Die Zeit hat keine Bremsen - Thomas Märtens - E-Book

Die Zeit hat keine Bremsen E-Book

Thomas Märtens

0,0

Beschreibung

Das Buch entführt seine Leser in die Südstaaten der USA, nach New York, Los Angeles, auf die Britischen Virgin Islands in der Karibik und nach Berlin. Erzählt werden vier Geschichten, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben und doch etwas Gemeinsames in sich tragen. Ausgelöst durch zunächst unscheinbare Momente, entwickeln die tragischen, dramatischen aber auch komödiantischen Ereignisse ihre ganze Dynamik und erfahren zum Schluss überraschende, geradezu erstaunliche Wendungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 368

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Handlungsorte in den nachfolgenden Erzählungen sind teilweise der Phantasie entsprungen. Die Personen wurden sämtlich frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten oder tatsächliche Übereinstimmungen mit lebenden oder bereits verstorbenen Menschen wären rein zufällig und waren nicht beabsichtigt. Alle Handlungsstränge sind reine Fiktion.

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Das Tattoo

Cannatopia

Galveston

Farben des Lebens

Vorwort

In Lancaster, einer Stadt in der heißen kalifornischen Mojave-Wüste, beobachtet der kleine Stevie Withfield auf dem Bahnhof einen mysteriösen Mann, der trotz der unsäglichen Hitze mit Hut und Mantel bekleidet ist und ohne sich zu bewegen in die Ferne starrt. Dieser Mann, der immer wieder den Lebensweg des kleinen Jungen kreuzt und in diesen Augenblicken dessen ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, wird im Verlauf der kommenden Jahre lediglich einmal und nur ganz kurz zu ihm sprechen, derweil Stevie ihm gegenüber niemals auch nur eine Silbe äußert. Die beiden verbindet ein geheimnisvolles Band, das ein Leben lang nicht zerreißen und den älter werdenden Stevie, der diese Geschichte mit seinen Worten erzählt, nachhaltig prägen wird.

Das Schicksal wollte es so, dass sich eine Hardcore-Emanze aus Pennsylvania, ein unaufhörlich grinsender Macho aus Mexiko-City und ein dem Traum der Piraterie verfallener junger Mann aus der Bronx, dem berühmt berüchtigten Stadtteil von New York, auf einem restaurierten Kutter in der Karibik treffen. Die so ganz und gar unterschiedlichen Charaktere unternehmen eine kuriose Schiffsfahrt, in deren Verlauf zwei von ihnen auf einer einsamen Insel zurückgelassen werden und wohl oder übel aufeinander zugehen müssen, was die ohnehin verkorkste Situation für beide, die sich aus tiefstem Herzen ablehnen, nicht einfacher macht.

In der Abgeschiedenheit eines sonnigen, einsamen und menschenleeren Strandes im südlichen Texas begegnen sich eine hübsche Studentin aus Galveston und ein junger Cop aus Los Angeles, der hier seinen Urlaub verbringt. Allerdings wechseln sie kein Wort, als sie dicht aneinander vorbeigehen. Es bleibt bei einem beiderseitigen Lächeln. Wenn sie doch nur hätten ahnen können, dass dieser Moment des Schweigens ihr Leben auf dramatische Weise so sehr beeinflussen würde.

Die Literaturkritikerin Julia Andresen und der Schriftsteller Jonas von Herborn laufen sich vor einer Würstchenbude in Berlin über den Weg und verlieben sich ineinander. Beide haben in der Mitte des Lebens bereits die ein oder andere prägende Beziehungserfahrung hinter sich und gehen eher vorsichtig aufeinander zu. Alles läuft harmonisch und sie lernen ganz allmählich, einander zu vertrauen. Zumindest ein Stück weit, denn die letzte Festung des Misstrauens will besonders Julias Unterbewusstsein nicht aufgeben. Und genau diese eine Hürde wird beiden zum Verhängnis, als Julia in einem ganz entscheidenden Moment ihres Lebens etwas beobachtet, was sie als blanken Vertrauensbruch interpretiert. Nicht willens, ihre Gedanken zu hinterfragen, stolpert sie in das alte Verhaltensmuster. Wenn sie doch zuvor schon den Mut gehabt hätte, Jonas von dem Chaos in ihrer Empfindungswelt zu erzählen.

Die Erzählungen, unabhängig, was an ihnen Wahrheit oder Fiktion ist, haben in ihrer Handlung rein gar nichts miteinander zu tun und doch verbindet sie etwas Gemeinsames. Die Ereignisse werden jeweils in einem unscheinbaren Moment ausgelöst und entfalten ihre ganze Dynamik, die sich zuweilen kurios und amüsant, andererseits aber auch dramatisch, geradezu tragisch entwickelt, bevor sie am Schluss erneut nachhaltige Wendungen erfahren.

Das Tattoo

Kaum spürbar war die schwüle Hitze der letzten Tage in Bewegung geraten, hatte sich zu einem leichten Wind gemausert und wehte noch am Morgen als milde Brise aus nordwestlicher Richtung von den Tehachapi-Bergen über die Wüste. Um die Mittagszeit lebte er spürbar auf und entwickelte sich rasch zu einem heftigen Sturm, der auf seinem Weg kurz vor der Stadtgrenze von Mojave, dem Tor in die Mojave-Desert, das Bergland verließ, auf flachen, sandigen Boden stieß, eine gehörige Ladung Staub aufnahm, um sich in das zwanzig Meilen weiter südlich gelegene Lancaster aufzumachen und seine schmutzige Last im gesamten County bis runter nach Palmdale und Littlerock abzuladen. Zu Tagesbeginn war dort von dem drohenden Unheil rein gar nichts erkennbar gewesen. Nach wochenlangem Stillstand der glühend heißen Atmosphäre, brachte das morgendliche Lüftchen noch nicht einmal Abkühlung, die die Bewohner der Wüstenorte so dringend nötig hatten und herbeisehnten. Allenfalls die vielen bunten Fahnen der Tankstellen hingen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr völlig erschlafft an den Masten, sondern taten so, als wollten sie ganz langsam aus ihrem Dämmerschlaf erwachen. Alles änderte sich jedoch, als eine große, sandfarbene Wand unaufhaltsam heranrollte und wie ein riesiges Monster, das die Stadt ganz und gar verschlingen wollte, den Himmel verdunkelte. Nicht, dass den Bewohnern von Lancaster und auch den anderen Orten dieser Region derartige Naturphänomene unbekannt waren. Nein. So etwas kam gerade im Hochsommer immer wieder vor, wenn die Temperaturen unerträglich heiß waren und sie von den Winden aus den Bergen überfallen wurden. Trotzdem war man froh, wenn die Schäden einigermaßen gering ausfielen und nicht ganz so dicke Staubschichten zurückblieben, sobald das Spektakel vorüber war. Zumeist blieben diese Erwartungen jedoch unerfüllt, denn dieser stürmische Tunichtgut hatte - wie schon früher seine hier vorbei gezogenen Kumpels oder Verwandte - so ganz eigene Ansichten von Vorsicht und Rücksichtnahme. Sie alle blähten, was das Zeug hielt und schienen lose Dachschindeln und morsche Bäume besonders zu mögen.

Als die Sturm- und Sandwalze das Blau des Himmels verdrängte und die ersten Tumbleweeds, die gemeinhin auch Steppenläufer genannt werden und als durch das Bild rollende Büsche in so vielen Western eine erstaunliche Filmkarriere hingelegt hatten, über die Stadtgrenze peitschte, wurde es rasch dunkel und die Luft kühlte jetzt unvermittelt ab. Vorbei war es auch mit der lähmenden Stille, die das ganze Jahr hindurch den verschlafenen Takt des täglichen Lebens vorgab. Das wilde Tosen des schmutzigen Gesellen aus den Bergen kam direkt über den Highway 14, schüttelte alles durch, was er zu fassen bekam und was nicht niet- und nagelfest verankert war. Er buffte kräftig an die Hausdächer, fuhr durch die Bäume, fegte über die gepflegten Gärten, nutze es schamlos aus, wenn jemand Haustüren oder Fenster nicht rechtzeitig geschlossen hatte, stürmte ungezügelt durch die Flure, veranstaltete Chaos in allen Räumen, zu denen er sich Zugang verschafft hatte, nur, um sich nach seiner kurzen und verheerenden Stippvisite wieder durch die Hintertür davonzuschleichen (obwohl der Begriff des Schleichens reichlich untertrieben war) und Ausschau nach weiteren Opfern zu halten oder weiteren Möglichkeiten, irgendwelchen Unfug anzurichten. Für einen respektablen Wind war es ohnehin kleinlich genug, seine miese Laune an gefahr- und wehrlosen Dingen wie zum Beispiel den zum Trocknen aufgehängten Mieder von Mrs. Cunningham, der kritischen und immer aufmüpfigen Nachbarin des Bürgermeisters, dem sie zu allen möglichen und unmöglichen Tageszeiten ihre Meinung über seine politischen Entscheidungen ins Gesicht blähte, auszulassen. Die Kleidungsstücke brutzelten schon seit Stunden in der Sonne, um sich jetzt dem Unwillen dieses völlig verdreckten Aufschneiders ausgesetzt zu sehen. Allerdings blieb diesem auch nichts anderes übrig, als sich an der Unterwäsche besagter Dame und anderer Gegenstände zu versuchen, denn alles lebende, dem er hätte zusetzen können, war in den Häusern und Ställen verschwunden. Wo sich während dieser Zeit die Vögel verborgen hielten, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Die Zuvor erwähnten Steppenläufer waren neben all den vielen anderen Dingen, die der raue Prahlhans zusammengesammelt hatte, bis hin zum südlichen Ende der Stadt gleichmäßig auf den Straßen, in den Gärten aber auch an manch anderem skurrilen Plätzchen verteilt worden. In der Regel dauerte dieser Spuk nicht lange. So plötzlich, wie er gekommen war, vergingen zumeist kaum dreißig Minuten, bis sich der wild gewordene Rabauke weit draußen in der heißen Sierra vermutlich mit gleichgesinnten, missmutigen Spießgesellen aus den anderen Himmelsrichtungen traf, um eine lustige Nacht zu veranstalten.

Seine Hinterlassenschaften, die Unordnung aber auch die Schäden an Gebäuden, Autos, in den Gärten und Mrs. Cunningham's Mieder allerdings waren erheblich. Das Aufräumen, die erforderlichen Reparaturarbeiten, das Beseitigen des Sandes und das neuerliche Waschen besagter Unterwäsche nahmen so manchen Tag in Anspruch. Der Bürgermeister konnte einem jetzt schon leidtun, denn Mrs. Cunningham würde ihn sicherlich bei der nächsten Gelegenheit mit der Frage konfrontieren, wie er sie in Zukunft vor solchen Veranstaltungen beschützen wollte.

Für die Kinder der Stadt war dieser Sturm halb so tragisch, denn er brachte tags darauf so manch gut zu gebrauchendes, wertvolles und herrenloses Fundstück zutage. Lancaster war für sie dann ein einziges Paradies. Man brauchte nur die Augen aufmachen, sich bücken und aufheben, was einem gefiel. Wenn die neuen Schätze dann zu Hause in der Garage verstaut werden sollten, gab es hin und wieder ob des väterlichen Widerspruchs ein paar Lagerungsprobleme. Die kleinen Sachen aber fanden gut Platz unter dem eigenen Bett, zumindest solange, bis die Mütter auch hier sauber machten.

Irgendwann aber war Lancaster wieder so, wie es immer war. Blauer Himmel, das ganze Jahr über warmes oder heißes Wetter, geschäftiges Treiben und ein immer freundliches Miteinander. Es war ein gemütliches und hübsches Städtchen inmitten einer großen Wüste, in dem es sich trotz einiger Widrigkeiten durchaus zu leben lohnte.

Gerade ist es später Nachmittag. Draußen scheint die Sonne aus allen Knopflöchern und die Hitze bringt den Asphalt wie so oft fast zum Schmelzen. Diese Stunden des Tages verbringt man am besten in der Nähe einer wohltuenden Klimaanlage, bis es am Abend vielleicht etwas weniger heiß ist. Dass es mit dem Dunkelwerden abkühlt, muss man hier nicht erwarten. Das geschieht nicht. Die Hitze lässt nur etwas nach und erlaubt es, sich mit einem kühlen Drink nach draußen zu wagen, vielleicht im Garten zu sitzen oder in den Park zu gehen, um sich mit Freunden zu treffen oder anderes zu unternehmen. Denn eines sollte jedem klar sein. Wüsten sind keine toten Gegenden. Sie sind ein ganz eigener, hochinteressanter und wunderschöner Lebensraum. Gerade die Abende sind hier etwas ganz besonderes. Die Blumen und Bäume versprühen in den späten Tagesstunden einen Duft, der von den milden Winden weit über das Land getragen wird. Auch die artenreiche Tierwelt ist hier etwas ganz außergewöhnliches. Wer also wirklich meint, es gäbe hier nur Klapperschlangen, Trockenheit und Hitze, irrt gewaltig.

Ich sitze wie so oft in Sammy's Restaurant am Sierra Highway, schaue aus dem Fenster, in den Händen eine Tasse Kaffee und betrachte mein Spiegelbild in der riesigen Glasscheibe. Mir fällt dabei nicht erst heute auf, dass ich langsam in die Jahre gekommen bin. Die Dinge werden schon einige Zeit immer schwieriger und anstrengender für mich. Der Elan braucht oftmals den halben Tag, um sich in mir bemerkbar zu machen. Alt bin ich aber noch nicht. Es ist eben nicht mehr so, wie es einmal war. Bereits seit meiner Kindheit lebe ich in Lancaster. Unsere Stadt ist während meiner frühen Jugend ein recht kleines, verschlafenes Nest in der weiten, trockenen Ebene gewesen, wuchs aber in den vergangenen zwanzig Jahren stark an, sodass es heute nicht mehr möglich ist, jeden einzelnen Bewohner zu kennen. Trotzdem sind mir die wichtigsten Personen gut bekannt, ich habe sehr viele Freunde und auch meine Familie fühlt sich hier zu Hause. Sicherlich. Ich war in meinem Leben an vielen Orten, doch zog es mich immer wieder zurück in die Wüste. Die großen Städte geben mir nichts. Es ist so hektisch, unpersönlich und anonym. Man sieht und erlebt dort viele interessante und schöne Dinge, ich aber brauche für mein Leben die Wüste, ihre Hitze, das gemäßigte Tempo und die netten Gespräche auf der Straße.

Nun soll aber nicht davon berichtet werden, warum ich gerade hier lebe. Vielmehr möchte ich eine Geschichte erzählen, die, wenn ich es richtig betrachte, bereits begann, als ich noch ein kleiner Junge war und bis zum heutigen Tag in mir lebt. Die Ereignisse, die immer wieder unser aller Lebensweg kreuzen, nehmen wir häufig gleichgültig hin, gerade so, wie sie uns begegnen und schenken ihnen fahrlässiger Weise kaum Beachtung. Zuweilen erkennen wir nicht deren wirkliche Bedeutung und Wichtigkeit. Das wird uns oftmals – wenn überhaupt - erst viel später klar. Warum also soll es mir anders gehen als so vielen Menschen. Die Einzelheiten zu dem, was ich berichten will, sind mir noch sehr gut in Erinnerung und vor meinem geistigen Auge so klar zu sehen, dass ich alles wesentliche wiederzugeben in der Lage bin, wie es damals geschehen ist. In diesem Fall trifft es nicht zu, dass Erinnerungen manchmal sehr weit von der Wahrheit entfernt sind. Um zu verstehen, warum ich von den damaligen Geschehnissen erzählen will, muss man lesen, was ich zu sagen habe. Von daher wird es sich wie bei allen Geschichten als das beste erweisen, wenn ich ganz von vorn anfange.

Damals, als ich noch der kleine Stevie Withfield aus Lancaster/ Kalifornien war, sieben Jahre alt, voller Neugier auf jeden neuen Tag, denn das Leben für so einen Knirps ist ein einziges großes Abenteuer und mit der Geduld, das täglich neu kommende zu erwarten, war es weder bei mir noch bei meinen Freunden weit her. Damals wohnten Mom, Dad und ich in einem hübschen kleinen Haus in der West Milling Street Ecke Sierra Highway und aus meinem Schlafzimmerfenster hatte ich einen freien Blick auf den Bahnhof der Amtrak-Station, der sich weitläufig auf der anderen Straßenseite ausbreitete. Von hier aus, hatte mir mein Dad erzählt, führen alle Gleise nach ganz Nord- und Südamerika, was ich damals noch nicht richtig und vollständig erfassen konnte. Ich versuchte mir die Wichtigkeit und das Ausmaß dieser Information bildlich vorzustellen, war damit aber reichlich überfordert, denn ich hatte keine Ahnung, wo Kanada lag oder wie weit es nach New York City sein konnte, fragte für den Moment jedoch nicht weiter nach, sondern gab mich damit zufrieden, dass der Bahnhof von Lancaster der Mittelpunkt der Welt zu sein schien und ich aus meinem Schlafzimmer direkt und so oft ich nur wollte auf diesen Ort sehen oder dorthin gehen konnte. Von daher fühlte ich mich wie ein König und morgens, bevor ich zur Schule ging, begleitete ich meinen Vater hinüber zum Bahnsteig, denn er fuhr täglich nach Mojave, wo er als Ingenieur bei der Mojave Air & Space Port Flight Line tätig war. Und das war enorm spannend. Dad hatte mir oft erklärt, wie er am Bau neuer Flugzeuge tüftelte, um sie schneller und sicherer zu machen und dass das eine extrem wichtige Aufgabe war. Mom war richtig stolz auf ihn und ich auch. In den Ferien durfte ich immer wieder mal mitfahren und ihn zur Arbeit begleiten. Erst konnte ich an diesen Tagen im wichtigsten Zug der Welt fahren und dann fand ich es unglaublich aufregend, aus dem Fenster in die vorbeisausende, brüllend heiße Wüste sehen zu können, ohne selbst schwitzen zu müssen, weil es in den Wagons schon Klimaanlagen gab. Auf der Airbase übergab mich mein Vater seinem Freund und Kollegen Jimmy Moore, der in der Vergangenheit wiederholt bei uns zum Essen war. Wir verstanden uns gut und waren bei meinen Besuchen den ganzen Tag zusammen, um mir alles, was wichtig war, zu zeigen. Wie soll ich es sagen. Für so einen Steppke wie mich war praktisch alles wichtig, von der kleinsten Schraube bis zum größten Flugzeug.

Als ich mit Jimmy im Cockpit einer ausrangierten Propeller-maschine saß, sagte er zu mir: »Von hier aus kannst Du nicht nur alle Flughäfen Amerikas erreichen, sondern auch über die Ozeane in die ganze Welt fliegen!«

Ich bekam meinen Mund nicht mehr zu. In Lancaster war der wichtigste Bahnhof der Welt und mein Vater arbeitete auf dem wichtigsten Flughafen des ganzen Planeten. Diese Erkenntnisse erfüllten mich vollends und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Als Dad am Nachmittag mit der Arbeit fertig war und Jimmy mich mit Schokoeis, Coca-Cola, Hamburgern und vielen tollen Flugzeuggeschichten vollgestopft hatte, fuhren wir wieder mit dem Zug zurück. Mom wartete bereits auf dem Bahnhof, um uns abzuholen. Das war auch gut so, denn ich musste ihr sofort und ausführlich berichten, was ich alles erlebt hatte. Von dem vielen Eis, den Hamburgern und der Cola erzählte ich aber nichts aus Furcht, dass sie mit mir schimpfen und künftige Besuche in der Airbase verbieten könnte. Meine Eltern aber kannten mich und sie kannten vor allem Jimmy -! Wenig später zu Hause angekommen, mochte ich an diesen aufregenden Tagen nichts mehr futtern, knusperte beim Abendessen gleichgültig an – wie Mom immer sagte – gesundem Salat herum und verschwand bald im Bett, um in aufregende Kinderträume von Zügen, Flugzeugen und viel Schokoeis zu fallen.

Als ich meine Erlebnisse einmal in der Schule erzählte, haben meine Freunde nur noch gestaunt. Zuerst meinten vor allem die Jungs, dass ich wohl spinnen würde, doch hielten sie ihre Klappe, als die Airbase unsere Klasse einen ganzen Tag lang zu Besuch eingeladen hatte. Danach gaben sie Ruhe und zweifelten auch in den folgenden Jahren nie wieder an meiner Glaubwürdigkeit. So schön der Ausflug auch war, der nächste Tag brachte die Quittung dafür. Wir mussten nämlich in den ersten beiden Stunden einen mindestens fünfseitigen Aufsatz über den Besuch schreiben. Aber mir machte das alles nichts, denn einerseits wusste ich genug über das Thema und außerdem ging ich sehr gern zur Schule. Es machte mir Spaß, zu lernen, mit den Jungs und Mädels Sport zu treiben, aber auch die Spiele in den Pausen auf dem Schulhof gefielen mir. Nachmittags, gleich nach dem Essen, traf ich mich immer mit meinen Freunden. Es gab vieles zu erforschen und zu entdecken, wir spielten Football, fuhren mit den Rädern, gingen Schwimmen, zählten die vorbeifahrenden Autos auf dem Highway und ganz viele andere Sachen, bis ich Dad am Abend wieder vom Bahnhof abholte. Zu Hause angekommen, hatte Mom wie immer das Essen vorbereitet. Gemeinsam saßen wir am Tisch und erzählten alles mögliche. Sie war der Mittelpunkt unseres Lebens. Sie versorgte »ihre beiden Männer«, wie sie immer zu sagen pflegte, auf dass es an nichts fehlte. Am Abend, wenn Dad noch in der Zeitung las, brachte sie mich ins Bett, setzte sich einen Moment zu mir und lauschte meinen aufregenden Erzählungen des Tages, lächelte mild und freundlich, deckte mich richtig zu und beendete meinen Tag mit den leisen Worten: »So, jetzt ist es aber Schluss. Nun wird geschlafen!« Anschließend beugte sie sich zu mir, gab mir einen Kuss auf die Stirn, strich mir mit ihrer Hand beruhigend durch die Haare und wünschte mir schöne Träume.

All die vielen kleinen Gesten, die Fürsorge und Liebe meiner Eltern, ihr Verständnis und ihr ganzes Sein sorgten dafür, dass ich eine sehr behütete und wunderbare Kindheit erleben durfte, die ich als kleiner Junge einfach so hinnahm, weil ich ja auch nichts anderes kannte. Erst später, als ich beide hergeben musste, war der Verlust unerträglich und mir wurde sehr spät offenbar, was ich wirklich an ihnen hatte. Doch bis dahin sollten noch viele glückliche Jahre an ihrer Seite vergehen.

Es war ein heißer Freitag, als ich am Nachmittag wieder einmal auf den Zug wartete, mit dem mein Dad nach Hause kommen würde. Ich war immer sehr pünktlich auf dem Bahnhof, weil ich es gern mochte, einen Moment warten zu dürfen. Ich nutzte diese Zeit, um die vielen Menschen zu beobachten, die wie ich auf jemand warteten oder mit dem bald eintreffenden Zug fortfahren würden. Es war aber auch noch viel mehr los, was es zu erforschen galt. Zum Beispiel die Lieferanten, die mit ihren Fahrzeugen auf den Bahnsteig kamen und die Shops mit Waren versorgten, es wurden Lokomotiven und Anhänger rangiert und da waren auch die vielen Angestellten von Amtrak, die ich gut kannte, weil ich ja häufig hier war. Der Bahnhofsvorsteher David Miller, ein Freund unserer Familie, nahm sich fast immer etwas Zeit für mich. Wir unterhielten uns über dieses und jenes, er fragte nach der Schule, ich nach allen Zügen, die noch kommen würden und an besagtem Nachmittag ging es in unserem Gespräch um die »San Francisco 49er's«. Wir waren beide Fans dieser Footballmannschaft und rätselten ausführlich über die Spiele und möglichen Ergebnisse am kommenden Wochenende. Beide hofften wir auf einen Sieg, damit die mögliche US-Meisterschaft nicht in weite Ferne rückte. Als wir fertig waren und Mr. Miller wieder an die Arbeit musste, spendierte er mir noch eine Schoko-Vanille-Eiscreme, ich setzte mich auf eine schattige Bank, schleckte das Eis aufgrund der Hitze einigermaßen zügig und ließ schweigend meine neugierigen Blicke über das Gelände streifen. Ich beobachtete Mrs. Cunningham mit einer anderen Frau, die nicht aus Lancaster war, denn sonst hätte ich sie ja gekannt. Beide begaben sich zum Ausgang. Ich meinte, es könnte ihre Schwester gewesen sein und schenkte ihnen keine weitere Beachtung. Es liefen andere Menschen durch mein Blickfeld, die aber auch nichts Interessantes taten. Die Kehrmaschine bot da schon etwas mehr Spannung. Der Fahrer lenkte die große Maschine gekonnt direkt an den Schienen entlang. Ich dachte mir, dass er besser nicht zu dicht an die Gleise fahren sollte, sonst könnte es gefährlich werden und sah dem leise surrenden Fahrzeug nach, wie es elegant einigen Passanten auswich, enge Kurven fuhr und weiter nach links auf das Ende des Bahnsteigs zurollte, als plötzlich hinter der Kehrmaschine ein großer schlanker Mann stand und mein Interesse weckte. Ich ließ die Reinigungsmaschine ohne weitere Beachtung davonfahren und heftete meine neugierigen Blicke an diese Gestalt. Seine Größe und Figur waren nicht das, was mich lockte. Seine Kleidung war viel spannender. Er trug einen schwarzen Hut mit Krempe und einen ebenso schwarzen, langen Mantel, den er allerdings nicht zugeknöpft hatte. Der Mann stand wie versteinert einfach und reglos da, drehte nicht einmal seinen Kopf und rührte auch keine Hand, sondern schaute mit unbeweglichem Blick entlang der Schienen in die Ferne, als ob er etwas suchte oder erwartete. Wie alt er war, vermochte ich nicht zu sagen, aber älter als Dad war er schon. Ich fragte mich, wie man in dieser Hitze, in der jeder nach Kühlung und Schatten suchte, auch noch Mantel und Hut tragen konnte und ob er eine Frau hatte, die vielleicht besser auf ihn achten sollte, damit er nicht noch einen Hitzschlag bekommt. All das fesselte mich, aber was mich am meisten beschäftigte war, dass ich ihn nicht kannte. Wenn er aus unserer Stadt kam, hätte ich ihn doch sicherlich schon längst einmal gesehen. Und wenn nicht ich, dann eben meine Freunde, die mir ganz bestimmt davon erzählt hätten, denn für uns blieb in der Stadt nichts länger verborgen. Wir tauschten uns über alle Neuigkeiten aus und planten dementsprechend unsere Freizeit, um alle Beobachtungen genauer unter die Lupe zu nehmen. Dieser Mann hätte mit Sicherheit dazu gehört, denn er passte so gar nicht nach Lancaster und in die Wüste. Ich gestand mir ein, dass ich ein klein wenig Furcht verspürte, obwohl er mich noch nicht einmal gesehen, geschweige denn, irgend etwas Angst einflößendes getan hatte. Da er sich aber um rein gar nichts kümmerte, niemanden beachtete und ich einen guten Platz in sicherer Entfernung hatte, stellte ich das mit der Angst erst mal zurück und wurde auch gleich vom eintreffenden Zug aus Mojave abgelenkt, denn die Einfahrt dieser riesigen Maschine mit den vielen Anhängern war immer wieder aufs neue ein fesselndes Schauspiel, zumindest für mich. Ich wusste zu genau, aus welchem Wagon und aus welcher Tür mein Vater aussteigen würde, stürmte auf ihn zu, sprang ihm in die Arme, ließ ihm keine Chance, auch nur einen Satz vollständig auszusprechen und blabberte ihn mit meinen Erlebnissen und Abenteuern des heutigen Tages voll. Er hielt mich ganz fest auf seinem Arm und lachte über jedes Wort, das ich ihm aufgeregt erzählte. Als wir den Bahnsteig verließen, trottete ich bereits eiligen Schrittes an seiner Seite, hielt ihn an der Hand und drehte mich noch einmal zu diesem mysteriösen Mann um, erhaschte einen letzten Blick von ihm und wollte meinen Eltern aber erst beim Abendessen davon berichten. Zunächst musste ich die Beobachtung in meinen Gedanken sortieren und wusste zu genau, dass ich in der Schule mit meinen Freunden darüber reden würde.

Dass der Mann aber von diesem Tag an nie wieder aus meinem Bewusstsein verschwinden und mein Denken nachhaltig beeinflussen sollte, war für mich damals keinesfalls zu erahnen. Wie auch, ich war ja noch ein kleiner Junge.

Als ich später mit Mom und Dad wie jeden Abend zusammensaß und mich über das lecker zubereitete Essen hermachte, als hätte ich drei Wochen nichts zwischen die Zähne bekommen, war es meine Mutter, die mich ansprach und fragte: »Na, meine Junge, was geht Dir denn den ganzen Nachmittag durch den Kopf?«

Sie kannte mich eben zu genau und hatte eine äußerst sensible Antenne dafür, wenn ich mich darum bemühte, etwas nicht zu erzählen, wenn mich etwas beschäftige oder gar bedrückte.

Als hätte ich darauf gewartet sprudelte es aus mir heraus: »Wie ich heute auf Daddy's Zug gewartet hatte, stand da ein Mann, den ich hier noch nie gesehen habe. Er hat nur da gestanden, in die Ferne gesehen und sich nicht bewegt. Das verrückteste war, dass er bei dieser Hitze einen langen schwarzen Mantel trug. Den Hut gegen die Sonne konnte ich ja noch verstehen, aber wer trägt in der Wüste einen Mantel?«

Gespannt sah ich zu Dad, weil er ja immer etwas wusste und wartete ungeduldig auf seine Reaktion. Dass er sich zunächst nicht rührte, noch in aller Ruhe einen Schluck Eistee trank und das Glas anschließend ohne Hast auf den Tisch stellte, machte alles noch spannender. Endlich aber blickte er mir in meine weit aufgerissenen, erwartungsvollen Augen, in denen mindestens einhundert Fragezeichen leuchteten und sagte: »Oh, das ist sicher Sam Harrison. Wie ich unlängst vom Bürgermeister erfuhr, kam er vor einigen Monaten aus Mitteleuropa, ich meine aus Deutschland, hierher, um sich in unserer Stadt niederzulassen!«

»Ja, aber was macht er hier und wo wohnt er«, ließ es mir keine Ruhe.

»Was er arbeitet, kann ich Dir auch nicht sagen, sicher ist jedoch, dass er auf dem Lancaster Boulevard wohnt. Wo genau, ist mir aber nicht bekannt«, gab mir mein Vater zu verstehen.

»Du musst Dich aber nicht vor ihm fürchten, nur weil er etwas anders gekleidet ist, als wir alle«, beruhigte mich meine Mutter.

»Von wegen«, ging es mir durch den Kopf, »als ob ich jemals vor irgend etwas Angst gehabt hätte«, sagte ich zu mir, erinnerte mich aber sehr genau an die Situation auf dem Bahnsteig. Zugegeben hätte ich das jedoch niemals.

»Aber warum ist er hier hergekommen«, fragte ich meine Eltern und hätte die Erklärung, weil wir hier den wichtigsten Bahnhof und in Mojave den tollsten Flughafen der Welt haben, uneingeschränkt akzeptiert. Dad sagte darauf:

»Ich habe mit ihm noch kein Wort gewechselt und die Leute einfach anzusprechen wäre nicht in Ordnung. Du musst Dich also noch gedulden, bis er hier zu Hause ist und ein paar Bekanntschaften geschlossen hat. Irgendwann werden wir mehr über ihn erfahren!«

»Geduld. Was für ein gemeines Wort. Warten ist auch kein besserer Ausdruck, jedenfalls nicht für mich«, war meine innere Reaktion auf Dad's Antwort. Ich musste also meine Freunde am nächsten Morgen alarmieren. Es war ja Samstag, keine Schule und wir könnten uns beraten, was in dieser Sache zu unternehmen war. Für den Moment tat ich so, als hätte ich ausreichende Erklärungen bekommen und beschloss, nicht weiter nachzufragen. Insgeheim aber ließ mir Mr. Harrison keine Ruhe. Später, als ich zu Bett gegangen war und mein Buch über Tom Sawyer und Huck Finn ausgelesen hatte, kam Mom wie immer an mein Bett, um zu sehen, ob es mir gut ging. Wir wechselten wie jeden Abend noch ein paar Worte. Ihr gutmütige, ruhige Art stoppte ganz schnell die Gedankenflut in meinem Kopf und ließ die Müdigkeit übermächtig werden. Wieder strich sie mir sanft durch die Haare, wünschte mir schöne Träume und es dauerte nur Sekunden, bis ich eingeschlafen war.

Am nächsten Morgen erwachte ich wie so oft vom Gezwitscher der Vögel, vom leichten Wind, der durch das geöffnete Fenster meines Schlafzimmers wehte und sanft mit den Gardinen spielte. Die Sonne beteiligte sich daran und warf passend dazu bewegliche Schatten an die Wand, an der eine Reihe Poster der »49er's« hingen. Langsam erwachend beobachtete ich aufmerksam das Schauspiel und vernahm erste Geräusche aus der Küche, in der das Frühstück für Dad und mich zubereitet wurde. Noch etwas schlaftrunken stolperte ich ins Bad, meinte, dass eine Katzenwäsche am Samstag- morgen genug wäre, kroch in meine Kleidung und saß wenig später zusammen mit meinen Eltern am Tisch. Mom machte die besten Pancakes der Welt und freute sich darüber, wenn ich ordentlich aß. Dad las wie immer in der Zeitung, trank einen Kaffee und fragte, was ich den heute alles auf die Beine stellen würde.

»Ich treffe mich mit Michael Edwards und Benjamin Carter. Wir wollen auf dem Sportplatz Football spielen«, war meine Antwort.

Das wir uns aber auf Forschertour Richtung Lancaster Boulevard machen würden, verschwieg ich, davon ausgehend, dass Michael und Bennie auch noch nichts von Mr. Harrison gehört hatten. So dauerte es nicht lang, bis das Frühstück weggeputzt war, mein Vater mir noch drei Dollar zusteckte, damit wir uns ein Eis kaufen konnten und ich durch die Haustür verschwand, verfolgt von den Worten: »Pass auf Dich auf, geh nicht auf die Straße, mach dies nicht, mach das nicht...!«

Ich rief ein flüchtiges »Ja, wird gemacht« zurück und lief davon.

Michael und Bennie waren echte Footballfans und warfen bereits die ersten Bälle, als ich am Sportplatz eintraf. Sie hatten schon auf mich gewartet und riefen mir entgegen: »Wo warst Du denn so lange?«

»Ich hatte noch was zu erledigen«, erwiderte ich, ließ mein Fahrrad umfallen, rannte auf das Feld und war sofort im Spiel. Die beiden unversehens mit den Informationen und Beobachtungen über Sam Harrison zu überfallen, machte keinen rechten Sinn. Da ich genauso verrückt nach Football war wie die beiden, mussten wir uns erst einmal ordentlich austoben, was bei der deutlich ansteigenden Hitze der voranschreitenden Morgenstunden nicht so sehr lange dauerte. Nach einer knappen Stunde lief dann nichts mehr. Ausgepumpt und restlos erschöpft saßen wir im Schatten eines Baumes, schütteten kühlende Getränke in uns hinein und pusteten ordentlich durch, bis Michael wieder Luft zum Quasseln hatte und irgendwelches Zeug von zu Hause erzählte. Als wir uns nach einiger Zeit umfangreich ausgetauscht hatten, fragte Bennie, was wir bis zum Mittagsessen noch unternehmen wollten. Dies war der richtige Moment, um meine Geschichte zu erzählen und vorzuschlagen, dass wir herausfinden sollten, wo dieser seltsame Mann wohnte. Meine Information war für die zwei so spannend, dass sie mich mit aufgerissenen Augen anklagten, nicht sofort davon berichtet zu haben. Also schilderte ich ausführlich, was sich tags zuvor auf dem Bahnhof zugetragen hatte. Wenig später verließen wir radelnd den am Westrand der Stadt liegenden High School Sportplatz, der – direkt am Eagle Way liegend – unmittelbar an den Lancaster Boulevard grenzte und hielten Ausschau nach Sam Harrison. Wir mussten fast bis zu Einmündung Sierra Highway nahe des Bahnhofs fahren, als wir den gesuchten vor Olive's Mediterranean Café stehen sahen. Wieder war er mit Hut und Mantel unterwegs und auch meine Freunde dachten, dass er sich doch die Hacken abschwitzen müsste, wenn er so gekleidet durch die Hitze spazierte. Mir fiel auf, dass Mr. Harrison im Vergleich zu den an ihm vorbeigehenden Menschen ziemlich groß und hager war, fast schulterlanges Haar trug und irgendwie verunsichert wirkte, verlegen um sich schaute und wieder diesen suchenden Blick hatte. Er stand einen kleinen Moment vor dem Café, öffnete die Tür und verschwand im Innern, sodass er für uns nicht mehr zu sehen war. Wir blieben einen Block entfernt auf der anderen Straßenseite und hielten uns hinter dem US Post Office versteckt. Allerdings glühte hier aufgrund fehlenden Schattens die Sonne unbarmherzig und wir hielten es nicht mehr sehr lange aus. Ich erzählte den beiden, dass ich von meinem Dad ein paar Dollar bekommen hatte. Das musste ich nicht zweimal erzählen. Flugs schwangen wir uns auf die Räder und fuhren in die Eisdiele auf dem Gelände des nahen Bahnhofs. Dort war es schön kühl und bei leckerem Schokoeis ließ sich die ganze Sache ausführlich besprechen, bis es dann langsam Mittag wurde und alle pünktlich zu Hause zu sein hatten.

In den nächsten Wochen und Monaten passierte um diesen Mann nichts Auffälliges. Die Zeit verging, wir sahen ihn hier und da in der Stadt und gewöhnten uns langsam an seine Erscheinung. Gesprochen hatten wir nie mit ihm und wenn er uns begegnete, versuchten wir, auszuweichen. Er blieb weiterhin mysteriös, weil wir trotz verschiedentlicher Bemühungen einfach nichts über ihn herausbekommen konnten. Das Leben für die Jungs und mich ging aber weiter. Es war eine Zeit, in der viele fremde Menschen aus aller Herren Länder in unsere Stadt kamen und sich hier niederließen. Da waren aber auch andere Ereignisse, die sich in den Vordergrund unseres Bewusstseins drängten. Ich konnte und wollte es zumindest vor mir selbst nicht leugnen, dass der seltsame Mr. Harrison jedes Mal meine ganze Aufmerksamkeit fesselte, sobald ich ihn sah.

Es wurde Winter in Lancaster, obwohl, die Jahreszeit kann man eigentlich nicht wirklich so nennen, denn die wahnsinnigen Tagestemperaturen sanken von durchschnittlich vierzig auf äußerst angenehme zwanzig Grad Celsius. Wenn in nördlichen Ländern Kälte herrschte und Schneestürme wüteten, hatten wir bei uns eine wunderbar milde Zeit, in der es zuweilen auch regnete und die Wüste binnen Stunden zu einem unglaublich duftenden Blütenmeer erwachen ließ. Es gab hier keinen Dauerregen oder heftige, alles überschwemmende Regengüsse, nein, allenfalls kleine Nieselregen, die – wenn man Glück hatte – eine halbe Stunde dauerten. Das aber reichte den Blumen und Gräsern, um ihre ganze Schönheit für nur wenige Tage zu entfalten.

»Wie zerbrechlich alles Leben ist«, dachte ich so oft bei mir. Da ist von dieser Pracht oft mehrere Jahre nichts zu sehen. Niemand würde vermuten, dass es hier so etwas gibt und dann erwacht das Leben der Pflanzen, als ginge es um das letzte Blühen auf dieser Welt.

In dieser Zeit waren wir den ganzen Tag draußen und ließen uns von nichts aufhalten. Unsere Footballspiele dauerten nicht nur eine Stunde, lange Fahrradtouren gehörten zur Tagesordnung und auch die Schule, die ich für mein Leben gern besuchte, wurde nicht mehr von der unerträglichen Sommerhitze unterbrochen, gegen die unserer Klimaanlagen oftmals nicht ankamen. In dieser Zeit hatte ich Geburtstag und meine Eltern planten für mich etwas ganz besonderes. Mom und Dad machten ständig nur ein paar Andeutungen davon und beendeten ihre Sätze immer dann, wenn es wirklich spannend wurde. Zum Schluss war es kaum noch auszuhalten und ich war froh, als ich am Tage meines Wiegenfestes endlich aufstehen konnte. »Heute«, ging es mir durch den Kopf, »werde ich es endlich erfahren, was ich zum Geburtstag bekomme!« Ich stand auf und stürzte voller Ungeduld in die Küche, in der meine Eltern schon auf mich warteten. Da stand ein großer Kuchen mit noch gar nicht so vielen Kerzen, eine bunte Girlande mit meinem Namen baumelte an der Decke, ein paar Grußkarten von meinem Onkel und Tanten lagen auf dem Tisch und zwischen einigen großen Paketen stand eher unauffällig ein kleines Flugzeug, an dem eine weitere Karte angeheftet war. Als ich mich durch die Geschenke gewühlt und alles ausgepackt hatte, wusste ich noch nicht, was die Sache mit dem Flieger bedeuten sollte, die ich bis zuletzt aufhob. Und was sich dahinter verbarg, war das größte, was man einem Jungen wie mir schenken konnte. Für das kommende Wochenende hatte mein Vater beruflich in San Francisco zu tun. Meine Eltern und ich wollten freitags in die Metropole an der Bay fliegen, Tante Mary – die Schwester meiner Mutter – besuchen und wir Männer am Samstagabend zusammen mit Onkel David, Mom's Schwager, das für mich so wichtige Meisterschaftsspiel der National Football League zwischen den »San Francisco 49ers« und den »Los Angeles Riders« im Stadion ansehen. Mir verschlug es den Atem. Ich war noch nie in einem Flugzeug geflogen, war nie in San Francisco gewesen, nie in einem Football-Stadion und dann noch bei meiner Lieblingsmannschaft. Mom hatte bereits mit meiner Lehrerin besprochen, dass ich am Freitag nicht zur Schule musste. So waren meine Eltern zu mir und für alles, was sie mir in all den Jahren ermöglicht hatten, war ich ihnen unendlich dankbar. Meine Schulfreunde, insbesondere aber Michael und Bennie, wurden neidisch und verdonnerten mich, viele Fotos zu machen und alles haarklein und genauestens zu erzählen, wenn ich wieder zurück war. Bis es aber so weit war, schleppten sich die Tage der nächsten Woche nur so dahin und wollten überhaupt nicht vergehen, als wir dann endlich mit dem Zug zur Air Base nach Mojave fuhren. Ich war so aufgeregt, dass ich – als wir die Stadtgrenze von Lancaster passierten – nur noch aus den Augenwinkeln sah, dass Mr. Harrison in seiner ewig gleichen Kleidung zu Fuß auf dem Sierra Highway die Stadt nordwärts verließ. Ich hatte ihn schon eine ganze Zeit nicht mehr gesehen und fragte mich, was er da draußen in der Einöde suchen mochte, ließ diesen Gedanken aber sogleich wieder fallen, weil der Zug direkten Kurs auf ein großes Abenteuer nahm.

Wie sollte ich das Erlebnis beschreiben, wenn ein Flugzeug startet, den Boden verlässt und sich mit enormer Kraft in den Himmel erhebt. Natürlich hatte ich einen Fensterplatz und drückte meine Nase an der Scheibe platt, um ja alles sehenswerte zu erfassen. Meine Eltern hatten daran ihren hellen Spaß und wussten ganz genau, dass sie ihren Sohn glücklich machten. Das Leben hat allerdings auch Schattenseiten und manchmal muss man bereits als kleiner Junge Enttäuschungen hinnehmen. Als wir nach etwa einer Stunde über dem International Airport in San Francisco zur Landung ansetzten wurde mir klar, dass die Air Base in Mojave nicht der größte Flughafen der Welt war. Das riss mich aus all meinen Träumen und brachte mein Weltbild ins Wanken. Was ich da unter mir sah, war schier unglaublich. Ich konnte nicht einmal vom Anfang bis zum Ende der Landebahn sehen. Da standen so viele große Flugzeuge, waren so viele Menschen, die Gebäude riesig groß, dass ich es nicht zu beschreiben vermochte. Ungläubig starrte ich meinen Vater an, der meine Gedanken bereits erraten hatte.

Er sagte: »Natürlich ist dieser Flughafen etwas ganz anderes als unserer in Mojave. Aber unsere Air Base ist enorm wichtig, denn wir testen für all die großen Flieger, die Du da unten siehst. Wenn wir unsere Arbeit nicht richtig erledigen würden, könnten die großen Airports dieser Welt nicht funktionieren!«

Das konnte ich gelten lassen. Aus dem größten Flughafen der Welt ist ganz einfach nur der wichtigste geworden. Damit konnte ich gut leben. Sollten die hier und anderswo doch noch längere Startbahnen bauen. Ohne meinen Daddy liefe rein gar nichts.

Das Wochenende war überwältigend. Die Stadt zeigte sich kunterbunt, die vielen Menschen kamen aus aller Herren Länder, trugen die verrücktesten Kleider und waren ohne Unterlass in Bewegung. Einen Moment dachte ich an Sam Harrison, der hier ganz gewiss nicht aufgefallen wäre, wie bei uns zu Hause und fragte mich, warum er sich ausgerechnet in Lancaster niedergelassen hatte. Dafür musste es doch eine Erklärung geben!

Als ich mit meiner Familie auf der Golden Gate Bridge stand, blieben mir die Worte im Halse stecken. Ich hätte mir nicht in den wildesten Träumen vorstellen können, wie groß dieses Bauwerk war. Das Staunen nahm kein Ende, als Onkel David die Größe des vor uns liegenden Pazifischen Ozeans beschrieb. Ich hatte das Meer noch nie gesehen und kannte nur die künstlich angelegten Trinkwasserreservoirs bei uns zu Hause. Jetzt stand ich hier und blickte in die von Wasser erfüllte Unendlichkeit. Aber es gab noch soviel mehr zu erforschen. Alcatraz, das Gefängnis in der Mitte der San Francisco Bay, Sausalito, die kleine Hausbootstadt am Rande der Bucht, das Muir Woods National Monument, dem Schutzgebiet der letzten und riesigen Küstenmammutbäume, die Cable Cars, Fishermann's Wharf. Ich könnte noch lange von dieser unglaublichen Stadt berichten, doch was mich am meisten beeindruckte, war der Besuch des Candlestick Park's, dem damaligen Stadion der »49er's«, in dem übrigens die Beatles ihr letztes großes Konzert vor fast siebzigtausend Menschen gaben. Die Arena war brechend voll und ich habe nie wieder eine derart große Menschenmenge gesehen. Von der ersten bis zu letzten Minute war der Abend eine einzige, riesige Show mit einem hoch spannenden, geradezu nervenzerfetzenden Spiel, das letztendlich meine Lieblingsmahnschaft als Sieger hervorbrachte. Ich hätte sonst was dafür gegeben, wenn Michael Edwards und Benjamin Carter dabei gewesen wären. So aber würde ich ihnen anhand der vielen Fotos, die wir an diesem Wochenende machten, alles erklären. Am Sonntagnachmittag verabschiedeten wir uns von Tante Mary und Onkel David, die uns zum Flughafen brachten und flogen wieder nach Hause. Ich war so voller Eindrücke, dass ich während des Fluges nur stumm aus dem Fenster schaute und die unter uns vorbeiziehende Landschaft beobachtete. Dad fasste mich vorsichtig auf die linke Schulter, um mich zu fragen, ob es mir denn in San Francisco gefallen hatte. Ich konnte nicht antworten, konnte nichts sagen, brachte kein Wort heraus und war mir sicher, dass meine Eltern meinen dankbaren Blick zu deuten wussten, drehte mich, als mir beide zulächelten, wieder zum Fenster und sah bis zur Landung in die Ferne. Dass wir bereits zwei Stunden nach dem Start in San Francisco wieder vor unserer Haustür standen, musste ich erst mal verarbeiten. In meinem noch so jungen Leben hatte ich heute gesehen, wie dicht die Menschen und Städte doch zusammengerückt waren, dass man sehr zügig auch in die Länder auf der anderen Seite der Welt gelangen konnte. Ich war trotz allem froh, wieder in meiner mir vertrauten, überschaubaren Welt zu sein. Später kam Mom wie jeden Abend an mein Bett. Wir unterhielten uns noch eine kleine Weile über die Erlebnisse des vergangenen Wochenendes und vermutlich hatte sie wie so oft mit der Hand durch meine Haare gestrichen. Das aber habe ich nicht mehr mitbekommen, denn ich war sehr schnell sehr tief eingeschlafen.

Tags darauf war wieder Unterricht und in der ersten Stunde habe ich meiner gespannt zuhörenden Klasse ausführlich über alles berichtet. Die Bilder konnte ich noch nicht zeigen, da sie erst entwickelt werden mussten. Das holte ich dann ein paar Tage später nach und genoss es ein zweites Mal, dass ich von allen ein klein wenig beneidet wurde. Nachmittags erzählte ich Michael und Bennie vom Footballspiel, von dem riesigen Stadion, vom Tosen der Zuschauermenge und beobachtete, wie sie mit ihren Augen an meinen Lippen klebten, um ja kein Wort und keinen Hinweis zu verpassen. Anschließend warfen wir noch ein paar Bälle, verabredeten uns für den nächsten Tag zum Schwimmen und langsam nahm mein normales Leben wieder Fahrt auf. Die Wochen gingen dahin, bald stiegen draußen die Temperaturen wieder an und die heiße Jahreszeit, die sich anfühlte, als säße man in einem Backofen, umklammerte die Wüste aufs neue. Auch des Nachts ließ die Glut kaum nach, aber es gab so gut wie keine Luftfeuchtigkeit, sodass das Wetter durchaus zu ertragen war.

Wie immer, wenn es mir möglich war, stand ich nachmittags auf dem Bahnsteig. Der Aufenthalt wurde mir nie langweilig, so oft ich auch auf den Zug wartete, denn das Leben auf einem Bahnhof ist ständig in Bewegung. So auch an dem Tag, der sich mir fest in die Erinnerung graben sollte. War es auf dem Bahnsteig noch so heiß, konnte man die Luft im Bahnhofsgebäude sehr gut ertragen, denn hier regierten die Airconditiones, die die Temperatur derart abkühlten, dass einem bei längerem Aufenthalt im Gebäude schon mal etwas kühl werden konnte. Es wurde sorgsam darauf geachtet, dass niemand die Außentüren offen stehen ließ, um diesen Mikrokosmos im Bahnhof stabil zu halten. An diesem Tage war ich etwas zeitiger dran, weil ich mir in der Eisdiele noch ein Schokoeis kaufen wollte. Also lief ich zielstrebig durch die Vorhalle, vorbei am Zeitschriftenladen und hinter dem Friseur gleich rechts um die Ecke befand sich das Eiscafé »Mario's Frozen Hell«.