Was ihr nicht seht - Thomas Märtens - E-Book

Was ihr nicht seht E-Book

Thomas Märtens

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Beschreibung

Da ist mächtiger Gallowy-Stier namens Black Devil, der seiner Favoritin im Kampf mit einem alten Baum imponieren will und erfahren muss, dass der Stamm einer alten Kirsche niemals nachgibt. Eine verrückte Truppe Autofahrer hat an den Wochenenden nichts anderes zu tun, als landesweit nach großen Staus zu suchen, sich in die Blechlawinen einzureihen und diese Verkehrsstörungen so ganz anders zu betrachten, als es gemein hin üblich ist. Drei aristokratische Ladies schreiben die Stelle eines männlichen Hausdieners aus, um ihn genau wie seine Vorgänger alljährlich zum Weihnachtsfest abzumurksen und zu entsorgen. Diesmal aber hat das Schicksal einen ganz anderen Plan. Diese und andere teilweise nachdenklichen, zuweilen skurrilen, aber immer unterhaltsamen Kurzgeschichten hat der Autor zusammengetragen und einen ganz eigenen, höchst lesenswerten literarischen Mikrokosmos geschaffen.

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Seitenzahl: 238

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Inhalt:

Vorwort

Was Ihr nicht seht

Trio Infernale

Du solltest einfach nur Leben

Happy Birthday

Das Geisterdorf

Sophie

Ich kann Dir helfen

Der Richter

Der Zahn geht jetzt auf Reisen

Das fremde Mädchen

Black Devil

Amy

Portrait des Autors Thomas Märtens

Vorwort

Der Chef eines umsatzstarken mittelständischen Unternehmens hat Geburtstag, muss schon nach dem Aufstehen am frühen Morgen feststellen, dass es seine Gattin und auch die beiden Töchter nicht zu interessieren scheint. In seiner Firma geht es genauso weiter, denn kein Schwein gratuliert ihm. Nicht einmal seine äußerst attraktive Sekretärin, die seinen Ehrentag eigentlich kennen sollte und in der Vergangenheit immer darauf geachtet hatte. Vollkommen vergrätzt gibt er aus seiner Enttäuschung heraus und zur Besänftigung seiner geschundenen Seele einem langen, inneren Wunsch nach und führt seine hübsche Bürochefin zum Mittagessen aus, zumal sie aufgrund ihrer Erscheinung so manchen seiner Träume mit Leben erfüllt hatte. Das aber hätte er besser nicht getan, denn jetzt entfesselt sich eine Ereigniskette, der er zuletzt wahrlich entblößt und hilflos gegenüber steht. In diesem Sinne also Happy Birthday.

Wer glaubt, dass Verkehrsstaus nervtötend sind und wahnsinnig machen können, kennt die reichlich verrückte Bande nicht, von der in der Geschichte Der Stau die Rede ist. Diese seltsame Truppe verbringt ihre Wochenenden auf den deutschen Autobahnen, eilen zu jedem größeren Stillstand der oft endlosen Blechlawinen, um Partys zu feiern. Gönnen Sie sich einen kleinen Einblick, wie kurios ein solches Hobby sein kann, wenn man (oder Frau) die Situation nur aus einem Blickwinkel betrachtet.

Sophie ist Dozentin an einer Universität, eine hochanständige, sehr qualifizierte und bei ihren Studenten äußerst beliebt. Bei einem Stadtbummel wird ihr Handy geklaut. Ohne es besser wissen zu können, begeht sie einen entscheidenden Fehler, in dem sie den Verlust nicht bei der Polizei zur Anzeige bringt. Dadurch gerät sie in einen Malstrom von dramatischen Ereignissen, der ihr gesamtes Leben aus der Umlaufbahn katapultiert und sie in Untersuchungshaft bringt.

Lisa und Andrè haben die Schnauze voll von diesem total rücksichtslosen Unrechtsregime der DDR, das ihnen die Möglichkeit auf ein freies Leben verbietet. Also bereiten sie ihre Flucht vor, machen sich auf den Weg an die Elbe, um über den Fluss in das nahe Niedersachsen zu schwimmen. Den Tipp dieser angeblich sicheren Stelle, schwimmend in die Freiheit zu gelangen, bekamen sie von einem vertrauenswürdigen Freund. Als sie auf abenteuerlichem Weg das Ufer des sanft dahinfließenden Grenzflusses erreichen, treffen sie auf Hannes, Lisas Ex-Freund, der dort als Grenzsoldat seinen einjährigen Militärdienst ableistet. Ob seine Eifersucht über die verlorene Liebe und ihrem neuen Freund den Weg in die Freiheit verhindert, und was es mit dem Geisterdorf auf sich hat, erzählt die gleichnamige, spannende Geschichte.

Theodor van Hayden ist Der Richter am Amtsgericht einer Kleinstadt und steht vor der Eröffnung seiner letzten Verhandlung, da er am Ende des Tages seinen aktiven Dienst beenden wird. Folgen wir seinem philosophischen und sehr unterhaltsamen Gedankengang, als er vor Verhandlungsbeginn die anwesenden Verfahrensbeteiligten und ihre Rollen noch einmal mit scharfem Blick und wachem Geist betrachtet. Zuletzt wird er feststellen, dass es eine bestimmte Person gab, die er in seinen langen und anstrengenden Berufsjahren viel zu oft vermisste.

Da sind drei ältere, mordlustige aristokratische Schwestern, die sich alle Jahre wieder den Luxus gönnen, jeweils im Herbst einen jungen, männlichen Angestellten nicht nur für verschiedene gesellschaftlichen Anlässe, sondern auch zu ihrer künstlerischen Beratung einzustellen, um ihn dann immer zum Weihnachtsfest abzumurksen und auf Nimmerwiedersehen zu entsorgen. Dann aber geraten sie an Tim Bergheim und woher bitteschön sollte das Trio Infernale auch wissen, dass sie sich mit ihm eine Laus in den eigenen Pelz gesetzt haben.

Tauchen Sie ein in das gleichermaßen ungewöhnliche wie unterhaltsame Kabinett dieser Stories, aber auch in weitere seltsame, skurrile, launige und spannende Abenteuer, die sich in diesem Kurzgeschichtenband finden und sehen Sie, wie auf jeweils nur wenigen Seiten komplexe Erzählstränge miteinander verknüpft werden und zu teils kuriosen Wendungen führen.

Was Ihr nicht seht

Es war eine warme und wolkenlose Nacht, als John Miles rücklings im Gras lag und hinauf in den von Sternen übersäten Himmel blickte. Mitternacht war längst vorüber und um ihn herum herrschte absolute Stille. Nichts rührte sich, kein Lüftchen wehte und die Welt um ihn herum war in dieser Stunde so friedlich, wie sie friedlicher nicht sein konnte. Wie so oft lag John seit dem späten Abend ganz allein weit draußen, fernab von Kansas City in den Wiesen der schier unendlichen Great Plains und tat das, was er schon seit seiner frühen Kindheit so gern und immer wieder getan hatte. Er betrachtete die Sterne. Stumm, reglos, zutiefst entspannt.

Das sich über ihm ausbreitende Universum wirkte auf ihn schon immer wie ein heftiger Wasserstrudel, der alles mit sich riss, was in seine Nähe kam. John brauchte nur alles Denken abschalten und nach oben schauen, um von diesem Sog erfasst zu werden und hinauf zu schweben, tief in die Dunkelheit zwischen den so wunderbar funkelnden Lichtern.

Da war der rote Mars. Er war immer der am tiefsten, dicht über dem Horizont stehende, rötlich leuchtende Stern. Die Venus, die auch Nordstern genannt wurde, mochte er besonders gern. Sie war am Abend als Erstes zu sehen und verschwand zuletzt, wenn der Morgen bereits dämmerte. Während ihrer sichtbaren Stunden leuchtete sie, als gäbe es kein Morgen mehr, als ginge es um das finale Schimmern vor dem letzten Tag des Seins. Der Große und Kleine Wagen, Kassiopeia, die Plejaden. John kannte sie alle und fand im ewigen Schweigen der Sternbilder eine ihn mit Spannung erfüllende Unterhaltung. Und dann der Mond, der mit seiner beständigen Ruhe und Stille eine geradezu hypnotische Wirkung auf ihn ausübte. Irgendwann begann er sich damit zu beschäftigen, ob es tatsächlich auch anderes Leben da draußen gäbe und wie Wesen in anderen kosmischen Bereichen aussehen könnten. Er beschäftigte sich zunehmend mit der Suche nach Exoplaneten, den erdähnlichen Himmelskörpern, auf denen so etwas zu vermuten war. Zuletzt ergab er sich aber immer wieder der nüchternen Erkenntnis, dass er wohl zu früh geboren wurde, um vielleicht einer Begegnung der dritten Art mit außerirdischen Wesen erleben zu können. Im Grunde wäre er ja auch schon zufrieden gewesen, von wissenschaftlich nachweisbarem, extraterrestrischem Existenzen zu erfahren.

»Aber wie soll das geschehen? Wie sollen wir innerhalb unserer Lebenszeit dorthin fliegen und den auf der Erde lebenden Menschheit von den Erlebnissen berichten können. Vielleicht schaffen wir das in einigen hundert Jahren«, sagte er leise vor sich hin und fühlte mit Genies aus früheren Epochen, wie zum Beispiel da Vinci, Galileo aber auch dem Mathematiker Karl Leibnitz.Letzterer hatte in Ermangelung schneller Rechenmaschinen unser mathematisches System revolutioniert, in dem er es auf seine geringsten Einheiten reduzierte, so das duale Rechensystem erfunden und bereits im achtzehnten Jahrhundert die Grundlage für das Funktionieren unserer heutigen Computer geschaffen hatte.

Es braucht noch viele solcher Geister, damit wir uns in ferner Zukunft auf die Reise machen können, ging es ihm häufig durch den Kopf.

Aus John's kindlicher Bewunderung wurde - wie es nicht anders erwartet werden durfte - eine Passion. Er studierte sowohl Mathematik als auch Astronomie, promovierte und war inzwischen bei seinen Studenten der beliebte Professor Doktor Miles. Umgänglich, freundlich, geradezu allwissend und doch zuweilen etwas verstreut, wenn er während des Unterrichts mal wieder die Erde verließ und mit seinen Träumen davonflog. Weit weg in ferne Galaxien. Seine Studiengänge waren erfüllt von grenzenloser Hingabe und unendlicher Liebe für das Thema. Tagsüber stopfte er die jungen Leute mit Fachwissen voll, um es in nächtlichen Außenunterrichten mit Leben zu erfüllen. Bei vielen von ihnen zündete seine Begeisterung derart, dass auch sie vom Enthusiasmus für die Astronomie erfasst wurden.

Eins Tages fiel ihm ein neuer Student im Plenum auf, der wie aus dem Nichts in seinen Vorlesungen auftauchte und etwas abseits seiner Kommilitonen Platz genommen hatte. Dieser junge Mann wirkte durchaus sportlich, insgesamt jedoch etwas hager, geradezu untergewichtig und von einer seltsam grün gelblichen Blässe, wie sie John niemals zuvor gesehen hatte. Man musste allerdings schon genau hinsehen, um diese eigenartige Hautfärbung bewusst wahrzunehmen.

Es ist Sommer und eigentlich sollte doch so ein attraktiver Kerl, auf den die Mädels ganz sicher stehen, eine gesunde Bräune haben, dachte er und kam zu der Vermutung, dass dieser Beau vielleicht an der Leber erkrankt sein könnte.

Während der Vorlesung sah er immer wieder zu diesem Jungen und bemerkte, dass dieser äußerst konzentriert zuhörte, sich aber keinerlei Notizen machte. John quälte seine jugendliche Meute gerade mit irgendwelchen, für viele unverständlichen Weltraumparabeln und mathematischen Formeln der Himmelsmechanik. Außerdem versprach er ihnen, für die nächste Vorlesung einen schriftlichen Test vorzubereiten, was allgemeines Stöhnen und Stirnrunzeln provozierte. Nicht aber bei seinem neuen Schüler. Der saß bereits seit einer geschlagenen halben Stunde in unveränderter Sitzposition und lauschte den Ausführungen des Professors.

John referierte ausführlich über das Gravitationsverhältnis zwischen Mond und Erde, als aus der letzten Reihe von besagtem Schüler der Hinweis eingeworfen wurde, dass die allgemeingültige Formel jedoch nicht als immerwährende Konstante angesehen werden konnte. Darauf wollte John natürlich noch später zu sprechen kommen, ging aber aus Neugier auf einen Dialog mit dem jungen Mann ein.

»Hoch interessant. Sie scheinen mehr darüber zu wissen. Erklären Sie doch bitte den anderen, was Sie damit meinen!«

»Nun. Das will ich gern tun«, sagte er.

Alle Zuhörer hatten sich inzwischen auf ihren harten Bänken umgedreht, schienen den Jungen zuvor scheinbar noch nicht wahrgenommen zu haben und lauschten seinen Worten.

»Das Universum wirkt auf die Menschen, als wäre es etwas ewig Beständiges, doch besonders die Mechanik der Planeten und Sterne zueinander ist stark variabel. Wenn sich etwas unaufhaltsam verändert, dann ist es der weite, keinesfalls endlose Kosmos!«

»Was aber heißt das jetzt für das Verhältnis Mond und Erde?«, wollte ein Mädel von ihm wissen.

Das war es, was John liebte. Der Unterricht entfaltete seine eigene Dynamik und die Studenten begannen untereinander zu diskutieren. Er selbst war jetzt nur noch Gast in diesem Raumschiff, ließ sie aber gewähren und war gespannt, wohin diese Reise führen würde.

»Das scheint erst einmal wenig dramatisch, wird sich aber fatal auf das irdische Leben auswirken. Neueste, unwiderlegbare Forschungen haben nachgewiesen, dass sich unser stiller Trabant jährlich etwa drei Zentimeter von uns entfernt. Das heißt nichts anderes, als dass er irgendwann das Gravitationsfeld der Erde verlassen und in der schwarzen Unendlichkeit verschwinden wird!«

»Drei Zentimeter. Das ist ja kaum der Rede wert!«, meinte jemand aus vordersten Reihe.

»In irdischen Zeitrechnungen mag das zunächst so sein. Da könnte man fast annehmen, dass das Ereignis tatsächlich erst in Tausenden von Jahren eintritt. In kosmischen Maßeinheiten ist das jedoch bereits Morgen der Fall!«

»Und was passiert dann?«, fragte das Mädchen von vorhin nach und wartete fasziniert auf die Antwort.

»Der Mond versucht seit Millionen von Jahren, die Erde in ihrer Rotation zu stabilisieren, was ihm ja auch recht gut gelingt. Je weiter er sich allerdings entfernt, desto geringer wird sein Einfluss auf den blauen Planeten. Die Welt wird zuletzt instabil, sich selbst aus ihrer Umlaufbahn um die Sonne katapultieren und untergehen. Alles Leben wird ausgelöscht und die Zentrifugalkraft unseres Planeten wird die Welt in Stücke reißen!«

Alles drehte sich zu John und fragte den Dozenten wortlos mit staunenden Augen, ob das die bittere Wahrheit wäre. John nickte und blickte in viele ratlose Augenpaare.

»Da bin ich aber froh, dass ich heute lebe«, sagte einer der Studenten.

»Genau an dieser Stelle könnte die kosmische Instabilität greifen, denn niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wann sich die Abwanderung des Mondes wie auswirken wird. Wir haben jetzt sehr viel Richtiges und Interessantes über die Himmelsmechanik erfahren, wissen aber nicht, wie genau sie austariert ist. Vielleicht fehlen nur noch ein paar Zentimeter und die Katastrophe beginnt!«

Schweigen erfüllte den Plenarsaal. Die Köpfe der Studenten ratterten. John versuchte immer, seine liebenswerte Meute genau an diese Stelle zu bringen. Sie sollten sich über etwas wundern, nachdenken und alles kritisch hinterfragen. Er blickte in die Reihen, hinauf zu dem ihm noch nicht näher bekannten jungen Mann und nickte ihm anerkennend zu, als die etwas ängstliche Frage einer Studentin die Stille durchbrach.

»Und was können wir tun?«, wollte sie wissen.

»Das Leben auf der Erde ist jeglichem Bombardement aus dem Dunkel des Weltalls ausgesetzt. Die Geschichte mit dem Mond ist nur eine und glücklicherweise eine einigermaßen Berechenbare. Mit Meteoriten ist das zum Beispiel etwas ganz anderes. Was wäre, wenn sich für uns unsichtbar im Schatten des Mondes ein solches Geschoss anpirscht und unseren Nachbarn oder unseren Planeten trifft? Machen wir uns nichts vor. Da wären sehr viele andere Gefahren. Die größte und konkreteste allerdings ist bereits hier. Es ist der Mensch, der - so irrsinnig das auch klingen mag -, sein wunderbares Kleinod in dieser lebensfeindlichen Unendlichkeit und damit sich selbst hinrichtet, sodass auf andere Ereignisse gar nicht geachtet werden muss, weil bis dahin alles Leben vermutlich erloschen sein wird. Und nun zu Deiner Frage. Man muss begreifen, was gerade geschieht. Die Lebensspanne eines Menschen dauert in etwa achtzig Jahre. Das ist ein Geschenk der Evolution. Jeder Einzelne sollte seine Zeit nutzen und ganz einfach glücklich sein über alles was ist!«, erklärte der allen unbekannte Student.

Die Vorlesung sollte längst vorbei sein. John stand noch immer schweigend an der Tafel, beobachtete, wie sich die Gemeinschaft um den jungen Mann scharrte und intensiv mit ihm diskutierte. Anschließend ging er leise aus dem Saal und dachte über diese trotz aller Dramatik Hoffnung machende Ausführung nach.

»Was für ein beeindruckender Vortrag. Wer ist eigentlich dieser seltsame Junge mit diesem umfassenden Wissen?«, fragte er sich und hatte zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, dass erst einmal sein eigenes Leben diesen Studenten aus der Umlaufbahn katapultiert werden sollte.

»Ich heiße Nikolai Rachmanow«, sagte der Gefragte, als John ihn tags darauf beim Mittagessen in der Mensa traf, sich zu ihm setzte und nach seinem Namen fragte.

»Und wo kommen Sie her?«

»Von sehr, sehr weit weg«, war die kurze Antwort.

Offensichtlich wollte er nicht mehr darüber erzählen und John dachte, dass der russische Name durchaus genug ausdrückte. Vielleicht war diese Zurückhaltung mit einem schweren Leben und Verlusten in seinen frühen Jahren verbunden, sodass der Professor nie wieder danach fragen würde.

»Sie können mich ruhig beim Vornamen nennen, Herr Professor. Schließlich bin ich Ihr Student!«

So ergab es sich bereits in diesem Gespräch für den Rest ihrer gemeinsamen Lebenszeit, dass Nikolai geduzt, John aber immer respektvoll mit Herr Professor oder seinem Namen angesprochen wurde.

»Was interessiert Dich an der Astronomie? Warum hast Du dieses Studium gewählt?«, fragte er, nachdem er zuvor lobende Worte für die Ausführungen des Vortrages zum Ausdruck gebracht hatte.

»Das ist ganz einfach, wenn man es hört, wird jedoch unglaublich komplex, sobald Sie darüber nachzudenken beginnen. Mich interessiert, was sich hinter all dem verbirgt, was da draußen ist. Hat der Kosmos überhaupt ein Ende und was kommt dann? Wo ist das Ende der Zeit und was geschieht, wenn man sie hinter sich lässt? Sind da Paralleluniversen oder pulsiert nur unser Eigenes, vielleicht Einziges, indem es sich bis zu einem gewissen Punkt ausdehnt, wieder zusammenzieht, die Masse des gesamten Kosmos auf die Größe eines Tennisballs komprimiert, um sich nach einem weiteren Urknall erneut auszudehnen. Und was bedeutet Ewigkeit?«

»Hoch interessant«, sagte John nachdenklich.

»Nur wird Dir dieses Studium keine dieser Fragen beantworten können!«

»Wir werden sehen, was noch alles geschieht, was uns das Leben bringen wird!«

»Das ist sehr wahr!«

»Was treibt Sie an?«, wollte Nikolai jetzt wissen und hörte sich in der Art seiner Art der Fragestellung überhaupt nicht an wie ein Student.

Seine offensichtlich von Wissen beladene Selbstsicherheit faszinierte den Professor, der sich sein Leben lang immer wieder fragen sollte, warum Nikolai überhaupt studierte, wo er doch schon alles zu wissen schien.

»Als kleiner Junge habe ich beim Blick in den Abendhimmel zunächst innere Ruhe und Frieden gefunden. Später drängte sich mir die Frage auf, ob wir allein sind, ob es woanders auch noch Leben geben könnte!«

Nikolai wirkte für eine Sekunde auf sein Gegenüber, als hätte er tatsächlich eine Antwort darauf und brachte John für einen Moment durcheinander.

»Dummes Zeug«, dachte dieser.

Wie sollte ein anderer Mensch diesbezüglich mehr wissen, als er selbst. Der Student wusste zweifellos viel, aber ausgerechnet ein Junge aus der Russischen Föderation würde ihm an dieser Stelle nicht weiterhelfen, nichts Neues beibringen können, ging es ihm durch den Kopf, sodass er diesen Gedanken genau so schnell verwarf, wie er ihm gekommen war.

»Und? Was meinen Sie? Ist da draußen anderes Leben?«

»Es gibt eine ganze Reihe Exoplaneten, wo so etwas möglich sein könnte, aber wir werden es zumindest in diesem Stadium des menschlichen Denkvermögens wohl nicht erfahren, befürchte ich.«

»Und warum nicht?«, fragte Nikolai.

»Du weißt selbst, dass wir einerseits nicht in der Lage sind, mit unseren Raumschiffen adäquate Geschwindigkeiten erreichen zu können, um dorthin zu gelangen, und wenn es doch möglich wäre, wie sollten wir der Menschheit auf der Erde berichten, ob und was wir vorgefunden haben. Man muss sich das einmal vor Augen führen. Rein mathematisch schaffen wir es nicht, einen Menschen während seines Lebens auf Lichtgeschwindigkeit zu katapultieren, auch, wenn wir die Technik dazu hätten. Gelänge es uns, diese Hürde zu überwinden, stünden wir vor anderen, unlösbaren Aufgaben, denn bei dem Tempo würde beispielsweise ein Staubkorn, das auf unser Raumschiff träfe, die Wucht einer Atombombe entwickeln. Dann wäre noch das von Albert Einstein nachgewiesene Raum-Zeit-Problem. Das bedeutet, flöge unser Raumschiff ein Jahr lang schnell wie das Sonnenlicht von der Erde fort, wären hier unten tatsächlich schon vierhunderttausend Jahre vergangen. Wenn die Astronauten nach einem weiteren Jahr zurückkämen, hätte vielleicht schon das gestern besprochene Gravitationsverhältnis den Mond und die Erde längst zerstört, wäre der Heimatplanet der Astronauten möglicherweise gar nicht mehr da, ganz sicher aber vollkommen verändert und unsere Zeitreisenden längst vergessen. Machen wir uns nichts vor. Das alles ist unmöglich. Ich werde wohl einmal mit einem unerfüllten Traum gehen müssen!«

»Wenn Sie so denken, könnten Sie ja eigentlich gleich aufgeben. Es besteht doch auch die Möglichkeit, dass andere Zivilisationen viel weiter entwickelt und in der Lage sind, die Erde zu erreichen!«

»Das stimmt, aber warum sollten sie das? Vielleicht, weil sie dem Menschen gleich, ihre Heimat zerstört hätten und auf der Suche nach einer neuen Bleibe wären? Wer über derartige Technik verfügt, könnte uns ganz bestimmt mit einem Federstrich auslöschen!«

»Das ist eine Möglichkeit, die durchaus ihre Berechtigung hat. Es müssen aber auch andere Absichten gelten dürfen. Vielleicht bringen sie Rettung, Hilfe, das ultimative, kosmische Heil für alles Leben?«

»Durchaus. Auch das kann tatsächlich möglich sein.

Anhand unseres Gespräches siehst Du, was mich mein Leben lang beschäftigen wird. Ich gebe keinesfalls auf. Sind die Chancen auch noch so gering. Ich forsche immer weiter!«

Nikolai war fasziniert von diesem Mann und bewunderte dessen Wissensdurst, seinen Mut und Courage. Er sah ihm noch einen Moment hinterher, als er sich verabschiedet hatte und die Mensa verließ.

Einigermaßen lustlos stocherte er jetzt allein an seinem Tisch sitzend in seinem Essen herum und fixierte mit seinem Blick den Löffel, der neben seiner Teetasse lag. Nach einigen Sekunden rutschte dieser wie von Geisterhand bewegt ein Stück weit vorwärts. Mit der Hand schob ihn Nikolai wieder zurück, schaute ihn abermals reglos an und schaute zu, wie er sich erneut in Bewegung setzte.

»Wie machst Du das?«, hörte er eine angenehm klingende Stimme und drehte sich um.

Hinter ihm saß Maria. Jene hübsche Studentin, die ihn bei seinem Vortrag nach Handlungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit den zu erwartenden Katastrophen gefragt hatte.

»Das kann ich Dir nicht erklären!«

»Soll heißen, Du willst nicht?«

»Nein, das soll es nicht!«

»Und was bedeutet es dann?«

»Du würdest es nicht verstehen!«

»Ach, Du hältst mich für dusselig, weil ich ein Mädchen bin?«

»Nein. Ganz gewiss nicht. Allein Deine Frage während der Vorlesung folgte zwingend logisch auf meine Worte. Sie offenbarte, dass Du sehr schlau bist und einen extrem wachen Geist hast!«

Dieses Kompliment streichelte zunächst ihr Ego, brachte sie aber gehörig durcheinander, da sie nicht einschätzen konnte, was da gerade passierte und keine Erklärung fand, wer dieser Junge eigentlich war. Von ihrer Neugier angetrieben stand Sie auf und setzte sich ohne zu fragen an seinen Tisch.

»Hi. Ich bin Maria und vielleicht versuchst Du es trotzdem mit einer Erklärung!«

»Ich bin Nikolai und ich erkläre bestimmt nichts. Allein der Versuch würde Dich ganz sicher sehr irritieren. Außerdem verrät kein Zauberer seine Tricks!«

»Ach so. Du zauberst!«

»Eigentlich bin ich nur ein Illusionist und mache nichts anderes, als die Aufmerksamkeit meiner Beobachter zu blenden!«

Nikolai lenkte das Gespräch in diese Richtung, weil er genau wusste, dass seine Wahrheit Maria erschüttern würde.

»Ich mache Dir aber gern ein anderes Friedensangebot. Wäre das okay?«

»Gut, aber diesmal wirst Du entlarvt, das garantiere ich Dir!«

»Nun, wir werden sehen«, sagte er, nahm einen Geldschein, knüllte ihn zu einer kleinen Kugel, hielt die Hand etwa dreißig Zentimeter über die Tischplatte, ließ das Geld los und zog den Arm zurück.

Maria bekam den Mund nicht mehr zu, als sie das kleine Knäuel dicht vor ihren Augen reglos in der Luft schweben sah.

»Was geschieht hier gerade?«, fragte sie rein rhetorisch, griff nach dem Geld und nahm es aus der Luft.

Da war kein unsichtbarer Faden, keine Falltür. Das war real. Sie starrte Nikolai fragend an, bekam aber keine Antwort. Dieser hatte das Mädchen jetzt völlig verwirrt, zog ein Kartenspiel aus der Tasche, führte einen sehr durchschaubaren Trick vor und gab Maria die Möglichkeit, ihn zu erwischen. Sie freute sich wie eine Schneekönigin, als sie ihm auf die Schliche kam und klatschte vor Freude in die Hände.

»Siehst Du. Alles nur Taschenspielertricks«, sagte Nikolai mit einem Augenzwinkern zu ihr und hatte das Gefühl, dass sie ihm das abnahm.

Sie redeten eine ganze Weile als Maria sich überlegte, mit ihm gern einmal ausgehen zu wollen und dachte an einen Kinobesuch, als dieser sie mit seiner Frage innerlich geradezu durchschüttelte.

»Welchen Film würdest Du Dir gern einmal ansehen?«

Konnte das tatsächlich sein? Hatten sie beide in derselben Minute den gleichen Gedanken oder kann der Kerl wissen, was ich denke?, ging es ihr durch den Kopf.

Sie verabredeten sich also für den Abend, saßen aber noch eine Weile im Gespräch vertieft am Tisch. Maria erfuhr, dass er in seinen jungen Jahren mehrere Fremdsprachen erlernt hatte, aber auch sonst umfangreich gebildet war und sich körperlich in Topform befand. Er war offensichtlich ein Allroundsportler und hatte seinen Erzählungen zufolge so manchen Wettstreit gewonnen.

»Vermutlich bist Du auch in der Lage, für ein Mädchen die Sterne vom Himmel zu holen?«, fragte sie ihn irgendwann.

Nikolai wurde für einen Moment ernst, antwortete aber mit der ihm eigenen entspannten Art.

»Vielleicht solltest Du davon träumen, dass da ein Pirat auf weißem Schiff mit roten Segeln vorbeikommt!«

»Warum«, wollte Maria etwas enttäuscht wissen.

»Hast Du schon mal überlegt, was passiert, wenn tatsächlich jemand des Weges kommt und Deinen Wunsch erfüllt?«

Das hatte sie natürlich nur bildlich gemeint und verstand Nikolai's Frage nicht so recht.

»Das sagt ein Mädchen doch nur so. Das sind doch alles nur romantische, aber eben sehr schöne Redensarten«, versuchte sie zu erklären.

»Aber gut. Spinnen wir den Faden weiter. Was sollte dann schon geschehen?«, sagte sie, stellte es sich im Geiste vor und bekam einen kleinen Schreck, als da am Ende ihres Gedankenpuzzles plötzlich ein Himmel ohne Sterne war.

»Was würden die anderen verliebten Jungs tun, wenn ich Dir all die schön glitzernden Himmelskörper zu Füßen legte?«

»Aber das kannst Du nicht und auch niemand anderes?«

»Meinst Du wirklich, dass ich das nicht hin bekäme?«

Das war einer dieser Momente, in denen Nikolai sie völlig aus dem Konzept brachte, weil er sie mit ihren Überlegungen allein ließ und sie nur tiefsinnig anlächelte. Das Mädchen erinnerte sich an die unglaublichen Tricks, bekam jetzt ein klein wenig Furcht und fragte sich, wer dieser Junge wirklich war. Das sollte sie sich fortan ihr gesamtes Leben lang fragen, denn von diesem Tage an wichen sich die zwei nicht mehr von der Seite. Sie sollte erfahren, dass er niemals krank wurde, einen ganz eigenartigen, aber immer kräftigen Herzschlag besaß, auf alles eine Antwort haben und ihr Leben zu einem einzigen, sie faszinierenden Karussell machen sollte, auch wenn sie sich seine so ganz eigene Art des Seins niemals erklären können würde.

»Du kannst zwar viele kleine Tricks, aber das bekommst Du nicht fertig. Außerdem würde bereits nur ein einziger fehlender Stern die Himmelsmechanik aus den Fugen reißen«, sagte sie und wollte nun sehen, wie er sich aus seiner eigenen Fallgrube heraus manövrierte. Nikolai aber blieb wie immer tief entspannt und sagte:

»Ich kann beides!«

»Wie? Ich verstehe nicht?«

»Einen Stern vom Himmel holen und gleichzeitig dafür sorgen, dass das kosmische Gleichgewicht nicht verloren geht!«

»Wie willst Du das anstellen?«, hakte Maria neugierig nach und meinte, den kleinen Großkotz endlich auf dem linken Bein erwischt zu haben, als dieser völlig unerwartet mit dem Finger auf ihren Hals deutete und sagte:

»Du schwätzt bereits eine geschlagene halbe Stunde und bekommst nicht mit, dass ich das bereits getan habe!«

Maria begriff in diesem Moment überhaupt nichts, was er damit sagen wollte, schaute reichlich verwundert aus den Augen, fasste sich seinem Fingerzeig folgend eher unbewusst an den Hals, spürte jetzt diese wunderschöne Kette, an deren Ende ein funkelnder Diamant hing, der das Leuchten aller Sterne in sich zu vereinen schien.

»Wie hast Du das gemacht? Wie konntest Du sie mir anlegen, ohne dass ich es mitbekam?«

Nikolai sagte nichts, ließ sie einige Momente allein mit ihren aufgewühlten Emotionen und ihren glänzenden Augen beim Betrachten dieses unglaublichen Edelsteins. Eine Träne kullerte ihr fast unmerklich über die Wange und innerlich wusste sie einfach nicht, was mit ihr geschah, was Nikolai in ihr auslöste. Zuletzt freute sie sich einfach nur.

Als sie sich nach einiger Zeit wieder gefangen hatte, den Diamanten aber fortwährend mit ihren Händen umschlossen hielt, als hätte sie Angst, sein Funkeln könnte sonst verloren gehen, fragte sie:

»Wo hast Du in Deinen jungen Jahren so viel lernen können?«

»Weißt Du, in der Welt, aus der ich komme, wird jeder umfangreich auf das Leben hier vorbereitet, um stark und erfolgreich sein zu können!«

»Und wo ist Deine Welt?«

Diese Frage würde Nikolai ihr aus ganz besonderen, tief liegenden Gründen niemals beantworten und ließ auch sie in dem Glauben, er käme irgendwo aus dem fernen Sibirien oder der Taiga. Er selbst musste nichts dazu erklären, denn das besorgte schon ihre Fantasie. Genau wie der Professor assoziierte sie mit seinem Namen das ferne Russland als seine Herkunft und sinnierte nachdenklich vor sich hin.

»Russland. Ich habe schon so viel gehört und würde auch gern einmal dorthin fahren!«

»Das wird sicherlich irgendwann einmal möglich sein«, erhielt sie als Antwort.

Es folgte ein längerer Gedankenaustausch über dieses Riesenreich hinter dem Ural und ganz unbewusst verfestigte es sich in Maria's Gedankenwelt, dass Nikolai aus diesem fernen Land kam.

»Zeigst Du mir dann Deine Heimat? Ich würde sehr gern sehen, wo Du aufgewachsen bist!«

Nikolai stützte sein Gesicht in die Hände und lächelte sie schweigend an, sagte dazu aber kein Wort. Maria wertete das als Zusage und gab sich damit zufrieden.

Tags drauf gab Professor Miles die nächste Vorlesung und bemerkte beim Betreten des Plenums sofort, dass Nikolai nicht mehr abseits in der obersten Reihe Platz genommen hatte, sondern neben Maria saß. Es war offensichtlich, dass es zwischen den beiden gefunkt hatte. Er freute sich, dass der Junge sofort Anschluss gefunden hatte. Als John an das große Rednerpult trat, verstummte das allgemeine Getuschel in diesem fast voll besetzten Saal, denn alle respektierten ihren Prof und waren gespannt auf den folgenden Unterricht.

Zunächst gab es eine ausführliche Zusammenfassung nicht nur der zuletzt behandelten Themen, sondern von allem, was in den vergangenen Monaten angesprochen worden war. Es standen die abschließenden Semesterklausuren an und der Dozent bereitete die Bande, wie er die Studenten immer liebevoll bezeichnete, auf die Arbeiten vor. Es war so seine Art, die Jungs und Mädels nicht ins Leere laufen zu lassen und gab zur Themeneingrenzung deutlichste Hinweise, welchen Stoff man nicht unbedingt pauken musste und was er nicht für ganz so wichtig hielt. Als das erledigt war, packte er seine Unterlagen wieder zusammen und bat die Studenten, es ihm gleich zu tun.

»Ich will den Fachunterricht für dieses Semester an dieser Stelle beenden und mich mit Euch über eines meiner spannenden Forschungsgebiete unterhalten«, sagte er, als er sich locker auf das große Pult gesetzt hatte, beobachtete, dass sich auch die Studenten entspannt zurücklehnten und erwartungsvoll lauschten. Natürlich wussten sie, welche Richtung er jetzt einschlagen würde.

»Was meint Ihr? Gibt es da draußen anderes Leben oder sind wir allein in der weiten Dunkelheit?«, fragte er in die Runde.

»Das gibt es ganz gewiss und was soll ich sagen. Sie sind schon da«, kam es von Carl Davids aus der ersten Reihe, der sich wie immer mit einem Grinsen im Gesicht dafür aber wenig Inhalt in seinen Worten meldete.