"Was ist der Fall?" und "Was steckt dahinter?" - Niklas Luhmann - E-Book

"Was ist der Fall?" und "Was steckt dahinter?" E-Book

Niklas Luhmann

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Beschreibung

Die Abschiedsvorlesung von Niklas Luhmann an der Universität Bielfeld 1993 unter dem Titel: "Was ist der Fall?" und "Was steckt dahinter?" - Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie.

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Seitenzahl: 59

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Editorische Notiz

Der Text der Abschiedsvorlesung, die Niklas Luhmann am 9. Februar 1993 im Auditorium Maximum der Universität Bielefeld gehalten hat, liegt bislang in zwei Ausgaben vor: zum einen als Dokumentation der Informations- und Pressestelle der Universität in der »Reihe der Universitätsgespräche und Vorträge 3«, zum anderen als Abdruck in der Zeitschrift für Soziologie, Heft 4, Jahrgang 22, im August 1993, S. 245–260.1

Die erstgenannte Ausgabe ist aktuell nicht mehr erhältlich, der Abdruck in der Zeitschrift für Soziologie ist nicht einfach für jedermann zugänglich. Daher haben wir uns entschlossen, dem interessierten Publikum einerseits das Vorwort und den Text samt Fußnoten in der Fassung der Universitätsausgabe, andererseits die Beigaben, wie die einleitende Zusammenfassung sowie die abschließende Literaturübersicht, gemäß der Zeitschrift für Soziologie in einer handlichen Ausgabe zur Verfügung zu stellen. Dabei hat die Universitätsfassung des Textes den Vorzug erhalten, da einige – im Abdruck der Zeitschrift für Soziologie entschärfte – Stellen in der Erstfassung unverblümter zum Tragen kommen.

Wir weisen beispielhaft auf eine Variante hin, die in der abgeschwächten Form lautet: »Autoren werden zu Klassikern, wenn feststeht, daß ihre Zeitdiagnostik überholt ist; denn dann muß man einen anderen Grund finden, sich mit ihnen zu beschäftigen, und der kann nur sein: daß andere sich mit ihnen beschäftigen.«

In der universitären Erstfassung steht hingegen gedruckt: »Autoren werden zu Klassikern, wenn feststeht, daß das, was sie geschrieben haben, unmöglich stimmen kann; denn dann muß man einen anderen Grund finden, sich mit ihnen zu beschäftigen, und der kann nur sein: daß andere sich mit ihnen beschäftigen.«

Wir wünschen den geneigten Lesern einen erneut gewinnbringenden Zugang zur System/Umwelt-Theorie des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann, der mit Fug und Recht als der Soziologe des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann.

Dr. Eberhard Blanke im Oktober 2018

1 Trotz Nachfragen liegen uns bis jetzt leider keine Abdruckgenehmigungen vor.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zusammenfassung

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Vorwort

Professor Dr. Niklas Luhmann hielt am 9. Februar 1993 im überfüllten Auditorium maximum der Universität Bielefeld seine Abschiedsvorlesung über das Thema »,Was ist der Fall?‘ und ,Was steckt dahinter?‘ – Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie«. Zuvor bemerkte der Dekan der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, Professor Dr. Otthein Rammstedt, einige Worte zur Emeritierung Niklas Luhmanns:

Damit heißt es Abschied zu nehmen vom Hochschullehrer Niklas Luhmann, der seit Einrichtung der Fakultät für Soziologie in ihr tätig ist. Am 1. Oktober 1968 wurde er als erster Professor der Universität Bielefeld berufen. Und er hat mit zum Aufbau der ersten Fakultät für Soziologie im deutschsprachigen Raum beigetragen und fast 25 Jahre lang diese Fakultät mitgeprägt – und sie vor allem weltweit repräsentiert. In der internationalen scientific community steht Niklas Luhmanns Name für die Systemtheorie; er steht aber auch zugleich für Bielefeld, die Universität Bielefeld, die Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann war allzeit Anstoß, und ich glaube, er wird, was er immer schon war, eine Herausforderung bleiben. Als Architekt eines höchst anspruchsvollen Theoriegebäudes und als soziologischer Aufklärer hat er viele zur Soziologie verführt, viele in Harnisch gebracht, viele aber auch zur theoretischen Selbstbesinnung ermuntert, gereizt oder gezwungen. Wie immer: an Luhmann kommt man in der Soziologie nicht vorbei.

Dieser Position von Niklas Luhmann entspricht, daß im soziologischen Terrain die Kollegen Distanz wahren, um nicht von seiner übergreifenden Theorie vereinnahmt zu werden. Die Distanz zu Luhmanns Systemtheorie wurde fast immer, fast allseits gepflegt, weil man wohl glaubte, ihr, wie immer, nahe zu sein und noch näher, zu nahe, zu kommen.

Dieser Distanz korrespondierte also immer eine Nähe, die wohl jetzt, mit der Emeritierung Niklas Luhmanns deutlich werden wird. Denn die bisherige Distanz war bedingt durch eine Nähe, die nun in einigen Dimensionen der Ferne weicht, so daß die Distanzierung sich erübrigt, um dann einer neuen Form von Nähe Platz zu machen.

Schon jetzt sind wir Niklas Luhmann verpflichtet, die Lehrenden und die Lernenden. Und wir schulden ihm Dank, was er für die Fakultät für Soziologie war, indem er Teil der Fakultät war. Daher ist es einfach für mich, Ihnen, lieber Herr Luhmann, an dieser Stelle schon Dank zu sagen für 25 Jahre in unserer Fakultät und zu betonen, daß Sie, wie wohl kein anderer, sich verdient gemacht haben um die Fakultät. Und es ist für mich sehr viel schwieriger, Ihnen nun adieu zu sagen, weil ich das kaum fassen kann. Und vielleicht darf ich ganz leise hinzusetzen:Wir werden Sie vermissen.

Wenn ich nun als Übergang auf die Vorlesung von Herrn Luhmann mir erlaube, Georg Christoph Lichtenberg zu zitieren, so nicht, um auf unser Alltagsverständnis vom System zu pochen; vielmehr kann man das Lichtenberg-Wort auch in dem Sinne nehmen, daß ein Anliegen über 200 Jahre gleich geblieben ist, mag die Theoriehütte auch dem Theoriepalast gewichen sein.

Lichtenberg schrieb: »Die Systeme haben nicht allein den Nutzen, daß man ordentlich über Sachen nachdenkt, nach einem gewissen Plan, sondern daß man überhaupt über Sachen denkt; der letztere Nutzen ist unstreitig größer als der erstere.«

Ist das nicht der Fall, Herr Luhmann, »was steckt dahinter?«

Zusammenfassung: Seit dem Beginn ihrer akademischen Karriere hat die Soziologie sich ihrem Gegenstand auf zwei verschiedene Weisen genähert: in einer positivistischen und einer kritischen Einstellung. Bedeutende Theorien, etwa die von Karl Marx oder die von Emile Durkheim, haben jeweils eine Seite dieser Unterscheidung bevorzugt, konnten dabei aber die andere Seite nicht ignorieren. Als empirische Wissenschaft hat die Soziologie ein Interesse an latenten Strukturen entwickelt, als kritische Theorie ein Interesse an inkongruenten Perspektiven, die erklären konnten, daß die soziale Realität nicht das ist, als was sie erscheint. Jeder Versuch, auf der Basis dieser Unterscheidung eine einheitliche Theorie der Gesellschaft aufzubauen, mußte deshalb in ein Paradox führen: Vorderseite und Rückseite, manifeste und latente Strukturen hätten dann als Dasselbe dargestellt werden müssen. Unter diesen Vorgaben war es daher nicht möglich, eine Theorie der Gesellschaft zu entwickeln, die der fachlichen wie der öffentlichen Nachfrage hätte entsprechen können. Zur Zeit scheint sich diese Ausgangslage zu ändern in einer Radikalität, über die sich die Soziologie noch nicht im klaren zu sein scheint. Interdisziplinäre Diskussionen erörtern Theorien selbstreferentieller Systeme, autopoietische Schließung, Kybernetik zweiter Ordnung als Kybernetik beobachtender Systeme und konstruktivistische Voraussetzungen für Informationserarbeitung und Erkenntnis. Diese Anregungen könnten genutzt werden, um die Gesellschaft als ein sich selbst beobachtendes System zu begreifen, das seine eigene Identität definiert, aber in dieser Selbstbeschreibung zugleich einen imaginären »unmarked space« erzeugt, der genutzt werden könnte, um das System in ganz anderer Weise zu unterscheiden und zu beschreiben.

I.

Seit ihren Anfängen hat die Soziologie auf zwei sehr verschiedene Fragen zu reagieren versucht. Die eine Frage lautet: was ist der Fall? Die andere: was steckt dahinter? Bei so verschiedenen Fragen war es immer schwierig gewesen, die Einheit des Faches zu wahren. Zeitweise, vor allem in den späten 60er Jahren, erwuchs aus dieser Unterschiedlichkeit eine Kontroverse, die das Fach zu sprengen drohte. In Deutschland hat diese Kontroverse unter dem Namen »Positivismusstreit« Aufmerksamkeit erregt.1