Soziologie unter Anwesenden - Niklas Luhmann - E-Book

Soziologie unter Anwesenden E-Book

Niklas Luhmann

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Beschreibung

Im Jahr 1966 fällt der Startschuß für eine einzigartige Karriere in der deutschsprachigen Soziologie: Niklas Luhmann wird an der Universität Münster nicht nur promoviert und habilitiert, sondern beginnt auch umstandslos mit der Präsentation seines Programms einer Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Systemen. In nur vier Jahren entwirft er in beeindruckender Souveränität die Grundlagen seines Forschungsprogramms der nächsten Jahrzehnte. Die ausführlichen Vorlesungsskripte, die Luhmann beim Verfertigen seiner Theoriegrundlagen und ihrer ersten Anwendung auf Politik und Recht zeigen, werden hier erstmals aus dem Nachlaß publiziert.

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Cover

Titel

3Niklas Luhmann

Soziologie unter Anwesenden

Systemtheoretische Vorlesungen 1966-1970

Herausgegeben von Johannes F. K. Schmidt, Christoph Gesigora undAndré Kieserling

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2418

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77714-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

I

. Soziologische Aufklärung

1. Abklärung der Aufklärung

2. Soziologie als Aufklärung

2.1. Erklärung des Handelns durch inkongruente Perspektiven

2.2. Von Faktortheorien zu Systemtheorien

3. Erfassung und Reduktion von Komplexität

II

. Theorie sozialer Systeme

1. Einleitung

1.1. Gegenstand und Charakter der Vorlesung

1.2. Soziales System: Begriff und Erläuterung

1.3. Universalität der Theorie

1.4. Analytische und konkrete Systeme

2. Problemgeschichtliche Einführung

2.1. Theorie der Gesellschaft und Theorie des sozialen Systems

2.2. Handlungstheorien und Systemtheorien: das Problem der Ethik

2.3. Faktortheorien und Systemtheorien: das Problem der Kausalität

2.4. Zur funktionalen Methode

2.5. Zwischenfragen

3. Parsons im Überblick

3.1. Ableitung des

AGIL

-Schemas

3.2.

AGIL

-Schema als Theorie funktionaler Differenzierung

3.3. Generalisierung

3.3.1. Hierarchy of Control

3.3.2. Pattern Variables

3.3.3. Mediums of Communication (Steuerungssprachen)

3.4. Kritik

4. Vom ontologischen Systembegriff zur System/Umwelt-Theorie

4.1. Ontologischer Systembegriff

4.2. Gleichgewichtstheorien

4.3. Geschlossene und offene Systeme: zur »Allgemeinen Systemlehre«

4.4. Kybernetische Systemtheorie

5. Komplexität und Reduktion

5.1. Von der strukturell-funktionalen zur funktional-strukturellen Systemtheorie

Exkurs: Das Verhältnis zur Intersystem-Theorie Heinz Hartmanns

5.2. Begriff der Komplexität

5.3. Differenz von Innen und Außen

5.4. Problemverschiebung

6. Systemstrukturen

6.1. Struktur und Prozeß

6.2. Generalisierung von Verhaltenserwartungen

6.3. Recht und Organisation

6.4. Strukturelle Spannungen und Verhaltenslasten

7. Kommunikation

7.1. Prozeß als Kommunikation

7.2. Sprache

7.3. Reflexive Mechanismen

7.4. Übertragbarkeit von reduzierter Komplexität

8. Wandel der Systeme

8.1. Methodische Vorbemerkungen

8.2. Änderungen als Problem

8.3. Ereignisse und Bestände (Prozesse und Strukturänderungen)

8.4. Systemgeschichte und Systemzukunft

9. Differenzierung und Fortschritt

9.1. Einfache und komplexe Systeme

9.2. Segmentierende und funktionale Differenzierung

9.3. Differenzierung und Generalisierung

9.4. Evolution

10. Autonomie sozialer Systeme

10.1. Autarkie und Autonomie

10.2. Soziale Bedingungen: Umweltdifferenzierung

10.3. Sachliche Bedingungen: Differenzierung von Verkehrsebenen

10.4. Zeitliche Bedingungen: Differenzierung von Input und Output

10.5. Zusammenhang der Autonomiebedingungen

III

. Theorie der Gesellschaft

1. Einführung in die Problemstellung

1.1. Unsicherheiten der Gesellschaftstheorie

1.2. Gesellschaftstheorie als Prüfstein für die Systemtheorie

2. Geschichtliche Entwicklung der Gesellschaftstheorie

2.1. Alteuropäische Gesellschaftsphilosophie

2.2. Partielle Gesellschaftsbegriffe des 19.Jahrhunderts

2.3. Gesellschaft als Organismus

2.4. Parsons’ Gesellschaftsbegriff

2.5. Transzendentalphilosophie und das Problem der Intersubjektivität

2.6. Entsprechung von Denkgeschichte und Gesellschaftsstruktur

3. Gesellschaft als soziales System

3.1. Neuere Entwicklungen der Systemtheorie

3.2. Kontingenz und Komplexität

3.3. Grenzen der Gesellschaft: Stand der Diskussion

3.4. Sinn und Sinngrenzen

3.5. Funktion der Gesellschaft: Ausgrenzung unbestimmbarer Komplexität

3.6. Angstregulierung und Moral

3.7. Delegation von Gesellschaftsleistungen auf Teilsysteme

3.7.1. Recht

3.7.2. Wahrheit

3.7.3. Liebe

3.7.4. Macht

3.7.5. Wirtschaft

3.7.6. Zusammenfassung

4. Differenzierung der Gesellschaft

4.1. Was ist eigentlich Differenzierung?

4.2. Von segmentärer zu funktionaler Differenzierung

4.3. Einige Bedingungen und Folgeprobleme funktionaler Differenzierung

IV

. Organisationssoziologie

1. Einführung

1.1. Gegenstandsbereich

1.2. Allgemeine oder spezielle Soziologie?

1.3. Literatur

2. Geschichte des Fachs

2.1. System – Organismus – Organisation

2.2. Klassische Organisationslehre und betriebswirtschaftliche Weiterentwicklungen

2.3. Human-Relations-Bewegung und ihre sozialpsychologische Weiterentwicklung

2.4. Idealtypischer, strukturtheoretischer und systemtheoretischer Ansatz

3. Organisation als Systemstruktur

3.1. Formalisierung systemeigener Erwartungen

3.2. Mitgliedschaft als Rolle

3.3. Mobilität von Eintritt und Austritt

3.4. Mehrheit von Mitgliedschaften

4. Funktionen der Organisation

4.1. Umweltkomplexität und Systemkomplexität

4.2. Generalisierung von Verhaltenserwartungen

4.3. Systemdifferenzierung: vertikal und horizontal

4.4. Steigerung der Variabilität

4.5. Sicherung der Autonomie

4.6. Selektivitätsverstärkung

5. Folgeprobleme

5.1. Folgeprobleme im Verhältnis zu Nichtmitgliedern

5.2. Folgeprobleme im Verhältnis zu Mitgliedern

5.3. Strukturelle Spannungen und Verhaltensbelastungen

5.4. Regulierung von Enttäuschungen

6. Handlungsrationalität und Systemrationalität

6.1. Rationalität als Problem der Organisationssoziologie

6.2. Programmierung: Funktion und Typen

6.3. Zweckprogrammierung

6.4. Konditionale Programmierung

7. Organisationstypen

7.1. Bisherige Typologien und ihre Problematik

7.2. Typologie aufgrund der Bedingungen der Abnahme des Ausstoßes

8. Organisation als gesellschaftliches Phänomen

8.1. Gesellschaft und Organisation

8.2. Familie und Organisation

V

. Einfache Sozialsysteme

Vorbemerkungen

1. Einführende Bemerkungen

2. Zur Geschichte der wissenschaftlichen Behandlung des Gegenstandes der Vorlesung

2.1. Gruppentheorie

2.2. Interaktionstheorie

3. Die soziologische Fragestellung

4. Strukturen und Leistungen

4.1. Anwesenheit als konstituierendes Merkmal einfacher Systeme

4.2. Identifizierbarkeit des Systems und seiner Grenzen

4.2.1. Wahrnehmung und thematische Zentralisierung

4.2.2. Einige Folgerungen

4.2.3. Sonderproblem der Systemkontinuität

4.3. Strukturbildung

4.3.1. Strukturbegriff

4.3.2. Strukturbildung als historischer Prozeß

4.3.3. Andere Strukturtypen

4.4. Systemprobleme

4.4.1. Problem der Differenz von Struktur und Thema

4.4.2. Problem des gemeinsamen Tempos

4.4.3. Problem der Selbstdarstellung

5. Kommunikation

6. Soziale Kontrolle

VI

. Politische Soziologie

Vorbemerkungen

1. Grundbegriffliche Orientierung

1.1. Die Besonderheit einer soziologischen Betrachtung von Staat und Politik

1.2. Zur Theorie des sozialen Systems

1.3. Soziale Komplexität

1.4. Funktion und Stellung des politischen Systems

1.5. Politik in der Gesellschaft und in anderen Sozialsystemen

2. Das politische System der Gesellschaft

2.1. Vertikale Ausdifferenzierung des politischen Systems: Herrschaft

2.2. Horizontale Ausdifferenzierung des politischen Systems: Funktionale Spezifizierung

Exkurs: Soziologische Parameter bei der Bonner Koalitionsbildung

2.3. Zur Geschichte einiger Begriffe der politischen Theorie

2.4. Legitimität

2.5. Politik und Verwaltung

2.5.1. Der institutionelle Anblick: Gewaltenteilung

2.5.2. Der Sinn der Trennung von Politik und Verwaltung

2.6. Analytisches Modell des politischen Systems

2.6.1. Sinn und Grenzen des Modells

2.6.2. Ebene der Ausdifferenzierung

2.6.3. Systemvergleich unter dem Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung

2.6.4. Allgemeine Erläuterung des Modells

2.6.5. Kommunikationskreislauf

2.6.6. Umweltlage und Autonomie der Teilsysteme

3. Verwaltung

3.1. Funktion und Ausdifferenzierung der Verwaltung

3.1.1. Funktion der Verwaltung

3.1.2. Webers Idealtypus der Bürokratie

3.1.3. Die Deutung der Systemtheorie

3.2. Autonomie des Verwaltungssystems

3.2.1. Personal, Politik, Publikum

3.2.2. Entscheidungszeit und Wartebereitschaft

3.3. Rationalität und Opportunität

3.3.1. Steigerung der Kommunikationsleistung

3.3.2. Entscheidungsprogramme

3.3.3. Programmatik und Opportunismus

4. Politik

4.1. Funktion und Umweltlage der Politik

4.1.1. Politische Prozesse, Parteien

4.1.2. Mobilisierung von Entscheidungsprogrammen und politischer Unterstützung

4.1.3. Einfluß auf Verwaltung und Publikum

4.1.4. Instrumentelle und expressive Funktion

4.1.5. Innenkomplexität der Politik

4.1.6. Theorie der Repräsentation

4.2. Parteiensysteme

4.2.1. Bezugsproblem: Reduktion politischer Komplexität

4.2.2. Mehrparteiensysteme

4.2.2.1. Grundformen

4.2.2.2. Sonderformen

4.2.3. Einparteiensysteme

4.2.3.1. Prototyp

4.2.3.2. Varianten

5. Publikum

5.1. Vorbemerkungen zur Forschung

5.2. Ausdifferenzierung und Innendifferenzierung von Publikumsrollen

5.2.1. Ausdifferenzierung von Publikumsrollen

5.2.2. Differenzierung der Publikumsrollen

5.3. Politische Publikumsrollen

5.3.1. Konzept der Repräsentation

5.3.2. Innendifferenzierung der politischen Publikumsrollen

5.3.2.1. Passive Rollen: Zuschauer

5.3.2.2. Aktive Rollen: Interessenartikulation und politische Unterstützung

VII

. Hauptprobleme politischer Theorie

Vorbemerkungen über Absicht und Charakter der Vorlesung

1. Politik

1.1. Begriff der Politik

1.2. Theoretische Anschlußstellen

2. Staat und politisches System

2.1. Begriff des Staates

2.2. Begriff des politischen Systems

2.2.1. Verhältnis von Politik und Gesellschaft

2.2.2. Verzicht auf die Humanität der abendländischen Tradition

3. Politik und Verwaltung

3.1. Politisches System

3.2. Verwaltung

3.3. Politik im engeren Sinne

3.4. Die Ebene des gesamten politischen Systems

4. Öffentliche Meinung

4.1. Konzepte der politischen Öffentlichkeit

4.2. Öffentliche Meinung als Kommunikationsprozeß

5. Demokratie

5.1. Der traditionelle Begriff der Demokratie

5.2. Ein Systemkonzept der Demokratie

5.2.1. Problem der strukturellen Variabilität

5.2.2. Systemvergleich

5.2.3. Systemkritik

6. Rechtsstaat

6.1. Gesellschaftliche Problemlagen

6.2. Soziologische Kritik des Rechtsstaatsgedankens

7. Opposition

7.1. Stand der Diskussion

7.2. Kritik und Opposition

8. Kreislauf der Macht

8.1. Prämissen der klassischen Theorie der Macht

8.2. Macht und Gegenmacht

9. Legitimität und Rationalität

9.1. Klassisches Begriffsverständnis

9.2. Systemtheoretische Umstellungen

VIII

. Rechtssoziologie

Einführung

1. Absicht, Vorstellungsbereich, Gliederung der Vorlesung

2. Literatur

3. Ansatz und Grenzen der Rechtssoziologie

1. Geschichte und Forschungsstand der Rechtssoziologie

1.1. Vom Naturrecht zur Rechtssoziologie

1.2. Klassische Ansätze der Rechtssoziologie

1.2.1. Karl Marx (1818-1883)

1.2.2. Henry Sumner Maine (1822-1888)

1.2.3. Émile Durkheim (1858-1917)

1.2.4. Max Weber (1864-1920)

1.2.5. Talcott Parsons (1902-1979)

1.2.6. Zusammenfassung der klassischen Rechtssoziologie

1.3. Soziologische Jurisprudenz

1.3.1. Frankreich

1.3.2. Interessenjurisprudenz (Deutschland und

USA

)

1.3.3.

Sociological jurisprudence

und

legal realism

(

USA

)

1.3.4. Freirechtslehre (Deutschland und Österreich; insbesondere Eugen Ehrlich)

1.4. Juristische Institutionenlehre

1.5. Heutige Bemühungen

2. Rechtsbildung: Grundlagen einer soziologischen Theorie

2.1. Komplexität, Kontingenz und Erwartung von Erwartungen

2.2. Kognitive und normative Erwartungen

Exkurs: Die moralischen Grundlagen der Geisteskrankheit

2.3. Abwicklung von Enttäuschungen

2.4. Institutionalisierung

2.5. Identifikation von Erwartungszusammenhängen

2.6. Recht als kongruente Generalisierung

2.7. Struktur und abweichendes Verhalten

3. Recht als Struktur der Gesellschaft

3.1. Sozialsystem und Gesellschaft

3.2. Grundzüge der Evolution von Gesellschaft und Recht

Exkurs: Theorie des Verfahrens

3.3. Archaisches Recht

3.3.1. Charakteristische Probleme und Problemlösungen

3.3.2. Überleitung zum Recht der Hochkulturen

3.4. Recht der vorneuzeitlichen Hochkulturen

3.4.1. Entwicklungsbedingungen hochkultivierten Rechts

3.4.2. Gerichtsverfahren als sozialer Mechanismus der Rechtsbildung

3.4.3. Juristenrecht

3.4.4. Naturrecht und Gerechtigkeit

3.5. Übergang zu positivem Recht

4. Positives Recht

4.1. Begriff und Funktion der Positivität

4.2. Ausdifferenzierung und funktionale Spezifikation

4.3. Konditionale Programmierung

4.4. Trennung von programmierendem und programmiertem Entscheiden

4.5. Risiken und Folgeprobleme der Positivierung

4.6. Möglichkeiten sozialer Kontrolle des Rechts

Anhang

Die Lehrveranstaltungen Niklas Luhmanns von 1966 bis 1970

Wintersemester 1966/67 (Universität Münster)

Sommersemester 1967 (Universität Münster)

Wintersemester 1967/68 (Universität Münster)

Sommersemester 1968 (Universität Münster)

Wintersemester 1968/69 (Universität Münster)

Wintersemester 1968/69 (Universität Frankfurt am Main)

Sommersemester 1969 (Universität Münster)

Wintersemester 1969/70 (Universität Bielefeld)

Editorische Notiz

1. Der historische Kontext der frühen Vorlesungstätigkeit

2. Die Editionsleitlinien

3. Erläuterungen zu den einzelnen Vorlesungsskripten

Nachwort

Lehrer Luhmann von

André Kieserling und Johannes F.K. Schmidt

1. Die Pädagogik der Redundanz

2. Zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation

Danksagung

Fußnoten

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I. Soziologische Aufklärung

Antrittsvorlesung, 25.1.1967 Westfälische Wilhelms-Universität Münster

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1. Abklärung der Aufklärung

Das Thema »soziologische Aufklärung« lebt von einer inneren Spannung. Man findet zuweilen, daß die Soziologie ihrem Wesen und ihrer Zielsetzung nach als Aufklärung gekennzeichnet wird. Karl Mannheim hatte sozialwissenschaftliche Planung als Fortsetzung der Aufklärung begriffen.[1]  Ralf Dahrendorf hat zum Beispiel ein Buch über die amerikanische Soziologie sogar mit »Die angewandte Aufklärung« betitelt.[2]  Und Arnold Gehlen sieht in der sozialen Wirklichkeit Spuren der Aufklärung, die nach dem Verlust ihrer Prämissen gleichsam blind weiterläuft.[3]  Die Grenzen des Aufklärungsgedankens werden jeweils gesehen, die Kosten werden aber nicht gegengerechnet. Lieber distanziert man sich von den Prinzipien und dem spezifischen Ethos der Aufklärung.

Eine solche Auffassung hat etwas Gewagtes, Einseitig-Auswählendes, Nichtselbstverständliches. Sie zieht etwas zusammen, was zunächst als eine historische Differenz bewußt ist. Wir sind es gewohnt, die Unternehmungen des denkenden Menschentums, die wir Aufklärung und Soziologie nennen, verschiedenen Epochen zuzuordnen: Aufklärung – das ist das Streben, die menschlichen Verhältnisse frei von allen Bindungen an Tradition und Vorurteil aus der Vernunft neu zu konstruieren; das sind Bemühungen, die ihren Höhepunkt im 18.Jahrhundert hatten und die danach rasch einer skeptischen Abwertung verfielen. Soziologie – das ist eine positive Wissenschaft, die sich um die Feststellung sozialer Fakten und Verhaltensgesetzlichkeiten bemüht, eine Wissenschaft, die im 19.Jahrhundert nach dem Zusammenbruch der Aufklärung auflebt und erst im 20.Jahrhundert eine eigene Theorie zu finden sucht.

Fäden der Kontinuität lassen sich gewiß aufspüren, besonders im 19.Jahrhundert. Nennen könnte man hier zum Beispiel das Wissenschaftsvertrauen, ein pragmatischer Optimismus und ein 10sozialreformerischer Wille. Aber sie sind jetzt in ganz andere Muster eingewoben. Sozialreformerische Bemühungen zum Beispiel knüpfen an die Folgeprobleme einer neuen Sozialordnung an, begreifen sich von ihr her und finden darin keine Basis für eine ebenbürtige Auseinandersetzung mit der alteuropäischen Tradition der politisch-gesellschaftlichen Philosophie oder auch nur mit der Aufklärung.

Der Traditionsbruch an der Wende vom 18. zum 19.Jahrhundert war radikal. Er ließ weder Zeit, noch bot er Gelegenheit zu einer Abklärung der Aufklärung. Wenn ich gleichwohl meine Überlegungen unter dem Titel »Soziologische Aufklärung« vortrage, so bitte ich Sie, das nicht im Sinne einer historischen Spurenforschung zu verstehen. Weder ist die Aufklärung Vorläufer und Wegbereiter der Soziologie, noch finden sich in der Soziologie aufklärerische Spätzündungen. Vielmehr scheint mir die Soziologie gerade das zu sein und zu leisten, was wir vermissen und versäumt glaubten: eine Abklärung der Aufklärung. Soziologie ist nicht angewandte, sondern abgeklärte Aufklärung, sie ist der Versuch, der Aufklärung ihre Grenzen zu gewinnen.

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2. Soziologie als Aufklärung

Ein aufklärerischer Grundzug der Soziologie tritt an mehreren für das Fach zentralen Stellen besonders deutlich hervor. Ich erwähne nur zwei, die ich ausführlicher erörtern möchte: Erstens den Versuch, menschliches Handeln durch inkongruente Perspektiven zu erklären, und zweitens den Übergang von Faktortheorien zu Systemtheorien.

2.1. Erklärung des Handelns durch inkongruente Perspektiven

Für alle Bemühungen der alteuropäischen »Praktischen Philosophie« war die Absicht bezeichnend gewesen, dem Handelnden sein richtiges Handeln vorzustellen. Die Homogenität der Perspektiven des Denkenden und des Handelnden wurde wie die Gemeinsamkeit der Welt und der Vernunft als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Wissenschaft wurde als ratgebende Wissenschaft gesehen: Sie sollte dem Handelnden seine wahren Zwecke erläutern, sie sollte ihm die richtigen Mittel zeigen, und sie sollte ihm dazu verhelfen, die rechte Grundverfassung (Tugend) zu erlangen. Sie sollte das so erläutern, daß der Handelnde danach handeln konnte. Die Bindungen an die engen pragmatischen Auslegungen des Handlungshorizontes wurden als Merkmal ihres Gegenstandes erlebt. Davon – und nicht etwa von Werturteilen schlechthin – macht die Soziologie sich frei.

Zunächst geschieht dies dadurch, daß sie eine eigentümlich verfremdende Erkenntnistechnik aufnimmt und sich zu eigen macht, die im 19.Jahrhundert aufkommt. Der Sinn des Handelns wird nicht mehr durch Versenkung in sein Wesen, sein telos geklärt, sondern im Gegenteil durch Anlegung eines diskrepanten, unangemessenen, fremdartigen Maßstabes. Kenneth Burke hat dafür die treffende Formel »perspective by incongruity« geprägt.[4]  Beispiele dafür sind die Ableitung des Denkens aus nicht mitgemeinten öko12nomischen Lebensbedingungen bei Karl Marx oder als Sublimierung eines fundamentalen Sexualtriebs bei Sigmund Freud. Oder Friedrich Nietzsches Verwendung einer unheiligen Symbolik zur Darstellung religiöser Verzweiflung. Oder die Romanthemen in der französischen und russischen Literatur, in der die Ehe als Institution an der außerehelichen Liebe gemessen wird und das religiöse Motiv am Verbrechen. Oder denken Sie an Oswald Spenglers Vergleich historisch entfernter Kulturen als »gleichzeitig«. Henri Bergson und Hans Vaihinger erläutern Begriffe und Abstraktionen durch Beziehung auf den Zeitfluß und als Verdeckung von Widersprüchen. Auch die verfremdenden Kunstrichtungen des 20.Jahrhunderts können genannt werden.

All das hat Erfolg, nicht nur populären Erfolg, sondern Erkenntniserfolg, ohne daß es gelänge, diesen Erfolg erkenntnistheoretisch nachzukonstruieren. Die Aufklärung dient nicht mehr der Ausbreitung von Vernunft und Tugend. Sie nimmt einen entlarvenden, diskreditierenden, zerstörenden Zug an. Und die Soziologie schwimmt ein gutes Stück mit in diesem Strom, kriecht hinter die offiziellen Fassaden, untersucht anrüchige Motive und zweite Absichten, latente Funktionen. Bei diesem Geschäft der Entlarvung entdeckt sie, daß die soziale Determination des Handelns sehr viel weiter reicht, als man gemeinhin angenommen hatte. Eine soziale Determination sitzt schon in den Wahrnehmungen und den Bedürfnissen, in den Mythen, in den Selbstmordziffern und im Konsum, in der Sprache selbst und erst recht in den Selbstverständlichkeiten der öffentlichen Moral. Durch so viel Determination verliert der gemeinte Sinn des Handelns sein kompaktes, undurchsichtiges und insofern wahrheitsfähiges Sein als etwas, das so ist und nicht anders. Durch so viel Aufklärung wird ein noch verborgenes Problem spürbar: die soziale Kontingenz der Welt. Alles könnte anders sein, anders gesehen werden, alles ist erlaubt.

Große Theorie ist jetzt nur noch möglich als Vorschlag zur Lösung dieses Problems – nicht als eine immer mehr entlarvende Aufklärung (die läuft von selbst), sondern als Durchblick auf die Grenzen der Aufklärung dieses neuen Stils, als Abklärung der Aufklärung. Ein symptomatischer Beleg dafür ist, daß die Soziologie genau hier, in der Suche nach einem Gegenhalt in der abrutschenden Aufklärung, ihren Weg als Fach von theoretischer Eigenständigkeit beginnt. Max Weber und Émile Durkheim lösen die 13Soziologie ab von ökonomischen, psychologischen, biologischen, universalhistorischen Ausgangsannahmen und begründen ihre Eigenständigkeit genau mit dem Gedanken, mit dem sie die entlarvende Aufklärung abbremsen.

Zunächst stehen für dieses Abfangen der Entlarvungsaufklärung nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung: subjektive und objektive Reduktion. Max Weber hält am subjektiv gemeinten Sinn des Handelns als einzig sicher gegebenem Faktum fest und versucht, daraus Idealtypen zu bauen. Émile Durkheim verdeckt die soziale Kontingenz der Welt durch seine These von der objektiven Dinghaftigkeit sozialer Tatsachen. Beides ist unzulänglich, wie schon die unversöhnliche Gegenüberstellung verrät. Erst die bei Weber und Durkheim in Ansätzen vorgebildete Theorie des sozialen Systems scheint eine Synthese zu ermöglichen und damit, wie ich glaube, zugleich eine Abklärung der Aufklärung.

2.2. Von Faktortheorien zu Systemtheorien

Um ein Urteil über die Bedeutung des Systembegriffs für die soziologische Theoriebildung und zugleich für das Problem der Aufklärung zu gewinnen, ist es nützlich, sich einen Grundzug der Theorieentwicklung vom 19. zum 20.Jahrhundert klarzumachen. Er besteht in einem Übergang von Faktortheorien zu Systemtheorien.

Faktortheorien – das sind Versuche der Erklärung sozialer Gebilde durch bestimmte einzelne Ursachen. Zum Beispiel durch ökonomische Bedürfnisse und die Weisen ihrer Befriedigung, durch psychologische Triebe wie den Kampftrieb oder den Nachahmungstrieb, durch anthropologische Gegebenheiten, zum Beispiel die mangelhafte Ausrüstung des Menschen für den Existenzkampf, oder durch Rassendifferenzen, klimatische Verhältnisse, biologische Auslesevorgänge. All diese Versuche scheitern, sofern sie Ursachen exklusiv oder doch dominant setzen, an ihrem zu einfachen Erklärungsansatz. Systemtheorien haben im Vergleich dazu ein sehr viel größeres Potential für Komplexität. Sie begreifen soziale Gebilde jeder Art – Familien, Produktionsbetriebe, Geselligkeitsvereine, Staaten, Marktwirtschaften, Kirchen, Gesellschaften – als Handlungssysteme, die sich in einer übermäßig komplexen Umwelt erhalten und dabei eine Vielzahl von Problemen lösen müssen. Es 14geht bei der Systembildung mit anderen Worten darum, die unfaßliche Komplexität der Welt auf handlungsfähigen Sinn zu bringen, sie zu reduzieren.

Mit dem Übergehen von Faktortheorien zu Systemtheorien wird die soziologische Theorie von außersozialen Ursachenannahmen abgelöst, die Soziologie also als Fach selbständig. Und zugleich damit ändert sich ihr Aufklärungsstil. Die Faktortheorien hatten Entlarvungsaufklärung getrieben durch das Aufdecken nicht eingestehbarer, peinlicher Ursachen des Handelns. Sie hatten den Handelnden selbst damit diskreditiert. An die Stelle der »eigentlichen« Ursachen des Handelns tritt nun das Aufdecken sehr komplexer, systemfunktionaler Sinnbeziehungen, die dem Handelnden nicht bewußt waren, ja nicht bewußt werden konnten. Auch das ist eine Kritik des Handelns, aber sie zieht nicht beschämend einfache Grundmotive wie bloße Nachahmung, Libido oder wirtschaftliches Interesse ans Licht, sondern sie stellt das Handeln dar als eine allzu drastische, grobe Vereinfachung einer sehr viel komplizierteren sozialen Wirklichkeit. Die Handlungsorientierung wird damit nicht als kunstvolle Scheinwelt, als bloße Verschönerung unedler Motive zu Fall gebracht, sondern sie wird auf innere Widersprüche, dysfunktionale Folgen, übergangene Gesichtspunkte, kurz: auf andere Möglichkeiten verwiesen – obwohl man weiß, daß der Handelnde selbst dies gar nicht alles erfassen und abarbeiten kann. Nicht Diskreditierung, sondern Überforderung wird jetzt das Problem der Aufklärung.

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3. Erfassung und Reduktion von Komplexität

Mit dieser Umstellung auf das Problem der Überforderung und dessen Lösung durch Systembildung ist für die Abklärung der Aufklärung Entscheidendes gewonnen: daß sie ihre Grenzen erkennen und in ihre Theorie einarbeiten kann. Sie muß dieses Problem zur Theorie erklären. Dieses Problem besteht in der Diskrepanz zwischen Weltentwurf und aktualisierbarem Erleben, zwischen äußerster Komplexität der Welt und dem engen Potential für Aufmerksamkeit im intentionalen Erleben und Handeln. Daraus ergibt sich als Grundgesetz aller Aufklärung: daß die Komplexität der Welt nicht nur erfaßt, sondern auch reduziert werden muß; daß es nicht genügt, Vorstellungen von äußerster Unbestimmtheit zu produzieren, die wegen ihrer Unbestimmtheit konsensfähig sind, sondern daß diese Unbestimmtheit abgearbeitet werden muß. So ist das Wesen des Politischen zum Beispiel in der allgemein gehaltenen Zweckformel »Gemeinwohl« vermutet worden, deren Überkomplexität durch Entscheidungsprogramme abgearbeitet werden muß.

Die Erfassung und Reduktion von Komplexität ist nur möglich durch Systembildungen psychischer oder sozialer Art. Systeme sind das Medium der Aufklärung. Sie ermöglichen erstens eine zeitliche Selektionsverstärkung durch ein schrittweises Abarbeiten von Komplexität, ein Nacheinander der Informationsverarbeitung mit einer Erhaltung der Struktur und Speicherung der Resultate, ohne daß inzwischen alles zerfällt; und sie ermöglichen zweitens eine soziale Selektionsverstärkung, ein gleichzeitiges Abarbeiten von Komplexität in dem Sinne, daß man sich auf die Übertragbarkeit der Perspektiven und Ergebnisse anderer Menschen verlassen kann. Der andere Mensch wird zum Garanten einer sinnbeständigen Welt. Ich bevorzuge für diese Formulierungen eine Sprache, die ihre Abkunft aus der kybernetischen Systemtheorie nicht leugnet. Es ist aber auch eine Übersetzbarkeit in andere Theorieansätze gegeben. Zum Beispiel geht auch Arnold Gehlen vom Problem der Überforderung aus.

Lassen Sie mich nun zum Schluß kommen mit einem vergleichenden Rückblick auf die Vernunftaufklärung. Die Vernunftauf16klärung hatte die Komplexität der Welt versteckt hinter ihren Prämissen: die Annahme einer Gleichverteilung der Vernunft als gemeinsamer Besitz der Menschen und die Annahme der Absehbarkeit guter Zwecke. Die Kritik dieser Prämissen durch die entlarvende Aufklärung bringt das Problem der Komplexität an den Tag, das nun zur Theorie der soziologischen Aufklärung werden kann. Daraus ergeben sich die entscheidenden Wendungen:

(a) Ein frei diskutierendes Publikum, wie Immanuel Kant etwa es in seiner Abhandlung »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« als Medium der Aufklärung forderte,[5]  würde dieses Problem der Überforderung nicht lösen. Es würde es nur noch schlimmer machen. Systeme, nicht das Publikum, sind das Medium einer ihrer Grenzen bewußten Aufklärung.

(b) Bloßes Sammeln und Anhäufen richtiger Informationen, bewährter Verhaltensregeln, von immer mehr Wissen löst das Problem der Aufklärung nicht. Es verliert sich in der Ferne eines vorhandenen, aber nicht gewußten Wissens. Auch eine enzyklopädische Organisation des Wissens reicht nicht. Unlogische, sprunghafte Vereinfachungen sind unentbehrlich, sie führen aber in widerspruchsvolle, nur systemrelative Orientierungen. Daher brauchen wir Formen der Kooperation mit hoher Toleranz für Widersprüchlichkeit und Systemrelativität der Aussagen, die sich daher auch bereits anbahnen. Die Fachperspektiven einer Soziologie, die sich als Aufklärung begreifen und die Grenzen der Aufklärung mitthematisieren will, sind deshalb um so mehr interdisziplinär. Nimmt man das Problem der Komplexität und ihre Reduktion zum Leitfaden, so treten besonders die transzendentale Phänomenologie, die Kybernetik, die Rechtstheorie, die Entscheidungswissenschaften sowie die Geschichtswissenschaften in den Blick. Es wäre angesichts des heutigen Standes der Theorieentwicklung verfrüht und gefährlich, die Diskussion zwischen diesen Disziplinen durch Abgrenzungsvorschläge zu unterbinden. Eher kommt es darauf an, Zusammenhänge aufzudecken, um die möglichen Bezugspunkte eines sinnvollen Divergierens festzustellen. Das läßt sich am Beispiel von Systemtheorien und Entscheidungstheorien zeigen. Die Systemtheorien könnten ihren Schwerpunkt finden in der 17Analyse komplexer Systeme im Hinblick auf ihre Bestandsprobleme, auf funktionale Leistungen, auf dysfunktionale Folgen solcher Leistungen usw. Das heißt, sie hätten eine komplexe Struktur von konditional miteinander verbundenen Problemen und Problemlösungsmöglichkeiten zu klären, die letztlich auf die Komplexität der Welt zurückgeht. Für die Entscheidungstheorie ist ein anderer Problembegriff bezeichnend. Nämlich der des Problems als einer Aufgabe der Informationsverarbeitung, für die es richtige Lösungen gibt, die, wenn gefunden, das Problem beseitigen. Um aus Systemtheorien in Entscheidungstheorien zu gelangen, ist es also nötig, die Problemsprache zu wechseln: Wenn die Systemtheorie ein Einzelproblem genügend vorgeklärt hat, muß es durch ein Entscheidungsprogramm in ein entscheidbares Problem umformuliert werden, für das mit Hilfe bereitzustellender Regeln der Informationsverarbeitung die richtige Lösung gefunden werden kann. Es liegt auf der Hand, daß Systemtheorien und Entscheidungstheorien sich auf diese Weise wechselseitig entlasten könnten.

(c) Ein dritter Punkt ist die Geschichtsfeindlichkeit der Vernunftaufklärung. Sie glaubte, Rationalität nur gegen die Geschichte erreichen zu können – das steckte in all ihren Prämissen: Freiheit heißt Freiheit von den Fesseln der Vergangenheit, von zu engen Räumen und Gassen und ihren zahllosen, unvernünftig verwinkelten Besonderheiten. Auch die Soziologie hat das Problem der Geschichte bislang nicht gelöst. Sowohl der Funktionalismus wie der Empirismus sind antihistorisch. Es wäre aber voreilig, sie gerade insofern mit der Aufklärung zu identifizieren, also im Negativen das Gemeinsame zu sehen. Eine systemtheoretisch orientierte Soziologie, die vom Problem der Überforderung durch Komplexität ausgeht, ist demgegenüber in der Lage, Geschichte und Rationalität in einem Verhältnis funktionaler Äquivalenz zueinander zu erfassen. Beides sind verschiedene Formen der Reduktion von Komplexität: rationale Informationsbearbeitung auf der einen Seite, Hinnahme der Vergangenheit als schon reduzierte Komplexität auf der anderen Seite. Ein Sichabstützen auf vergangene Sinnarbeit ist ebenso unentbehrlich wie ein Sichabstützen auf gleichzeitige Sinnarbeit anderer. Alle Strukturbildung ist Resultat einer Systemgeschichte und nur so möglich. Die Soziologie kann verstehen, daß die Aufklärung Geschichte durch Rationalität ersetzen wollte, es handelt sich ja um funktionale Äquivalente. Aber ihr Sinn für Komplexität 18läßt sie zugleich begreifen, daß dieser Austausch nie ganz gelingen kann und daß wir höhere Komplexität in der Gesellschaft nur erreichen können, wenn wir rationale und traditionale Orientierungen nebeneinander verwenden und zugleich steigern können.

(d) Gegenüber Aufklärungsutopien, die ihre Grenzen nicht sahen, haben diese Grenzen sich im Wege des Gegenschlages durchgesetzt. Als neu erwachender Sinn für das Irrationale, das Vergangene, für das nicht Gemachte, sondern Gewachsene, für das Geheimnis des Lebens oder die Kraft zur Entscheidung oder für die Paradoxie als Prinzip. Die Vernunftaufklärung forderte die Romantik heraus. Der Romantik widersprach die Entlarvungsaufklärung, die mit allen Mitteln der Sophistik dem schönen Schein zu Leibe ging. Erst in der soziologischen Aufklärung finden sich Ansätze zu einer Abklärung der Aufklärung, und mir scheinen diese Ansätze ein tragfähiger Boden zu sein für wissenschaftliche Arbeit, das heißt für Arbeit an der Reduktion von Komplexität.

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II. Theorie sozialer Systeme

Vorlesung Sommersemester 1967 Westfälische Wilhelms-Universität Münster

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1. Einleitung

1.1. Gegenstand und Charakter der Vorlesung

In dieser Vorlesung geht es um soziale Systeme schlechthin. Wie am Ablaufplan ersichtlich, sage ich zunächst etwas Grundsätzliches zu meinem eigenen Verständnis des Begriffs des sozialen Systems. Es folgt im 2. Teil eine problemgeschichtliche Einführung, denn zunächst muß man sich darüber im klaren sein, was bisher zu diesem Thema gedacht worden ist, einerseits in der alteuropäischen Tradition im Zusammenhang mit dem Verständnis von Gesellschaft, andererseits in der Soziologie im Zusammenhang mit dem Handlungsbegriff und den Konzepten von Kausalität und Funktion. Im 3. Teil möchte ich mit Talcott Parsons den prominentesten Vertreter einer soziologischen Systemtheorie vorstellen; Parsons entwirft eine auf dem Handlungsbegriff basierende, weitgehend analytisch-deduktiv arbeitende Systemtheorie. Die Darstellung dieser schwierigen Theorie dient auch dazu, die Punkte zu benennen, an denen meine Überlegungen von Parsons abzweigen. Die problem- und ideengeschichtliche Ausführung schließe ich im 4. Teil ab mit einer Skizze der Entwicklung des Systemverständnisses der allgemeinen Systemtheorie. Damit komme ich im 5. Teil zu meinem eigenen Ansatz einer funktional-strukturellen Systemtheorie, für die das System/Umwelt-Verhältnis und die Begriffe »Welt«, »Komplexität« und »Reduktion« zentral sind. Wenn man den Funktionsbegriff dem Strukturbegriff vorordnet, wie ich es tue, kann man nach der Funktion von Struktur fragen, weshalb ich im 6. Teil den Begriff der Systemstruktur klären möchte. Im 7. Teil wird es um den Kommunikationsbegriff gehen, der für die Frage der Reduktion von Komplexität eine besondere Bedeutung gewinnt. In den Blick genommen werden muß auch die Möglichkeit des Wandels der Systeme, das heißt von Strukturänderungen (8. Teil), damit zusammen hängt das Differenzierungs- und Evolutionskonzept (9. Teil). Im 10. Teil beschäftige ich mich mit der Frage, was wir meinen, wenn wir auf der Basis des skizzierten Ansatzes von einer Autonomie sozialer Systeme sprechen. Am Schluß der Vorlesung stehen Überlegungen zu dem mit dem Systemkonzept implizierten 22Rationalitätsverständnis und damit der Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis.[1] 

Die Vorlesung ist kein Bericht über in der Literatur vorhandenes Gedankengut (aber sie ist natürlich nicht beziehungslos zur vorhandenen Literatur gearbeitet), sondern ein relativ eigenständiger Versuch einer soziologischen Theorie. Daher habe ich Schwierigkeiten, Ihnen wirklich geeignete Literaturangaben zu machen. Erwähnen möchte ich die Einführung in die Soziologie von Harry Johnson und die gerade erschienene Publikation Walter Buckleys zu Soziologie und moderner Systemtheorie.[2]  Außerdem wird es einen Aufsatz von mir geben, »Soziologie als Theorie sozialer Systeme«, der in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erscheinen soll.[3] 

Bei meiner Vorlesung handelt es sich um die Einladung, sich mit einem bestimmten, ziemlich anspruchsvollen Theorieansatz zu beschäftigen. Es geht mir darum, die Aufmerksamkeit auf die Frage zu lenken, auf was zu achten ist, wenn man Soziologie als Theorie sozialer Systeme betreibt, also um ein sensitizing concept, das nicht ohne weitere Erklärung auskommt. Dieser Ansatz vermittelt vor allem ein analytisches Instrumentarium, mit dem man konkretere Probleme bearbeiten kann, und zwar Probleme sehr verschiedener Art, die ohne eine abstrakte Theorie nicht in einen Zusammenhang zu bringen wären. Der Vorteil eines hohen Abstraktionsgrades ist die Übertragbarkeit von Gedanken und Einsichten, die Kohärenz des eigenen Denkens, die Ökonomie im Lernen und Forschen. Der Nachteil liegt in der Unanschaulichkeit. Die Frage »Wozu?« kann nicht immer sofort beantwortet werden.

Auch die Frage, ob die Vorlesung für Anfänger geeignet ist, ist nicht eindeutig zu beantworten. Einerseits kann man sie bejahen, weil wenig wissensmäßige Voraussetzungen gemacht werden, weil eine abstrakte Theorie eine Art des Einstiegs in ein Fach bedeutet, der mit einer hohen Ökonomie des Lernens einhergeht. Es ist aber natürlich auch eine Begabungs- und Veranlagungsfrage. An23dererseits gibt es nur einen geringen Zusammenhang mit Ihren Vorerfahrungen, und es gibt eine gewisse Unanschaulichkeit der Darstellung. Daraus resultieren möglicherweise Schwierigkeiten des Verständnisses, warum etwas so und nicht anders konzipiert wird. Deshalb bitte ich um Fragen, wenn Ihnen etwas unverständlich bleibt.

Die Vorlesung gehört in den Bereich der allgemeinen Soziologie. Die im Fach übliche Unterscheidung von allgemeiner und spezieller Soziologie ist nicht unproblematisch, denn sie ist eigentlich eine künstliche Unterscheidung. Von der Systemtheorie aus wird diese Unterscheidung allerdings selbst konstruierbar: Man kann dann unterscheiden zwischen Überlegungen zum sozialen System schlechthin und Überlegungen zu bestimmten Typen sozialer Systeme, wie zum Beispiel der Gesellschaft oder der Organisation oder dem Zusammentreffen aus geselligem Anlaß.[4]  Damit wird zugleich deutlich, daß es sich bei der Unterscheidung nicht um ein kontaktloses Nebeneinander handelt, sondern daß die allgemeine Soziologie selbst wiederum als spezielle Soziologie angewandt und ausgewertet werden kann und zugleich den Zusammenhang zwischen verschiedenen speziellen Soziologien herstellt.

1.2. Soziales System: Begriff und Erläuterung

Soziale Systeme bestehen aus Handlungen verschiedener Menschen, die durch ihren Sinn aufeinander bezogen und durch diesen Sinnzusammenhang von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungsmöglichkeiten abgegrenzt sind. Der Ausgangsbegriff meines Systemverständnisses ist also der Begriff der Handlung. Eine Handlung ist jede Bewegung des menschlichen Körpers, der ein gemeinter Sinn zugrunde liegt. Das ist bei oberflächlichem Hinsehen der Handlungsbegriff, den Max Weber verwendet und den Talcott Parsons von ihm übernommen hat. Beide Autoren klären indes nicht weiter, was sie unter Sinn verstehen, und das ist ein sehr entscheidendes Versäumnis. Sinn wird als eine (wenn auch subjektive) Eigenschaft von Handlung verstanden. Es gibt aber kein ontologisches Merkmalsschema des Handelns, man kann das Handeln 24nicht durch ontologisch interpretierbare Merkmale definieren, die allen Handlungen zukommen. Weiterführend ist in dieser Hinsicht Alfred Schütz und dessen Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt mit dem Versuch, einen Zusammenhang zwischen der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls, die den Sinnbegriff auf Welt hin interpretiert hat, und Max Webers Soziologie, die den Sinnbegriff an das handelnde Subjekt koppelt, herzustellen.[5]  Dieser Versuch ist aber nicht in jeder Hinsicht gelungen.

Sinn ist nichts anderes als der Weltbezug, die Verweisung auf andere Möglichkeiten. Dieser Weltbezug kann aber nur durch Systeme artikuliert und hergestellt werden. Das System legt gewisse Selektionen als sinnvoll nahe und schließt andere aus, es verfährt also im Bereich des möglichen Verhaltens höchst selektiv. Erfolgschancen oder Verstöße sind in verschiedenen Sinnzusammenhängen jeweils ganz unterschiedlich. Zum Beispiel ergibt sich der Sinn eines Streichs von Schülern gegenüber ihrem Lehrer nur im Rahmen des sozialen Systems Schule, das aus dem Bereich des möglichen Verhaltens einen bestimmten Komplex eines Verhaltens auszeichnet, der allgemein erwartet wird. Diese Analyse führt zu der Erkenntnis, daß Sinn ein System immer schon impliziert: Handlungen können nur in Systemen Sinn haben.

1.3. Universalität der Theorie

Ich behaupte, daß die Soziologie die Wissenschaft von den sozialen Systemen ist. Dies und nichts weiter. Es ist die Wissenschaft von sozialen Systemen im Unterschied zu anderen Systemen wie Maschinen, Organismen, Persönlichkeiten, Symbolsystemen. Insofern ist die Theorie des sozialen Systems die Theorie der Soziologie, sie ist ein einheitlicher Forschungsansatz für die gesamte Soziologie und sie beansprucht fachuniverselle Geltung. Es darf nichts geben, was sie ausläßt, sie muß zum Beispiel so unterschiedliche Phänomene wie Macht, Konflikt, Wandel, Verfall, Prozesse behandeln können. Es darf keine blinden Flecken geben. Wenn solche nachweisbar sind, ist die Theorie unzulänglich und muß geändert werden. Deshalb ist ein hoher Abstraktionsgrad notwendig.

25Zum Beispiel muß die Theorie auch eher flüchtige soziale Sachverhalte wie Verfahren vor einem Gericht oder Situationen im Sinne zufälliger sozialer Zusammenkünfte (in Anlehnung an Erving Goffmans Begriff des encounter[6] ) als soziale Systeme verstehen, da es sich um sinngemäß aufeinander bezogene Handlungen handelt, die sich dadurch von anderen Handlungen abgrenzen.[7] 

Diese These der Universalität der Theorie ist nicht zu verwechseln mit anderen Universalitätsthesen. Die Theorie ist zum Beispiel nicht universell in dem Sinne, daß alle Soziologen bewußt oder unbewußt Systemtheoretiker wären. Ferner wird auch nicht behauptet, daß die Systemtheorie die einzig mögliche oder die einzig richtige Konzeption der Soziologie wäre. Es mag andere, äquivalente Theorien geben. Zur Zeit gibt es aber wohl kaum andere Theorien, die den gleichen Universalitätsanspruch erheben könnten.

1.4. Analytische und konkrete Systeme

Geht man von der aktuellen Diskussion aus, wäre eine der wichtigsten Vorfragen der Systemtheorie, ob es sich bei sozialen Systemen um analytische oder konkrete Systeme handelt. Das ist eine Frage, die man bei Talcott Parsons eher beläufig erwähnt findet,[8]  dagegen explizit bei David Easton, der davon ausgeht, daß die Identifikation und Unterscheidung von Systemen zu den Normalanforderungen im alltäglichen Leben zählt.[9] Analytische Systeme sind Systeme, die nur durch eine bestimmte wissenschaftliche Perspektive zusammengehalten und abgegrenzt sind, zum Beispiel alles, was eine bestimmte Funktion erfüllt, etwa Wissen überträgt. Konkrete Systeme sind solche, die als Handlungszusammenhang im täglichen Leben bewußt sind und die eine einheitliche Struktur sowie bestimmte Grenzen haben, an denen die Handelnden sich orientieren. Man könnte auch sagen: Systeme, die sich selbst identifizieren – und nicht erst durch die Wissenschaft identifiziert werden. Ein Beispiel 26für solche konkreten Systeme des alltäglichen Lebens sind Universitäten.

Bei genauerem Zusehen ist die Unterscheidung von analytischen und konkreten Systemen aber wenig ergiebig, ja gefährlich, und zwar aus zweierlei Gründen: (1) Auf der einen Seite stellt sich die Frage, wodurch sich die Wissenschaft denn leiten läßt bei der Feststellung analytischer Systeme. Es muß sie geben. Auch analytische Systeme sind empirische Systeme und nicht etwa Zeichensysteme, also Begriffe, Theorien, Modelle. Hätte es etwa Sinn, alle, die beim Fernsehen Flaschenbier trinken, als ein System zusammenzufassen? Obwohl die Zusammenfassung Sinn haben kann, ist das ganz offensichtlich kein System. (2) Auf der anderen Seite gilt, daß nicht nur die Wissenschaft, sondern auch das tägliche Leben sich der konkreten Wirklichkeit gegenüber selektiv, also abstrahierend verhält. Kein Handeln meint seine Situation, seine Objekte, seine Partner in jeder Hinsicht, sondern immer nur in bestimmten Hinsichten – und insofern analytisch. Das kann man sich an einem Beispiel verdeutlichen. Ein Beamter, der sein Butterbrot ißt, handelt gleichzeitig in unterschiedlichen Systemen: Er handelt im organisationalen Arbeitssystem qua Pause oder auch qua abweichendes Verhalten, wenn er während der Arbeitszeit ißt; er handelt im Zivilisationssystem qua kultiviertes Verhalten; und er handelt in der Familie, wenn er sich darüber ärgert, daß ihm seine Frau Käse statt Wurst mitgegeben hat. Er muß diese Systemreferenzen beherrschen und trennen können, zum Beispiel aufhören zu essen, wenn ihn jemand anspricht, nicht mit dem Vorgesetzten über Käse oder Wurst sprechen oder über den Ärger wegen des falschen Brotaufstrichs usw. Alle Systeme sind der konkreten Wirklichkeit gegenüber also selektiv, das heißt gegen vieles indifferent.

Man muß mithin zwei Ebenen der selektiven Abstraktion unterscheiden: die des lebenspraktischen Handelns und die der Wissenschaft. Das Problem ist dann, wie sich diese beiden Ebenen zueinander verhalten. Sie dürfen sich einerseits nicht decken, denn die Wissenschaft soll Erkenntnisgewinn abwerfen; und sie dürfen andererseits nicht den Kontakt verlieren, wenn die Wissenschaft Erkenntnisse über die Welt bieten soll. Die Leistungsfähigkeit eines theoretischen Instrumentariums ist letztlich danach zu beurteilen, wie es dieses Problem der Zuordnung von Theorie und Praxis löst. Es ist nicht einfach ein Problem der Anwendbarkeit von Theorie, 27sondern eine Koordination verschiedener Stile der Selektivität. Die Unterscheidung von analytischen und konkreten Systemen ist in bezug auf diese Frage naiv, sie substantialisiert das Problem durch eine Unterscheidung. Es ist dann kein Wunder, daß Parsons die Kontrolle über den erträglichen Abstraktionsgrad seiner Theorie zu verlieren droht. Diese Vorlesung versucht, eine Antwort auf diese Frage zu geben.

Vorausblickend auf das Weitere sei gesagt: Systeme leisten Selektion. Das ist eine funktionale Bestimmung. Es geht um die Erfassung und Reduktion von Komplexität. Die Soziologie als Wissenschaft bietet eine kritische Analyse sozialer Systeme unter diesem Gesichtspunkt – und in diesem Sinne: Aufklärung.[10] 

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2. Problemgeschichtliche Einführung

2.1. Theorie der Gesellschaft und Theorie des sozialen Systems

Die Vorlesung ist keine geschichtlich orientierte Vorlesung. Sie hat nicht den Anspruch, eine adäquate Dogmengeschichte, einen Überblick über das Nachdenken über das Wesen des Sozialen zu bieten. Dennoch können wir nicht so tun, als ob es sich bei dem, was ich Ihnen vorstellen will, um einen vollständigen Neuanfang handeln würde. Über unser Thema ist in der abendländischen Geschichte vielmehr seit ihren Anfängen nachgedacht worden. Die Ablagerungen dieses Denkens können wir nicht einfach abschütteln. Wir können uns nur das Verhältnis zu unserer Geschichte bewußt machen, damit sie uns nicht unbewußt, in Form nicht durchdachter Weichenstellungen und Vorurteile, beherrscht. Eine bewußte Definition unserer Position in bezug auf die alteuropäische Tradition hat auch den Vorteil, daß sie aus der Entfernung deren inneren Zusammenhang und deren Konsistenz besser erkennen läßt, als wenn man in der Tradition lebt und sie einfach fortlebt. Erst durch ihre Überwindung, nämlich im Hinblick auf eine andere Möglichkeit, kann die Tradition ein zureichendes Bewußtsein ihrer selbst erhalten. Deshalb müssen alle unreflektierten Wiederbelebungsversuche der Tradition kritisch gesehen werden.

Worum handelt es sich aber bei dieser alteuropäischen Tradition? Es handelt sich um eine ethisch-politische Philosophie der Gesellschaft.[11]  Wir müssen zunächst zu begreifen suchen, warum das Denken über Gesellschaft ethisch war und warum es politisch war. Ausgangspunkt dieses doppelpoligen Denkens war eine Lehre des Menschen, die in eine ontologische Metaphysik eingebaut war. Der Mensch wurde demzufolge als Substanz begriffen, und zwar als Lebewesen, das sich von anderen Lebewesen, vor allem vom Tier, durch seine Vernunft (ratio) auszeichnet. Das Wesen des Menschen wird also ontologisch durch seine spezifische Differenz, den Unterschied vom Tier, bestimmt. Daraus ergibt sich eine geschichtete Struktur von Bedürfnissen – dessen nämlich, was zur Erhaltung 29und Verwirklichung des Menschen als Substanz, als Lebewesen, als Vernunft nötig ist. Bedürfnisse werden auf jeder Ebene ihres Ranges durch Handeln befriedigt. Der Sinn dieses Handelns liegt deshalb in seiner teleologischen Struktur, das heißt darin, daß das Handeln einem Höhepunkt zustrebt, in dem das Bedürfnis zur Ruhe kommt.

Für die auf dieser Basis entwickelte Sozialwissenschaft ist entscheidend, daß das bedürfnisbezogene Handeln zwei verschiedenartige Beziehungen zum anderen Menschen ermöglicht, also das Soziale ins Spiel bringt: Hilfe und Bedrohung, Nutzen und Schaden. Demgemäß gibt es zwei durchgehende Problemformeln, die in verschiedenen Ausprägungen vorkommen: Angewiesenheit auf andere und Bedrohtheit durch andere, indigentia (Mangel) und metus (Furcht), Arbeitsteilung und Klassenkampf, Integration und Konflikt. Die genaue Begriffsfassung variiert von Epoche zu Epoche, die Akzentsetzung variiert von Autor zu Autor, zum Beispiel von Thomas Hobbes zu John Locke. An der Wurzel dieses unauflösbaren Gegensatzes finden wir immer den Begriff des bedürfnisbezogenen Handelns. Und die genannten Formeln werden als Zweckformeln für Gesellschaft, genauer für den Staat verstanden, deshalb handelt es sich um eine politische Gesellschaftsphilosophie.

Die anthropologisch-ethisch-politische Gesellschaftstheorie ist eine Einheit gewesen, die zerbrochen und bis heute nicht wieder erreicht worden ist. Was bleibt?

(a) Es gibt eine direkte Anknüpfung an die Anthropologie. Zu nennen sind hier insbesondere Arnold Gehlen und Helmuth Plessner.[12]  Beibehalten wird dabei die Interpretation des Menschen aus seinem Unterschied zum Tier. Aber es kommt im Unterschied zur Tradition zu einer Umkehr der Bewertung: nicht mehr, sondern weniger; nicht Vernunft, sondern fehlende Instinktausstattung; keine feste Bindung an eine spezifische Umwelt, sondern Weltoffenheit. Der Mensch hat mehr Möglichkeiten, als er aktualisieren kann. Er ist überlastet (bei Gehlen wird das in der Formulierung vom Menschen als »Mängelwesen« gefaßt, nicht mehr, wie in der Tradition, als »Krone der Schöpfung«), und er bedarf deshalb der Entlastung. Im Hinblick darauf wird das Soziale in diesen Ansätzen 30funktionalisiert auf die Mangelstruktur des Menschen. Das nennt man dann Institutionenlehre. Sie können das in dem Buch Sozialphilosophie der industriellen Arbeitswelt von Friedrich Jonas nachlesen.[13]  Dieser Ansatz ist sehr lohnend, aber er hat keinen Kontakt mit den heutigen Hauptströmungen der Soziologie.

(b) Weil der Ausgangspunkt die verschiedenartigen, sich widersprechenden sozialen Beziehungen sind, ist die Gesellschaftswissenschaft in der alteuropäischen Tradition eine politische Wissenschaft. Denn diese Probleme: Hilfe und Verteilung auf der einen, Sicherung vor Bedrohung auf der anderen Seite, lassen sich nur durch eine politische Ordnung der Gesellschaft lösen. Im einzelnen wandelt sich das, wie man an den Begriffen erkennen kann: polis, civitas, societas civilis. Erst an der Wende zum 19.Jahrhundert gibt es einen radikalen Bruch mit der Tradition, mit einer nun scharfen gedanklichen Trennung von Staat (Politik) und Gesellschaft in der Hegelschen Rechtsphilosophie. Die »Gesellschaft« wird zur Gesellschaft von Privatleuten, zur »bürgerlichen Gesellschaft«, deren Einheit nicht mehr durch die politische Ordnung, sondern durch die Wirtschaft bestimmt wird.[14] 

Die Soziologie etabliert sich als Wissenschaft von dieser Gesellschaft. Es kommt dabei zu einer Allianz von Soziologie und Ökonomie, die Staatswissenschaften als die ursprüngliche Einheit der Wissenschaften von der Gesellschaft werden juristisch. Als ein Relikt bleibt die Fächerkombination dieses Studiums. In dieser merkwürdigen Isolierung haben die Gesellschaftswissenschaften keine adäquate Theorie hervorgebracht. Sie leiden am Verlust des Bezugsproblems. Das sieht man bei der Reduktion der Soziologie auf die Lehre von den sozialen Beziehungen bei Leopold von Wiese.[15]  Und das Ringen darum zeigt sich bei Ferdinand Tönnies in dem Einbau der Antinomie von Gemeinschaft und Gesellschaft.[16]  Erst mit den Ansätzen zu einer Theorie des sozialen Systems, so meine These, 31konsolidiert sich die Soziologie als Fach. Aber kann man nun am Gesellschaftsbegriff noch festhalten?

(c) Talcott Parsons definiert Gesellschaft als ein soziales System unter anderen. Gesellschaften sind solche Sozialsysteme, die alle bestandsnotwendigen Funktionen selbst erfüllen können. Das ist eine rätselvolle Formulierung! Ist damit Autarkie gemeint? Meine Interpretation ist: Gesellschaft heißt, daß das Sozialsystem selbst funktionalspezifisch nicht differenziert ist, sondern als alle Differenzierungen in sich begründend verstanden werden muß. Jedenfalls ist eines deutlich: Die Theorie des sozialen Systems hat den höheren Abstraktionsgrad und damit den Vorrang vor der Theorie der Gesellschaft. Der Soziologentag 1968 in Frankfurt ist ein Indiz für die Aktualität des Themas. Die Formulierung »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?« verdeckt die dahinterstehende Frage, auf welcher theoretischen Grundlage man die Gesellschaft denn angemessen beschreiben kann.

Abb. 1: Die Entwicklung der Gesellschaftsphilosophie

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2.2. Handlungstheorien und Systemtheorien: das Problem der Ethik

In der gesamten Diskussion, die ich skizziert habe, hat das Verhältnis von Handlung und System nicht geklärt werden können. Der ethisch-politischen Gesellschaftslehre liegt eine teleologische Handlungslehre, ein Zweck/Mittel-Denken zugrunde, und daneben gibt es eine Lehre von sozialen Körpern mit eigenen Zwecken. Beides ist nur über einen Problembezug integriert und über gewisse Zwecke, die diesen Problembezug ausdrücken: Es gibt richtige und falsche, gute und schlechte Zwecke. Im 19.Jahrhundert etabliert sich das Postulat der Wertfreiheit: Das Handeln, nicht die wissenschaftliche Analyse von Handlungszusammenhängen, sei an Werte gebunden. Das ist so gewollt, wegen der wissenschaftlichen Objektivität, aber theoretisch ist das nicht bewältigt worden. Im übrigen heißt ohne inneres Engagement noch nicht: ohne ethische Reduktion!

Talcott Parsons leitet die Theorie des sozialen Systems aus einer Theorie des Aktionssystems ab.[17]  Das heißt nicht nur, daß soziale Systeme aus Handlungen bestehen, sondern daß deshalb auch die Theorie des Handelns Vorrang hat und deduktive Prämissen setzt für die Theorie sozialer Systeme. Die Einsicht in die kategoriale Struktur des einfachen Handelns soll auch für hochkomplexe Sozialsysteme maßgebend sein. Es gibt zwar ein Zugeständnis bestimmter Erscheinungen, die erst bei höherer Komplexität auftreten. Parsons zitiert aber als Motto für sein erstes großes Buch The Structure of Social Action[18]  von 1937 Max Weber aus dessen Aufsatz »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«: »Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ›Zweck‹ und ›Mittel‹.«[19] 

Gegen diesen Ansatz gibt es drei prinzipielle Bedenken: (1) Parsons unterliegt einem für die Systemtheorie problematischen Zwang zur Überfolgerung der Handlungstheorie mit ihrem ver33gleichsweise einfachen Konzept des Handelns: Wenn Systeme aus Handlungen bestehen, dann muß die Systemtheorie an die Handlungstheorie anknüpfen. (2) Es gibt kein ontologisches Merkmalsschema des Handelns, insbesondere ist es nicht das Zweck/Mittel-Schema, ja nicht einmal die Kausalauslegung selbst. Dazu gibt es viel historisches und ethnologisches Material. Und ferner kann man jede »gemeinte« Sinnstruktur durch die Frage nach ihrer Funktion hintergehen. (3) Man muß viel stärker als bisher die geringe Kapazität der einzelnen Handlung für Sinnverarbeitung sehen. Das ist die eigentliche conditio humana, daß man nie alles zugleich haben kann und deshalb eine Wertorientierung braucht. Das gilt nicht in gleichem Maße für soziale Systeme, die selbst hochkomplex werden können und viel völlig heterogenes Handeln simultan ablaufen lassen. Soziale Systeme schieben sich also zwischen die Welt und die Handlung. Als Beispiel kann man an einen Patienten denken, der sich in der Apotheke mit einem Rezept ein Medikament abholt. Vorausgesetzt sind dabei ganz verschiedenartige soziale Leistungen und Gegebenheiten, die individuell in der Situation gar nicht mitzuvollziehen sind und auch nicht mitvollzogen werden müssen. Gerade in dieser Vermittlungsfunktion zwischen Welt und Handeln können soziale Systeme nicht begriffen werden, wenn man von einer Theorie des Handelns ausgeht.

2.3. Faktortheorien und Systemtheorien: das Problem der Kausalität

Neben dem Handlungsschema ist die zweite große und verführerische Vereinfachung der Soziologie die Kausalbeziehung. Das Kausalschema ist eine Weltauslegung bestimmter Art von Prinzipien unendlicher Komplexität (Ursache von Ursache von Ursache …; Wirkungen von Wirkungen von Wirkungen …) mit einem bestimmten Suggestiveffekt auf Vereinfachung, der Versuch, bestimmte wahre, notwendige Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen zu entdecken. An die Stelle ethisch-teleologischer Sozialtheorien treten im 19.Jahrhundert Theorien eines Stils, die man Faktortheorien oder schärfer noch: Einfaktortheorien nennen könnte. Das wird in verschiedenen Varianten durchgespielt, zum Beispiel von Karl Marx und Gabriel Tarde. Was ist die Ursache 34der menschlichen Gesellschaft? Eine bestimmte anthropologische Grundausrüstung, insbesondere ökonomische Bedürfnisse, psychologische Triebe wie der Kampftrieb, der Nachahmungstrieb, oder etwa Rassendifferenzen, klimatische Entwicklungen, biologische Auslesevorgänge. Sobald man solche Ursachen aber exklusiv setzt, scheitert die Erklärung.

Für Systeme von einiger Komplexität ist es nämlich gerade bezeichnend, daß sie sich von spezifischen Ursachen unabhängig machen können. Das heißt fünferlei: (1) Genetisch-evolutionär gesehen können bestimmte sehr ähnliche kulturelle Errungenschaften auf sehr verschiedenen Wegen entstehen. Zum Beispiel kann politische Herrschaft unabhängig von Verwandtschaft aus kriegerischen Überlagerungen oder durch Wachstum entstehen. Bürokratie entsteht historisch aus verschiedenen Wurzeln, ähnliches gilt für Hochreligionen usw. Der theoretische Grundbegriff dafür, der von Ludwig von Bertalanffy stammt, lautet Äquifinalität, das heißt eine gewisse funktionale Äquivalenz von Ursachen im Aufbau von Systemen.[20]  (2) Es gibt eine Indifferenz sozialer Systeme infolge der Institutionalisierung von Schwellen gegen Umweltveränderungen. Ein Beispiel dafür ist das Vertrauen und die Schwelle des Vertrauensbruchs; oder Indifferenzgrenzen etwa der Bürokratie gegen Klagen, bis die Fälle zum Beispiel politisch relevant werden. (3) Kleine Ursachen erhalten große Wirkungen. In diesen Fällen geht es um das Bereithalten potentieller Ursachen im System, die erst zusammen mit bestimmten Umweltereignissen Effekte ergeben: Die Selektivität des Systems ist entscheidend für die Wirkung. (4) Systeme, die hinreichend komplex sind, können sich erhalten dadurch, daß sie einzelne Ursachen austauschen. Das nennt man das Prinzip der Substitution. Das bekannteste Beispiel ist natürlich die Substitution von Personen in abstrakten Rollen. Der Großbetrieb etwa ist unabhängig von bestimmten Personen, selbst der Chef ist ersetzbar. Aber es gibt zum Beispiel auch ein Substitutionsverhältnis von Personen und Programmen in politischen Systemen, die Substitution von Zwang für Reue als Motivationsmittel, von Verfahren für Naturrecht als Legitimationsmittel. In der Ehe können Kinder an die Stelle von Liebe treten. (5) Systeme, die einmal entstanden 35sind, schaffen selbst Ursachen zu ihrer Erhaltung. Das ist das Prinzip der Selbstverstärkung von Diskontinuitäten. Ein Beispiel ist die Entstehung einer Königsfamilie in egalitär geordneten Stämmen oder die Entstehung einer Siedlung in einer strukturlosen Ebene. Man spricht dann von Multifinalität: Eine Anfangslage kann sich verschieden differenzieren.

Es scheint mithin einen durch Ursachen nicht zureichend erklärbaren evolutionären Prozeß der Schaffung von Ordnung aus Unordnung zu geben. Die Stabilität von Systemen setzt nicht voraus, daß eine entsprechend stabile Umwelt besteht, sondern es gibt systemerhaltende Mechanismen, die ihre Funktion gerade im Umgang mit Unstabilität, Fluktuation usw. haben. Das Grundproblem der Kausalität, die den Faktortheorien zugrunde gelegt wird, ist dagegen, daß eine binäre Struktur sehr konkret angesetzt wird.

2.4. Zur funktionalen Methode

Es stellt sich nun die Frage, ob mit dem sogenannten Funktionalismus[21]  diese skizzierten Schwierigkeiten überwunden worden sind, nämlich das Problem der Ethik und das Problem der Kausalität.

Der Funktionsbegriff wird üblicherweise definiert als Beitrag zur Erhaltung eines sozialen Systems. Zum Beispiel dient bei der Ritualisierung des Totenkultes der Ritus als Abschirmung gegen emotionale Störungen, der Sicherung der Kontinuität des Verhaltens der Betroffenen, ihrer Zugänglichkeit für die Normalerwartungen der Umwelt, also der Stabilisierung einer Sozialordnung. Man findet dann in der Literatur die Unterscheidung positive/negative beziehungsweise manifeste/latente Funktion. Zum Beispiel ist die latente Funktion der Sekretärin des Professors die Stabilisierung einer Statushierarchie. Ist es dem Funktionalismus also gelungen, 36jene beiden limitierenden Prämissen der Ethik und der Kausalität abzuwerfen? Die Antwort hängt vom Verständnis dessen ab, was Funktionalismus heißt.

(a) Dem Funktionalismus wird ein teleologisches Vorurteil vorgeworfen: Er setze den Bestand eines Systems als Zweck, er sei ein Status-quo-Denken. Dieser Vorwurf trifft für ältere Auffassungen zum Teil sicherlich zu, zum Beispiel für Émile Durkheim.[22]  Heute spricht Renate Mayntz davon, daß die funktionale Analyse objektive Zielstrukturen impliziere.[23]  Immer wird dann aber zwischen objektiv und subjektiv gemeinten (Handlungs-)Zwecken unterschieden. Im ganzen trifft der Vorwurf nicht, sofern er den Funktionalisten eigene Wertvorurteile vorwirft. Sie können ihre Aussagen konditionalisieren und das Werturteil anderen anheimgeben. Ethik war aber nicht nur ein Werturteil, sondern zugleich auch eine Strukturvorgabe (eine Reduktion von Komplexität). In dieser Bedeutung wäre sie dann durch den Funktionalismus schlecht ersetzt, denn die Bestandsformel ist dafür zu schwammig. Deshalb muß der Funktionalismus zu einer Systemtheorie ausgebaut werden, welche in der Lage ist, die Probleme zu spezifizieren, die ein System zu lösen hat, wenn es bestehen will.

(b) Ein weiterer Einwand gegen den Funktionalismus ist, daß er mit seiner Definition der Funktion als Beitrag zur Erhaltung des Systems die Orientierung an der Kausalbeziehung nicht überwunden habe. Die neupositivistische Kritik lautet: Eine funktionale Beziehung ist nichts anderes als Kausalität in einer sehr komplexen (nur vage bestimmten) Verknäuelung. Mein Versuch ist es dagegen, die funktionale Methode als eine vergleichende Methode zu verstehen. Die Frage lautet: Was ist eigentlich das Interessante, Bemerkenswerte an funktionalen Feststellungen? Die Antwort ist: Funktionale Feststellungen versetzen in die Lage, spezifische Problemlösungen mit anderen Problemlösungen, die die gleiche Funktion erfüllen, zu vergleichen. Der Vergleich zielt darauf ab, was funktional äquivalent ist, nicht was ähnlich ist. Zum Beispiel kann man die Absorption von Angst durch den Ritus vergleichen. 37