Was ich dir immer schon mal sagen wollte - Markus Decker - E-Book

Was ich dir immer schon mal sagen wollte E-Book

Markus Decker

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Beschreibung

Wie steht es nach 25 Jahren Einheit um die innerdeutsche Verständigung? Wie stark ist der Ost-West-Gegensatz noch? Markus Decker hat sich mit 14 kompetenten Gesprächspaaren aus Ost und West getroffen. Er diskutierte u. a. mit Andreas Dresen und Axel Prahl, Rainald Grebe und Hans-Eckardt Wenzel, Anke Domscheit-Berg und Gesine Schwan, Reiner Haseloff und Winfried Kretschmann, Esra Kücük und Anne Wizorek, Lutz Rathenow und Bernd Riexinger, Arne Friedrich und Axel Kruse über den Prozess des Zusammenwachsens in ihrem jeweiligen Umfeld. Es geht um Freiheit und Frauenrechte, um Freundschaft, Glaube und Liebe, um Solidarität und um Fußball. Für den Blick von außen sorgen eine französische und eine polnische Deutschland-Korrespondentin. Entstanden sind vielschichtige Gespräche – so lebendig wie die Einheit selbst.

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Seitenzahl: 396

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Für meinen Vater

FOTONACHWEISSämtliche Fotos in diesem Band sind von Markus Wächter – bis auf jenes von Margitta Hollick und Stefan Vesper (Andreas Stedtler) und das von Robert Koall und Frank Richter (Daniel Koch).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Angaben sind im Internetüber www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, August 2015© Christoph Links Verlag GmbHSchönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: Stephanie Raubach, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Markus WächterSatz: Ch. Links Verlag, BerlinISBN 978-3-86153-846-2eISBN 978-3-86284-314-5

Inhalt

Vorwort
»Zu einem Gespräch gehört Respekt«
Der Philosoph, Psychologe, Autor und Coach Olaf Georg Klein über das Miteinanderreden
»Was heißt hier eigentlich Einheit?«
Esra Kücük von der Jungen Islam Konferenz und die Netzaktivistin Anne Wizorek über Herkunft und Zukunft
»Die Angleichung wird noch Jahrzehnte dauern«
Die Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg, Reiner Haseloff und Winfried Kretschmann, über Solidarität
»Der Osten ist jetzt eingetütet«
Die Journalisten Sergej Lochthofen und Hugo Müller-Vogg über Deutungshoheiten
»Als der Osten aufgemacht wurde, sanken die Milchpreise«
Die Psychologin Karin Hoff und der Sozialwissenschaftler Benjamin-Immanuel Hoff über Liebe
»Es war klar, dass wir miteinander weitergehen werden«
Der Regisseur Andreas Dresen und der Schauspieler Axel Prahl über Seelenverwandtschaft
»Freiheit ist am Anfang schwer«
Die ehemaligen Profi-Fußballer Arne Friedrich und Axel Kruse über Autorität auf dem Rasen
»Ich habe viele positive Dinge in der DDR erlebt«
Die Feministin Anke Domscheit-Berg und die Politologin und einstige Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan über Frauenrechte
»Wir wollen nicht führen«
Der ehemalige Verteidigungsminister Rainer Eppelmann und der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat über Deutschlands Rolle in der Welt
»Die Westdeutschen brauchen länger«
Der Kabarettist Rainald Grebe und der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel über Kultur und Nation
»Wir sind schon lange am Ende der Dankbarkeit«
Die Ostbeauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke und die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach Renate Köcher über die Innere Einheit
»Jeder Jeck is anders«
Der Dramaturg am Staatsschauspiel Dresden Robert Koall und der Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung Frank Richter über Kölner, Dresdner – und Pegida
»Was ist der Weg zum Glück?«
Die linke Leipziger Stadträtin Margitta Hollick und der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Stefan Vesper über Glauben
»Die Echos begleiten uns«
Der sächsische Stasi-Landesbeauftragte Lutz Rathenow und der Linksparteivorsitzende Bernd Riexinger über Anpassung
»Die Franzosen wären noch beim Einigungsvertrag«
Die Deutschland-Korrespondentinnen Pascale Hugues und Izabella Jachimska über den Blick von außen
Die deutsche Einheit ist den Deutschen keine Debatte mehr wert
Ein Schlussessay
Anhang
Kurzbiografien
Dank
Zum Autor

Vorwort

Vor 25 Jahren wurden zwei Teile eines Landes zu einem Staat (wieder-)vereinigt. Manchen war dieser Vorgang nie der Rede wert. Den meisten anderen ist das Ergebnis längst zur Normalität geworden. Wieder andere, vornehmlich jene im Osten Deutschlands, tun sich mit dem Ergebnis nach wie vor schwer – wenngleich die Vorteile der Einheit in den Augen einer übergroßen Mehrheit der Menschen hüben wie drüben überwiegen.

Dieses Buch nimmt das Jubiläum zum Anlass, das Thema erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Nichts scheint dabei naheliegender, als die Deutschen in Ost und West über etwas ins Gespräch zu bringen, das beide angeht – oder zumindest angehen sollte. Denn an Gesprächen auf Augenhöhe hat es in den letzten 25 Jahren zu oft gefehlt. Anfangs war die Euphorie groß. Doch das Interesse aneinander versiegte so rasch, wie es gekommen war. Der Dialog ist nie wirklich in Gang gekommen. Stattdessen dominierten Urteile der einen über die jeweils anderen. Auf den folgenden Seiten unterhalten sich mehr oder minder prominente Menschen über Teilaspekte der Einheit. Um Solidarität beim Aufbau Ost geht es ebenso wie um scheinbare Randthemen wie den Fußball, den Glauben oder die Liebe. So entsteht ein Puzzle. Die Hoffnung ist ferner, dass sich aus den abgedruckten Dialogen in der Summe eine Bilanz ergibt – auch wenn diese keinerlei Vollständigkeit beansprucht. Das Buch beginnt mit einem Gespräch über das Miteinanderreden von Menschen im Allgemeinen und Ost-West-Menschen im Besonderen und schließt mit einem Einheitsessay des Autors.

Ob ein Gespräch gelingt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Davon zum Beispiel, welches Temperament die Teilnehmer haben und wie offen sie sind. Auch der Gesprächscharakter gestaltet sich ganz unterschiedlich. Mal ist es virtuos wie ein Ping-Pong-Spiel. So wie das Aufeinandertreffen der gleichermaßen selbstbewussten Journalisten Sergej Lochthofen und Hugo Müller-Vogg. Zuweilen ähnelt es einer gemeinsam suchenden Bewegung – wie jenes zwischen Robert Koall und Frank Richter. Im besten Fall betreten zwei Menschen gemeinsam gedankliches Neuland, ohne bis dahin als richtig Erachtetes partout verteidigen zu müssen. In jedem Fall sind die Gespräche, was sie sein sollen: unberechenbar, unterhaltsam – und lebendig.

Lebendig wie die Einheit selbst. Zwar belegen alle 14 Dialoge, die im ersten Halbjahr 2015 stattfanden, wie wirkmächtig der Ost-West-Gegensatz unverändert bleibt. Zugleich belegen sie aber auch das Verwachsen der Landesteile und ihrer Bewohner ins Offene hinein. Ärgernisse von vor 25 Jahren sind heute keine mehr. Andere sind geblieben. Und Freudiges ist hinzugetreten. Der Austausch zwischen Rainald Grebe und Hans-Eckardt Wenzel demonstriert wiederum, dass die dem Mauerfall folgende Digitalisierung unseres Daseins auf andere Weise ähnlich radikale Konsequenzen hat. Das Buch zeigt die großen Linien und kleinen Schattierungen innerdeutscher Verständigung – ein Vierteljahrhundert nach dem Epochenereignis der Einheit. Wenn es überrascht, umso besser.

»Zu einem Gespräch gehört Respekt«

Der Philosoph, Psychologe, Autor und Coach Olaf Georg Klein über das Miteinanderreden

Olaf Georg Klein (60) hat sich vielleicht wie kein anderer mit der Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen beschäftigt. Einerseits ist das sein Beruf. Klein studierte an der Humboldt-Universität Theologie, Philosophie und Psychologie und arbeitet heute als Coach. Der Lebensweg des Ost-Berliners war und ist auf Verständigung aus. Seine Arbeit setzt ein, wo sie misslingt. Andererseits ist das Ost-West-Thema auch seine Leidenschaft. Den Mauerfall 1989 erlebte Klein mit 34 Jahren. Vor 15 Jahren schrieb er das Buch Ihr könnt uns einfach nicht verstehen. Warum Ost- und Westdeutsche aneinander vorbeireden, das ein Bestseller wurde. Wohl weil das Aneinandervorbeireden längst zum Alltag gehörte im neuen Deutschland.

Herr Klein, was ist die Voraussetzung für ein gelingendes Gespräch?

Oh, da gibt es eine ganze Reihe von Voraussetzungen. Es sollte Zeit vorhanden sein und vor allem ein gegenseitiger Respekt. Zudem gelingt ein Gespräch in der Regel nur, wenn auf beiden Seiten die innere Bereitschaft vorhanden ist, dem anderen wirklich zuzuhören.

Es ist in Mode gekommen zu sagen, zwei Leute bewegen sich auf Augenhöhe. Was heißt das?

Im besten Fall ist damit wohl ein gegenseitiger Respekt gemeint.

Aber bedeutet Augenhöhe dann, dass Menschen den gleichen Status haben, also ähnliche Berufe, gleich viel Geld, Ansehen in der Gesellschaft? Oder bedeutet Augenhöhe das Gegenteil, nämlich dass sie über Status-Differenzen hinwegsehen können?

Gegenseitiger Respekt hat aus meiner Sicht erst einmal nichts mit dem Status zu tun. Es ist eher eine Frage der inneren Haltung gegenüber anderen Menschen und der Welt. Mit dem Begriff der Augenhöhe ist wahrscheinlich gemeint, man solle nicht »von oben herab« oder »unterwürfig« kommunizieren. Aber der Begriff suggeriert eben auch, es gäbe keine Unterschiede zwischen Menschen in Bezug auf Herkunft, Bildung, Vermögen, Geschlecht und Körpergröße. Oder man könne, wenn es doch Unterschiede gebe, dann eben nicht auf Augenhöhe kommunizieren. Insofern verschleiert der Begriff mehr, als er ermöglicht. Und von daher erscheint mir der Ausdruck des gegenseitigen Respekts angemessener zu sein, als die Metapher von der gleichen Augenhöhe.

In den ersten Jahren nach dem Mauerfall hat es massive Kommunikationsprobleme zwischen Ost- und Westdeutschen gegeben. Ist das heute anders?

Dass es die Kommunikationsprobleme nach dem Mauerfall gab, ist unbestritten. Worauf sie basierten und noch immer basieren, ist Gegenstand der Diskussion geblieben. Eine Deutung wäre, es liege am Statusunterschied und am Kapital und daran, dass der Osten das wirtschaftliche und politische System des Westens übernommen habe. Für mich hängt es eher damit zusammen, dass es leider gar keine Wiedervereinigung gab. Es war vielmehr politisch, juristisch und ökonomisch ein Anschluss des Ostens. Und dieser Anschluss war vom Westen gewollt und wurde mit politischen und ökonomischen Mitteln durchgesetzt. Das hat von vornherein den Blick darauf verstellt, dass auch der Osten etwas für den Westen Wesentliches hätte einbringen können. So kam es eben nicht zu einer respektvollen Vereinigung. Das wiederum hat die individuelle Kommunikation zwischen den Menschen auf beiden Seiten von Anfang an überlagert. Dieser »Geburtsfehler« ist bis heute nicht wirklich überwunden. Er spielt aber in der ganz jungen Generation keine vorherrschende Rolle mehr.

Der Osten sollte sich permanent anpassen. Ist diese Anpassung abgeschlossen?

Die Anpassungserwartung funktioniert nach wie vor nicht besonders gut. Wenn Sie jemanden mit Hilfe von bestimmten Machtmechanismen zur Anpassung zwingen wollen, wird das immer nur oberflächlich gelingen. Es geht aber eben nicht allein um die politische, ökonomische und juristische Anpassung. Die ist ja weitgehend abgeschlossen. Es geht noch immer um eine kulturelle Anpassung. Deswegen habe ich ja mit meinem Buch 2001, Ihr könnt uns einfach nicht verstehen. Warum Ost- und Westdeutsche aneinander vorbeireden, den Begriff der Kommunikationskulturen in die Diskussion eingebracht. Damit ist das Wie in der Kommunikation gemeint. Gehe ich direkter oder indirekter vor? Trage ich Konflikte offen oder verdeckt aus? Wie ist die Sprache rhythmisiert? Wie lang sind Pausen? Wie normal sind Unterbrechungen? Diese Unterschiede, die genauso in der Kommunikation zwischen Deutschen und Österreichern oder Deutschen und Schweizern auftreten, treten natürlich auch zwischen Ost- und Westdeutschen auf. Der Hauptirrtum bestand darin, diese kulturelle Dimension auszublenden. Entsprechend groß ist nach wie vor die »Enttäuschung« auf der Westseite über die noch immer nicht gelungene »Anpassung« des Ostens.

Sie schreiben unter anderem, Ostler hielten längeren Blickkontakt, gäben immer die Hand und seien eher auf Konsens aus. Westler hingegen seien statusbewusster, hielten auch körperlich mehr Abstand und seien konfliktfreudiger. Bleiben Sie bei dieser Diagnose?

Ja. Aber es gibt Einschränkungen. Ich spreche ja bewusst nicht von »den Westlern« und »den Ostlern«, sondern von einer westlichen und einer östlichen Kommunikationskultur. Diese komplexe Kultur wirkt unbewusst weiter, wenn ich sie nicht reflektiere und wandle. Und jeder Einzelne kann natürlich zu seiner eigenen gelernten Kommunikationskultur auf Distanz gehen – sie also verlernen und eine neue lernen. Das passiert immer, wenn man sich in einer anderen Kultur bewegt. Typisch für Einwandererfamilien ist: Die erste Generation passt sich gar nicht mehr an, die zweite ist in einer Zwischenposition, adaptiert und fremd zugleich, die dritte wiederum ist voll integriert. Aber im Unterschied dazu reproduzieren sich in Deutschland beide Kommunikationskulturen und deren unbewusste Voreinstellungen stets neu. Es gibt Abschleifungen und eine »Mischkultur« nur da, wo sich beide Kulturen im Alltag intensiv und unausweichlich begegnen: in Arbeitszusammenhängen und in Paarbeziehungen. Da bleibt es spannend. Das kann ich in meinen Beratungen, im individuellen Coaching oder Paarcoaching nach wie vor beobachten.

Eines der Probleme, so schreiben Sie, bestehe darin, dass Differenzen geleugnet oder verdrängt würden. Es herrsche die Ideologie: »Was eins ist, kann nicht zwei sein.«

Zum Respekt gehört für mich, bei jeder menschlichen Begegnung davon auszugehen, dass der andere anders ist als ich. Erst dann höre ich zu. Erst dann beginne ich ja, mich wirklich mitzuteilen und nicht vorauszusetzen, dass der andere ja ohnehin schon wisse, was ich meine. Eine vollzogene staatliche Einheit lässt kulturelle Differenzen nicht verschwinden. Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland wirken ja nun immerhin auch schon seit 1870 nach, und niemand stört sich daran. Trotzdem ist es hilfreich und sinnvoll, bestimmte kulturelle Unterschiede nicht persönlich zu nehmen oder als individuelle Eigenheiten des anderen zu interpretieren. Wenn ein Norddeutscher wortkarger ist als ein Süddeutscher, bedeutet das nicht, dass er mich nicht leiden kann. Insofern ist das Wissen um die kulturelle Differenz hilfreich, um von gegenseitigen Unterstellungen und falschen Interpretationen wegzukommen und sich gerade dadurch besser zu verstehen.

Immerhin sind die Klischees vom »Besserwessi« und »Jammerossi« weg. Ist das ein Fortschritt?

»Besserwessi« und »Jammerossi« war eines der Klischees. Denn man kann ja wohl erst einmal davon ausgehen, dass es im Osten wie im Westen in etwa gleich viele Optimisten wie Pessimisten gibt. Wenn dennoch ein solches Klischee entsteht und scheinbar immer wieder bestätigt wird, hat das mit einer kulturellen Differenz, mit unterschiedlichen »Selbstpräsentationstechniken« zu tun. Kurz gesagt, darf ich im Westen nicht als »Verlierer« rüberkommen, selbst wenn es mir gerade schlecht geht. Im Osten darf ich nicht als »Angeber« rüberkommen, selbst wenn es mir gut geht. Das ist ein fein austariertes System der Verständigung, das innerhalb der eigenen Kommunikationskultur sehr gut funktioniert, aber in der Begegnung mit der anderen weniger. Inzwischen sind beide Seiten an dem Punkt sensibler geworden. Andererseits haben Sie Recht, dass Klischees heute vor allem nicht mehr offen ausgesprochen werden. Das ist politisch unkorrekt. Aber hören Sie mal genau hin, wenn Ostler oder Westler wirklich oder vermeintlich nur unter sich sind! Kulturschocks, und genau darum handelt es sich auch in der Begegnung von Ost- und Westdeutschen, sind immer schmerzhaft und herausfordernd. Sie konfrontieren einen ja nicht zuletzt auch mit einem selbst und den eigenen unbewussten Prägungen. Insofern gilt es, mit den vorhandenen Differenzen sensibel umzugehen. Sich selbst und dem anderen gegenüber. Was einem allerdings zunehmend Hoffnung geben kann, ist, dass interkulturelle Erfahrungen, zum Beispiel innerhalb Europas, auch zu mehr Sensibilität im Bereich der Kommunikation überhaupt führen.

Die Kommunikation findet in zwei Landesteilen statt. Wo genau sind da die Unterschiede?

Nach meinen Erfahrungen ist es so, dass Ostler im Westen eher mit kulturellen Differenzen rechnen als umgekehrt Westler, die in den Osten gehen und die dann meinen, nach 25 Jahren könne es doch da gar keinen Unterschied mehr geben. Die trifft es dann leider besonders hart, weil sie oft nicht verstehen können, warum sie plötzlich in ihrem neuen Umfeld auf so massive Probleme treffen, die sie vorher nicht hatten. Da könnte ich Ihnen hunderte Beispiele nennen. Gleichzeitig bewahrt das Wissen um die Differenz beide Seiten nicht vor einem gewissen Unwohlsein, das man nun einmal hat, wenn man sein gewohntes Umfeld und seine vertraute Kommunikationskultur verlässt. Es hängt selbstverständlich auch von der persönlichen Disposition ab, ob man das Fremde eher als eine Bereicherung wahrnehmen kann oder eher als eine Bedrohung empfindet. Ostler, die im Westen leben, sind in ihrem Privatleben häufig mit Ostlern zusammen. Umgekehrt gehen viele Westler nach einer gewissen Zeit wieder zurück in den Westen.

Eine wichtige Voraussetzung für gelingende Kommunikation ist ja das Interesse an seinem Gegenüber. Nun stellt man aber immer wieder fest, dass dieses Interesse oft gar nicht vorhanden ist. Wenn über die deutsche Einheit geredet wird, dann sind Ostler nicht selten unter sich, weil sich für viele Westler gar nichts verändert hat. Umgekehrt gibt es auch Westler im Osten, die darüber klagen, dass sie noch nie nach ihrem Leben vor dem Mauerfall gefragt worden seien – entweder, weil Ostler darüber gar nichts wissen wollen oder den Westen und die Westdeutschen gut genug zu kennen glauben. Ist das im 25. Jahr der Einheit nicht tief traurig?

Dem könnte ich zustimmen. Der ostdeutsche Anschluss an den Westen hat den Ostlern individuell deutlich mehr abverlangt als umgekehrt den Westlern, für die sich außer einer neuen Postleitzahl erst einmal gar nichts geändert hat. Insofern ist auch der Schmerz über den Weg, wie es nach der gelungenen Revolution im Osten zu dem Anschluss kam, im Osten deutlich größer als im Westen. Dieser individuelle und kollektive Umbruchprozess ist für mehrere Generationen im Osten prägend gewesen. Etwas Vergleichbares haben die Menschen im Westen kollektiv nicht durchlebt. Das erklärt, warum die Revolution und der Anschluss an den Westen unter Ostlern stärker und nachhaltiger thematisiert werden. Dazu kommt auch ein zunehmendes Interesse an Alternativen zum »real existierenden Kapitalismus«, der gerade jüngere Menschen, zum Beispiel der Dritten Generation Ost dazu bringt, genauer nachzufragen, warum es zu diesem einseitigen Anschluss gekommen ist und was vielleicht bewahrenswert gewesen wäre. Auf der rein kommunikativen Ebene gab es allerdings eine ganze Reihe von Initiativen, sich gegenseitig die Lebensläufe zu erzählen und sich zu befragen. Das ist oft sehr viel ergiebiger und erfüllender, als abstrakt über Gerechtigkeit oder Freiheit zu diskutieren.

2001 diagnostizierten Sie: »In Deutschland haben wir die außergewöhnliche Situation, in einem Land mit einer Sprache und zwei unterschiedlichen Kommunikationskulturen zu leben.« Ist das Ihrer Ansicht nach eigentlich jemals als Chance begriffen worden?

Also individuell wurde das schon von vielen Menschen, und zwar in beide Richtungen, als eine Chance begriffen. In den sogenannten Leitmedien dagegen ist ja nicht einmal der Begriff einer »eigenständigen Kultur« des Ostens wirklich ernst genommen worden. Da ging es vor allem ausgesprochen oder unausgesprochen um Delegitimität, Abwertung und im besten Fall um die Forderung nach der einseitigen Anpassung des Ostens an den Westen. Das hat sich bis heute nicht nennenswert geändert. Mich amüsiert eigentlich immer nur das Erstaunen, wenn in eben jenen Medien, nach den erhobenen Statistiken, mal wieder die von mir sogenannten kulturellen Grenzen mit den ehemaligen Staatsgrenzen übereinstimmen: ob beim Leseverhalten, der Verbreitung von Zeitungen, beim Konsum, beim Heiratsalter, bei dem Umgang mit nichtehelichen Kindern, der Anzahl der Krippenplätze oder der Berufstätigkeit der Frauen. Diese Reihe ließe sich beliebig lang fortführen. Und wie man an der Dritten Generation Ost sehen kann, wirken die kulturellen Prägungen beharrlich weiter.

Und warum wird dieser kulturelle Unterschied Ihrer Meinung nach nicht respektiert?

Um eine Spaltung und Entfremdung zu überwinden, kann man ja unterschiedlich vorgehen. Anfangs war wohl auf beiden Seiten das Motiv vorherrschend, das Verbindende und nicht das Trennende zu betonen. Von daher wurden die kulturellen Differenzen zwischen Ost und West entweder als unwesentlich oder als gar nicht vorhanden dargestellt. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Auf der einen Seite: die Metapher von den Brüdern und Schwestern im Osten – und auf der anderen Seite: Wir sind ein Volk. Es war der durchaus verständliche Versuch, Übereinstimmungen herbeizuzwingen. Außerdem sollte der einseitige Anpassungsdruck übertüncht werden, um die Vereinnahmung vergessen zu machen. Nach und nach wurde aber immer offensichtlicher, dass jede Kultur mit Vorteilen und Nachteilen einhergeht, und gerade im Osten entstand nach einer depressiven Phase wieder ein größeres Selbstwertgefühl. Die Ostler hatten ja außerdem den Vergleich. Sie konnten nach der eingehenden Analyse, was in der DDR alles überholt und veränderungsbedürftig gewesen ist, jetzt auch erkennen, was in dem »real existierenden Finanzkapitalismus« veränderungsbedürftig ist. Es kam zu einem größeren Selbstbewusstsein und in großen Teilen auch zu einer Rückbesinnung auf bestimmte kulturelle Eigenheiten, die nicht mehr vertuscht, sondern jetzt auch selbstbewusst vertreten werden. Ein Ausdruck dafür ist zum Beispiel die Serie: »Die Ostdeutschen«.

Nun ist es nach so langer Zeit kaum möglich, sich jeweils in den Stand der Unschuld zu versetzen und mit dem Ost-West-Gespräch gleichsam von vorn zu beginnen. Trotzdem: Sehen Sie die Möglichkeit, das Nicht-Gelungene zu reparieren?

»Reparieren« ist vielleicht nicht so ganz das richtige Wort. Kulturen und auch Kommunikationskulturen sind dynamisch. Wenn in der Kommunikation einer sein Verhalten ändert, ändert sich auch die Kommunikation insgesamt. Insofern bleibt das eine anhaltende und beständige Aufgabe. Es kommt auch darauf an, wie mit gegenseitigen Verletzungen umgegangen wird – ob etwas heilt oder eine offene Wunde bleibt. Oder ob sogar immer wieder neue Wunden aufgerissen werden. Aber nach 25 Jahren kann man konstatieren, dass ein anderer Weg zu einer wirklichen Vereinigung der beiden Seiten zwar wünschenswert gewesen wäre, aber man nicht immer weiter darüber lamentieren sollte. Es geht ja heute auch darum, die vor ganz Europa und der ganzen Menschheit stehenden Aufgaben in den Blick zu nehmen und eine Verständigung darüber zu schaffen, wie eine lebbare Welt in der Zukunft aussehen kann. Da sind die besten Leute aus Ost und West gefragt.

Der Theologe Richard Schröder hat gesagt, die deutsche Einheit sei ein Thema ohne Brisanz. Behandeln wir Luxusprobleme?

Die Frage ist: Was bedeutet »keine Brisanz«? Was soll hier der Maßstab sein? Der ostdeutsche Anschluss und der Umgang damit sind sehr wohl relevant, für alle Menschen, aus Ost und West, die sich intensiv begegnen und miteinander in den Dialog treten. Und kulturelle Missverständnisse, die obendrein nicht einmal als solche erkannt werden, schmerzen den Einzelnen und haben empfindliche Auswirkungen. Daran sind Freundschaften und Beziehungen zerbrochen oder Firmen Pleite gegangen. Eine gewisse Sensibilität ist im Umgang mit den Feinheiten kultureller Unterschiede also durchaus gefragt. Zum Statement von Herrn Schröder fällt mir im Übrigen eine kleine Geschichte ein. Ein hoher westdeutscher Diplomat wollte einem indischen Minister in den 80er Jahren einmal den Unterschied zwischen der BRD und der DDR erklären. Der indische Minister fragte irgendwann ungeduldig zurück: »Haben die Menschen in der BRD zu essen?« »Ja, natürlich!« »Haben die Menschen in der DDR zu essen?« »Ja, zu essen haben die auch.« »Na, dann sind doch die Unterschiede ziemlich belanglos.«

Aus einer indischen Perspektive sind die deutschen Vereinigungsprobleme und Kommunikationsprobleme sicher ohne Brisanz. Es gibt in der Tat sehr viel gravierendere Menschheitsprobleme. Aber das sollte uns nicht dazu veranlassen, in dem Naheliegenden oberflächlich oder unsensibel zu sein. Außerdem könnten unsere in Deutschland gemachten Erfahrungen auch in anderen Bereichen der Welt durchaus von großer Wichtigkeit sein, gerade was die Gewaltfreiheit in der Revolution betrifft. Diese Gewaltfreiheit war ja, unter anderem, auch ein kommunikatives Meisterwerk.

Sie schrieben in dem besagten Buch, es empfehle sich, bei den Ost-West-Differenzen in sehr langen Zeiträumen zu denken. Wie fällt ihre Prognose heute aus?

Die Differenzen werden noch Jahrzehnte weiterwirken. Aber sie werden, genauso wie die Differenzen zwischen Nord- und Süddeutschland, nicht mehr als Herausforderung, Problem oder gar als Bedrohung behandelt werden. Und das wäre ja schon mal ein ziemlicher Fortschritt. Jeder ist frei, zu wählen, in welcher Gegend in Deutschland er oder sie sich am Wohlsten fühlt. In diesem Sinne würde ich uns Deutschen insgesamt mehr Mut zur Differenz und viel Sensibilität bei der Begegnung mit dem scheinbar Fremden wünschen.

»Was heißt hier eigentlich Einheit?«

Esra Kücük von der Jungen Islam Konferenz und die Netzaktivistin Anne Wizorek über Herkunft und Zukunft

Als das Gespräch beendet ist, höre ich im Weggehen, dass Esra Kücük (32, rechts im Bild) und Anne Wizorek (34) in Kontakt bleiben möchten. Das Gespräch hat beide offenkundig animiert. Verwunderlich ist das nicht. Kücük wurde in Hamburg als Tochter von Einwanderern geboren. Sie ist Deutsche durch und durch. Doch indem die Deutschen ohne den sprichwörtlichen Migrationshintergrund den Zuwanderern immer wieder etwas zuschreiben, meistens Schlechtes, wird sie das Thema nicht los. So ging Kücük die Sache offensiv an und gründete die Junge Islam Konferenz, deren Geschäftsführerin sie heute ist. Wizorek wurde bekannt, weil sie bei Twitter unter dem Hashtag #Aufschrei eine Debatte über Alltagssexismus entfachte. Der Aufschrei fiel zusammen mit der Debatte über die Äußerung des FDP-Politikers Rainer Brüderle zu einer Stern-Reporterin (»Sie können ein Dirndl auch ausfüllen«). Aber auch Wizorek, die in Rüdersdorf östlich von Berlin zur Welt kam, ist eine besondere Deutsche, eine Ostdeutsche. Das merkt sie daran, dass das Ostdeutsche oft einseitig konnotiert oder gleich ganz unterschlagen wird. Auf jeden Fall hat Wizorek ebenfalls mit Zuschreibungen zu tun. So ergeben sich während des Treffens zweier starker junger Frauen vielerlei Bezüge.

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