die Stadt München bekannt geworden mit ihrem Plan, die Verwaltung aus der Abhängigkeit von Microsoft-Produkten zu lösen und auf Linux-Anwendungen zu wechseln. 2020 wurde dieses Vorhaben allerdings rückabgewickelt – mit dem Hauptargument, dass spezielle Fachanwendungen immer parallel unter Windows gelaufen sind und Standardsoftwareprodukte die notwendige Voraussetzung sind zur Erfüllung der kommunalen Aufgaben5. Barcelona hat hingegen eine breit angelegte Digitalstrategie entwickelt. Kernbestandteil ist, dass Daten, die in der Verwaltung der Stadt anfallen, Daten der Bürger*innen sind und ihre Verwendung auch diesen (der Stadtentwicklung) zugutekommen sollen. Zusätzlich gibt es eine digitale Bildungsoffensive, eine weitreichende Mitbestimmungsplattform und eine Offensive zur Ansiedlung von Digitalwirtschaft (vgl. Lynch 2020). Datensouveränität spielt in beiden genannten Fällen eine Rolle, wobei es in München »nur« um die Verwaltungsinfrastruktur geht und in Barcelona um ein umfängliches Konzept, in welchem möglichst alle Stakeholder der Stadtgesellschaft partizipieren sollen.

Unternehmenszusammenschlüsse wie die des Branchenverbands der deutschen IT-Wirtschaft Bitkom haben »digitale Souveränität« zu einer zentralen Agenda ihrer Lobbyarbeit gemacht. Umfragen des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung weisen zudem darauf hin, dass Fragen der Datenhoheit und der als zu groß empfundenen Abhängigkeit von anderen (v.a. asiatischen und US-amerikanischen Unternehmen) von zahlreichen Unternehmen als problematisch beschrieben werden. Gleichzeitig bauen allerdings neue Konzepte wie »Industrie 4.0« oder das »Internet of things« auf einer systematischen Vernetzung von datenproduzierenden Gegenständen auf, auch über Organisations- und Ländergrenzen hinweg. Souveränitätsforderungen, die einer eher traditionellen Semantik der abgeschlossenen Organisation nach außen folgen, stoßen hier an ihre Grenzen, wie beispielsweise im Open Innovation Paradigm gezeigt wird (vgl. Chesbrough 2003; s. dazu auch den Beitrag von Fritzsche 2022 in diesem Band).

3.Souveränität als »produktiver Mythos« und die Frage seiner Gestaltung

Der Begriff »Souveränität« wird in der Neuzeit also vielfach verknüpft mit der Vorstellung von Autonomie bzw. Selbstbestimmung von Staaten, Individuen und teilweise auch nicht staatlichen kollektiven Akteuren. Allerdings wurden sowohl die Vorstellung eines souveränen, klar territorial definierten Staates mit einem vollständigen Gewaltmonopol nach Innen und einem von Nichteinmischung und Gleichheit geprägtem Außenverhältnis als auch die Vorstellung eines vollständig souverän-selbstbestimmten Subjekts, also Vorstellungen absoluter Souveränität, seit Mitte des 20. Jahrhundert in den Sozial- und Kulturwissenschaften als Mythos dekonstruiert (vgl. bspw. für staatliche Souveränität Krasner 2001; für das autonome Subjekt s. zusammenfassend Meißner 2014).6

So läuft die Vorstellung von Souveränität als einer Art absoluter Autonomie Gefahr, die relationale Einbettung jeglicher Handlungsfähigkeit auszublenden: Staatliche Herrschaft muss letztlich immer in Relation zu anderen Staaten, weiteren Akteuren und soziotechnischen Verhältnissen gedacht werden und lässt sich vielfach nicht eindeutig in eine Innen- und Außendimension unterscheiden. Und auch die Handlungsfähigkeit von Subjekten kann letztlich nur abhängig von der jeweiligen Einbettung in soziale und soziotechnische Beziehungen konzeptualisiert werden (so bspw. auch die kritische Debatte zur Konzeption von Privatheit und Subjekt im digitalen Zeitalter, vgl. Williams 2005; Weinberg 2017; Berger et al. 2021 und Lamla et al. 2022).

Vor dem Hintergrund dieser Kritik hat sich der wissenschaftliche Blick zunächst auf die Analysen der vielfältigen und vielstimmigen Forderungen nach Souveränität gerichtet sowie auf die damit verbundenen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig gibt es jedoch auch Stimmen aus der Wissenschaft, welche die Vorstellungen des souveränen Staates auch im Kontext der Herausforderungen einer vernetzten Welt als eine letztlich unverzichtbare normative Orientierung beurteilen, da dieser »gerade durch seine kontrafaktische Behauptung eine politische Ordnung aufrechterhält« (Münkler/Straßenberger 2016: 125). Dabei wird darauf verwiesen, dass Fragen einer angemessenen demokratischen Legitimation, des Konstitutionalismus und der Gewaltenteilung zumindest bislang nicht überzeugend ohne das Prinzip des souveränen, territorial gefassten Staates umgesetzt werden (vgl. Gümplová 2015). In ähnlicher Weise scheint das Operieren vieler gesellschaftlicher Teilbereiche geradezu darauf angewiesen zu sein, sich normativ an der Vorstellung eines souveränen Subjekts zu orientieren – d.h. eines Subjekts, dem Handlungsursachen zugerechnet werden können (bspw. als ökonomischer Akteur, als Träger*in individueller Bürger- oder Menschenrechte oder als Adressat bei der rechtlichen Sanktionierung von Straftaten).

In der politischen Praxis werden seit den 2010er-Jahren in ganz verschiedenen politischen Lagern Forderungen nach mehr staatlicher Souveränität prominent: So verknüpfen in zahlreichen Ländern rechtspopulistische Bewegungen Forderungen nach »mehr nationaler Souveränität« erfolgreich mit national-exkludierenden und autoritären Politiken (kritisch dazu im Kontext der Brexit-Debatte vgl. bspw. Agnew 2020). Gleichzeitig gibt es aber auch Bestrebungen von emanzipativ orientierten Bewegungen, das Konzept »nationaler Souveränität« im Sinne einer Re-Politisierung und demokratischen Legitimierung von Entscheidungsprozessen auszudeuten (vgl. Mitchell/Fazi 2017).

Der »Mythos Souveränität« (wenn man diese Bezeichnung teilen möchte) war und ist also durchaus produktiv – und dies in einer zweischneidigen Weise: So lässt sich zeigen, dass Souveränität einerseits mit emanzipativen Forderungen nach Selbstbestimmung und letztlich demokratisch legitimierter Herrschaft verknüpft wurde und wird – andererseits aber auch mit der Legitimation absoluter, autoritärer und nur territorial begrenzter Herrschaft (in diesem Sinne problematisiert Thiel 2021 auch die Verwendung von »digitaler Souveränität«; s. dazu auch die frühe und intensive Verwendung des Begriffs durch die Eliten autoritär regierter Staaten wie China und Russland). So scheint es von zentraler Bedeutung für die weitere Debatte um »digitale Souveränität« zu sein, Fragen der demokratischen Legitimation ins Blickfeld zu nehmen (vgl. dazu bspw. den Beitrag von Odzuck 2022). Für die Ebene individueller Subjekte sowie nicht staatlicher Organisationen knüpft der Begriff unmittelbar an neuzeitliche Konzepte von individueller und kollektiver Selbstbestimmung und von Grundrechten an – und bietet in diesem Sinne Orientierung. Gleichzeitig ist aber zumindest fraglich, ob die Orientierungen an Vorstellungen des selbstständigen Subjekts bzw. der autonomen Organisation in einer hochgradig soziotechnisch vernetzten Gegenwart nicht um stärker relationale Konzepte ergänzt und erweitert werden müssen (zum Begriff einer relational gedachten Souveränität s. Stacy 2003 sowie die Beiträge von Müller/Kammerl 2022; Leyrer/Hagenhoff 2022; Sauer/Staples/Steinbach 2022).

Vor dem Hintergrund der Kritik an Vorstellungen einer absoluten Souveränität, der gleichzeitig fast alternativlosen Orientierung politischer Praxis an Souveränität als einem »produktivem Mythos« sowie nicht zuletzt der in jüngster Zeit in der politischen Praxis (wieder) zunehmenden Bezugnahmen auf Souveränität – und eben auch »digitaler Souveränität« –, wird es Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften, im Dialog mit den Technikwissenschaften differenzierte Perspektiven auf »(digitale) Souveränität« herauszuarbeiten und damit Orientierungswissen für die gesellschaftliche Selbstverständigung im digitalen Zeitalter und für die Gestaltung der digitalen Transformation zu entwickeln. Die im folgenden Abschnitt vorgestellten Beiträge dieses Bandes möchten dazu aus verschiedenen Disziplinen jeweils einen Anteil leisten.

4.»Digitale Souveränität« aus disziplinären Perspektiven

Der Sammelband führt konzeptionelle und empirische Auseinandersetzungen mit »digitaler Souveränität« aus verschiedenen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Informatik zusammen. Ausgangspunkt des ersten Beitrags aus der Politischen Geographie ist der Befund, dass sich »digitale Souveränität« in den 2010er- und 2020er-Jahren zu dem zentralen Leitmotiv nationaler und internationaler Digitalpolitik entwickelt hat. Auch in den politisch-öffentlichen Diskursen in Deutschland werden seither vielfach Ansätze einer »digitalen Souveränität« aufgegriffen – und dies in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Dieser Rückgriff auf Souveränität muss zunächst verwundern, war die deutsche Telekommunikationspolitik doch seit den frühen 1990er-Jahren geprägt von Vorstellungen eines »schlanken Staates« und einer Überwindung nationaler Grenzen hin zu einer »globalen Informationsgesellschaft«. Ein Beharren auf staatlich-territoriale Souveränitätsprinzipien galt als überholt und wurde vielfach kritisiert. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die Rezeption von »digitaler Souveränität« in den 2010er-Jahren in Deutschland erklären? Zur Beantwortung dieser Fragen rekonstruieren Finn Dammann und Georg Glasze, ausgehend von der Kommerzialisierung des Internets in den 1990er-Jahren bis in die frühen 2020er-Jahre, jene historischen Brüche und (Dis)Kontinuitäten im digitalpolitischen Diskurs, die zur Konsolidierung einer spezifischen Diskursformation rund um das Schlagwort »digitale Souveränität« in Deutschland beigetragen haben – und situieren diese in den internationalen Kontext.

Der Beitrag Soziotechnische Einflussfaktoren auf die »digitale Souveränität« des Individuums der drei Informatiker*innen Zinaida Benenson, Felix Freiling und Klaus Meyer-Wegener geht von den technischen bzw. soziotechnischen Herausforderungen der Digitalisierung aus. Sie fassen »digitale Souveränität« als die Möglichkeit des*der Einzelnen, in einer digitalisierten Welt ein selbstbestimmtes und autonomes Leben zu führen, und fragen nach soziotechnischen Einflussfaktoren auf die »digitale Souveränität« des Individuums. Zur Beantwortung dieser Frage diskutieren sie drei Fallstudien: a) die zunehmende Abhängigkeit von wenigen großen Anbietern digitaler Dienste, die zwar für die Sicherheit der Nutzer*innen sorgen, aber gleichzeitig auch über die uneingeschränkte Macht über Daten und Geräte verfügen, b) das Fehlen einer menschenzentrierten Gestaltung von Schutzmechanismen, was die Wahrnehmung möglicher Bedrohungen erschwert und c) die unklaren Vorstellungen über die Genauigkeit und die Nützlichkeit digitaler Datenerhebungen.

Der dritte Beitrag »Digitale Souveränität« als Kontrolle. Ihre zentralen Formen und ihr Verhältnis zueinander möchte auf der Basis einer Analyse der wissenschaftlichen Debatte zur Klärung des Konzepts der »digitalen Souveränität« beitragen und eine ethische Positionierung entwickeln. Kernidee des Aufsatzes von Max Tretter ist, dass der Begriff der Kontrolle bzw. des Kontrollhandelns zum besseren Verständnis der Debatte um »digitale Souveränität« beitragen kann. Durch eine Analyse englischsprachiger wissenschaftlicher Fachaufsätze mit thematischem Bezug zu »digital sovereignty« werden im Aufsatz zentrale Akteure, Formen und Interdependenzen digitaler Kontrolle bzw. Souveränität herausgearbeitet. Aus der Literaturanalyse ergibt sich das Bild, dass in erster Linie Staaten als Akteure digitalen Kontrollhandelns »digitale Souveränität« ausüben – vor allem in den Bereichen IT-Architektur, Gesetzgebung und nationale Sicherheit. Interessanterweise zeigt sich, dass in der wissenschaftlichen Literatur zu »digital sovereignty« Souveränität in erster Linie mit Fragen von Kontrolle und Macht verknüpft wird und kaum mit Fragen von Legitimation. Der Aufsatz greift das Beispiel Russlands heraus, um Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Formen »digitaler Kontrolle« modellhaft zu rekonstruieren, und endet mit einer ethischen Einschätzung, die vor der Übertragbarkeit eines in autoritären Staaten entwickelten Souveränitätskonzeptes auf liberale Demokratien warnt und vor diesem Hintergrund für die Notwendigkeit der Schaffung eines dezidiert liberal-demokratischen Konzepts »digitaler Souveränität« plädiert.

Eva Odzuck stellt sich in dem Beitrag »Demokratische digitale Souveränität«. Plädoyer für einen normativen Begriff am Beispiel des digitalen Wahlkampfs der Aufgabe, aus der Perspektive der Politischen Theorie einen normativen Begriff »digitaler Souveränität« zu entwickeln, der den spezifischen Legitimationskontext liberal-demokratischer Staatlichkeit berücksichtigt. Nach einem kurzen Blick in die Geschichte des Souveränitätsbegriffs und dessen Verschränkung von Macht- und Rechtsdimension fokussiert der Artikel auf die Praxis digitaler Wahlkämpfe, in denen digitale Tools für Parteien attraktive Ressourcen zur zielgruppengerechten Ansprache der Wählerschaft und damit Machtressourcen zur Stimmenmaximierung generieren. Durch Rückgriff auf Rawls’ Konzept der deliberativen Demokratie zeigt Eva Odzuck anschließend auf, dass Parteien als prägende Akteure des öffentlichen Diskurses einer Pflicht zur Bürgerlichkeit unterliegen, die für den digitalen Wahlkampf als »demokratische digitale Souveränität« ausbuchstabiert werden kann. Auf einer allgemeinen Ebene plädiert der Aufsatz dafür, normative, demokratietheoretische Perspektiven in die Digitalisierungsdebatte einzuspeisen, weil liberale Demokratien für die angemessene Beurteilung und demokratiepolitisch verantwortliche Gestaltung der Digitalisierung auf ein entsprechendes normatives Vokabular angewiesen sind.

Der rechtswissenschaftliche Beitrag Souveränität, Integrität und Selbstbestimmung – Herausforderungen von Rechtskonzepten in der digitalen Transformation warnt vor einer unreflektierten Übertragung des im juristischen Fachdiskurs ursprünglich auf Staaten bezogenen Konzepts »Souveränität« auf die Individualebene. Christian Rückert, Christoph Safferling und Franz Hofmann plädieren dafür, für die Individualebene den Begriff »digitale Souveränität« zu ergänzen durch die etablierten Begriffe der »Integrität« und der »Selbstbestimmung« – die allerdings ebenfalls für digitale Kontexte ausgearbeitet werden müssen und in Relation zu setzen sind. Ausgehend vom Fall »Microsoft/Ireland« wird im ersten Teil des Beitrags aus Perspektive des Straf- und Strafverfahrensrechts argumentiert, dass a) mit einem Fokus auf Souveränität die Aspekte des Grund- und Menschenrechtsschutzes an den Rand gedrängt werden, b) die Übertragung des Souveränitätskonzeptes auf Daten generell problematisch ist und c) Souveränität von vornherein in der Relation zu Grund- und Menschenrechten begriffen und konzipiert werden muss. Souveränität sollte also funktional über den Schutz von Grund- und Menschenrechten und damit auch digitaler Integrität bestimmt werden. Im zweiten Teil des Beitrags wird aus privatrechtlicher Perspektive das Phänomen der digitalen Selbstbestimmung beleuchtet und in Bezug auf das Verhältnis von Datenschutz und Selbstbestimmung diskutiert. Ausgehend von der kritischen Auseinandersetzung mit den Implikationen, Funktionen und Leerstellen des Souveränitätsbegriffs wird im Fazit dafür plädiert, die Debatte stärker als bisher unter der Perspektive der Individualrechte (Integrität, Selbstbestimmung) statt unter dem staatstheoretischen Begriff der Souveränität zu führen – was nicht nur als Grundsatzkritik am Begriff der »digitalen Souveränität« verstanden werden kann, sondern auch als Plädoyer, den Begriff der »digitalen Souveränität« von vornherein unter menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Perspektiven auszubuchstabieren.

Auch der Beitrag »Digitale Souveränität«: Zielperspektive einer Bildung in Zeiten tiefgreifender Mediatisierung? von Jane Müller und Rudolf Kammerl setzt sich aus einer pädagogischen Perspektive kritisch-konstruktiv mit dem Begriff der »digitalen Souveränität« in Wissenschaft und Gesellschaft auseinander. Vor dem Hintergrund terminologischer Überlegungen zur Unverzichtbarkeit des Bildungsbegriffs in der Pädagogik problematisiert der Beitrag die derzeit zu beobachtende Übertragung des Begriffs »digitaler Souveränität« auf die Mikroebene individuellen Medienhandelns. Die Autor*innen argumentieren, dass eine solche Übertragung Chancen bietet, aber auch mit Schwierigkeiten einhergeht. Unter kritisch-konstruktiven Vorzeichen analysieren sie Verkürzungen in der bestehenden wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte und machen in der Konsequenz einen eigenen Vorschlag für ein komplexes, relationales Konzept »digitaler Souveränität«, das Relevanz für den bildungspolitischen Diskurs beansprucht und dazu beitragen kann, bestehende Forderungen nach »digitaler Souveränität« kritisch zu beurteilen und konstruktiv weiterzuführen.

Albrecht Fritzsche diskutiert in dem Beitrag Konturenbildung im Gestaltungsraum der digitalen Transformation – eine Reflexion der Debatte über »digitale Souveränität« aus betriebswirtschaftlicher Sicht ebenfalls Potenziale, aber auch blinde Flecken des Begriffs der »digitalen Souveränität« – hier im Hinblick auf die Gestaltung von Wertschöpfungsprozessen im Kontext der digitalen Transformation. Dabei skizziert er aus der Perspektive der Betriebswirtschaft und basierend auf wirtschaftsphilosophischen Grundlagen zunächst die Vielfalt neuer Gestaltungsoptionen für Wertschöpfungsprozesse. Den Diskurs über »digitale Souveränität« interpretiert er dabei als eine Form der »Konturenbildung«, die Orientierungspunkte bieten kann. Gleichzeitig weist der Beitrag allerdings darauf hin, dass mit dem Bezug auf Souveränität vielfach zumindest implizit Vorstellungen territorialer Abgrenzung (in überkommener Weise konzeptualisiert als erdräumliche Abgrenzungen) und Kontrolle über Ressourcen (konzeptualisiert als materielle Rohstoffe) verknüpft werden, die für die Gestaltung von Wertschöpfungsprozessen in einer digital vernetzten Welt zu kurz greifen.

Der Beitrag aus den Buch- und Kommunikationswissenschaften wählt einen anderen Zugang zu »digitaler Souveränität«: Katharina Leyrer und Svenja Hagenhoff nutzen in ihrem Aufsatz »Digitale Souveränität« in der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation: die Beziehung zwischen Rezipient*in und Gatekeeper den Begriff als prinzipiell produktiven Ausgangspunkt, um veränderte Voraussetzungen von Mediennutzung unter digitalen Vorzeichen zu diskutieren. Statt unreflektiert vor einem Verlust »digitaler Souveränität« in der Beziehung zwischen Rezipient*innen und Gatekeeper zu warnen, wollen sie Aussagen über Souveränitätsverluste digitaler Nutzer*innen auf einer kriteriengeleiteten Begriffsbestimmung und empirisch orientierten Vergleichsperspektive stützen. Der Beitrag entwickelt unter Rückgriff auf die Network-Gatekeeping-Theorie solche Kriterien und kommt anhand einer Fallanalyse zu dem Ergebnis, dass die »digitale Souveränität« von Nutzer*innen sowohl im analogen als auch digitalen Raum eingeschränkt ist und sowohl Bibliotheksnutzer*innen als auch Nutzer*innen von Suchmaschinen plattformspezifischen Einschränkungen unterliegen. In beiden Fällen werden »für« die Nutzer*innen Selektionen vorgenommen, die von diesen nur sehr bedingt nachvollzogen werden können. Generell gelte es, in der Diskussion um »digitale Souveränität« stärker relationale Aspekte mitzudenken und jeweils sehr genau deutlich zu machen, über welche Akteure, Relationen und Zeitpunkte jeweils gesprochen wird.

Die Idee, »digitale Souveränität« als spezifische Form von Beziehung zu denken, macht auch der arbeitssoziologische Beitrag mit dem Titel Der relationale Charakter von »digitaler Souveränität«. Zum Umgang mit dem »Autonomie/Heteronomie«-Dilemma in sich transformierenden Arbeitswelten. Ausgehend von der Feststellung, dass Arbeitsverhältnisse in der Regel von dem Verhältnis Autonomie/Heteronomie geprägt werden und sich weniger über Souveränitätszuschreibungen definieren, diskutieren Stefan Sauer, Ronald Staples und Vincent Steinbach die besonderen Voraussetzungen von gegenwärtigen Beschäftigungsverhältnissen. Gelingende Arbeitsorganisation – so wird gezeigt – hängt dann sowohl von der Gestaltung der Anerkennungsverhältnisse ab als auch von dem Gewähren von Vertrauen und einem Bewusstsein für die Spezifika moderner digitaler Kommunikation. Gleichzeitig soll Arbeit stabil und flexibel sein, um komplexe Probleme zu lösen. »Digitale Souveränität« verorten die Autoren in diesen sehr voraussetzungsvollen Situationen, die zudem den konstitutiv relationalen Charakter von Souveränität unterstreichen.

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1»So wenig ›Souveränität‹ daher einen überzeitlichen Sinn beanspruchen kann, sowenig handelt es sich um einen überörtlich gleichbleibenden Begriff. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass sein Inhalt auch von Land zu Land wechselt.« (Grimm 2009: 9)

2Der kanadische Historiker und Politikwissenschaftler Ignatieff hat bereits 2012, vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise und den damit verbundenen Erschütterungen neoliberaler Leitbilder, in einem Rezensionsartikel einen »return of sovereignity« vorhergesagt.

3Dazu gehört auch eine seit den 1980ern geführte Auseinandersetzung von postfeministischer Seite, wie spätmoderne Akteurskonzepte aussehen können. Donna Haraways Arbeiten zu Cyborgs (1985) sind hier diskursstiftend gewesen.

4Siehe den Zusammenschluss: https://citiesfordigitalrights.org/cities; 15.06.2022.

5Siehe hierzu die Berichterstattung in Publikumsmedien: https://www.zdnet.de/88288011/limux-muenchen-gibt-open-source-projekt-auf/oder auch https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/muenchen-beendet-linux-experiment-a-1134670.html; 15.06.2022.

6In ähnlicher Weise lassen sich Vorstellungen souveräner Organisationen hinterfragen: So sind Organisationen vielfach in hohem Maße vernetzt – neue digitale Geschäftsmodelle benötigen beispielsweise systematische Vernetzung konstitutiv. Eine Orientierung an Vorstellungen von Souveränität als Autonomie erscheint daher vielfach paradox (s. dazu auch den Beitrag von Fritzsche 2022).

»Wir müssen als Deutsche und Europäer unsere digitale Souveränität zurückgewinnen!«1Historische Rekonstruktion und internationale Kontextualisierung der Diskurse einer »digitalen Souveränität« in Deutschland

Finn Dammann, Georg Glasze

Abstract»Digitale Souveränität« hat sich in den 2010er- und 2020er-Jahren zu dem zentralen Leitmotiv nationaler und internationaler Digitalpolitik entwickelt. Auch in den politisch-öffentlichen Diskursen in Deutschland werden seither vielfach Ansätze einer »digitalen Souveränität« aufgegriffen – und dies in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Diese Rückbesinnung auf Souveränität über digitale Informations- und Kommunikationssysteme muss zunächst verwundern, war die deutsche Telekommunikationspolitik doch seit den frühen 1990er-Jahren geprägt von Vorstellungen eines »schlanken Staates« und einer Überwindung nationaler Grenzen hin zu einer »globalen Informationsgesellschaft«. Gerade ein Beharren auf Prinzipien staatlich-territorialer Souveränität galt als überholt und wurde vielfach kritisiert. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die Rezeption von »digitaler Souveränität« in den 2010er-Jahren in Deutschland erklären? Zur Beantwortung dieser Fragen rekonstruieren wir in diesem Beitrag ausgehend von der Kommerzialisierung des Internets in den 1990er-Jahren bis in die frühen 2020er-Jahre jene historischen Brüche und (Dis)Kontinuitäten im digitalpolitischen Diskurs, die zur Konsolidierung einer spezifischen Diskursformation rund um das Schlagwort »digitale Souveränität« in Deutschland beigetragen haben – und situieren diese in den internationalen Kontext.

1.Einleitung: »digitale Souveränität« als Leitmotiv einer neuen Digitalpolitik

»Digitale Souveränität« hat sich in den 2010er- und 2020er-Jahren zu dem zentralen Leitmotiv nationaler und internationaler Digitalpolitiken entwickelt. Wie eine Reihe von Studien gezeigt hat, wird dabei in verschiedenen geographischen Kontexten vor Gefahren einer digitalen Überwachung und Beeinflussung durch ausländische Unternehmen und Regierungen gewarnt – sowie neu entstandene Abhängigkeiten kritisiert (für einen Überblick s. Couture/Toupin 2019, Thumfart 2021, Hummel et al. 2021 sowie Glasze et al. 2022a; für Russland Nocetti 2015, Ermoshina/Musiani 2017; für China Hong/Goodnight 2020, Creemers 2020, Liu 2021; für die formale EU-Politik Pohle/Thiel 2020). Diese diskursiven Problematisierungen gehen vielfach einher mit konkreten politischen Praktiken: Internet-Shutdowns, nationale Firewalls, Netzsperren, staatliche Eingriffe in das Routing von Datenpaketen, umfangreiche Überwachungsbefugnisse nationaler Sicherheitsbehörden, gesetzliche Verpflichtungen zur Speicherung und Prozessierung von Daten innerhalb nationaler Territorien und Planungen für nationale Netzprotokolle werden zu Beginn der 2020er-Jahre wiederholt mit Hinweisen auf »digitale Souveränität« begründet und legitimiert (für einen Überblick zu nationalen Datenpolitiken im Kontext »digitaler Souveränität« s. Lambach 2019).

Auch in den politisch-öffentlichen Diskursen in Deutschland werden seit den frühen 2010er-Jahren Ansätze einer »digitalen Souveränität« aufgegriffen – und dies in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen: in verschiedenen Feldern und Maßstabsebenen der Politik2 sowie von zahlreichen Organisationen über Unternehmensverbände (s. bspw. Bitkom 2015; Open Source Business Alliance 2021) bis hin zu dezidiert kritisch-zivilgesellschaftlich orientierten Gruppen3. Diese Rezeption von Diskursen und Politiken einer »digitalen Souveränität« in Deutschland kann zunächst überraschen: So waren die politischen Leitbilder in vielen Ländern des Westens Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts geprägt von Leitbildern einer Vernetzung und Überwindung von Grenzen sowie einer Zurückdrängung des Staates. Gerade auch die Debattenlandschaft in Deutschland war in hohem Maße geprägt von Leitbildern einer europäischen und globalen Integration.4 Konzepte staatlicher Souveränität galten in diesem Kontext als überkommen und wenig geeignet, in einer (digital) vernetzten Welt Orientierung zu geben.5 Staatlich durchgesetzte Netzsperren oder Verpflichtungen zur Speicherung von Daten innerhalb nationaler Territorien wurden bis in die 2010er-Jahre daher weitgehend als Praktiken autoritärer »Überwachungsstaaten« verurteilt. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die Rezeption von »digitaler Souveränität« in den 2010er-Jahren in Deutschland erklären? Zur Beantwortung dieser Frage rekonstruieren wir Kontinuitäten und Brüche des digitalpolitischen Diskurses in Deutschland – ausgehend von der Kommerzialisierung des Internets in den 1990er-Jahren bis in die 2020er-Jahre. Dazu führt unser Beitrag eigene empirische Arbeiten (Glasze/Dammann 2021; Winkler/Dammann 2022; Dammann/Glasze 2022) sowie Arbeiten weiterer Wissenschaftler*innen (Steiger/Schünemann/Dimmroth 2017; Pohle/Thiel 2020) zu einer überblicksartigen Diskursgeschichte zusammen und situiert diese in den internationalen Kontext.

Der Beitrag gliedert sich nachfolgend in drei Teile: Abschnitt 2 rekonstruiert die »Vorgeschichte digitaler Souveränität in Deutschland«. Hier zeigen wir, dass die Digitalpolitik in den 1990er- und 2000er-Jahren v.a. von Vorstellungen einer Integration in globale Zusammenhänge und einer Begrenzung staatlicher Aktivität dominiert war. Jedoch gibt es in den 2000er-Jahren bereits erste Stimmen, die diese Entwicklung problematisieren und letztlich nach mehr staatlichen Interventionen in die Gestaltung der Digitalisierung rufen. Das Schlagwort einer »digitalen Souveränität« wird allerdings nicht in Deutschland geprägt. Auf der Basis einer Literaturstudie zum internationalen Kontext zeigen wir in Abschnitt 3, dass »digitale Souveränität« als Leitmotiv von Digitalpolitiken zunächst in diskursiven Zusammenhängen v.a. in China und Russland ausgearbeitet und propagiert wird. Wie wir in Abschnitt 4 erläutern, wird in Deutschland das Schlagwort erst in den empörten Reaktionen auf die Enthüllungen Edward Snowdens 2013 aufgegriffen. Dabei werden zunächst vielfach Vorstellungen staatlich-territorialer Souveränität reproduziert und auf eine zukünftige Gestaltung des Digitalen übertragen. Das Leitmotiv einer »digitalen Souveränität« wird in der politischen Öffentlichkeit in Deutschland jedoch rasch auch breiter gefasst und über ein staatsorientiertes und territoriales Verständnis hinausgehend auf Fragen nach der Souveränität von deutschen Unternehmen sowie insbesondere nach der Souveränität individueller Nutzer*innen übertragen. Dabei wird an Vorstellungen von Souveränität als Handlungsfähigkeit, Autonomie und Selbstbestimmung angeknüpft (s. hierzu auch die Einleitung Glasze/Odzuck/Staples 2022 in diesem Band).

2.Die Vorgeschichte »digitaler Souveränität« in Deutschland: Forderungen nach einer »Integration in die globale Informationsgesellschaft« in den 1990er- und 2000er-Jahren – und erste Problematisierungen

Wie in vielen Ländern etablierte sich das Internet in den 1990er-Jahren auch in Deutschland rasch als neues Kommunikationssystem: 1994 wurde in München der erste deutsche Internetknoten eröffnet. Ein Jahr später ging in Frankfurt a.M. der heute weltweit größte Internetknoten online. Zunehmend traten private Anbieter von Personal Computern, Netzinfrastrukturen, Internetdienstleistern und Software für verschiedene Internetdienste (z.B. veröffentlichte Microsoft 1995 seinen Internet Explorer) in den deutschen Telekommunikationsmarkt ein. Hatte 1994 nur knapp ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland Zugang zum Internet, waren es im Jahr 2000 bereits 30 Prozent.6

Diese Ausweitung des digitalen Datenverkehrs war eingebettet in ein Regierungsprogramm zur Liberalisierung des deutschen Telekommunikationsmarktes und zur Privatisierung der bisher staatlich organisierten Telekommunikationsinfrastruktur. Bereits Ende der 1980er-Jahre wurde die ehemalige Deutsche Bundespost in die drei öffentlichen Unternehmen Postdienst, Postbank und Telekom aufgeteilt, die 1994 in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden. 1995 verabschiedete die deutsche Regierung das Telekommunikationsgesetz (TKG), das die vollständige Privatisierung der gesamten Kommunikations- und Internetinfrastruktur ermöglichte. Im selben Jahr trat mit dem Informations- und Kommunikationsdienstegesetz (IUKDG) das erste umfassende Regelwerk für datenbasierte (Online)Dienste in Kraft. Dieses Gesetz stärkte die Rechte privater (ausländischer und inländischer) Betreiber und Anbieter digitaler Infrastrukturen gegenüber den staatlichen Behörden, indem es die Unternehmen weitgehend von der Haftung für (illegalisierte) digitale Inhalte ihrer Nutzerinnen und Nutzer befreite (vgl. Reiberg 2017, 2018).

Ein diskursiver Kontext, der dieses politische Reformprogramm vielfach begründet und legitimiert hat, sind die Ziele, Ideen und Probleme, die mit dem Konzept einer »globalen Informationsgesellschaft« verbunden wurden (vgl. hierzu auch Keller 1998). Apologeten einer Liberalisierung des deutschen Telekommunikationsmarktes – wie etwa prominent Martin Bangemann, ehemaliger Bundeswirtschaftsminister und von 1989 bis 1993 EG-Kommissar für Industriepolitik, Information und Telekommunikation – mobilisierten Leitmotive einer Überwindung nationaler Grenzen und Zurückdrängung des Nationalstaates sowie eines neuen globalen Informationsaustausches. Verbunden mit diesen Leitmotiven waren Versprechen eines Wandels hin zu einer global vernetzten, partizipativen, freiheitlichen und egalitären Gesellschaft – als deren treibende Kräfte einerseits eine »marked-led revolution« und andererseits das Internet bzw. die digitale Informationstechnik selbst galten (zur Geschichte des technologischen Determinismus s. Chenou 2014).7 Diese »diskursive Formation« (Foucault 1973) um eine »globale Informationsgesellschaft« führte daher wirtschaftsliberale Ideen eines schlanken Staates mit technikdeterministischen bzw. »technikutopistischen« Versprechen einer Emanzipation und Befreiung von staatlichen Herrschaftsverhältnissen zusammen (vgl. Dammann/Glasze 2022).

Staatliche Interventionen in die Gestaltung und Kontrolle von digitalen Kommunikationssystemen wurden im Kontext der diskursiven Formation einer »globalen Informationsgesellschaft« i.d.R. kritisch beurteilt. Diese galten etwa als gefährliche Hemmnisse für die sozialen und technischen Innovationskräfte des Internets und als Risiko für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Die im Jahr 1995 vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission zu »Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft« forderte beispielsweise mit Verweis auf einen »immer intensiveren Wettbewerb der Staaten um die Gunst von Unternehmen und Bürgern«, einen schlanken deutschen Staat, der sich »auf seine Kernaufgaben besinnt« (Deutscher Bundestag 1998). Gleichzeitig legitimierten Sorgen vor einem neuen deutschen Überwachungsstaat, dass Forderungen deutscher Sicherheitsbehörden nach mehr Kompetenzen zur Kontrolle digitaler Kommunikation vielfach zurückgewiesen wurden. Selbst progressiv-liberale Stimmen – wie beispielsweise der deutsche Chaos Computer Club – drängten in diesem Kontext wiederholt auf einen schlanken Staat, der sich auf die Sicherung der informationellen Selbstbestimmung und auf die Herstellung einer allgemeinen Kommunikationsfreiheit im Netz konzentrieren sollte (vgl. zur Geschichte des Diskurses zum »Überwachungsstaat« in Deutschland Hannah 2009; vgl. Dammann/Glasze 2022). Die Debatten um eine »globale Informationsgesellschaft« in Deutschland schlossen damit in gewisser Weise an vielfältige staatskritische Diskurse zum Internet an, die in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren international zirkulierten (s. hierzu etwa bereits Barbrook/Cameron 1996 oder auch die in Deutschland vielfach rezipierte Declaration of the Independence of Cyberspace von John Perry Barlow 1996).

Die Forderungen nach einem schlanken Staat im Bereich der Telekommunikations- und Informationstechnik in Deutschland sind jedoch nicht ohne Widerspruch und Kritik geblieben: Bereits in den 1990er-Jahren fanden sich Stimmen, die vor einem drohenden Verlust staatlicher Handlungsfähigkeit und Souveränität durch die zunehmende Verbreitung des Internets warnten. Diese Warnungen wurden auch in apologetischen Texten für eine »globale Informationsgesellschaft« aufgegriffen und diskutiert – wie beispielsweise im Abschlussbericht der bereits erwähnten Enquete-Kommission (Deutscher Bundestag 1998). Die Kommission spricht 1998 von »neuen Herausforderungen für staatliche Souveränität«, die »in der Grenzenlosigkeit der neuen Kommunikationstechniken liegen«. Die globale Informationsgesellschaft führe »zu vermehrter Ausübung von politischer Macht durch Private« und »läßt die Staatsgewalt und damit die staatliche Souveränität in ihrer Wirkung mehr und mehr ins Leere laufen«. In diesem Kontext würde es für den Staat »immer schwieriger, seine Schutzfunktionen bei Straftaten und Rechtsbruch […] wahrzunehmen« (ebd.: 82f.). Diese Stellungnahme steht im Kontext einer Reihe von Problematisierungen fehlender staatlicher Souveränität über die digitale Kommunikation, die ausgehend von den späten 1990er-Jahren auch in öffentlich-politischen Mediendiskursen in Deutschland aufgegriffen und thematisiert wurden. Exemplarisch hierfür zeigen dies Dammann und Glasze (2022) anhand einer Analyse von Artikeln und Beiträgen im Nachrichtenmagazin Der Spiegel (1995-2016) sowie der Nachrichten-Websites Netzpolitik.org (2004-2019) und Heise online (1999-2019). Über die gesamten Untersuchungszeiträume steigen die relativen Anteile von Artikeln und Beiträgen, in denen der Begriff »Internet« zusammen mit Begriffen von »Staat bzw. Staatlichkeit« auftauchen. Damit deutet die Analyse auf einen längeren Trend der zunehmenden diskursiven Bearbeitung und Problematisierung des Themas »Internet« mit Begriffen und Konzepten von Staatlichkeit in deutschsprachigen Medien hin.

Abbildung 1: Häufigkeitsanalyse der Dokumente, in denen das Wort »Staat*« zusammen mit dem Begriff »Internet« in Artikeln des Spiegel, auf Heise online und auf Netzpolitik.org vorkommt (aus Dammann/Glasze 2022)

Inhaltlich beziehen sich diese Problematisierungen von Staatlichkeit vielfach auf Fragen der souveränen Rechtsdurchsetzung etwa im Hinblick auf Verletzungen des Urheberrechts und Verstöße gegen Datenschutzvorschriften oder auf Präventionen und Ahndungen von Cyberkriminalität. Am prominentesten finden sich Forderungen nach mehr Staatlichkeit seit den frühen 2000er-Jahren im Kontext von Debatten um Datenschutz. Zwischen 2000 und 2010 stieg der Anteil von Nutzerinnen und Nutzer des Internets in der deutschen Bevölkerung von 30 auf 82 Prozent8, während gleichzeitig eine Vielzahl neuer Webdienste und sozialer Medienplattformen entstand (Stichwort: Web 2.0). Eingebettet war diese Entwicklung in eine Phase der Ökonomisierung von personenbezogenen bzw. verhaltensbezogenen Daten, die zu einer intensivierten Produktion, Speicherung und Distribution von digitalen (Meta)Daten durch kommerzielle Anbieter führte. Die Ausmaße dieser neuen Datenökonomien – und die damit verbundenen Sicherheitsproblematiken – wurden durch eine Reihe von Datenskandalen in den 2000er-Jahren immer wieder in öffentlichen Mediendiskursen sichtbar gemacht und problematisiert: 2008 wurde etwa bekannt, dass aus den Rechenzentren von T-Mobile, einer Tochtergesellschaft der Deutschen Telekom, die Daten von rund 17 Millionen Kundinnen und Kunden entwendet worden waren.9 Im Jahr 2009 wurden 1,6 Millionen Datensätze von Kindern und Jugendlichen aus dem sozialen Netzwerk schülerVZ öffentlich.10 Im selben Jahr erklärte der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar, dass die staatlichen Aufsichtsbehörden mit den großen Mengen illegal zirkulierender Daten deutscher Bürger*innen auf dem digitalen Schwarzmarkt überfordert seien.11 Darüber hinaus gab es viele ähnliche Skandale bei international operierenden Unternehmen wie AOL, Google, Microsoft und Facebook, die auch in den deutschen Medien aufgegriffen und diskutiert wurden.

Doch nicht nur im Hinblick auf privatwirtschaftliche Unternehmen wurden Problematiken des Datenschutzes in einer »globalen Informationsgesellschaft« sichtbar. Auch die Überwachung der digitalen Kommunikation deutscher Bürger*innen durch ausländische – in der Regel US-amerikanische – Geheimdienste wurde zunehmend problematisiert. Ende der 2000er-Jahre konsolidierte sich im Kontext dieser Problematisierungen eine Perspektive, der zufolge staatliche Institutionen zum Schutz deutscher Bürger*innen vor ausländischen Staaten und vor (ausländischen) Unternehmen verstärkt in die digitale Kommunikation intervenieren müssten (vgl. Dammann/Glasze 2022). Diese Sichtweise findet sich auch bei den lange Zeit eher staatskritischen, liberal-progressiven Apologetinnen und Apologeten einer »globalen Informationsgesellschaft« wie etwa dem deutschen Chaos Computer Club (CCC). Der CCC schreibt in einer Stellungnahme 2009:

»Die bilateralen Abkommen, die den USA und weiteren Staaten unkontrollierten Zugriff auf deutsche Datenbanken verschaffen, […] gehören eingeschränkt. Die deutsche Regierung muß sich auf europäischer Ebene dafür starkmachen, Drittstaaten nicht weiterhin Zugriff auf sensible Daten zu erlauben. Der Staat muß hier die Schutzfunktion für seine Bürger auch im digitalen Raum wahrnehmen.« (Chaos Computer Club 2009)