Systemtheorie der Gesellschaft - Niklas Luhmann - E-Book

Systemtheorie der Gesellschaft E-Book

Niklas Luhmann

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Beschreibung

»Thema: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine« – so lautet die berühmte Antwort, die Niklas Luhmann Ende der 1960er Jahre auf die Frage nach seinem Forschungsprojekt gab. Der Zeitplan wurde eingehalten: 1997 erschien Die Gesellschaft der Gesellschaft, Luhmanns Opus magnum und Kernstück dieses Vorhabens.

So bedeutend dieses Werk, so bemerkenswert seine Vorgeschichte. Denn wie der wissenschaftliche Nachlass des Soziologen zeigt, hat Luhmann im Laufe der Jahrzehnte mehrere weitgehend druckreife und inhaltlich eigenständige Fassungen seiner Gesellschaftstheorie geschrieben. 1975 brachte er die erste dieser Fassungen auf nahezu tausend Typoskriptseiten zum Abschluss.

Sie ist ohne Frage die soziologisch reichhaltigste Version einer umfassenden Theorie der Gesellschaft, die aus Luhmanns einzigartigem Forschungsprojekt hervorgegangen ist, und wird nun unter dem Titel Systemtheorie der Gesellschaft erstmals publiziert.

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Seitenzahl: 1370

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2Eine Edition des Niklas Luhmann-Archivs der Universität Bielefeld in Kooperation mit dem Cologne Center for eHumanities

3Niklas Luhmann

Systemtheorie der Gesellschaft

Herausgegeben von Johannes F. K. Schmidt und André Kieserling

Unter Mitarbeit von Christoph Gesigora

Suhrkamp

5Inhalt

Einführung

Teil 1 Soziale Systeme: Interaktion, Organisation, Gesellschaft

Kapitel I Grundbegriffe der Systemtheorie

Kapitel II Konstitution sozialer Systeme

Kapitel III Ebenen der Systembildung

Kapitel IV Ebenendifferenzierung

Teil 2 Gesellschaftliche Evolution

Kapitel I Evolutionstheorie

Kapitel II Mechanismen soziokultureller Evolution

Kapitel III Gesellschaftsformationen

Teil 3 Kommunikationsmedien

Kapitel I Grundlagen der Medienbildung

Kapitel II Medientypen und Medienprobleme

Kapitel III Lebenswelt und Technik

6Teil 4 Gesellschaft als System

Kapitel I Intersubjektive Konstitution der Welt

Kapitel II Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems

Kapitel III Innendifferenzierung des Gesellschaftssystems

Kapitel IV Die Größenverhältnisse und die Strukturen des Systems der Weltgesellschaft

Teil 5 Reflexion

Kapitel I Selbstthematisierung

Kapitel II Gesellschaftstheorie als Wissenschaft

Kapitel III Rationalität

Anhang

Editorische Notiz

Sachregister

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

7Einführung

Der Begriff Gesellschaft soll hier nicht nur als Sammelbezeichnung für die Totalität sozialer Beziehungen dienen, sondern als Bezeichnung eines sozialen Systems unter anderen. In der Tradition dieses Begriffs war diese Alternative offengeblieben. Die alteuropäische Tradition der politischen Gesellschaft (societas civilis) hatte ihren Gesellschaftsbegriff zunächst allgemein gefaßt (koinonía, communitas, societas) als jede Art Gemeinschaft um gemeinsamer Vorteile willen, hatte ihn aber für den besonderen Fall des umfassenden Gesellschaftssystems durch einen einschränkenden Zusatz definiert: als civitas sive societas civilis. In der neuzeitlichen Tradition der wirtschaftlichen Gesellschaft (bürgerlichen Gesellschaft) blieb ein Anspruch auf Totalität erhalten. Gleichwohl wurden auch hier begriffliche Elemente, die man nicht einordnen konnte, ausgestoßen und als ein Gegenüber fixiert – so in der Unterscheidung von Gesellschaft und Staat oder in der Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft. Oder die Einschränkungen wurden zur Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft als einer Klassengesellschaft benutzt und der Anspruch auf Totalität in die Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft verlagert, das heißt: der Widerspruch von Ganzem und Teil in die Zeitdimension verlegt und als Übergang begriffen. Welchen Lösungsansatz man auch wählte – und davon hing alles Weitere ab –, der Gesellschaftsbegriff blieb doppeldeutig, indem er zugleich das Ganze und einen Teil des Ganzen vertreten mußte.

In die Prämissen der Gesellschaftstheorie war demnach eine logische Unbestimmbarkeit eingebaut gewesen (ohne 8daß man diesen Nerv jemals gezielt angebohrt hätte). Diese Unbestimmbarkeit ist nur zu rechtfertigen, wenn man in ihr ein strukturelles Erfordernis der Gesellschaft selbst sieht – und nicht einfach nur einen Theoriefehler. In der Tat muß die Gesellschaft paradox konstituiert sein, weil es sonst Unwahrheit gar nicht gäbe. Der logische Schematismus ist selbst erst ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Ob man gerade ihm jemals die Identifikation des Gesellschaftssystems im ganzen wird überlassen können – so wie einst der Politik und dann der Wirtschaft –, dürfte letztlich eine Frage der zunehmenden Konvergenz von gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklung sein. Der Gesellschaftstheorie kommt dafür die Funktion eines Katalysators zu.

Auf Aspekte dieser Unbestimmbarkeitsproblematik, die in der bürgerlichen Gesellschaft im neuartigen Primat ihrer Wirtschaft und vor allem in der Form ihrer politischen Revolution und Instabilität sichtbar geworden war, hatte bereits Hegel reagiert durch Einbau des Prinzips der Reflexion in die Gesellschaftstheorie. Die Unbestimmbarkeit wurde damit als Selbstbestimmung reformuliert und als historischer Prozeß begriffen. Die Einheit von Gesellschaft und Gesellschaftstheorie war noch metaphysisch garantiert, aber zugleich schon, wie im vorigen Absatz angedeutet, ein Entwicklungsproblem. So mußte die politische Revolution letztlich die Logik revolutionieren oder zumindest auf diese Konsequenz hin zu Ende gedacht werden. Verzeitlicht wird das Problem der Unbestimmtheit (von Gesellschaft und Gesellschaftstheorie zugleich), weil es für andere Darstellungsformen zu komplex geworden ist. Seitdem muß man Gesellschaft als Aspekt der Selbstselektion des Seins begreifen. Metaphysische Titel wie »Vernunft« oder »Materie« dienen, wie immer adaptiert, eine Zeitlang noch als Garanten der Einheit von Denken und Sein (oder marxistisch: von Theorie und Praxis) und verdecken 9damit zugleich die nicht voll begriffenen Strukturprobleme dieser Selbstselektion. Hinter diesen Gedanken der im Gesellschaftssystem zur Reflexion gebrachten Verzeitlichung kann keine Theorie der Gesellschaft zurückfallen, die der Komplexität ihres Gegenstandes gerecht werden will. Die wissenschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten liegen im begrifflichen Material, mit dem dieses Prinzip zur Darstellung kommt – oder genauer gesagt: als sich selbst darstellend begriffen wird. Und es ist dieser begriffliche Ansatz, der über Hegel und Marx hinaus abstrahiert werden muß.

Hegel hatte sich an die im 18. Jahrhundert eingeführte Dichotomie von Natur und Freiheit gehalten, und er hatte begriffen, daß sowohl Natur als auch Freiheit für die neue Gesellschaft Begriffe der Selbstdistanzierung von der Tradition waren.1 Um dieser Entzweiung (und zugleich dem Primat der Ökonomie und der Nichtrestaurierbarkeit der Politik im ethisch-institutionellen Sinne) Rechnung zu tragen, hatte er die Gesellschaft auf die menschliche Bedürfnisnatur gegründet und gerade darin, daß sie nur dies sei, eine Bedingung der Freiheit gesehen. Damit bezeichnete der Gesellschaftsbegriff die Gesellschaft indes nur noch als ein Moment des konkreten Ganzen; ihre Abstraktion war gerade nicht die Leitstruktur der Selbstselektion des Seins, sondern mußte in der konkreten Sittlichkeit aufgehoben werden. Im Wettkampf der metaphysischen Titel konnte die Gesellschaft dann auch nicht als vernünftig behauptet werden – und man sah ja auch, daß sie es nicht war –, sondern eben nur als materiell. Da aber Vernunft und Materie letztlich nur Chiffren für jene Unbestimmbarkeit sind, in der Gesellschaft und Gesellschaftstheorie konvergieren, blieb ein Streit auf dieser10 Ebene ohne Bezug zum Problem. Nachdem Hegel nur den Ausweg gesehen hatte, jenseits aller Konstruktionsprobleme des politischen Systems der bürgerlichen Gesellschaft im Staatsbegriff einen sozusagen revolutionsfreien Primat der politischen Ethik zu erneuern,2 und Marx dem nur die Verabsolutierung eines primär ökonomisch begriffenen Gesellschaftssystems entgegensetzen konnte,3 ist es notwendig geworden, die Gesellschaftstheorie neu zu begründen. Die marxistisch konservierten Restbestände bieten dafür wenig Anregungen, wohl aber Mindestforderungen an Blickweite und Reflexionsvermögen, die nicht unterschritten werden sollten.

Aufgenommen und kombiniert werden müssen, wenn man überhaupt Wert darauf legt, an bisheriges Denken über Gesellschaft anzuschließen,4 die folgenden Momente: (1) das traditionelle Problem der Einheit des Gesellschaftssystems, das als umfassendes zugleich nur ein Sozialsystem unter anderen11 ist, und (2) die moderne (bürgerliche) Fassung dieses Problems als Notwendigkeit der Selbstselektion des Gesellschaftssystems, die (a) Reflexivität der Selbstbestimmung impliziert als Bedingung der Möglichkeit des Wechsels derjenigen Teilsysteme, die durch Realisierung eines funktionalen Primats eine Pars-pro-toto-Funktion übernehmen, und (b) eine Verzeitlichung von Komplexität erfordert in dem genauen Sinne, daß durch Einbau von »historischem Bewußtsein« in die Gesellschaftsstruktur Unbestimmtheit der Möglichkeiten und Bestimmtheit der Realisierungen im Nacheinander kompatibel werden.

Analysiert man aus größerer Distanz, dann zeigt sich, daß jene Begriffsbildungsprobleme der Gesellschaftstheorie unlösbar waren aus mehrfachen Gründen, die sich wechselseitig stabilisieren. Man hatte sich (1) aus plausiblen Gründen zu der Auffassung bekannt, das Ganze sei mehr als die Summe der Teile, obwohl Gesellschaftstheorien der skizzierten Art eher Anlaß gegeben hätten, die Gegenthese anzunehmen und zu sagen, das Ganze sei weniger als die Summe der Teile, es sei Ordnung als Reduktionsleistung. Man hatte, wie in bestimmten evolutionären Lagen von faszinierender Neuartigkeit verständlich, (2) die Gesellschaft als Ganzes durch Merkmale ihres jeweils wichtigsten Teilsystems charakterisiert und ihren Begriff dadurch konkretisiert – zunächst als politische, dann als wirtschaftliche Gesellschaft. Dadurch blieb das Ganze mit Merkmalen infiziert, die nicht für die Gesamtheit der unter ihm zusammengefaßten Elemente repräsentativ sein konnten. Man sah (3) die zweiwertige Logik nicht nur als begrenzt funktionsadäquaten Schematismus, sondern als Abbild eines wirklichen Unterschiedes von Sein und Nichtsein und konnte infolgedessen (4) weder selbstreferentielle Prozesse noch Intersubjektivität, noch Systeme mit strukturimmanentem Umweltbezug, noch Systeme mit strukturimmanentem 12Zeitbezug denken. Und man hatte (5) zwischen verschiedenen Systembildungsebenen, vor allem zwischen Gesellschaftssystem und organisierten Sozialsystemen, nicht ausreichend unterschieden und infolgedessen eine Pars-pro-toto-Technik, die in Organisationen ohne weiteres möglich ist, auf das als Korporation vorgestellte Gesellschaftssystem übertragen. All diese Optionen sind aus den historischen Lagen und den evolutionären Perspektiven vergangener Gesellschaftssysteme heraus verständlich. In all diesen Hinsichten könnte man heute anders urteilen.

Die Hauptdifferenz, die uns von den Anfängen der Soziologie und von den Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts, also auch von der Marxschen Theorie trennt, liegt im systemtheoretischen Ansatz. Dieser ist nicht nur eine bestimmte, konkurrierende Fassung der Gesellschaftstheorie. Geht man von einer Theorie sozialer Systeme aus, analysiert man von einer Begriffsebene aus, die höher aggregiert ist als die Theorie der Gesellschaft. Soziologie ist dann nicht mehr nur Gesellschaftstheorie (bzw., wie im Ostblock, empirische Hilfswissenschaft der Gesellschaftstheorie). Die Theorie des umfassenden Systems der sozialen Wirklichkeit ist für sie nur eine Teiltheorie. Mit anderen Worten: Die Soziologie braucht zur Integration ihrer Erkenntnisse eine andere, abstraktere Sinnebene, als die Gesellschaft sie braucht zur Integration ihrer selbst. Man muß daher, wie die Skizze verdeutlichen soll, zwischen der theoretischen (analytischen) und den gesellschaftlichen (realen) Inklusionsverhältnissen unterscheiden – und dies, obwohl die Soziologie sich selbst als Teilsystem der Gesellschaft begreifen kann.

Nur so können die »Totalisationen« der gesellschaftlichen Realität in der Theorie nochmals überboten werden, kritisiert werden, relativiert werden und auf Variationsmöglichkeiten hingewiesen werden.

13Eine weitere Implikation verdient besondere Hervorhebung: Dem (für die Soziologie) höchsten Gegenstandsbegriff entspricht kein einheitlicher Gegenstand mehr.5 Die systemtheoretische Soziologie setzt keine ihren analytischen Bedürfnissen entsprechende Realsynthese in der sozialen Wirklichkeit voraus. Sie kann, muß aber nicht notwendig ihre Aussagen mit Bezug auf die Systemreferenz formulieren, die in der sozialen Wirklichkeit zur umfassenden Vereinheitlichung dient. Das heißt nicht, daß der soziologischen Synthesis im Begriff des sozialen Systems ein Gegenstand überhaupt fehle, es fehlt nur die entsprechende Totalsynthese. Die allgemeine Theorie sozialer Systeme bietet nicht nur ein (wohl mögliches normatives) Ideal. Sie stellt begriffliche Minimalmittel für die Analyse eines jeden Sozialsystems bereit. Sie kann infolgedessen auch hypothetisch formuliert werden: Immer wenn sich soziale Systeme bilden, kommt es zur Reduktion auf Handlung, zur Bildung von Erwartungsstrukturen, zur Kommunikation, zur Orientierung an Innen/Außen-Differenzen usw.

Allerdings sind die dazu notwendigen analytischen Instrumente Stück für Stück umstritten, und umstritten ist auch, 14ob und mit welchem Recht sie unter dem Gesichtspunkt des Systems zusammengefaßt werden können. Diese Schwierigkeiten gehen nicht zuletzt auf Gründe zurück, die in der Geschichte des Systembegriffs wurzeln.

Einerseits gibt es eine auf den Anfang des 17. Jahrhunderts zurückreichende Tendenz, den Systembegriff auf Erkenntnisse und Erkenntnisdarstellungen (zum Beispiel Lehrbucheinteilungen) zu beziehen und ihn in dieser Funktion zu idealisieren.6 Die Gründe dafür scheinen teils in Krisen der Theologie, insbesondere in der Unlösbarkeit des Problems der Glaubensgewißheit und der anschließenden Problematisierung von Gewißheit schlechthin, teils in Verselbständigungstendenzen anderer Fächer gelegen zu haben. Auf dieser Linie findet sich, wie schon angedeutet, noch heute der »analytische« Systembegriff von Talcott Parsons,7 der 15in neukantianischer Manier Gegenstand und Erkenntnis identifiziert und, dann konsequent, die systemtheoretische Analyse der Gesellschaft auf die These stützt, daß diese ein analytisches System sei. Diese Konzeption bleibt aber an eine bestimmte erkenntnistheoretische Position gebunden, die von manchen, etwa von Marxisten, schon auf dieser Ebene bestritten wird.

Andere Vorbehalte lassen sich zusammenfassen unter der These, daß nie die Totalität, also auch nicht die gesellschaftliche Totalität menschlicher Interessen, sondern immer nur ein Teil als System begriffen werden könnte. So formuliert Hobbes: »By Systems; I understand any numbers of men joyned in one Interest; or one Business«.8 Nach Fusion mit der erkenntnistheoretisch-idealisierenden Strömung liegt es heute nahe, diesen Systembegriff als Kategorie für Teile oder Aspekte des gesellschaftlichen Ganzen auf Ideen oder auf Instrumente zu beschränken und für die Totalität des menschlichen Lebens, die Gesellschaft im Vollsinne oder die begriffliche Artikulation des Mündigkeitsinteresses oder der Subjektheit der Individuen andere Ausdrucksformen zu suchen.9

16In diesen Vorbehalten gegen die Systemtheorie findet die bereits analysierte Unbestimmbarkeitsproblematik erneut Ausdruck, und es wiederholt sich auch die Neigung »bürgerlicher« Denker, das Problem durch Dichotomisierung und Dialektisierung zu lösen. So wie einst der »Staat« und dann die »Gemeinschaft« scheint heute das »System« das erforderliche Gegenüber der Gesellschaft zu sein; zumindest formulieren diejenigen es so, die zur Systemkritik oder zur Systemüberwindung aufrufen. Dabei bleibt dunkler als je zuvor, was denn Gesellschaft sei, wenn nicht System. Diese Frage wird – und wiederum haben wir ein bürgerliches Denkmotiv und bürgerliche Reflexivität vor uns – in ein Zeitverhältnis aufgelöst: Das System ist die Gesellschaft in ihrer (kapitalistischen) Gegenwart, die eigentliche Gesellschaft ist das, was nach der Systemüberwindung kommt.

Für ein politisches Interesse an dieser Debatte mag die Erläuterung genügen, daß die Gesellschaft der Zukunft das von den Systemüberwindern beherrschte System sein wird. Dann gilt es, Partei zu ergreifen. Für ein wissenschaftliches Interesse ist die Frage vorrangig, ob das analytische Potential der Systemtheorie mit dieser Kontrastierung adäquat benutzt – oder nicht vielmehr verschenkt wird.

Die These der folgenden Abhandlung ist, daß gerade der Systembegriff sich zur Lösung jenes Unbestimmbarkeitsproblems eignet. Er postuliert – als Systembegriff –, daß die Gesellschaft die Lösung ihres eigenen Unbestimmbarkeitsproblems leistet, dadurch daß sie sich als System konstituiert; dadurch daß sie durch Grenzziehung eine für sie unbestimmbare Komplexität reduziert und, im Wissenschaftsbereich zum Beispiel, unter dem Gesichtspunkt von Wahrheit/Unwahrheit schematisiert. Die Systemtheorie geht, mit anderen Worten, davon aus, daß ihre Gegenstände sich selbst als Systeme organisieren, sich selbst in ihren Möglichkeiten ermöglichen17 und einschränken; und daß sie nur deshalb als Systeme begreifbar sind.

Wir ersetzen für die Zwecke dieser Analyse jene Dichotomien der früh-, anti- oder sonstwie bürgerlichen Gesellschaftstheorie durch die abstraktere, dem Systembegriff inhärente Dichotomie von System und Umwelt. Durch diese Differenz wird Komplexität konstituiert, die zugleich als letzter Bezugs- und Integrationspunkt für funktionale Analysen dient. Im Falle sozialer Systeme haben wir es mit einer besonderen Form der Verarbeitung von System/Umwelt-Differenzen zu tun, nämlich mit Sinn. Auf Sinn beruht die Möglichkeit, Komplexität als unbestimmte Bestimmbarkeit zu begreifen – ebenjenes Problem, das der Tradition durch Metaphysik verdeckt vorausliegt und das explizit in die Gesellschaftstheorie einzuführen ist.

An diese scheinbar einfachen Ausgangspunkte10 läßt sich eine Reihe von Folgetheorien anknüpfen, deren Interdependenzen eine ziemlich komplexe Gesellschaftstheorie ergeben. Jeder der folgenden Teile geht von einer direkten Anknüpfung an die Differenz von System und Umwelt aus und behandelt sie zunächst in evolutionstheoretischer (Teil 2) und in kommunikations- und motivationstheoretischer Perspektive (Teil 3), schließlich unter dem Gesichtspunkt der Komplexitätssteigerung durch Ausdifferenzierung und durch Innendifferenzierung (Teil 4) und der dadurch ermöglichten Reflexion und Rationalisierung des Gesellschaftssystems (Teil 5). Erst im letzten Teil können wir auf wissenschaftstheoretische Probleme zurückkommen. Bevor wir in diese Untersuchungen eintreten, die sich speziell auf das Gesellschaftssystem beziehen, müssen wir jedoch verschiedene Ebenen der Systembildung18 analytisch auseinanderziehen.11 Auch das geschieht in Anknüpfung an die Differenz von System und Umwelt, denn die Ebenen der Systembildung unterscheiden sich durch die Art der Behandlung der Differenz von System und Umwelt. Eine solche Ebenenunterscheidung gibt uns zugleich die Möglichkeit, verschiedene Typen sozialer Systeme zu unterscheiden und zu begründen, wie eines von ihnen, die Gesellschaft, zugleich das Ganze sein kann.

19Teil 1Soziale Systeme: Interaktion, Organisation, Gesellschaft

21Die Charakterisierung eines wissenschaftlichen Unternehmens als Systemtheorie und die Charakterisierung ihrer Gegenstände als Systeme soll und kann nicht besagen, daß aus dem Begriff des Systems alles abgeleitet werden könne, was an der Realität wissenschaftlich (hier: soziologisch) bemerkenswert sei. Eine derart globale Bezeichnung kann ferner nicht in Anspruch nehmen, einen Satz von Hypothesen zu besitzen, die erklären und begründen könnten, warum etwas ist und nicht nicht ist. So stringente Prätentionen sind (zumindest beim gegenwärtigen Stande des Wissens und auf eine absehbare Zukunft) nicht kompatibel mit der hohen Spannweite des theoretischen Bezugsrahmens.

Angesichts dieser Diskrepanz von Präzision und Spannweite, die als solche wiederum systemtheoretischer Analyse zugänglich wäre,1 wählen wir folgende Art und Weise des Vorgehens: Wir werden zunächst in einer uns ausreichend erscheinenden Abstraktionsstufe einige Angaben machen über Systeme schlechthin. Diese Angaben müssen auf der Ebene einer allgemeinen Systemtheorie kompatibel sein mit den Eigenarten von Systemen jeder Art, seien es physische Systeme, selbstreproduktive Systeme primitivster Art, Organismen, Populationen von Organismen, psychische Systeme, soziale Systeme, informationsverarbeitende Maschinen und all das mit zahlreichen Untertypen; sie bleiben deshalb hochgradig abstrakt und informationsarm. Dieser Nachteil kann 22nicht behoben, wohl aber kompensiert werden durch Präzisierungsregeln, die angeben, wie man unter Verzicht auf Spannweite zu deutlicher konturierbaren Aussagen kommt. Das sind Regeln der Typenbildung. Diese können keine Deduktionsregeln sein, da der allgemeinere Begriff die dafür nötige Information nicht hergibt. Statt dessen soll hier versucht werden, auf jeder Allgemeinheitsstufe, zunächst also auf der der allgemeinen Systemtheorie, Probleme zu formulieren – und offenzuhalten.

Im Problembegriff ist impliziert, daß das Problem auf mindestens eine, zumeist mehrere, jedenfalls aber nicht beliebige Weise gelöst werden kann. Diese Vorbedingung führen wir mit Hilfe des Begriffs der Limitationalität ein. Dieser Begriff, den wir weiter unten als »Kontingenzformel« des Wissenschaftssystems ausführlicher behandeln werden, soll besagen, daß durch Eliminierung einer Variante die Wahrscheinlichkeit für andere steigt – sei es nun je nach Kontext die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins, der Erkenntnis, der Richtigkeit. Auf diese Voraussetzung muß sich jede Gattungslogik und alle Dialektik einlassen.2 Auch der »kritische Rationalismus« eines Popper kann nur unter dieser Voraussetzung Falsifikation als sinnvolle Eliminierungsstrategie empfehlen. Offenbar handelt es sich um Grundbedingungen sinnvoller Verwendung von Negationen. Jedenfalls findet der Funktionalismus sich in der guten Gesellschaft aller seiner Kritiker, wenn er sich ebenfalls darauf einläßt.

Ob Problemlösungen als sich wechselseitig limitierende Varianten bekannt sind oder nicht, ist eine zweite Frage. In dem Maße, als die Problemformulierung Konturen möglicher 23Lösungen erkennen läßt,3 kann sie als Suchregel benutzt werden, also als Regel der Suche oder Herstellung von Lösungsformen, die andere, funktional äquivalente Möglichkeiten neben sich haben können.

Wenn es nun ein zentrales Problem der Systembildung und Systemerhaltung gibt, und das behaupten wir, führt dieses Verfahren zur Bildung von Systemtypen. Die primäre Leistung der allgemeinen Systemtheorie besteht dann in der Ausarbeitung des Grundproblems der Systembildung – und das heißt zugleich: in der Präzisierung von Bedingungen möglicher Systemtypen. Dies Verfahren läßt sich wiederholen auf verschiedenen Stufen der Konkretion. Wir werden es zweifach anwenden: Auf einer ersten Ebene4 werden wir diejenigen Grundbegriffe der Systemtheorie ausarbeiten, die wir benötigen, um zur Ebene der sozialen Systeme zu kommen (und das heißt in umgekehrter Blickrichtung: um zu begründen, inwiefern soziale Systeme Systeme sind). Das Kapitel II behandelt sodann die Theorie sozialer Systeme in ihren Grundzügen. Auf dieser Ebene können diejenigen Probleme ausgearbeitet werden, die, wenn sie unterschiedlich gelöst werden, zur Bildung unterschiedlicher Typen sozialer Systeme führen. Wir benötigen diese Analyse also, um von der Ebene sozialer Systeme im allgemeinen zu den besonderen Typen Interaktion, Organisation und Gesellschaft zu gelangen, die wir in Kapitel III und IV unserer Untersuchungen 24behandeln werden (und das heißt in umgekehrter Blickrichtung: um zu begründen, inwiefern Interaktion, Organisation und Gesellschaft soziale Systeme sind).

Beide Komplexe zusammen dienen einer gestuften Einführung in das Thema: Gesellschaftstheorie. Sie entlasten zugleich die folgenden Teile von Ausführungen, die in einen höher abstrahierten Bezugsrahmen gehören.

25Kapitel IGrundbegriffe der Systemtheorie

1. Komplexität

(1) Im gegenwärtigen Schrifttum sehr verschiedener Disziplinen wird der Begriff der Komplexität häufig, zumeist aber undefiniert gebraucht.5 Auch ohne Definition suggeriert der Begriff schon seine eigene Bedeutung. Da vieles als komplex angesehen oder bezeichnet wird, scheint ihm eine theoretisch zentrale Stellung zuzukommen. Die Ausnutzung der damit verbundenen Chancen hängt aber von einer zureichenden Klärung des Begriffs und von einer Explikation und Kontrolle der im Begriffsfeld liegenden Optionen ab.6

Aus einer sehr kursorischen Einführung des Begriffs ergeben sich zunächst in den einzelnen Disziplinen oder Forschungszweigen recht heterogene Verwendungen, obwohl offenbar ein einheitliches Phänomen anvisiert wird. In der 26psychologischen Forschung über »kognitive Komplexität«7 dient der Begriff zur Bezeichnung der Struktur von Persönlichkeitssystemen unter dem Gesichtspunkt ihrer Fähigkeit, Umweltinformationen unter differenzierten und auf einem abstrakten Niveau integrierten Kategorien zu verarbeiten und sich dadurch von allzu konkreten Umweltbindungen zu lösen. In der Organisationstheorie braucht man den Begriff der Komplexität als Maß für den Grad arbeitsteiliger Differenzierung; er wird dann in bezug auf Rollen oder Stellen als Einheiten ausgearbeitet.8 In der Theorie soziokultureller Evolution wird Komplexität entweder stillschweigend mit »struktureller Differenzierung« gleichgesetzt,9 oder der Begriff bezeichnet schlicht die Evolution selbst, soweit sie mit Guttman-Skalen zu messen ist.10 Die Formalwissenschaften denken bei Komplexität zumeist an die Zahl und die Verschiedenartigkeit der Relationen, die auf Grund einer 27gegebenen Zahl von Elementen in einem System seiner Struktur nach möglich sind.11 Und auch sonst stößt man häufig auf mehrdimensionale, mehrere Variable einfach addierende Definitionen, die das innere Gefüge des Komplexitätsbegriffs auf ein bloßes »und« reduzieren.12

Neben knappen und theoretisch unzureichenden und unabgestimmten Begriffsverwendungen dieser Art gibt es Versuche, den Begriff durch Rückzug auf eine epistemologische oder methodologische Ebene zu präzisieren. Die bestimmenden Merkmale liegen dann in der Messung von Bemühungen um die Erkenntnis komplexer Sachverhalte, etwa im Auf wand an benötigter Information oder Informationsverarbeitung,13 oder in den zur Operationalisierung nötigen Reduktionen. Auf diesem Wege gelangt man aber bestenfalls28 zu einer operativen, nicht auch zu einer theoretischen Klärung des Begriffs, die sich auf die Komplexität des Gegenstandes der Forschung beziehen müßte.

Will man all dies auf einen übergreifenden Leitgedanken bringen, so bleibt in der letzten Generalisierungsstufe das klassische Problem der Einheit des Mannigfaltigen zurück. »Complexity is only of importance if in a certain respect there is a high degree of complexity and in another respect there is unity.«14 Ein einheitlicher Begriff ist ja nur sinnvoll, wenn die Vielfalt unter irgendeinem Gesichtspunkt als Einheit behandelt werden kann. Der Begriff der Komplexität formuliert so zunächst einmal die Intention, Mannigfaltiges unter dem Gesichtspunkt seiner Einheit zu sehen.15 Der komplexe Gegenstand muß Mannigfaltiges und Einheit zugleich sein.

Mit diesem Problem hat man nun Erfahrungen, und die können wir uns zunutze machen. Schon an Hand der Begriffsgeschichte von complexum, complexio kann man sehen, daß diese Problemstellung Modalisierungen und damit Simultanpräsentation in mehreren Ebenen erzwungen hat. Dies waren in der Tradition teils möglichkeitstheoretische (complexio contingens!), teils erkenntnistheoretische (complexe significabile!) Modalisierungen.16 Anders ließ sich die Einheit des 29Mannigfaltigen nicht auf einen Ausdruck bringen.17 Je nach modaltheoretischem Bezugsrahmen erscheint dieser Einheitsbezug teils als konkomitierende Notwendigkeit im kontingent Zusammengesetzten,18 teils als Frage der Sicherung der kategorialen Übereinstimmung von Sein und Erkennen beim Zugriff auf Inhaltsgesamtheiten.19 (Heutigen Vorstellungen entspräche es eher, auf eine Mehrheit von »Sprachebenen« abzustellen.)20 Immer scheint es undiskutierte Voraussetzung der Problemstellung gewesen zu sein, daß es um die Einheit des Komplexen selbst gehe. Genau darin wurde die dem Gegenstand spezifische Perfektion gesehen, daß er Vielheit und Unterschiedenheit (multitudo et distinctio) zur geordneten Einheit bringe – durch den Willen des Schöpfers oder durch die Funktion der Vorstellung des transzendentalen Subjekts. Und zugleich war die Einheit des komplexen Gegenstandes Garantie für die Entscheidbarkeit der Frage, ob Aussagen sich widersprechen, also Vorbedingung des Prinzips der Widerspruchsfreiheit. Sie bot schließlich der älteren Lehre den Ausgangspunkt für kosmologische Erklärungen, über deren Grundlagen die Wissenschaft nicht voll disponieren kann.

30Bricht man mit dieser Prämisse: daß es um die Einheit des Komplexen selbst gehe und daß Komplexität etwas sei, was einer vorauszusetzenden Einheit als Eigenschaft zugehöre, kommt viel in Bewegung. Neuere Begriffsentwicklungen und Forschungserfahrungen tendieren aber deutlich dazu, die Einheit des Komplexen nur noch als eine Art fokussierende Relation zu denken und nicht mehr als eine Art Wesenskonzentrat. In der Philosophie kündigt sich das an in der Neigung Kants zu »sofern«-Abstraktionen.21 Wissenschaftliche Erfahrungen, die ohne Zusammenhang damit gewonnen sind, deuten in die gleiche Richtung. So lehren psychologische Forschungen über kognitive Komplexität, daß Systemkomplexität, wie immer begriffen und operationalisiert, nur situativ eingesetzt wird oder sogar überhaupt kein prozessual wirksamer Faktor ist, sondern nur ein strukturell zur Verfügung stehendes Potential, das situationsweise oder sektoral mehr oder weniger stark aktiviert werden kann.22 Komplexere Systeme haben durch ihre Struktur die Wahl, komplex oder nichtkomplex zu erleben und zu handeln; fehlt es an Komplexität, bleibt nur die Möglichkeit einfacher Umweltbeziehungen. Zu ähnlichen relationistischen Folgerungen sieht sich im Anschluß an Entwicklungen in der modernen Physik 31offenbar auch die Mathematik veranlaßt.23 Auch die Einsicht, daß Komplexität ein allenfalls mehrdimensional meßbarer Sachverhalt ist, besagt im Effekt, daß es nicht möglich ist, Komplexes ohne Informationsverlust zur Einheit zu aggregieren; man muß dann vorweg wissen bzw. entscheiden, für welche Zwecke man welche Aggregationsweise wählen und welche Informationsverluste in Kauf nehmen will.

Erfahrungen und Entwicklungstendenzen dieser Art kann man heute nicht mehr ignorieren. Sie sollten aber auch nicht vorschnell einen epistemologischen, analytischen, modelltheoretischen, konstruktivistischen Relativismus stimulieren, der in bekannte Sackgassen führt und entweder Minimal-Aprioris unterstellen24 oder ganz darauf verzichten muß, Rechenschaft darüber abzulegen, in welchem Sinne sich Erkenntnis auf Realität bezieht. Statt dessen wollen wir uns im folgenden um ein Sachkonzept bemühen, das die angedeuteten Probleme aufnimmt und zugleich diejenigen Theorieentscheidungen verdeutlicht, mit denen der Begriff der Komplexität für andere Theoriekomplexe relevant wird.

(2) Unser Ausgangspunkt ist die durchaus übliche Unterscheidung zwischen der Zahl der Elemente eines Systems und der Zahl und Verschiedenartigkeit der zwischen ihnen möglichen Beziehungen.25 Gewiß kann man nicht einfach voraussetzen, daß es so etwas wie Elemente und Beziehungen in einem 32schlichten Sinne als Vorhandenes gibt. Wir werden diese Annahme sogleich problematisieren. Unabhängig davon aber gilt, was immer als Element und als Beziehung fungiere, daß bei Zunahme der Zahl der Elemente die Zahl der zwischen ihnen abstrakt möglichen (denkbaren) Beziehungen überproportional ansteigt und sehr rasch Größenordnungen erreicht, die nicht mehr nutzbar, nicht mehr realisierbar sind.26 In größeren Systemen kann dieses abstrakte Relationierungspotential,33 diese volle Interdependenz von allem mit allem, daher nur noch wie etwas weder als Ordnung noch als Chaos qualifizierbares Unbestimmbares fungieren: als Hintergrund mit der Funktion, Selektionsbewußtsein zu erzeugen.27 Das erfordert Bildung von Systemen in Systemen, die unbestimmbar Gewordenes wieder selektiv bestimmen können.

Demnach ergibt sich aus Größenzunahme für jedes System der Zwang, aber auch die Chance, mit eigenen Möglichkeiten der Relationierung selektiv zu verfahren und sich bei Bedarf zu differenzieren. Die Selektion aus eigenen Möglichkeiten ist nicht per Zufall, nicht nur ad hoc möglich, wenn Systeme entstehen und Grenzen gegenüber einer Umwelt invariant gehalten werden. Sie wird durch Strukturen gesteuert, die die Nichtbeliebigkeit und die Anschlußfähigkeit der Selektionen gewährleisten, also trotz und durch Selektion das Entstehen von Interdependenzen ermöglichen. Der Grundvorgang, der Komplexität ermöglicht, ist der Zusammenhang von kombinatorischen Überschüssen und struktureller Selektion.

Diesen Sachverhalt gilt es zunächst deutlicher vor Augen zu führen. Bereits Spencer unterscheidet deutlich zwischen »growth« (als »increase of mass«) und »development« (als »increase of structure«).28 Die Schwierigkeiten und die theoretische Weichenstellung liegen im Begriff des »increase of 34structure«. Wie kann Struktur zunehmen in einem anderen Sinne als Systemgröße? Im Anschluß an Spencer hat die Soziologie vor allem im Bereich der Gesellschaftstheorie Strukturzunahme zunächst als Zunahme struktureller Differenzierung interpretiert. Das hat sich jedoch nur begrenzt bewährt. Man kann Differenzierung ohne nähere Qualifikation – und jede Qualifizierung würde zu sehr einschränken – kaum eindimensional messen, da es schon in der Systemdifferenzierung unterschiedliche Typen der Differenzierung (segmentär/schichtenmäßig/funktional) gibt, die ihrerseits mit möglicher Systemgröße korrelieren, aber sehr unterschiedliche strukturelle Konsequenzen haben. Außerdem ist strukturelle Differenzierung nur sehr begrenzt steigerbar. Wir werden daher Strukturzunahme anders definieren, nämlich als Zunahme der Selektivität einer Struktur.

Bei Größenzunahme auf der Ebene der Elemente, die die kombinatorischen Möglichkeiten eines Systems überproportional wachsen lassen, kommt es nämlich zwangsläufig zu größerer Selektionsschärfe jeder bestimmten Relation und jeder strukturellen Disposition über Zulässigkeit oder Wahrscheinlichkeit von Relationierungen nach Maßgabe engerer, systemspezifischer Bedingungen des Möglichen. Mit der positiven Zunahme der Elemente wächst die negative, eliminierende Selektivität in bezug auf die nichtrealisierbaren Beziehungen. Differenzierung ist, in diesem Kontext gesehen, eine Form der Ermöglichung hoher Selektivität; sie ermöglicht beispielsweise, daß ein Richter während des Beweistermins tatsächlich Zeugen vernimmt, obwohl er damit auf sehr viele andere Aktivitäten und Kontakte, die auch möglich wären, verzichten muß.

Das versteht sich nun keineswegs von selbst. Eine Steigerung struktureller Selektivität ist in dieser Kombination von Spezifikation und Negation vielmehr nur unter besonderen,35 zunehmend unwahrscheinlichen Bedingungen möglich. Bekanntlich profilieren Institutionen sich gegenüber zunehmenden Möglichkeiten als Willkür; löst wachsende Prosperität, nicht Mangel, Revolutionen aus.29 Diese Einsicht führt zu der These, daß mit der Zunahme struktureller Selektivität sowohl die Kontingenz als auch die Nichtbeliebigkeit der Strukturwahl zunimmt. Da solche Strukturen wenige unter vielen möglichen Relationen auszeichnen, wird immer deutlicher sichtbar, daß sie auch anders möglich wären; und zugleich stellt genau diese Bedingung ganz spezifische Anforderungen an die Strukturbildung, für die nur ein sehr begrenztes Repertoire von Problemlösungen zur Verfügung steht. Um diesen Sachverhalt formulierungsmäßig zu fassen, brauchen wir bereits eine mehrstufige Modalisierung: Es handelt sich um eine hochkontingente Reduktion der Kontingenz von Selektionen.

Hier liegen nun Ausgangspunkte für wichtige Theorieanschlüsse. Es läßt sich einerseits festhalten, daß eine Bereicherung der Möglichkeiten zugleich den dispositionellen Spielraum einschränkt. Dieser Befund ähnelt »Cope’s Rule«, die in etwa besagt, daß Organismen unterhalb ihrer möglichen Größe in die Evolution eintreten, dann in evolutionären und umweltspezifischen Anpassungsprozessen ihr Wachstumspotential ausschöpfen und genau dadurch evolutionsunfähig werden, weil der Koordinationsaufwand jeder Änderung zu hoch wird.30 Der gleiche Gesichtspunkt erklärt, daß mit dem Aufbau selektionsscharfer Strukturen die Abhängigkeit von der eigenen Geschichte zunimmt und das System sich sozusagen in seiner eigenen Geschichte festwächst, obwohl zugleich 36ein hohes operatives Potential für interne und extern gerichtete Prozesse zur Verfügung steht. Dieses Konzept der Strukturzunahme läßt sich ferner mit einer Theorie der Nebenfolgen und Folgeprobleme von Komplexitätssteigerungen verknüpfen; denn es liegt auf der Hand, daß die benötigte Selektionsschärfe der Strukturen die Koordinationslast erhöht und im übrigen bestimmte problematische Anforderungen an das Erleben und Handeln (oder abstrakter: an die Prozesse, die Relationen realisieren) stellt, die sehr leicht in Kritik umschlagen können.

Die entscheidenden Vorzüge dieser gegenüber Spencer variierten Fassung des Begriffs der Strukturzunahme liegen aber darin, daß sie dem Phänomen der Komplexität eine einheitlichere Bestimmung gibt. Komplexität ist dann nicht einfach nun die Menge der strukturell ermöglichten Relationen, sondern deren Selektivität; auch nicht nur ein (empirisch gesicherter) Erkenntniszusammenhang zwischen den Variablen Größe und Strukturiertheit, sondern die Relation zwischen positiver Bestimmung der Größe und negativer Bestimmung des Ausscheidungseffekts der Struktur. Die Komplexität hat ihre Einheit also in der Form einer Relation: in der Relation wechselseitiger Ermöglichung von Elementmengen und reduktiven Ordnungen. Als Einheit eines Systems ist Komplexität in sich selbst relationaler Natur. Besonders dem Steigerungsproblem wird man besser gerecht, wenn man die Komplexität letztlich als eine Relation begreift, in der das, was aufeinander bezogen wird, unterschiedliche Werte annehmen kann. Von höherer Komplexität kann man in bezug auf Systeme dann sprechen, wenn die Selektivität der nach der Größe und der Struktur des Systems möglichen Beziehungen zunimmt. Das heißt: Steigerung der Komplexität erfordert nicht nur Wachstum, sondern auch schärfere strukturelle Selektion und damit bei deren Nachvollzug in den 37Prozessen des Systems laufende Reduktion der Komplexität angesichts anderer Möglichkeiten. Könnte man diese Selektivität messen, so hätte man ein Maß für das, was der Begriff der Systemkomplexität letztlich meint: für das Bedingungsund Steigerungsverhältnis von Mengen und Ordnungen, von abstrakten Potentialen und selektiven Reduktionen – oder klassisch gesprochen: von Materie und Form.

(3) Hegel hatte von »Maß« gesprochen, um die Einheit qualitativer und quantitativen Seinsbestimmungen zu bezeichnen. Das Maß hatte Hegel gedacht als die unmittelbare Einheit von Quantität und Qualität im Quantum, die sich als Einheit in ihrer Negation durchhält und wiederherstellt.31 Wir finden uns in der Nähe dieses Begriffs. Daher lohnt ein kurzer Vergleich. Als Seinsbestimmung ist Maß ein weltbezogener Begriff, an dem Seiendes, sofern es ist, nur partizipiert. Wir hatten dagegen Komplexität mit Systemreferenz eingeführt. Systeme implizieren zwar Welt, und wir werden auch einen Begriff der Weltkomplexität bilden müssen; aber das Weltverhältnis der Systeme ist nicht als Sein des Seienden gedacht oder gar als Partizipation an Realperfektion, sondern als Kontinuität in der Diskontinuität von System und Umwelt.

Der Weltbezug erfordert bei Hegel die Transformation schlechter in erfüllte, unbestimmter in bestimmte Unendlichkeit. Das garantieren Annahmen über Dialektik – nicht: über funktionale Äquivalenzen –, die das Maßlose rein quantitativer Vermehrung immer wieder qualifizieren, also ins 38Maß bringen, und dies in unendlichem Progreß32 und so, daß dadurch die konkrete Wahrheit des »Seins« an sich ihre Bestimmtheit erfährt. Diese Dialektik läßt aber keine Zeitbestimmung erkennen. Gerade dadurch, daß sie sich selbst als Prozeß setzt, hat sie sich die Möglichkeit verbaut, das Zeitproblem zu thematisieren. Wann und wie schnell erfolgt dieses Hinausgehen über das Maß und seine Wiederherstellung? In diesem Punkte wird die Dialektik des reflexionslogischen Prozessierens begrifflicher Bestimmungen selbst negierbar – durch Politik. So meinte dann Lukács,33 daß es für die Opfer der Quantifikation, für die Arbeiterklasse, zur Lebensfrage werden würde, diese Dialektik zu bemerken, um den Umschlag selbst bewußt zu vollziehen. Es ist ein symptomatisches Detail, daß jetzt, nach dem Rückgriff auf Aktivität, von Maß nicht mehr die Rede ist. Die im Maß gewonnene Bestimmtheitsleistung und Negativität wird nicht bewahrt.

Man könnte diese dialektische Politisierung der Dialektik leicht kritisieren, etwa auf die Gefahr einer regressiven Entwicklung mit Verlust an Differenzierung und Bestimmtheit hinweisen. Aber eine Rückkehr zu Hegel wäre auch nicht ohne Problem. Ein Vergleich von »Maß« und »Komplexität« 39läßt dagegen erkennen, daß es andere Auswege der begrifflichen Disposition gibt. Dazu kehren wir zur Analyse des Komplexitätsbegriffs zurück.

(4) Der Begriff des Maßes hatte einen Direktzugriff auf Welt impliziert. Die Fassung des Komplexitätsbegriffs, die wir zunächst entwickelt haben, hängt dagegen ab von einer (jeweils zu bestimmenden) Systemreferenz. Sie bezeichnet Systemkomplexität. Durch diese Beschränkung gewinnen wir die Möglichkeit, zwei Negationsrichtungen zu unterscheiden und mit deren Nichtidentität zu operieren, nämlich (1) die systemimmanente Selektivität der Struktur im Verhältnis zu den kombinatorischen Möglichkeiten der Elemente und (2) die Diskontinuität zwischen System und Umwelt. In dieser Differenzierung, die mit Hilfe des systemtheoretischen Instrumentariums gewonnen wird, sehen wir einen ausschlaggebenden theoretischen Fortschritt, der es ermöglicht, die weltbezüglichen Aussagen, die mit dem Begriff des Maßes intendiert waren, in Aussagen über Relationierung von Relationen zu transformieren.

Bevor wir dieses Ziel verfolgen, müssen wir jedoch die systemimmanente Analyse von Komplexität in einer wichtigen Hinsicht ergänzen und vertiefen. Wir hatten vorläufig vorausgesetzt, daß es Elemente und Beziehungen gibt als Gegenstand selektiver Behandlung. Das, was als Element fungiert, ist jedoch nicht unabhängig von seiner selektiven Behandlung bestimmbar. Erst die Selektion für bestimmte präferentielle Relationierungen »qualifiziert« ein Element, in dem es ihm eine Umwelt gibt, in der es spezifische eigene Merkmale entwickeln kann. Will man erkennen, wie es sich qualifizieren läßt und welchen Widerstand es solchen Qualifizierungen oder zugemuteten Relationen entgegensetzt, muß man das Element nicht nur als formale Identität, sondern als System-in-einer-eigenen-Umwelt40 behandeln, also die Systemreferenz wechseln. Dabei kann man auf Systeme stoßen, die sehr viel komplexer sind (also auch: auf der Basis anderer Elemente sehr viel größer sind) als diejenigen Systeme, in denen sie als Element fungieren. Es gibt also kein Komplexitätskontinuum vom letzten Element bis zur Welt im ganzen.

Damit ist nicht gesagt, daß die Festsetzung dessen, was als Element und was als System betrachtet wird, allein im analytischen Interesse getroffen wird.34 Die Wahl der Systemreferenz ist natürlich freigestellt als Aspekt wissenschaftlicher Themenwahl, aber mit dieser Entscheidung ist zugleich darüber disponiert, was in diesem System und seinen Umweltbeziehungen als ein nicht weiter auflösbares Element fungiert. Es ergibt zum Beispiel für die Analyse sozialer Systeme keinen Sinn, die Einheit des kommunikativen Aktes weiter aufzulösen in ein System nervlicher oder gar elektrischer Prozesse, so wie umgekehrt von der Ebene dieser Prozesse aus die emergenten Eigenschaften sozialer Systeme, nämlich die über Sinn gesteuerten Umweltbeziehungen, nicht begriffen werden können. Jedes System hat nicht nur einen Umwelthorizont, sondern auch einen Innenhorizont mit beliebig weiter auflösbaren Strukturen und beliebig weitertreibbaren Möglichkeiten der Analyse. Aber diese Beliebigkeit ist nur gegeben, wenn man diese Horizonte jeweils für sich betrachtet. Werden sie relationiert, limitieren sie sich wechselseitig 41durch Begrenzung der für ein System relevanten Umwelt und durch Festlegung der dafür relevanten, in einer spezifischen Systemreferenz nicht weiter auflösbaren Elemente.

Wir nennen diese Festlegung Bestimmung oder Konstitution bestimmter (bzw. bestimmbarer) Komplexität. Ein System ist unbestimmt, wenn die Elemente nur abstrakt als Einheiten gezählt werden und nicht bekannt bzw. dem Zufall überlassen ist, welche Relationen hergestellt bzw. eliminiert werden.35

Die Bestimmung erfolgt im selbstselektiven Aufbau von Systemen, wobei mit zunehmender Größe und Abgrenzbarkeit gegenüber der Umwelt die Erhaltung von Unbestimmtheit zunehmend unwahrscheinlich wird und ersetzt werden muß durch strukturell garantierte Flexibilität (Unterbestimmtheit).36 Insofern ist Komplexitätsbildung in einem 42irreversiblen Sinne historisch, ohne daß dies notwendigerweise Strukturänderungen und Reaktivierung kombinatorischer Potentiale ausschlösse. Der Rückgang zur Unbestimmtheit und die Wiederholung der Geschichte ist ausgeschlossen, schon weil tieferliegende Systembildungen organischer bzw. chemischer bzw. physischer Art die Umwelt binden. So ist zum Beispiel eine Neuformierung des genetischen Potentials durch dessen umweltbezogene Komplexität ausgeschlossen. Beim Aufbau sinnhafter Systeme impliziert dieser Prozeß selbstselektiver Bestimmung die ständige Mitpräsentation jener Unbestimmtheitshorizonte externer und interner Art, in die das System hineinwächst. In komplexeren Gesellschaften entsteht so ein Weltbewußtsein, gegen das sich jede Bestimmung als kontingente Selektion profiliert. Unbestimmtheit hat dann ihre Realität nicht nur als längst vergangener Anfang des historischen Prozesses, sondern als Gegenwart, als Welthorizont, der jede Bestimmung nach innen und nach außen als kontingent erscheinen läßt.

(5) Daß eine rein systeminterne Betrachtung der Komplexität nicht ausreicht, dürfte inzwischen deutlich geworden sein. Der Grund dafür ist, daß wir Komplexität als Relation, und zwar als zweiseitig variable Relation, definiert hatten, und solche Relationen sind in sich selbst nicht zureichend bestimmt. Es gibt weder einen festen Wert für die Zahl der Elemente 43noch einen festen Wert für die strukturell zugelassenen Beziehungen. Deshalb determiniert auch die Systemgröße allein nicht die Systemstruktur. Offensichtlich ist beides nicht unabhängig voneinander möglich. Bekannt ist auch, daß die Formen struktureller Selektion mit Größe variieren; daß also Wachstum bestimmte Strukturtypen ausschließt, weil sie dem Druck der Selektionsanforderungen nicht mehr genügen, und andere erst ermöglicht.37 Schon die einfache Relationierung reduziert also die völlig unbestimmte Kontingenz der abstrakt denkbaren Größenverhältnisse bzw. Strukturtypen durch Bedingungen der Kompatibilität, und diese Reduktion (also nicht Größe allein) ist ihrerseits Vorbedingung für emergente, evolutionär voraussetzungsreiche Strukturen. Diese setzen durch Wachstum erzwungene Selektivität voraus und beziehen sich funktional, wenn nicht gar bewußt, auf dieses Problem.38 Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, wie 44es zu dieser Einschränkung der kombinatorischen Möglichkeiten kommt und ob und unter welchen diskriminierenden Bedingungen diese Kontingenz des Systems beim Aufbau höherer Komplexität zunimmt oder abnimmt.

Es ist die zentrale These der neueren Theorie umweltoffener Systeme, daß interne Relationen an externen Relationen ausgerichtet werden. Üblicherweise wird das so verstanden, daß die Umwelt als Komplex unabhängiger Variablen gesehen wird, die den Spielraum der Systemvariablen beschränken. Das bleibt selbstverständlich richtig. Andererseits muß man auch dem Umstande Rechnung tragen, daß Systeme ihre Umwelt seligieren oder gar verändern können und dadurch, bewußt oder unbewußt, diejenigen Bedingungen herstellen, denen sie sich anpassen können. Eine Person sucht Kontakt mit den Personen, an denen sie ihre Vorurteile und Reaktionsgewohnheiten ausleben kann. Ein politisches System kann den Versuch machen, seine gesellschaftliche Umwelt so weit zu vereinfachen, daß sie mit einfachen Mitteln und letztlich mit Gewalt regiert werden kann.39 Diese zweiseitige Interdependenz korrespondiert mit einem asymmetrischen Verhältnis von System und Umwelt; denn nur bei Asymmetrie kann Interdependenz entstehen.

Diese Asymmetrie von System und Umwelt kann nur mit Aussagen über das System als Einheit und über die Umwelt als Einheit formuliert werden. Das erfordert den Begriff für die 45Einheit des Mannigfaltigen, den Begriff der Komplexität, in doppelter Verwendung: in Anwendung auf ein jeweils gemeintes Bezugssystem und in Anwendung auf dessen Umwelt. Die Asymmetrie von System und Umwelt läßt sich dann als Differenz zweier Komplexitätsverhältnisse, nämlich als Komplexitätsgefälle begreifen. Die Komplexität der Umwelt ist größer als die Komplexität des Systems. Sie umfaßt mehr Elemente mit schärferer Selektion dessen, was als Umwelt-des-Systems strukturell relevant ist. Diese Differenz der Komplexitätsverhältnisse ist das Grundproblem der Systemtheorie, das letzte Bezugsproblem aller funktionalen Analysen. Es tritt im Layout der hier vorgeschlagenen Systemtheorie an die Stelle der alten Problemformeln conservatio – Beharrung, Bestandserhaltung.40

Diese Doppelverwendung des Komplexitätsbegriffs steht nicht in Widerspruch zum Erfordernis einer Systemreferenz; dies Erfordernis war nicht nur ein Hilfsmittel zur Einführung des Komplexitätsbegriffs, eine Krücke, die wir jetzt fallen lassen könnten. Vielmehr ist diese Doppelverwendung durch den Systembegriff selbst gefordert, wenn man Systeme hinreichend radikal auf die Umwelt bezieht und Umwelt als Bedingung der Möglichkeit von Systemen ansieht. Ein System ist seine Differenz zur Umwelt, ist eine grenzdefinierende, grenzerhaltende Ordnung. Zur Bestimmung der systemeigenen Komplexität, zur Bestimmung dessen, was als nicht weiter auflösbares Element fungiert und zur Qualifizierung der Elemente durch strukturelle Selektion der zwischen ihnen zu 46realisierenden Beziehungen – zu alldem ist der Bezug auf die Umwelt und die Überbrückung der Komplexitätsdifferenz erforderlich.

Auch sinngemäß läßt der Komplexitätsbegriff sich auf die Systemumwelt anwenden, wenn man ein System voraussetzen kann. Auch die Umwelt weist, relativ auf ein bestimmtes Systembildungsniveau, Einheiten auf, die sich relationieren lassen. Auch sie wäre bei vollständiger Interdependenz, wenn jederzeit alles sich auf alles bezieht und alles mit allem variiert, keine mögliche Umwelt für Systembildung, sondern absolute Ordnung oder absolutes Chaos. Auch ihre Komplexität erfordert als offene Relation einen externen Faktor der Kontingenzverringerung. Dieser Faktor aber ist für unsere Theorie kein transzendenter und kein transzendentaler, sondern das System, dessen Umwelt jeweils in Frage steht. Nur in der Relation auf ein System gewinnt dessen Umwelt bestimmbare Komplexität. So besteht für den kranken Menschen die Nahumwelt aus Tabletten, Tropfen und Zäpfchen, die mit bestimmten Relationen zueinander und zu ihm relevant bzw. irrelevant werden; nicht aber aus den physischen oder chemischen Elementen, die das Wirkungssystem dieser Komplexeinheiten hervorbringen. Es gibt ein auf diese Komplexitätsbestimmung abgestelltes Auflöse- und Rekombinationsvermögen und entsprechende Entscheidungsregeln wie: Rat des Arztes, Erstattungsbereitschaft der Kassen oder einfach Erfahrung ex iuvantibus; und all das in einem mitpräsentierten Horizont weiterer, immer weiterer Möglichkeiten, der zur Bestimmung aber nichts mehr beiträgt und insofern wie eine Grenze fungiert.

Als Steigerungsrelation formuliert, besagt dies, daß mit der systemeigenen Komplexität die Bestimmbarkeit der Umweltkomplexität zunehmen kann. Die Umwelt komplexerer Systeme expandiert sozusagen in die Tiefe der Welt. Diese 47oft formulierte These41 setzt jedoch Asymmetrie voraus und muß entsprechend verfeinert werden durch genauere Analyse der Mechanismen wie Generalisierung, Zentralisierung, Differenzierung, Lernfähigkeit, reflexive Leistungsverstärkung, die eine Erhöhung interner Komplexität mit einer Erhöhung der bestimmbaren Umweltkomplexität verbinden können. Und dies bedeutet zugleich, daß die theoretisch unterstellte Kontinuität der Steigerbarkeit durch intern bedingte Strukturbildungsniveaus gebrochen wird.

Jede Bestimmung von Umweltkomplexität erfolgt und gilt danach nur systemrelativ. Nur systemrelativ kann man überhaupt von Umwelt sprechen. Dieser Relativismus kann nur in Richtung auf Unbestimmtheit überwunden werden, also in eine Richtung, die zugleich die Differenzierbarkeit von System und Umwelt aufhebt, weil sie die Qualifizierbarkeit der Elemente und damit ihre Zurechnung zum System oder zur Umwelt gefährdet. Die letztlich unbestimmte Komplexität ist die Welt, jene Gesamtheit möglicher Ereignisse, jene Totalität aller Innen- und Außenhorizonte, gegen die sich jede Differenz von System und Umwelt und damit jede Bestimmung als kontingent profiliert. Angaben über die Komplexität der Welt haben daher eine sachbedingte Unbestimmtheit, die nicht, es 48sei denn systemrelativ,42 zu beheben ist, aber gleichwohl Realität hat als Letzthorizont, der an allem, was wirklich oder möglich ist, Kontingenz erscheinen läßt.

Mit diesen Ergebnissen einer systemtheoretischen Komplexitätsanalyse wird es schwierig, Traditionen fortzusetzen, die eine optimal durchdefinierte Komplexität, sei es als Maxime der Schöpfung,43 sei es als Resultat eines welthistorischen Prozesses, vorsehen. Die Entwicklung der Welt kann weder als Bewegung vom Einfachen zum Komplexen noch als Bewegung vom Unbestimmten zum Bestimmten begriffen werden. Unser Begriff der Komplexität ist in seiner relationalen Struktur zu komplex, um im Einfachen sein Minimum oder seinen Gegensatz zu haben;44 es kann nur mehr oder 49weniger befriedigende Lösungen des Selektionsproblems für unterschiedliche Größen geben. Und bestimmte bzw. unbestimmte Komplexität bedingen sich im Bereich sinnhaften Erlebens wechselseitig, da alles Bestimmte sich in unbestimmt bleibenden Horizonten konstituiert.

Statt dessen bietet sich ein Forschungsprogramm an, das versucht, die Entwicklung real fungierender Weltvorstellungen mit der Entwicklung des Gesellschaftssystems und seiner Umweltbeziehungen zu korrelieren. Im Raum des europäischen Gesellschaftssystems läßt sich ein Weltbegriff verfolgen, der mit deutlich lokalisierbaren Wendungen im 4. Jahrhundert vor Christus und im 18./19. Jahrhundert nach Christus sich von einem relativ konkret gemeinten Begriff für Ordnung zu einem universalen, »mundanen« Konzept der Realitätsgesamtheit und schließlich bis zum modernen Begriff eines offenen Möglichkeitsraums entwickelt und damit von Bestimmtheit zu Unbestimmtheit tendiert.45 Im gleichen Entwicklungsgang wird das Gesellschaftssystem selbst durch Änderung seiner Differenzierungsformen komplexer. Damit nimmt sowohl dessen Ausdifferenzierung als spezifisch soziales System aus der Umwelt als auch die für die Gesellschaft bestimmbare Komplexität dieser Umwelt zu mit der Folge, daß übergreifende Weltvorstellungen generalisiert 50werden müssen.46 Die heutige Weltgesellschaft hat in all diesen Richtungen Extremwerte erreicht: Sie faßt alles sozial über Kommunikation erreichbare Erleben und Handeln zu einem Sozialsystem zusammen, neben dem es keine anderen (unerreichbaren) Gesellschaften mehr gibt. Sie präsentiert sich im physisch-chemischen, organischen und personalen Bereich eine Umwelt von äußerster Komplexität mit je teilsystemspezifisch relevanten Facetten. Die große, im alltäglichen Leben durchgehend brauchbare Einigungsformel dafür ist die Weltform Raum, die die Struktur von Komplexität auf der Basis der Einheit des Punktes oder der Stelle genau wiedergibt: Eine unendliche Vielfalt kombinatorischer Möglichkeiten, die aber von jedem Standpunkt aus durch Bewegung nur sehr begrenzt, nur sehr selektiv genutzt werden kann.47

All dies läßt sich nur noch in einem Weltbegriff zusammenfassen, der mit der Kontingenz der Realität zusammenfällt und das Unbestimmtheitskorrelat aller Bestimmungen bedeutet. Nur in dieser Gesellschaft kann ein Begriff der Komplexität artikuliert werden, der alle Bestimmungen relativiert und Kontingenz nur über Relationierung von Relationen limitiert.

51(6) In ältere Vorstellungen über Weltkomplexität als rationabilis varietas waren Maßstäbe der Perfektion und der Rationalität eingebaut, die zugleich in der Form eines Kapazitäts- oder Potenzbegriffs unter dem Titel »Vernunft« vertreten wurden. Mit den begrifflichen Dispositionen, die in den vorangegangenen Abschnitten angedeutet wurden, gehen die traditionellen Prämissen und Anschlüsse für Vernunft verloren. Besonders Jürgen Habermas befürchtet, daß dies ein ersatzloser Verlust, ein Verzicht zu Gunsten rein technischer Rationalität werden könne.48 Aber auch technische Rationalität im Sinne eines bestimmten Anforderungen genügenden Arrangements von Zwecken und Mitteln ist auf den angegebenen Grundlagen nicht leicht zu rekonstruieren – zumindest nicht ohne Einführung weiterer einschränkender Annahmen über Systemstrukturen.49 Beide Aspekte müßten Anlaß genug sein, den Begriff der Rationalität neu zu durchdenken.

Wir greifen zunächst zurück auf die eingangs gestellte Frage, ob es um die Einheit des Komplexen selbst gehe. Wird diese Frage im Sinne der complexio contingens gestellt – so Habermas auf dem Gebiet der Interessen und der kommunikativ aufgestellten Geltungsansprüche –, dann kommt es darauf an, die Einheit in den implizierten Notwendigkeiten zu finden, die mit aller Kontingenz mitbehauptet werden müssen; denn »si aliquod ens est contingens, ergo aliquod ens est necessarium«.50 Die Einheit des Komplexen, die »kollektive Identität« wird in ihrer selbstimplikativ erfahrbaren Notwendigkeit52 begründet.51 Nach allen Erfahrungen mit Scholastik und Transzendentalphilosophie weiß man jedoch, daß solche Denknotwendigkeiten nicht in Richtung Erde zu bewegen sind.52

Sieht man die Einheit des Komplexen als zweiseitig variable Relation, erfordert das andere Relationen, um den offenen Variationsspielraum zu limitieren. Das aber heißt: Das Komplexe ist nur eine in relationaler Hinsicht bestimmbare Einheit: ein System nur in bezug auf seine Umwelt, die Umwelt nur in bezug auf das System. Ist Komplexität schon in sich selbst ein nur relational zu begreifender Sachverhalt, so geht es jetzt um Relationierung der Relationen. Die in sich selbst offenen Relationen zwischen möglichen Elementmengen und möglichen Ordnungen werden ihrerseits begrenzt (was nicht notwendig heißt: auf Notwendiges reduziert), wenn man sie auf Bedingungen der Kompatibilität mit einer Umwelt bezieht. Nicht jede denkbare Konstellation von Elementen und strukturierenden Ordnungen ist auch in bezug auf eine Umwelt möglich. Die Umwelt »verlangt« sozusagen, von internen Reduktionen und Mengensteigerungen in spezifischer Weise Gebrauch zu machen, und zwar deshalb, weil die Umwelt komplexer ist als das System. Die Komplexität der Umwelt läßt sich zu der des Systems nicht auf beliebige Weise in Beziehung setzen, weil sie anders gebaut ist; weil sie keine Grenze hat, statt dessen aber durch Horizonte strukturiert ist, 53die zwischen relevanter Bestimmbarkeit und unbestimmten, als irrelevant unterstellbaren weiteren Möglichkeiten differenzieren; weil sie dadurch schärfere Selektivität der für das System relevanten Ereignisse und zugleich mehr Möglichkeiten bei geringeren Anforderungen an die Gesamtordnung vorsehen kann.

Im Begriff der Komplexität ist demnach eine Struktur gegeben, die sie mit bekannten Modellen der Rationalität vergleichbar macht. Gerechtigkeit war immer schon nicht die bloße Maximierung einer Wertbeziehung, sondern eine Beziehung solcher Beziehungen. Auch die ökonomische Rationalität ist in der Neuzeit in diesem Sinne transformiert worden; es geht ihr nicht um maximale Erträge bei der Ausbeutung von Ressourcen und nicht um Minimierung des Aufwandes eigener Mittel, sondern um eine Relation des Vergleichs verschiedener Relationen zwischen Aufwand und Ertrag: um optimale Wirtschaftlichkeit.53 Beide Modelle verlagern die Formel für Rationalität auf die Ebene der Relationierung von Relationen, wo sie mit rationalen Unentscheidbarkeiten in den Einzelrelationen kompatibel wird; denn bekanntlich ist, wie eine lange Tradition von Bemühungen lehrt, weder das Prinzip der Gerechtigkeit noch das Prinzip der Wirtschaftlichkeit hinreichende Bedingung für eine Deduktion von Entscheidungen. Die gleiche Verschiebung mit den gleichen Folgen versucht im Bereich des Kommunikationsmediums Wahrheit die funktionale Analyse zu erreichen. Ihre eigene Rationalität hat sie nicht in den Erklärung oder Prognose tragenden Primärrelationen kausaler oder korrelativer Art, sondern in einer Relation zwischen 54solchen Relationen, in ihrem Vergleich. Auch hier kann daraufhin das Folgeproblem rationaler Unentscheidbarkeiten ausgearbeitet werden.54

Solche Koinzidenzen sind, soziologisch gesehen, kein Zufall, sondern Symptome für Funktionsanpassungen in gesellschaftlichen Teilsystemen an die zunehmende Komplexität des Gesellschaftssystems. Eine allgemeine Theorie der Gesellschaft oder gar eine allgemeine Theorie komplexer Systeme wird heute dahinter nicht zurückbleiben dürfen, sondern wird versuchen müssen, entsprechende Rationalitätsanforderungen unabhängig von spezifischen gesellschaftlichen Funktionsbereichen wie Politik und Recht, Wirtschaft oder Wissenschaft am Begriff der Komplexität zu formulieren.

Sicher kann das Problem nicht in der Weise gelöst werden, daß man nun Komplexität selbst für rational hält oder gar annimmt, der Weltlauf erreiche durch Steigerung von Komplexität auf naturgesetzliche Weise höhere Rationalität. Man kann geringere bzw. höhere Komplexität nicht einfach mit geringerer und höherer Rationalität gleichsetzen. Jedes Entwicklungsniveau von System/Umwelt-Beziehungen hat spezifische Chancen der Rationalität, je nachdem, wie die Komplexitätsdifferenz55 zur Umwelt behandelt wird. Das Problem der Rationalität liegt letztlich in der Verknüpfung von Selektionen, und der Bedarf dafür variiert mit der Komplexität des Systems.

Wie seit Durkheim oft betont, sind für archaische Gesellschaften mythische und magische Formen der Umweltbehandlung nicht weniger rational als für komplexere Gesellschaften Logik und Technik. Der Vergleichspunkt dürfte in der eigentümlichen Struktur von Komplexität liegen, nämlich darin, daß Wachstum Selektionsbedarf steigert und daß dieser in einer Weise gesteuert werden muß, die zwar größenabhängig bleibt, aber durch das Wachstum allein nicht vorgeschrieben ist. Offene Relationalität ist also nur der Rahmen für Rationalitätsbedingungen. Man verfehlt das Thema der Rationalität, wenn man diese Struktur verkennt. Aber die Rahmenbedingung allein garantiert nicht, daß Strukturen und Prozesse den Titel der Rationalität verdienen. Sie ist eher ein Suchmuster für das Aufspüren sinnvoller Anforderungen an und Beschränkungen auf Formeln für Rationalität.

Reformulierungen des Rationalitätsbegriffs, die hier anschließen, müßten es sich also vornehmen, Selektionsleistungen kritisch zu thematisieren. Das kann sowohl auf struktureller als auch auf prozessualer Ebene geschehen und führt entsprechend zu Theorien über Systemrationalität bzw. Entscheidungsrationalität. Hoher Komplexität und struktureller Selektivität wird ein Rationalitätsbegriff am besten gerecht, der auf die Konsistenz zahlreicher Selektionsleistungen abstellt. Wenn nämlich, und das sieht man am Begriff der Komplexität, im Prozeß des Wachstums strukturell erforderliche Selektionsleistungen sich verschärfen und die Negierbreite aller Selektionen zunimmt, wird deren Konsistenz problematisch. Über Techniken der Rationalisierung müssen dann diese durch den Strukturwandel anfallenden 56Folgen kompensiert werden, zumindest in einem Umfang, der dem System weiterhin einen Ausgleich heterogener Umweltbeziehungen ermöglicht.55 Dafür ist nicht die Identität des jeweils Bevorzugten oder dessen Begründung durch immer gleiche Werte entscheidend, sondern die Konsistenz der Negationsleistungen: daß man nicht abweist oder verbaut, was man im nächsten Moment doch wollen möchte oder anerkennen muß.

In entscheidungstheoretischen, organisationstheoretischen, politologischen oder planungstheoretischen Überlegungen deuten sich Fragestellungen bereits an, die sich hier einbauen und auswerten ließen. Aber fertige Konzepte liegen nicht vor. Wenn man von Erhöhung des Werteberücksichtigungspotentials der Entscheidung spricht, scheint dies gemeint zu sein. Dabei geht es letztlich um die Frage, ob und wie sich Entscheidungen noch ermöglichen lassen, wenn man die Zahl der Beschränkungen (»constraints«) erhöht, denen sie genügen müssen.56 Andere Überlegungen beziehen sich auf Techniken des gestuften Zugriffs auf große Entscheidungsmengen durch Entscheidung über Entscheidungsprämissen. Dieser Zugriff kann in der Wahl von mit rationalem Entscheiden57 kompatiblen Organisationsstrukturen, aber auch in der Wahl von Entscheidungsstrategien liegen.57 Er hat seine eigene Rationalität in dem Umfange, in dem er die Konsistenz künftigen Entscheidens sicherstellt, ohne die Entscheidungen selbst antizipieren zu können. Die gleiche Funktion erfüllen auf ganz andere Weise Vorsichtsstrategien, wie sie besonders in der Gerichtspraxis üblich sind: Unter Entscheidungszwang gesetzt, muß man hier versuchen, den Bindungs- und Ausschließungseffekt der Fallentscheidung zu minimieren, also den Anteil an Nichtentscheidung im Entscheiden zu erhöhen, um so Konsistenz mit unübersehbaren künftigen Entscheidungsanforderungen wahrscheinlicher zu machen.58 Eine offene Frage ist schließlich, ob nicht auch opportunistische Entscheidungsstrategien, die sich auf einen (kontrollierten) Wechsel der Ziele, Werte, Präferenzen einstellen, Anerkennung als rational verdienen in dem Maße, als es gelingt, den Wechsel der relativen Prioritäten selbst als konsistent praktiziertes Verfahren durchzuführen.

58Gemeinsame Komponente dieser höchst verschiedenartigen Rationalitätskonzepte ist eine Mehrstufigkeit des Ansatzes, die die Analyse befähigen soll, Kriterien der Selektion von Selektionen von den (wie immer lobenswerten) Selektionsintentionen zu unterscheiden, ohne diese dadurch zu »entwerten«. Das ist ein Fortschritt, zunächst ein Fortschritt an Theoriekomplexität gegenüber Versuchen von Max Weber und Karl Mannheim, Formen der Rationalität nur zu typisieren und gegeneinander abzugrenzen im Sinne von formaler/materialer oder funktioneller/substantieller Rationalität.59

Wenn Konzepte der Rationalität mehrstufig gedacht sind und die in der Intention liegende Begründungsrationalität transzendieren, lassen sie sich zurückbringen in den Kontext der soziologischen Einsicht (die Parsons Hobbes zuschreibt), daß Rationalität auf der Ebene individuellen Handelns und Entscheidens nicht zureichend gesichert werden kann, sondern sozusagen als Qualität der Ordnung »emergent property« eines sozialen Systems ist.60 Dies gilt auch und erst recht in Gesellschaften, die die gesellschaftsstrukturelle Relevanz individuellen Entscheidens (individueller Glaubensentscheidung, individueller Kapitalinvestition, individueller Wahl unter mehreren politischen Programmen und Parteien) akzentuieren. Diese Individualisierung von Selektionen mit bleibender gesellschaftsstruktureller Relevanz ermöglicht ein Abstrakterwerden der Elemente, aus denen das Gesellschaftssystem59 gebildet wird, und damit eine Steigerung des Auflösevermögens nach innen – des Auflösevermögens in bezug auf allzu kompakte Sinnträger. Sie steigert in ihrer Funktion die Komplexität des Gesellschaftssystems. Individualisierung beruht in dieser ihrer Funktion nicht darauf, daß »vernünftige« Vorstellungen über kollektive Identität in den Köpfen der Individuen ausgebildet werden; sie macht es aber möglich, ja drängt es auf, hierin ein Problem und ein Desiderat zu sehen.

Verwendet man »Komplexität« als kontextierenden Begriff, in dessen Rahmen Rationalität sich zu profilieren hat, tritt diese individualisierende (oft auch »subjektive« genannte) Begründung von Rationalität zurück; sie wird nicht annulliert, aber in einem Sinne aufgehoben, der sie als Antwort auf gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen verständlich macht. Der Bezug auf Komplexität übernimmt dann zugleich die Aufklärung über Rationalität, und dies in doppeltem Sinne: (1) strukturell durch Klärung formaler Isomorphien zwischen der relationalen Struktur von Komplexität und den Rationalitätskonzepten; und (2) funktional dadurch, daß Komplexität als Bezugsproblem dient, im Hinblick auf welches Anforderungen an Rationalisierungsleistungen geklärt und historisch variiert werden können.

2. Prozeß und Struktur

Wenn wir den Begriff der Komplexität anreichern durch die Zeitdimension, gewinnen wir die Differenz von Prozeß und Struktur.

Der Prozeßbegriff bezeichnet die Zeitform einer Relation in dem Sinne, daß sie Relation ist, obwohl die Elemente, die verknüpft werden, nicht im gleichen Zeitpunkt auftreten, 60sondern eines vor (bzw. nach) dem anderen. Prozesse sind also Relationen, die in der Lage sind, Zeitdistanzen zu überbrücken. Die in Prozessen fungierenden Elemente nennen wir »Ereignisse«. Elemente sind Ereignisse nur dank ihrer Stellung im Prozeß, das heißt nur mit Bezug auf das, was sich vor ihnen und was sich nach ihnen ereignet. Ähnlich wie in der statischen Betrachtungsweise Elemente keine Qualität haben, es sei denn durch selektive Realisierung einiger der zwischen ihnen abstrakt möglichen Relationen, sind auch Ereignisse qualitativ unterscheidbar nur im Verlauf von Prozessen, die sie als selektiv konstituieren und verknüpfen. Dabei lassen sich weder Ereignisse von Prozessen noch Prozesse von Ereignissen trennen. Deshalb hat es keinen Sinn, die Frage weiter zu verfolgen, ob die Ereignisse oder die Prozesse das Primäre sind. Entscheidend ist, daß Selektivität in einem zeitbezogenen Sinne nur als Prozeßzusammenhang von Ereignissen konstituiert werden kann. Dadurch wird Kontingenz als Prozeß an Ereignissen sichtbar.

Zeitabhängigkeit besagt, daß Prozeßrelationen vergehen. Ihr Bestand kann nur durch Wiederholung, durch Reproduktion in einem anderen Zeitpunkte sichergestellt werden. Ereignisse sind demnach »einmalig« in einem Sinne, der ihre Wiederholbarkeit nicht ausschließt, sie aber von besonderen Bedingungen abhängig macht. Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten beurteilt, hat Prozeßwiederholung im Vergleich zu bloßem Kontinuieren die größere Anpassungselastizität: Durch Transformation von Bestands- in Reproduktionsprobleme gewinnt ein System die Chance der Wahl des Zeitpunkts und der Bedingungen und Modalitäten für die Lösung von Systemproblemen im Hinblick auf wechselnde Umweltlagen. Auch wenn die Wiederholung – zum Beispiel der Nahrungsaufnahme durch einen Organismus – erhaltungsnotwendig ist, erreicht das System auf diese Weise 61durch Disposition über Zeit höhere Kompatibilität mit komplexen Umweltzuständen. Systemkomplexität wird zum Teil in die Zeit, in die Verschiedenartigkeit des Nacheinander verlagert, und dadurch kann das System sich auf eine komplexere Umwelt einstellen.

Man kann Systeme als Gesamtheit all ihrer Prozesse beschreiben. Die Prozeßlage definiert dann den jeweiligen Systemzustand und ändert sich von Ereignis zu Ereignis.61 Da Prozesse in Systemen sich aufeinander beziehen, also Relationen bilden und im Hinblick auf Relationierbarkeit selektiert werden, entstehen mit Systembildung abstraktere Muster der Beziehungen zwischen Prozessen (die als solche schon Relationen zwischen Elementarereignissen sind). Prozesse werden zu »Mechanismen« in dem Maße, als sie in solch einem Beziehungsgefüge für andere Prozesse verläßlich ablaufen. Die zwischen Prozessen bestehenden Beziehungen (die in sozialen Systemen zum Beispiel deren Erwartbarkeit gewährleisten) nennen wir Strukturen. Strukturen erfordern, da sie Prozesse überdauern müssen, um sie auswählen zu können, andere Beziehungen zur Zeitdimension als Prozesse. Normalerweise wird gesagt, Strukturen seien im Vergleich zu Prozessen relativ konstant. Systemtheoretisch interessiert jedoch weniger die bloße Konstanz der Strukturen im Verhältnis zu den Prozessen, also die bloße Tatsache, daß es vergleichsweise länger dauert, bis Strukturen sich ändern. Wichtiger ist, daß genau dieser Umstand Konsequenzen hat für die Beziehungen zur Zeit und für die Beziehungen zur Umwelt.

62Im Verhältnis zur Zeit bedeutet die relative Konstanz der Strukturen, daß Strukturen chronologisch sozusagen überlappen. Anders als Ereignisreihen erhalten sie ihren Sinn nicht aus der Sequenz, in der sie sich ablösen, sondern sie schieben sich übereinander, synchronisieren sich und machen dadurch Gleichzeitigkeit möglich, und dies im Prinzip unabhängig von der Länge ihrer Dauer.62 Sie unterscheiden sich von Ereignissen durch die Bezugspunkte ihrer Selektivität.63 Dies zeigt sich auch in den Beziehungen der Differenz von Prozeß und Struktur zu der Umwelt des Systems, um dessen Prozesse und Strukturen es jeweils geht. Für die Aktivierung von Prozessen sind andere, häufigere, rascher wechselnde Ereignisfrequenzen in der Umwelt erforderlich als für die Erhaltung bzw. Änderung von Strukturen. Nur wenn die Umwelt selbst hinreichend differenzierte Frequenzen aufweist, können sich Systeme bilden, die Struktur und Prozeß differenzieren und damit entsprechend unterschiedliche Ereigniskomplexe ihrer Umwelt ansprechen und ausnutzen. Diese schon recht komplizierte Beziehung zwischen internen und externen Zeitverhältnissen ist Voraussetzung dafür, daß Systeme von Punkt-für-Punkt-Korrelationen mit Ereignissen ihrer Umwelt relativ unabhängig werden. Auf der gleichen Voraussetzung beruht jeder Versuch einer teleologischen oder quasiteleologischen »Erklärung« des Systemverhaltens; er setzt nämlich zumindest dies voraus, daß Zwecke oder 63sonstige Sollwerte eine geringere Zeitempfindlichkeit in bezug auf die Umwelt haben als andere zu erklärende oder zu prognostizierende Aspekte des Systems.64

Einen weiteren Zugang zum Strukturproblem finden wir, wenn wir genauer analysieren, was als Einheit eines Prozesses gemeint sein könnte. Werden Prozesse in der angegebenen Weise als Relationen zwischen zeitverschiedenen selektiven Ereignissen definiert, abstrahiert der Prozeßbegriff vom klassischen Merkmal der Kontiguität, vom Merkmal der kontinuierlichen, jeweils unmerklich-unmittelbar anschließenden Bewegung und damit von der Metapher des »Flusses«. Flüsse oder Bewegungen sind Prozesse besonderer Art, die für soziale Systeme kein ausreichendes Prozeßmodell abgeben. Auf den für soziale Systeme spezifischen Prozeßbegriff »Kommunikation« werden wir weiter unten65 zurückkommen. Schon hier sei aber klargestellt, daß dieser Systemtyp, der Kommunikation als Prozeßform verwendet und gerade dadurch höhere Freiheitsgrade in der Einstellung auf Umwelt erreicht, einen Prozeßbegriff erfordert, der von Kontiguität abstrahiert und statt dessen das abstraktere Merkmal des Zeitbezugs der Selektionen verwendet. Das bedeutet einerseits, daß die unmittelbar anschauliche Verlaufseinheit nicht mehr gegeben ist und die Prozeßeinheit nur noch mit Hilfe eines Strukturverständnisses identifizierbar ist. Ein Erziehungsprozeß etwa ist nur in diesem Sinne »ein« Prozeß, als er eine Vielzahl von Lernereignissen, die durch Ereignisse anderer Art unterbrochen 64werden, unter dem Gesichtspunkt einer Funktion zusammenfaßt. Andererseits ermöglicht genau dieser Typus intermittierender Prozesse mehr Verknüpfung, also höhere Komplexität in einem System, als wenn Anschlußselektionen nur sofort – oder überhaupt nicht erfolgen könnten.

Danach ist es eine in unserem Prozeßbegriff offengelassene Frage, wieviel Zeit von einem selektiven Ereignis zum anderen vergeht. Wir gewinnen damit die Möglichkeit, die Frage zu stellen, wie groß solche Zeitdistanzen werden können, ohne daß die Prozeßeinheit verlorengeht. Offensichtlich gibt es in der Interaktion unter Anwesenden sehr enge Grenzen der Erträglichkeit von Pausen, in denen überhaupt nichts geschieht, andererseits in Gerichtsverfahren oft sehr weite Zeitdistanzen zwischen einzelnen Terminen. Man kann ferner untersuchen, wie mit zunehmender Zeitdistanz der Direktionswert abnimmt, den Ereignisse füreinander haben, und wie diesem sozusagen naturzeitlichen Bedeutungsverlust durch Strukturierung der Prozesse entgegengewirkt werden kann.