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Kindererziehung ist nicht Aufgabe der Frauen. Sondern der ganzen Gesellschaft. Anne-Marie Slaughter präsentiert eine neue Vision, was Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen wirklich bedeuten würde und wie dies zu erreichen wäre. Sie stellt klar, dass es keinesfalls allein Aufgabe der Frauen ist, die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf hinzubekommen. Hier sind auch die Männer gefragt, die Unternehmen und der Staat. In einem Artikel des Magazins »Atlantic Monthly« mit der Überschrift »Why Women Still Can't Have It All« beschrieb Anne-Marie Slaughter ihre Entscheidung, den Traumjob in Washington zu verlassen und zu ihrer Familie und ihrer akademischen Karriere in Princeton zurückzukehren. Sie schilderte die Hindernisse, denen sich Frauen gegenübersehen, wenn sie Arbeit und Familie vereinbaren wollen. Der Artikel, einer der meistgelesenen in der Geschichte des Magazins, löste eine auch hierzulande leidenschaftlich geführte Debatte aus. Unter anderem wurden Slaughter Verrat an feministischen Idealen und Entmutigung jüngerer Frauen vorgeworfen. Zugleich erhielt sie viel Zuspruch für das Bemühen, die tatsächlichen Schwierigkeiten zu schildern, die so viele Frauen im Alltag verzweifeln lassen. In ihrem Buch nimmt sie die Vorurteile, Halbwahrheiten und den Selbstbetrug unter die Lupe, die Frauen immer noch ausbremsen. Sie stellt ganz konkrete Forderungen und Lösungsschritte vor, erzählt durchaus selbstkritisch und mit Humor aus ihrem Leben und zeichnet so das Bild einer neuen feministischen Bewegung mit dem Ziel, dass es für Frauen (und Männer) endlich möglich wird, beruflichen Erfolg mit dem Familienleben zu vereinbaren.
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Seitenzahl: 453
Anne-Marie Slaughter
Was noch zu tun ist
Damit Frauen und Männer gleichberechtigt leben, arbeiten und Kinder erziehen können
Aus dem amerikanischen Englisch von Elsbeth Ranke und Violeta Topalova
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Für meine drei Männer: Andy, Edward und Alexander
Im Dezember 2010 saß ich rund um die Uhr mit meinem Team im Planungsstab des US-Außenministeriums zusammen, um nach 18 Monaten ein umfassendes Projekt für Außenministerin Hillary Clinton abzuschließen. Es war eiskalter Winter; ich ging mit einer Kollegin in den frühen Morgenstunden zu Fuß nach Hause. Zum Schutz vor dem Wind klappten wir unsere Kragen hoch und spielten das übliche Washingtoner Ratespiel: Wir spekulierten, wer wohl im Postenkarussell nach den Midterm-Wahlen welche Stelle übernehmen würde. Ich hielt mich zurück, aber ich hatte bereits unmissverständliche Hinweise erhalten, dass für mich eine Beförderung anstehen könnte – auf eine der wenigen höheren Positionen, die es noch gab. Ich war aufgeregt – und zutiefst zerrissen.
Seit fast zwei Jahren leitete ich als erste Frau den Planungsstab im Außenministerium, unterstand direkt der Ministerin und unterstützte sie bei der Entwicklung und Umsetzung langfristiger, strategischer Entwürfe für die amerikanische Außenpolitik. Als Hillary Clinton, die ich sehr bewundere und die eine wirklich wunderbare Chefin ist, mich zwei Jahre zuvor angerufen und mir den Job angeboten hatte – ein Traumjob für jeden Experten in Sachen Außenpolitik –, hatte ich auf der Stelle zugesagt. Allerdings erklärte ich ihr auch, dass ich nur zwei Jahre bleiben konnte –nur so lange können Hochschullehrer in den USA üblicherweise von ihren Universitäten freigestellt werden; darüber hinaus müssten sie die Anstellung auf Lebenszeit aufgeben. Als ich nach Washington ging, war meinem Ehemann Andy und mir selbst allerdings völlig klar, dass ich gerne auch länger bliebe, falls ich die Gelegenheit bekäme, in einer höheren Stellung weiterzumachen. Mein gesamtes Berufsleben hatte ich als Professorin verbracht, aber Außenpolitik war meine ganze Leidenschaft.
Es war mein Moment, mich »reinzuhängen«; ich musste es nutzen, dass ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war, und mich in Stellung bringen. Natürlich war es nicht sicher, dass ich diese Beförderung wirklich bekommen würde, aber ich hatte eine echte Chance; die Stelle, um die es ging, hatte ebenfalls noch nie eine Frau besetzt. Und ich hätte dort Gelegenheit, einen Ansatz der Außenpolitik fortzuführen, an den ich fest glaubte und der inzwischen ein Markenzeichen von Hillary Clintons Amtszeit war.
Die Frau, für die ich mich immer gehalten hatte – die Karrierefrau, die Juraprofessorin, die Dekanin, ja schon die Studentin, die das Jurastudium als Eintrittskarte ins Außenministerium ansah –, hätte Ja gesagt, und das ohne jedes Zögern. Doch während der berufliche Teil meines Lebens vorwärtsstrebte, sah es im persönlichen Bereich sehr viel komplizierter aus. Als ich 2009 die Stelle im Außenministerium antrat, hatten Andy und ich beschlossen, dass es für ihn und unsere beiden Söhne günstiger sein würde, wenn ich jede Woche von Princeton nach Washington pendelte, statt die ganze Familie umzusiedeln. Die Jungs waren damals zehn und zwölf Jahre alt, gingen in die 4. und 6. Klasse und waren in ihrem Umfeld zufrieden und verwurzelt. Sie waren ganz und gar einverstanden mit unserer Entscheidung. Zwar waren sie traurig, dass ich nach Washington ging, aber als ich vorschlug, sie sollten alle mitkommen, ließ sich ihre Reaktion zusammenfassen mit einem klaren »Bye, Mom!«.
Andy ist Professor für Politik und Internationale Beziehungen in Princeton. Er war zu Hause immer präsenter gewesen als ich; meine vorige Stelle als Dekanin der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs in Princeton sowie meine diversen Aktivitäten in der Außenpolitik hatten mir sehr viel mehr Reisetätigkeit abverlangt als seine Arbeit. Selbst wenn ich zu Hause war, war mein Computer nie ganz außer Reichweite. In der ersten Klasse sollte unser älterer Sohn einmal seine Familie malen: Mich malte er als Laptop. Nicht als Frau an einem Laptop, sondern einfach nur als Laptop! Dabei war mein Büro damals keine zwei Kilometer von zu Hause und von ihrer Schule entfernt; ich konnte an Elternabenden und an Schul- und Sportveranstaltungen teilnehmen, und die Organisation des Unijahres brachte es mit sich, dass ich zwar streckenweise sehr beschäftigt war, dass es aber immer auch Zeiten zum Auftanken gab, in denen wir gemeinsam Ferien machen oder zu Hause ausruhen konnten. Ich war im Leben der Jungen sehr präsent und empfand es als unglaubliches Glück, dass ich eine engagierte Mutter sein und ein aktives Berufsleben führen konnte.
Da Andy und ich bisher immer alles irgendwie geschafft hatten, nahm ich an, wir würden uns auch jetzt einfach an den neuen Rhythmus gewöhnen. Doch diesmal war der Wechsel schmerzlich. Zwei Wochen nach dem Anruf von Außenministerin Clinton trat ich meinen Job an, und in dieser kurzen Zeit wechselten wir von einer Welt, in der mein Büro zehn Minuten zu Fuß von zu Hause lag, in eine Welt, in der ich montags um 5 Uhr morgens das Haus verließ und freitags am späten Nachmittag oder Abend nach Hause kam. Dieser Zeitplan war bei den frisch ernannten Amtsträgern in der Obama-Verwaltung nicht ungewöhnlich; ich kannte nicht wenige Frauen und Männer, die ihre Familien in New York, Pennsylvania oder sogar in Kalifornien zurückgelassen hatten. Aber selbst hohe Regierungsbeamte, die direkt in Washington wohnen, bekommen ihre Familien nicht besonders viel zu Gesicht; die Arbeitszeiten sind immens, natürlich nicht zuletzt, weil die Arbeit so wichtig ist. Außerdem richten sich die Ereignisse in der Welt nicht nach dem Familienkalender; eine Krise baut auf der anderen auf und kann selbst in die wichtigste und schönste Familienfeier hineinplatzen. An Urlaub stand mir monatlich ein Tag zu, was für US-Verhältnisse eher großzügig ist, aber im Juni konnte ich mir noch immer kaum eine Woche Abwesenheit leisten.
Ich trug die Kosten meiner Entscheidung, aber ich hatte ja auch den Nutzen. Andy verstand das und unterstützte mich darin. Für unsere Söhne aber waren die Kosten unmittelbar spürbar und sehr hoch. Mein kleinerer Sohn – er war erst zehn – weinte sonntags abends, weil er wusste, dass ich am nächsten Morgen wegmusste. Einmal versuchte ich, ihn zu trösten, da brach es aus ihm heraus, noch bevor ich ein Wort sagen konnte: »Ich will nicht, dass du weggehst. Und unser Land ist mir egal!« Ich hatte ihm früher einmal erklärt, dass er genauso unserem Land dienen würde wie ich; genau das sagte ihm übrigens auch die Ministerin, als sie ihn einmal traf, aber er hatte einfach die Nase voll.
Unser älterer Sohn versuchte mit meiner Abwesenheit ganz erwachsen umzugehen, er bot sogar an, sich künftig um die Frühstückssäfte zu kümmern, die ich normalerweise jeden Morgen frisch presste. Er begriff, wie viel mir der Job bedeutete. Und er begriff auch, dass meine neue Stellung von grundsätzlicherer Bedeutung war. Als ich kurz nach dem Wechsel noch dabei war, mich in die Washingtoner Welt einzuarbeiten, und so frustriert war, dass ich (natürlich ohne es ernst zu meinen) etwas von Aufhören und Heimkommen murmelte, sah er mich an und sagte: »Mama, du kannst nicht aufhören! Du bist ein role model.« Das hatte er irgendwo aufgeschnappt, wahrscheinlich bei der Mutter eines Schulfreunds, aber er hatte es bereits verinnerlicht.
Er war stolz auf mich, aber gleichzeitig hatte er gerade erst in der Middle School angefangen, mit neuen Freunden und anspruchsvollerem Unterricht, all seine Gewohnheiten waren über den Haufen geworfen. Als dann noch die Pubertät dazukam, wurde er zu einem dieser Geschöpfe, das viele Eltern gut kennen: das mürrische, schweigsame Kind, das, wenn überhaupt, in trotzigen Einsilbern antwortete. Er hatte andere Freunde, fing an, keine Hausaufgaben mehr zu machen, im Unterricht zu stören, seine Mathenoten sanken in den Keller, und er ließ keinen Erwachsenen mehr an sich heran. Er rebellierte gegen seinen Vater und gab sich alle Mühe, mich vollständig zu ignorieren. In der 8. Klasse eskalierte dieses Verhalten eines Tages: Er bekam Schulverbot und wurde von der Polizei abgeholt. Ich erhielt mehrere alarmierende Anrufe – natürlich war an diesem Tag eine wichtige Sitzung angesagt –, musste alles stehen und liegen lassen und mit dem nächsten Zug nach Hause fahren (Außenministerin Clinton und ihre Stabschefin Cheryl Mills hatten immer großes Verständnis, aber mein Büro geriet doch unter Druck).
Viele Eltern versicherten mir, dass das Verhalten meines Sohnes typisch sei, dass nichts an dem, was mir da widerfuhr, besonders ungewöhnlich sei. Teenager rebellieren eben; und Eltern von Teenagern raufen sich die Haare. Und schließlich war ja Andy da und tat, was er konnte. Trotzdem ging mir mein Sohn nicht mehr aus dem Kopf. So sehr ich meine Arbeit auch liebte, kaum bekam ich einen Anruf oder eine SMS über das neueste Drama, fragte ich mich, warum zum Teufel ich in Washington war, während mein Sohn mich in Princeton brauchte.
Ich spielte verschiedene Szenarien durch, fragte mich, ob ich vielleicht versuchen sollte, nur ein weiteres Jahr in Washington herauszuschlagen, wusste aber, dass jeder Job, für den ich eventuell infrage kam, vom Senat abgesegnet werden musste, was drei bis sechs Monate in Anspruch nehmen konnte, und dass Hillary Clinton zu Recht erwarten würde, dass ich mich volle zwei Jahre bis zum Ende von Barack Obamas erster Amtszeit verpflichtete. Ich dachte daran, meinen Mann und die Söhne zu bitten, doch nach Washington zu ziehen, aber dann hätte Andy zu seiner Arbeit nach Princeton pendeln müssen, und die Jungs wären aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen worden, was ich besonders für den Jüngeren nicht gut fand. Schließlich waren wir nach Princeton in erster Linie wegen der guten öffentlichen Schulen gezogen und wegen der Kinderfreundlichkeit in dieser Stadt.
Auch das Geld spielte bei meinen Überlegungen eine Rolle. Mit meinem Eintritt in die Regierung verdiente ich nur noch die Hälfte und zahlte zudem Miete für ein winziges Einzimmer-Apartment in Washington sowie die Fahrtkosten. Würde die ganze Familie zu mir ziehen, könnten wir zwar unser Haus in Princeton vermieten, aber dann müsste Andy pendeln, und wir säßen mit den Umzugskosten und den Mehrausgaben in der teureren Stadt da.
Tief im Inneren wusste ich, dass es die richtige Entscheidung war, nach Hause zurückzugehen, wenngleich ich die Frau, die diese Entscheidung traf, eigentlich nicht wiedererkannte. Und doch war es beschlossene Sache. Hillary Clinton richtete mir eine großartige Abschiedsfeier aus, die ich nicht vergessen werde. Meine gesamte Familie – Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel und Cousins – reisten an, vier von ihnen sogar aus Hongkong. Andy und die Jungs waren da und strahlten um die Wette mit all den lieben Freunden, alten und neuen, die zusahen, wie ich den Secretary’s Distinguished Service Award erhielt, die höchste Auszeichnung, die das Außenministerium zu vergeben hat. Bei all den Reden, Späßen und Geschenken von Kollegen, die ich zu schätzen und zu bewundern gelernt hatte, kam es mir nicht ein einziges Mal in den Sinn, dass ich »aufgab« oder »ausstieg«. Ich hatte nur beschlossen, einen Schritt zur Seite zu gehen statt weiter nach oben.
Am nächsten Tag, einem Freitag, räumte ich mein Apartment aus und stand am folgenden Dienstag wieder in Princeton im Hörsaal. Als ich mich von der strapaziösen Zeit in Washington erholt hatte und meine Familie allmählich wieder ins Lot kam, veränderte sich einiges grundlegend. Ich unterrichtete wieder, schrieb und hielt Vorträge als Professorin und außenpolitische Kommentatorin – zusammen war das alles mehr als ein Vollzeitjob, aber eben ein wunderbar flexibler. Doch jetzt wurde mir so klar wie nie zuvor, wie wesentlich genau diese Flexibilität immer dafür gewesen war, dass ich Familie und Karriere unter einen Hut bekam.
Genauso wichtig waren die kleinen Dinge, die ich früher als ganz normal angesehen hatte, die mir aber plötzlich viel wertvoller erschienen. Das erste halbe Jahr lang sprang ich morgens aus dem Bett und machte für die Jungs ein üppiges Frühstück: Muffins, Scones, Pancakes, Waffeln, Bratkartoffeln, Spiegeleier und so weiter. Andy hatte die beiden zwei Jahre lang allmorgendlich aus dem Bett geholt, versorgt und zur Schule geschickt; am ersten Morgen nach meiner Rückkehr drehte er sich um und sagte: »Du bist dran.« Einige Zeit später wies er mich allerdings sanft darauf hin, dass ich meine Abwesenheit vielleicht doch ein klein wenig überkompensierte. Dabei stellte ich mich eigentlich genauso für mich an den Herd wie für sie. Ein Aspekt des Mutterseins, den ich niemals erwartet hätte, ist das reine, elementare Vergnügen, das es mir bereitet, meine Söhne etwas essen zu sehen, was ich gekocht habe. Das muss ein tief in der Evolution verankerter Trieb sein. Egal: Ich war daheim, und ich hätte nicht glücklicher sein können.
Im Lauf der Monate stellte ich mir allmählich grundsätzlichere Fragen. Mein Entschluss, Washington zu verlassen, gründete sich auf meine Liebe und Verantwortung für meine Familie. Dennoch dachte ich darüber nach, mich im Fall einer Wiederwahl von Barack Obama erneut um eine Stelle im Außenministerium zu bemühen. Wenn man gerade am Zenit seiner Karriere steht, während die eigene Partei acht volle Jahre lang an der Macht ist, dann ist das der Moment, um nach den Sternen zu greifen. Als ich 2011 wegging, schloss ich den Versuch nicht aus, 2013 wiederzukommen.
Trotzdem kämpfte ich weiterhin mit mir. Selbst wenn ich die außergewöhnliche Gelegenheit bekommen sollte, wieder dem Regierungsteam anzugehören, würde ich mit einem neuen Weggang die letzten zwei Jahre verpassen, in denen mein älterer Sohn zu Hause war, und auch den Wechsel meines jüngeren Sohns zur Highschool. Es war mir nie in den Sinn gekommen, nicht meine Karriere vornanzustellen, solange meine Familie irgendwie damit zurechtkam, aber jetzt musste ich ehrlich mit mir selbst sein. Die Krise meines älteren Sohns hatte mich zur Konfrontation mit der Frage gezwungen, was mir am wichtigsten war, und nicht, auf welche Ziele ich konditioniert worden war oder mich vielleicht sogar selbst konditioniert hatte. Ich begann, die Art von Feminismus zu hinterfragen, mit der ich aufgewachsen und für die ich immer eingetreten war. Warum bedeutete Erfolg für eine Frau (wie für einen Mann) immer, das berufliche Fortkommen höher zu stellen als alles andere?
Ich hatte immer geglaubt und auch all den jungen Frauen, denen ich Lehrerin oder Mentorin war, eingebläut, dass Frauen »alles haben« könnten, das heißt, dass sie Karriere und Familie haben könnten genau wie Männer und auf derselben Ebene wie sie. Männer, die Präsidenten, CEOs, Direktoren, Manager oder sonst irgendwelche Führungskräfte sind, haben schließlich auch Familien. Frauen könnten das ganz genauso, erklärte ich meinen Studentinnen – sie müssten sich nur genug für ihre Karriere einsetzen. Doch jetzt stand ich da, hatte mich »reingehängt« wie immer und hatte doch eine Entscheidung getroffen, die ich selbst von mir nie erwartet hätte – und obendrein war ich sicher, dass es die richtige Entscheidung war.
Für jemanden, der in den Siebzigerjahren aufgewachsen ist und von den Möglichkeiten, der Kraft und den Versprechen der Frauenbewegung geprägt wurde und treu an ihr hing, fühlte sich der Entschluss, sich für die Familie und gegen die Karriere zu entscheiden, wie Ketzerei an. Doch ein Ereignis im Mai 2011, also vier Monate nach meinem Weggang aus Washington, ließ mir all diese Fragen in einem anderen Licht erscheinen. Ich sollte als Gastdozentin an der Universität Oxford die erste Fulbright Lecture über Internationale Beziehungen halten. Auf Bitten der Organisatoren erklärte ich mich zu einem Gespräch mit Rhodes-Stipendiaten bereit, bei dem es um die »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« gehen sollte. Das Publikum bestand aus etwa vierzig talentierten und selbstsicheren jungen Männern und Frauen Mitte zwanzig.
Was da aus mir heraussprudelte, war nicht wirklich ein Vortrag, sondern eher eine Reihe offener Überlegungen darüber, wie unerwartet schwierig es gewesen war, den Job zu erledigen, den ich als hohe Regierungsbeamtin erledigen wollte, und gleichzeitig die Mutter zu sein, die ich sein wollte, solange meine Kinder mich brauchten. Viele Frauen und Männer haben mir inzwischen gesagt, dass es naiv von mir war, diese Schwierigkeiten nicht zu erwarten, aber ich war einfach davon ausgegangen, dass meine Familie und ich es schaffen würden, wie wir es immer geschafft hatten. Und meine Zeit in Washington, so schloss ich meinen Vortrag, habe mich davon überzeugt, dass ich höchstwahrscheinlich keinen weiteren Regierungsjob antreten würde, solange meine Söhne noch zu Hause lebten, selbst wenn meine Partei an der Macht bleiben sollte.
Fast staunte ich, wie gespannt das Publikum zuhörte und wie viele kluge Fragen mir im Anschluss gestellt wurden. Als eine der Ersten dankte mir eine junge Frau, dass ich »nicht noch einen dieser Vorträge unter dem Motto ›Ihr könnt alles haben‹« gehalten hatte. Offensichtlich hatte sie davon schon jede Menge gehört und war diesbezüglich äußerst skeptisch. Die meisten jungen Frauen im Saal planten in irgendeiner Weise, Beruf und Familie zu kombinieren, aber sie gingen die Sache sehr viel besser informiert an, als ich es mit 25 getan hatte. Denn ich war einfach davon ausgegangen, dass ich mit voller Kraft meine Karriere würde verfolgen können und Mann und Familie wie durch Zauberei von selbst mitlaufen würden. Trotz ihres jungen Alters und ihrer Leistungen erwarteten diese Frauen und viele der Männer im Saal, dass die Vereinbarung von Beruf und Familie zwar befriedigend, aber wahrscheinlich schwierig werden würde. Sie wollten von Erfahrungen und Kompromissen hören, von Leuten, die mitten in diesem Kampf standen, wollten Ratschläge, die ihnen vielleicht helfen konnten, den Weg, der vor ihnen lag, zu planen oder zumindest zu übersehen.
Etwa zur gleichen Zeit merkte ich immer deutlicher, dass die Reaktionen von Männern und Frauen in meinem Alter völlig anders ausfielen. Nach einigen Monaten stellte ich fest, dass für sie das Problem keineswegs darin lag, dass ich überhaupt an die Universität zurückgekehrt war, sondern darin, dass ich es wegen der Kinder getan hatte. Wenn ich in Princeton und New York gefragt wurde, warum ich in die Lehre zurückgegangen war, hätte ich einfach sagen können, dass meine zweijährige Freistellung abgelaufen war, und daran erinnern können, dass US-Chefökonom Larry Summers ebenfalls nach zwei Jahren sein Amt aufgegeben hatte und zurück nach Harvard gegangen war. Doch ich war fest entschlossen, für meine Entscheidung meine Familie als gleichwertiges Argument geltend zu machen. Als Dekanin der Woodrow Wilson School war ich immer dafür bekannt gewesen, dass ich um 18 Uhr nach Hause musste, um mit meiner Familie zu Abend zu essen, oder dass ich Termine verschieben musste, damit ich zu Elternabenden oder Schulveranstaltungen meiner Söhne gehen konnte. So antwortete ich auf die Frage, warum ich das Außenministerium verlassen hatte, häufig: »Mein Mann und ich haben zwei heranwachsende Söhne, die aktive Eltern brauchen. Außerdem werden sie nur noch wenige Jahre zu Hause sein.«
Von einem Moment auf den anderen veränderte sich die Wahrnehmung, die mein Gesprächspartner von mir hatte. Die Reaktionen reichten von »Wie schade, dass Sie aus Washington wegmussten« über »Ich würde Ihre Erfahrungen nicht verallgemeinern. Ich musste nie Abstriche machen, und meine Kinder haben sich großartig entwickelt« bis zu den vielen kleinen Hinweisen darauf, dass mein Gegenüber neu abzuschätzen versuchte, ob ich wirklich ein richtiger »Player« war.
Kurz gesagt, selbst als Frau mit Vollzeitanstellung als ordentliche Professorin wurde ich plötzlich in die Schublade der vielen talentierten und gut ausgebildeten Frauen gesteckt (und damit implizit abgewertet), die zu Beginn ihrer Karriere vielversprechende Ansätze zeigen und die ersten Erfolge verbuchen können, dann aber entscheiden, einen weniger aufwendigen Job anzutreten, die Arbeitszeit zu reduzieren oder gar nicht mehr zu arbeiten, um mehr Zeit zu haben, sich um ihre Familie zu kümmern. Andauernd bekam ich zu spüren, dass ich die Erwartungen vieler Menschen in meinem Umfeld enttäuscht hatte – ältere Frauen, meine männlichen und weiblichen Altersgenossen, selbst einige meiner Freunde –, die irgendwie in meinen Karriereverlauf investiert hatten.
Mein Leben lang hatte ich in diesen Gesprächen auf der anderen Seite gestanden. Ich war die mit dem leicht überlegenen Lächeln gegenüber einer Frau, die mir erzählte, sie habe beschlossen, eine Auszeit zu nehmen oder eine andere, weniger anspruchsvolle Stelle anzutreten, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Ich war die Frau im verschworenen Kreis der immer weniger werdenden Freundinnen aus dem College oder dem Jurastudium, die ihren beruflichen Ehrgeiz nie hintangestellt hatten und sich gegenseitig für ihr unerschütterliches Engagement in Sachen Feminismus beglückwünschten. Ich war die, die Studentinnen und Zuhörerinnen auf Vorträgen einbläute, Frauen könnten alles haben und alles tun, egal in welchem Job. Das heißt, ich habe, wenn auch ungewollt, dazu beigetragen, dass Frauen das Gefühl haben, es sei ihre Schuld, wenn sie es nicht schaffen, in Vollzeit zu arbeiten und so schnell die Karriereleiter hinaufzuklettern wie Männer und dabei gleichzeitig noch Familie und ein aktives Privatleben zu haben (und obendrein noch schlank und hübsch zu sein). Je länger ich darüber nachdachte, desto grundlegend verkehrter schien es mir, dass die Millionen Frauen und immer mehr Männer, die sich ähnlich entschieden wie ich, nicht unterstützt und sogar gefeiert wurden, weil sie darauf bestanden, dass beruflicher Erfolg nicht das einzige Maß für Glück und Erfüllung des Menschen ist.
2012 schrieb ich einen Beitrag für die Zeitschrift The Atlantic, in dem ich all meine Gedanken über Frauen und Beruf zusammenfasste, die in mir brodelten. Der Artikel trug den Titel »Why Women Still Can’t Have It All«, den ich schon bald bereute, der sich aber mit Sicherheit besser verkaufte als ein zutreffenderer, aber weniger zündender Titel wie »Warum arbeitende Mütter bessere Voraussetzungen brauchen, um im Rennen zu bleiben und es bis ganz nach oben zu schaffen«. Innerhalb von fünf Tagen war die Online-Version 400000 mal geklickt worden; eine Woche später waren es eine Million Klicks; heute ist er mit geschätzten 2,7 Millionen Klicks der meistgelesene Artikel in der 150 Jahre alten Geschichte des Atlantic.[1] Ganz offensichtlich wollten eine beträchtliche Anzahl von Frauen und zunehmend mehr Männer eine neue Runde der inzwischen fünfzig Jahre andauernden Diskussion darüber, was wahre Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau wirklich bedeutet.
In den folgenden Monaten erhielt ich Hunderte E-Mails von Menschen, die mein Beitrag zum Nachdenken gebracht hatte. Jessica Davis-Ganao, Hochschuldozentin mit zwei kleinen Kindern, von denen eines an einer Erbkrankheit leidet, bemühte sich selbst gerade um eine Festanstellung an einer Hochschule und schrieb: »Ich habe gerade Ihren Artikel im Atlantic gelesen und musste meine Tür zumachen, weil ich einfach nicht aufhören konnte zu weinen. Sie artikulieren da einen Kampf, den ich seit einigen Jahren ausfechte.« Ein anderer Kommentar, den ich im Gedächtnis behalten habe, stammte von einer Mutter, die erklärte, ich hätte ihr mit meinem Artikel gleichsam »die Erlaubnis gegeben«, zu kündigen und eine Zeit lang zu Hause bei ihren Kindern zu bleiben – sie habe sich das schon lange gewünscht, es aber nicht gewagt.
Nicht alle Reaktionen waren wohlwollend. Mir wurde vorgeworfen, ich führe einen »plutokratischen« Feminismus fort – bezöge mich also nur auf Oberschichtenprobleme einflussreicher Frauen wie ich selbst. Einige kritisierten das gesamte Konzept des »Alles haben wollen« und sprachen von perfektionistischer Torheit, wenn wir uns einbildeten, wir könnten erfolgreiche Karrieren haben und gleichzeitig noch hochengagierte Eltern sein. Andere behaupteten, mein Artikel unterminiere Jahre historischer, hart erkämpfter Erfolge von Frauen am Arbeitsplatz.
Bald war ich Kritik und Lob direkt ausgesetzt, als ich nämlich durch das Land reiste, Vorträge hielt, mir Fragen anhörte und um Antworten rang. Schrittweise befreite ich mich von einer ganzen Reihe tief verinnerlichter Überzeugungen darüber, was wertvoll, wichtig, richtig und natürlich ist. Der Prozess ähnelte einem Besuch bei der Augenärztin, wenn sie die Linsen in diesen kleinen Apparat schiebt und die anfangs völlig verschwommenen Buchstaben, die auf der Tafel defilieren, nach und nach scharf und klar zu sehen sind.
Feministische Vorreiterinnen wie Betty Friedan und Gloria Steinem befreiten sich von erstickenden Stereotypen, die Frauen in eine Welt einsperrten, in der ihre Identität fast ausschließlich durch ihre Beziehungen zu anderen definiert wurde: Tochter, Schwester, Ehefrau, Mutter. Die Bewegung, die Friedan und Steinem in der Nachfolge von Susan B. Anthony, Elizabeth Cady Stanton und ihren Mitrevolutionärinnen des 19. Jahrhunderts anführten, war gemeinsam mit der Bürgerrechtsbewegung, der globalen Menschenrechtsbewegung, der Antikolonialismus-Bewegung und der Schwulenbewegung einer der großen Freiheitskämpfe der Menschheit im 20. Jahrhundert.
Freilich bleibt diese Bewegung in vielerlei Hinsicht unvollendet. Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts bin ich zunehmend davon überzeugt, dass Frauenförderung bedeutet, sich aus einer ganzen Reihe von neuen Stereotypen und Annahmen zu befreien, und das nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. Sie bedeutet, herkömmliche »Wahrheiten« sehr viel grundlegender infrage zu stellen: Was sind wir wert und warum? Wie bemisst sich Erfolg? Woraus speist sich die menschliche Natur? Und was bedeutet Gleichberechtigung wirklich? Es bedeutet, alles neu durchzudenken, von der Arbeitsplatzgestaltung über Lebensabschnitte bis zu Führungsstilen.
Ich möchte eine Gesellschaft, die es jeder und jedem ermöglicht, eine erfüllende Karriere zu haben, oder einfach einen guten Job mit gutem Gehalt, wenn das die Wahl ist, und gleichzeitig ein Privatleben, das genug Platz lässt für die tiefe Freude, andere lieben und für sie sorgen zu können. Ich hoffe, dieses Buch bringt uns in dieser Richtung ein Stück weiter.
Aber gehen wir einen Schritt nach dem anderen. Beginnen wir zunächst mit der Welt, wie sie ist, nicht, wie viele von uns sie gerne hätten.
Das Eingangskapitel in ihrem Buch Der Weiblichkeitswahn überschrieb Betty Friedan mit dem Titel »Das Problem ohne Namen«.[2] Sie beschrieb dieses Problem als »eine seltsame Erregtheit, ein Gefühl der Unzufriedenheit, eine Sehnsucht, worunter die Frauen in den Vereinigten Staaten um die Mitte des 20. Jahrhunderts litten«. Und sie kam allmählich zu der Überzeugung, die Ursache dafür sei die »merkwürdige Diskrepanz zwischen der erlebten Wirklichkeit und der Vorstellung, der wir zu genügen versuchten«.[3]
Friedan sah sich als Sprachrohr aller Frauen, zeichnete aber in Wirklichkeit ein Bild der emotionalen Not von Millionen Vorstadthausfrauen. Ihr Publikum war groß genug, um in den USA die zweite Welle der Frauenbewegung loszutreten – keine geringe Leistung. Dennoch war die Welt, die Friedan beschrieb, sicher nicht die Wirklichkeit von Millionen anderer Frauen, die weder Zeit noch ein besonderes Bedürfnis hatten, um sich mit einem idealisierten Bild von Weiblichkeit auseinanderzusetzen. Sie arbeiteten bereits, und das mehr aus Notwendigkeit als aus freien Stücken.
Ich selbst bin in einem Vorstadthaushalt der gehobenen weißen Mittelklasse aufgewachsen, allerdings zu einer Zeit, als das noch bedeutete, dass man in Motels übernachtete, mit Greyhound-Bussen reiste und in der Schule genauso neben den Kindern von Klempnern und Elektrikern wie von Ärzten und Anwälten saß. Ich erhielt eine gute Ausbildung und hatte wachsende Möglichkeiten in Aussicht, denn mein Amerika war in den letzten dreißig Jahren beständig reicher geworden, anders als das Amerika, das stagniert und in Rückstand geraten war. Heute lebe ich im Modell der klassischen Kernfamilie – zwei verheiratete heterosexuelle Eltern, zwei biologische Kinder, die ein Mix der DNA beider Eltern besitzen –, ein Modell, wie es für amerikanische Familien inzwischen in der Minderheit ist.
Als ich – während ich dieses Buch schrieb – auf Anmerkungen, Fragen und Kritik von vielen verschiedenen Menschen mit sehr unterschiedlichem Hintergrund reagierte, wurde mir immer wieder klar, wie sehr meine Annahmen über Gedanken und Gefühle anderer von meinen eigenen Erfahrungen geprägt sind. Bei dem Versuch, mich in andere hineinzuversetzen, stieß ich wieder und wieder auf die offensichtliche, aber doch zu oft übersehene Tatsache, eine wie wichtige Rolle das Geld spielt. Mit unserem Geld konnten Andy und ich uns, als unsere Kinder klein waren, exzellente Betreuung leisten, als sie größer wurden eine Haushaltshilfe in Vollzeit und dazu die Annehmlichkeiten eines Wohnumfelds mit hervorragenden öffentlichen Schulen und Bibliotheken.
Mit Geld kauft man ein Sicherheitsnetz, das Stress reduziert und einem Mittel und Kraft gegen die Launen des Schicksals bietet. Millionen Familien in den USA arbeiten allerdings so hart sie können, haben aber nicht die Ressourcen, um abzufedern, wenn sie auch nur einmal Pech haben. Ihre »Familienentscheidung« – also die Frage, ob und wie viel sie arbeiten sollen oder wie lange sie zu Hause bleiben sollen, um für ihre Kinder oder auch für ihre Eltern zu sorgen – ist gar keine echte Entscheidung zwischen Alternativen; sie gehorchen einfach ökonomischen Zwängen. Wenn ich meine alten Überzeugungen infrage stelle, erinnere ich mich ständig daran, dass meine Geschichte nicht ihre ist.
Ich betone das deshalb, weil wir, um voranzukommen – egal, ob es um das Verhältnis von Frauen und Männern geht, um unsere Arbeitsplätze oder um unsere Gesellschaft insgesamt –, erst einmal einen Schritt zurücktreten und uns genau ansehen müssen, was wir fast reflexartig für die Wahrheit halten. Wir müssen weitverbreitete Annahmen, Leitsprüche, Gedanken und Geschichten hinterfragen, die unsere Entscheidungen füttern oder rechtfertigen und unsere Welten prägen. Wir müssen uns selbst fragen, warum wir uns unserer so tief verwurzelten Annahmen so sicher sind und zu wissen glauben, wie die Dinge funktionieren, und zwar sowohl für uns selbst als auch für Millionen anderer, deren Leben wir uns nur ansatzweise vorstellen können.
Wir können nur dann etwas verändern und Veränderungen anstoßen, wenn wir uns neuen Gedanken und Möglichkeiten für alle wirklich öffnen.
Als Professorin habe ich in über zwanzig Jahren Tausende von Sprechstunden für Studenten und Hunderte von Lehrveranstaltungen gehalten. Die eine Frage, die ich dabei mit Abstand am häufigsten gestellt bekam, kam von jungen Frauen, die wissen wollten, wie ich Beruf und Familie unter einen Hut bekam. Auch nach Gastvorträgen über Außenpolitik an anderen Universitäten gab es, wenn das Publikum bereits ausgedünnt war, immer eine junge Frau, die sich meldete und mich fragte, welchen Rat ich Frauen geben würde, die Karriere und Familie miteinander verbinden wollten. Damit geht es nicht nur mir so; jede meiner Kolleginnen würde dasselbe sagen. Wir verstehen, warum die jungen Frauen uns diese Frage stellen, und wir sind stolz darauf, dass sie zu uns aufschauen.
Antworten dagegen sind kompliziert. Ich hätte meinen Studentinnen sagen können, dass ich es nur deshalb zu einer hochkarätigen Karriere samt Ehemann und zwei Söhnen gebracht habe, weil ich eine unbefristete Professorenstelle an einer Spitzenuniversität hatte und mit einem anderen unbefristet angestellten Professor an derselben Universität verheiratet war. Doch das hätte womöglich sehr entmutigend gewirkt. Und es ist auch nicht die ganze Wahrheit, denn Tatkraft, harte Arbeit und eine Portion Glück spielten bei der Gestaltung meiner Karriere auch eine wichtige Rolle. Außerdem schaffen es viele andere Frauen auch in weniger flexiblen und günstigen Situationen, Beruf und Familie erfolgreich zu kombinieren.
Später hätte ich jeder der jungen Frauen, denen ich in Washington begegnete, sagen können: »Wissen Sie, ich lebe hier am Rand einer Dauerkrise. Mein pubertierender Sohn hat jede Menge Probleme; mein Mann und ich versuchen verzweifelt herauszufinden, wie wir mit ihm fertigwerden sollen, während ich fünf Tage pro Woche weg bin. Ich bin innerlich zerrissen und frage mich Tag für Tag, ob dieser Job den Preis für mein Privatleben wert ist.« Doch auch das wäre höchst entmutigend gewesen und wieder nicht die ganze Wahrheit. Meine Situation wäre womöglich eine ganz andere gewesen, wenn meine Kinder nicht gerade Teenager gewesen wären, wenn sie nicht jedes kleine Problem mit ihrem Vater ausgefochten hätten, wenn mein älterer Sohn nicht allzu häufig Bekanntschaft mit der Princetoner Polizeiwache gemacht hätte. Wenn ich mich in Washington umsah, sah ich durchaus andere Frauen, die genau das taten, was ich versuchte, die auch nur zum Wochenende nach Hause pendelten und ganz und gar nicht meine Probleme hatten.
Was also sollte ich sagen? Meine Wahrheit hat viele Facetten, und dabei ist es immer noch nur meine Wahrheit. Doch immerhin bin ich Feministin, und ich habe immer an den Grundsatz geglaubt und danach gelebt, dass Frauen Karriere machen können wie Männer, ohne dafür die Freuden des Familienlebens aufzugeben. Das jedenfalls bedeutete für mich die Aussage »to have it all«. (Wie wir in Kapitel 2 sehen werden, bin ich inzwischen recht geteilter Meinung über diese Formulierung, aber hier benutze ich sie als griffiges Schlagwort für diesen Gedanken weiter.) Demnach ist es kein Wunder, dass ich wie fast alle Frauen meiner Generation, die ich kenne, in ein paar typische Standardsprüche verfiel, als würden sie wahr werden, wenn man sie nur oft genug wiederholte.
Die drei verbreitetsten davon lauten:
»Sie können alles haben, wenn Sie sich nur genügend für Ihre Karriere engagieren.«
2.»Sie können alles haben, wenn Sie den Richtigen heiraten.«
3.»Sie können alles haben, wenn Sie die richtige Reihenfolge wählen.«
Das ist alles nicht falsch. Teilweise stimmen diese Behauptungen, aber sie sind nicht die ganze Wahrheit. Sie verschaffen einem die tröstende Illusion, die Vereinbarkeit von Karriere und Familie würde von den eigenen Entscheidungen abhängen. In Wirklichkeit aber sind die eigenen Entscheidungen sicherlich wichtig, aber manchmal mischt sich eben auch ganz ungebeten das Leben ein. Sehen Sie einmal zurück auf die letzten zehn Jahre. Ist Ihr Leben in dieser Zeit genau nach Plan verlaufen? Auch wir selbst verändern uns. Als ich mit 25 Jahren zum ersten Mal verheiratet war, dachte ich ausschließlich an meine Karriere. Auf die entsprechende Frage hätte ich geantwortet, dass ich Kinder wollte, aber in der scheinbar weit entfernten Zukunft jenseits der Dreißig. Als ich mit 35 zum zweiten Mal heiratete, konnte ich plötzlich an nichts anderes mehr denken als daran, ein Kind zu bekommen. Zwei Jahre lang quälte ich mich mit dem Gedanken, dass ich die Möglichkeit, eine biologische Mutter zu sein, womöglich meiner Karriere geopfert hatte – obwohl ich das so nie gewollt hatte.
Meines Erachtens reichen diese magischen Formeln nicht aus. Es ist wichtig, junge Frauen zu ermutigen, aber genauso wichtig ist es, die Wirklichkeit anzuerkennen, die viele Frauen erlebt haben. Ehrlich zu sein über all die Paare, die am Anfang meinten, dass beide Partner dieselbe Gelegenheit bekommen sollten, ihre Elternrolle auszuüben und ihren beruflichen Ehrgeiz zu verfolgen, die aber irgendwann feststellten, dass es einfach nicht funktioniert, zwei Vollzeitkarrieren sowie zwei oder mehr Kinder und obendrein häufig noch die Verantwortung für ältere Verwandte zu haben.
Wenn wir die ganze Wahrheit sagen, können wir diese Paare dazu bringen, sehr viel ehrlicher und offener über Entscheidungen und Kompromisse zu sprechen, bevor sie sich aneinanderbinden. Wir können verändern, was junge Frauen bei ihren Partnern suchen. Und vor allem können wir die Hindernisse und Stolpersteine zur wahren Gleichberechtigung genauer beschreiben, um uns dann daran zu machen, sie aus dem Weg zu räumen.
Mit den Jahren wurde mir immer stärker bewusst, dass viele ältere Frauen, häufig aus der Pioniergeneration direkt vor mir, zunehmend hart mit den Entscheidungen jüngerer Frauen ins Gericht gehen. Klar wurde mir das, als ich einmal in einer namhaften New Yorker Stiftung einen Vortrag über Außenpolitik gehalten hatte. Danach umringte mich ein kleiner Pulk älterer Damen, die mir zu meinem Vortrag gratulierten und mich für mein Engagement in einer außenpolitischen Laufbahn lobten. Im selben Atemzug aber beklagten sie sich über den scheinbaren Antriebsmangel vieler jüngerer Frauen in ihrer Bekanntschaft, die aus ihren Karrieren »ausstiegen«.[4]
Das ist der Punkt. Die Annahme, Frauen würden aus mangelndem Antrieb oder Ehrgeiz aussteigen, beruht auf der grundlegenderen Annahme, diese Frauen könnten brillante Karrieren hinlegen, wenn sie das nur unbedingt wollten. Würden sie sich richtig »reinhängen«, dann würden sie rund um die Uhr arbeiten, koste es, was es wolle.
Anders gesagt: Wer bereit ist, für das berufliche Fortkommen alles zu geben, also auch in Kauf zu nehmen, die Kinder nur selten zu sehen, der kann in der Tat neben der Karriere noch eine Familie haben. Viele männliche Führungskräfte würden sagen, dass sie genau dieses Opfer gebracht haben, um in die Unternehmensspitzen aufzusteigen – in Jobs also, für die man ständig unterwegs sein und rund um die Uhr für Kunden erreichbar sein muss. Walter Blass, der Ende der Sechzigerjahre das US-Friedenskorps in Afghanistan leitete und dann in der Betriebsplanung der Telefongesellschaft AT&T arbeitete, schrieb mir in einer E-Mail, welche Opfer er für seine Karriere gebracht habe. »Die Verantwortung für die Erziehung unserer drei Kinder überließ ich großenteils meiner ›nicht arbeitenden‹ Frau. Als wir im Ausland lebten, kritisierte sie mich recht unverhohlen für meine 12-Stunden-Arbeitstage mit meinen Freiwilligen, weshalb ich nicht genug Zeit für sie und zu wenig Aufmerksamkeit für die Kinder übrig hatte«, so Blass. Später bei AT&T hatte er einmal neun Monate lang völlig ausufernde Arbeitszeiten; »da schrieb meine damals 12-jährige Tochter ein Gedicht, in dem es hieß, ihre Geschwister und sie wüssten, dass sie einen Vater haben, weil ich meine schmutzige Wäsche neben dem Bett liegen ließ«.[5]
Doch genau das ist der springende Punkt. Die Männer, die jahrzehntelang ihre Prioritäten so gesetzt haben, wurden in dieser Entscheidung fast immer von Ehefrauen oder Partnerinnen unterstützt, die sich wie Walter Blass’ Frau entweder in Vollzeit oder zumindest vorrangig um die Familie kümmerten. Das heißt, ein aufstrebender Angestellter, Berater, Hochschullehrer, Chirurg oder Anwalt konnte sich ganz seiner Karriere widmen, in dem Wissen, dass ein liebevoller Elternteil sich um seine Kinder kümmerte und alles für ihr Gedeihen tat. So sehr er sich auch wünschen mochte, mehr Zeit für sie zu haben, oder so leid es ihm tat, dass er eine sehr viel distanziertere Beziehung zu ihnen hatte, als er es sich erhofft hätte, immerhin wusste er, dass sie in guten Händen waren. Zudem bestärkte ihn die etablierte soziale Struktur – Frau zu Hause, Mann im Büro – in dieser Entscheidung. Er tat, was man von ihm erwartete: Er sorgte für seine Familie, indem er die finanzielle Grundlage schuf, auf der seine Frau dann physisch und emotional für die Kinder da sein konnte.
Eine aufstrebende Karrierefrau mit Familie steht nicht vor derselben Entscheidung. Relativ selten ist der Ehemann bereit, zu Hause zu bleiben oder die Hauptelternrolle zu übernehmen, damit seine Frau in ihrem Beruf vorankommen kann.[6] Vielleicht unterstützt er sie voll und ganz in ihren Karrierezielen, aber das geht nicht so weit, dass er dafür seine eigene Karriere aufgeben oder wesentlich einschränken würde. Irgendjemand aber muss sich um die Kinder kümmern, oder um die älter werdenden Eltern oder die kranke Verwandte. Meistens steht eine ehrgeizige Frau also nicht vor der Entscheidung, vor der ehrgeizige Männer traditionell stehen – rund um die Uhr zu arbeiten und die Kinder kaum zu sehen, sie aber immer noch von einem fürsorglichen Elternteil versorgt zu wissen –, sondern vor der Entscheidung, rund um die Uhr zu arbeiten und keinen Elternteil bei den Kindern zu wissen. Selbst wenn sie sich eine Vollzeitbetreuung für die Kinder leisten kann (was keineswegs selbstverständlich ist), bedeutet das, dass keiner der Eltern zuverlässig zu Schulveranstaltungen gehen kann, an Krankheitstagen zu Hause bleiben kann, bei den Hausaufgaben helfen und spät abends intensive Gespräche über alles, von Hänseleien in der Schule bis zum ersten Liebeskummer, führen kann.
Diese Entscheidung ist sehr viel schwerer zu treffen. Wenn man dann in einer Sitzung festsitzt oder wieder einmal bis spät abends arbeitet, obwohl man weiß, dass man seinem Kind, den Eltern oder dem Partner mit seiner Anwesenheit wirklich weiterhelfen würde, fühlt sich das ganz anders an als die Entscheidung, »Zeit mit der Familie« zu opfern, also etwas, was man gern hätte, sich aber zugunsten der Karriere versagt. Es fühlt sich an, als würde man das Wohlergehen seiner Lieben den eigenen Ambitionen opfern.
Nach diesem Vortrag in New York saß ich beim Abendessen mit zwei Frauen Anfang dreißig zusammen, die mir erzählten, dass sie unter den älteren Frauen, mit denen sie arbeiteten, keine Rollenvorbilder für sich fanden; sie nämlich wollten nicht mit ihrem Job verheiratet sein. Kerry Rubin und Lia Macko, zwei junge New Yorker Karrierefrauen, die 2004 das Buch Midlife Crisis at 30 veröffentlichten, formulierten das sehr eingängig: »Wenn wir nicht lernen, unser privates, soziales und berufliches Leben zu vereinbaren, dann bleiben uns noch ungefähr fünf Jahre, bis wir uns in die keifende Frau hinter dem Mahagonischreibtisch verwandeln, die nach einem ganz normalen 12-Stunden-Arbeitstag kopfschüttelnd die Arbeitsmoral ihres Teams beklagt, bevor sie nach Hause geht und in ihrer einsamen Wohnung ihr Chop Suey verdrückt.«[7]
Genau diese Wahrnehmung von den schwierigen Kompromissen zwischen Beruf und Familie ist vielen Frauen des neuen Jahrtausends gemeinsam. Sie sehen, dass Ehrgeiz und Engagement unverzichtbar sind, um in ihrem Beruf weit aufzusteigen, aber sie wissen nicht, wie sie dabei noch Raum für ihre Familie schaffen sollen.
Nach einem weiteren Vortrag über Frauen und Beruf vor einer Gruppe Zuhörerinnen in New Jersey meldete sich eine Frau von Mitte sechzig und erzählte mir ziemlich bestimmt von ihrer Tochter, einer Anwältin mit drei Kindern, die es schaffte, täglich nach New York zu pendeln, in ihrer Firma voranzukommen und außerdem noch für ihre Kinder da zu sein, wenn sie sie brauchten. Lächelnd gratulierte ich ihr zu ihrer Tochter, obwohl ich die Aggressivität in ihrem Tonfall nicht ganz einordnen konnte. Wie mir erst später klar wurde, dachte sie wohl, ich würde glauben, dass Frauen das alles niemals schaffen konnten, und deshalb die Realität ihrer Tochter leugnen würde. Gleichsam mit vorgehaltener Faust erklärte sie mir, dass ihre Tochter genau das tat, wovon ich angeblich gesagt hatte, sie könne es nicht tun. Aus ihrer Perspektive bewies mir gewissermaßen jede Frau vom Schlag ihrer Tochter, die Karriere und Familie unter einen Hut bekam, dass ich unrecht hatte.
Was also ist mit den Frauen, die es in vielen Berufen bis ganz oben schaffen und doch Familien haben? Betrachten wir einmal die Fakten: Etwa 6 Prozent der CEOs in den 500 umsatzstärksten US-Unternehmen laut Fortune sind Frauen. Inzwischen sind 20 Prozent der US-Senatoren Frauen. Allgemeiner betrachtet sind etwa 15 Prozent der obersten Führungspositionen in Privatunternehmen mit Frauen besetzt, 20 Prozent der Partner in Großkanzleien sind Frauen,[8] 24 Prozent der fest angestellten Vollzeit-Professoren[9] sowie 21 Prozent der Chirurgen.[10] In anderen Berufen sind die Zahlen noch düsterer: 8 Prozent der Top-Banker in den Vorständen von Investmentbanken (wobei die Hälfte von ihnen Personal- oder PR-Chefinnen sind),[11] 3 Prozent der Fondsmanager in Hedge- oder Private-Equity-Fonds,[12] 6 Prozent der Maschinenbauingenieure[13] und weltweit 8,5 Prozent der Milliardäre.[14]
Zwar liegen die Zahlen nicht bei Werten, die wir am Ende gerne hätten, aber immerhin zeigen sie, dass es heute eine signifikante Zahl von Frauen bis ganz oben schafft. Der dringende Wunsch, in ihre Fußstapfen zu steigen, erklärt den Erfolg des Buchs Lean In[15] von Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg. Die Autorin selbst hat eine außerordentliche Karriere gemacht; sie ist aufrichtig von dem Wunsch getrieben, weitere Tausende Frauen in Spitzenpositionen zu bringen und Millionen in höhere Positionen als heute. Sie hatte den Mut, sich zum Aushängeschild eines neu belebten Feminismus in einer Branche zu machen, in der die entscheidende Überlebensstrategie darin bestand, unter den Jungs nicht aufzufallen. Und sie hat uns eine neue Vokabel beigebracht: to lean in im Gegensatz zu to lean back – sich reinhängen, sich vorlehnen, statt sich zurückzulehnen.[16]
Ein Stück weit habe ich die positiven Auswirkungen von Lean In aus erster Hand beobachtet. Eine Freundin aus Princeton, mit der ich in verschiedenen Funktionen an der Universität zusammengearbeitet hatte, kam auf einem Sommerfest auf mich zu und überlegte, ob sie sich um einen Spitzenjob bewerben solle – schließlich sei für sie vielleicht jetzt der Moment, sich »reinzuhängen«. Ich ermutigte sie zu der Bewerbung; sie tat es und bekam den Job. Hätte sie sich ohne Lean In vorgewagt? Vielleicht – aber ganz bestimmt war es etwas anderes, diesen Schritt nach der Lektüre dieses Buches zu erwägen. Und noch näher bei mir fragten drei meiner weiblichen Mitarbeiter in der New America Foundation, wo ich derzeit Vorsitzende und CEO bin, nach der Lektüre von Lean In wegen einer Beförderung an. Eine von ihnen sagte, sie wisse ja, dass sie »sich reinhängen und es einfach tun« müsse. Wenn ich solche Beispiele sehe, ziehe ich fröhlich den Hut vor Sheryl.
Für junge Frauen ist die attraktivste Botschaft aus Lean In der Gedanke, dass sie das Schicksal ihrer Karrieren und Familien selbst in der Hand haben. Solche Botschaften hören besonders Amerikanerinnen gerne; in genau diesem Geist waren unsere Vorfahren davon überzeugt, sie könnten in dieses Land kommen, ein Vermögen machen und ein ganz neues Leben anfangen. An diese Botschaft will jede junge Frau, die die Schule abgeschlossen hat und in ihre Zukunft blickt, glauben. Dank ihr bringen es Optimisten im Leben weiter als Pessimisten.[17] Sie ist ein Quell für Hoffnung und Durchhaltevermögen.
Das Problem daran ist nur, dass diese Botschaft leider häufig nicht zutrifft. Oft können wir das Schicksal unserer Karriere und unserer Familie eben nicht steuern; wer das bestreitet, verschleiert die tieferen Strukturen und Kräfte, die unser Leben prägen, und lenkt die Aufmerksamkeit davon ab, wie dringend große Veränderungen nötig sind. Unzählige Frauen hängen sich nach Kräften rein, stoßen aber immer noch an unüberwindbare Hindernisse, die eine Kombination sind aus unvorhersehbaren Lebensumständen und starrer Inflexibilität unserer Arbeitsplätze, aus fehlender öffentlicher Kinderbetreuung und Altenpflege und einer kulturellen Einstellung, die Frauen abwertet, sobald sie aus der Arbeitswelt aussteigen oder sich auch nur ein bisschen zurücklehnen. Andere Frauen beschließen, dass es zu ihren Lebenszielen gehört, Zeit mit denen zu verbringen, die sie lieben, und sich um sie zu kümmern, solange sie können, auch wenn sie dafür ihren Beruf eine Zeit lang zurückstellen müssen.
In vielen Fragen bin ich mit Sheryl Sandberg einer Meinung. Beide ermuntern wir Frauen, sich zu Wort zu melden und ihren Platz am Tisch einzufordern; beide wollen wir strukturelle Veränderungen am Arbeitsplatz. Auf einer bestimmten Ebene besteht der Unterschied zwischen uns vor allem darin, welche Seite der Gleichung wir hervorheben – und dieser Unterschied ist, zumindest was mich angeht, klar dem Alter zuzuschreiben. Mit 43 Jahren (so alt war Sandberg, als sie ihr Buch veröffentlichte) hätte ich ein ganz ähnliches Buch geschrieben wie Lean In. Damals waren meine Kinder noch sehr klein, und ich hatte noch nie mit Konflikten zwischen Arbeit und Privatleben zu tun gehabt, die ich nicht mit fleißigerer Arbeit oder dadurch, dass ich jemand für seine Hilfe bezahlte, hätte bewältigen können. Als ich meinen Artikel schrieb, war ich 53 und stand ganz woanders; und von da aus übersah ich die Umstände und Entscheidungen, vor denen so viele Frauen stehen, die aus irgendeinem Grund festgestellt haben, dass »Reinhängen« einfach keine Option ist.
Auf einer anderen Ebene ist meine Meinungsverschiedenheit mit Sheryl Sandberg allerdings sehr viel grundsätzlicher. In vielerlei Hinsicht haben wir denselben Hintergrund, aber unsere Karrieren haben uns auf sehr unterschiedliche Wege geführt. Sandberg konzentriert sich darauf, wie junge Frauen in der traditionell männlichen Welt der Firmenhierarchien Führungspositionen erreichen können. Für mich ist das ganze System an sich antiquiert und hinfällig. Wenn Anwaltskanzleien und Unternehmen begabte Frauen ausschließen, die vorgefertigte Karriereverläufe ablehnen und Beförderungssysteme infrage stellen, die die geleistete Arbeitszeit höher bewerten als die Qualität der Arbeit, dann liegt das Problem nicht bei den Frauen.
Sandberg schreibt: »Wir Frauen werden dann die äußeren Barrieren [zu unserem beruflichen Aufstieg] beseitigen, wenn wir Führungspositionen erreicht haben. Wir werden in die Büros unserer Chefs marschieren und einfordern, was wir brauchen (…). Oder, noch besser, wir werden selbst Chefinnen und sehen zu, dass alle Frauen bekommen, was sie benötigen.«[18] Ich stimme ihr zu, dass sich durch mehr Frauen in Führungspositionen einiges ändern wird, und hatte selbst das Glück, für zwei wunderbare Chefinnen arbeiten zu dürfen – die Präsidentin der Princeton University Shirley Tilghman und Außenministerin Hillary Clinton –, die wirklich taten, was sie konnten, um Bedingungen für die Förderung von Frauen zu schaffen. Andererseits meldet sich bei fast jedem Vortrag, den ich halte, eine Zuhörerin und erklärt, sie habe eine Chefin, die viel unnachgiebiger mit den Konflikten zwischen Beruf und Familie umgehe als viele männliche Chefs im selben Unternehmen. Es entspricht der Natur des Menschen, die Werte und Praktiken des Systems zu übernehmen, in dem er lebt und Erfolg hat, und von den anderen zu verlangen, es genauso zu machen. Es ist also nicht verwunderlich, dass einige Frauen, die es in einem System bis nach ganz oben geschafft haben, das ihnen einen Wettbewerb in genau denselben Kategorien abverlangt wie den Männern mit Vollzeit-Hausfrauen, manchmal weniger Änderungsbedarf sehen als viele ihrer männlichen Gleichgestellten.
Lean In erklärt uns, wie wir in einer Welt überleben und gewinnen, die immer noch grundsätzlich eine Männerwelt ist – und so viel wie möglich verändern, wenn wir einmal ganz oben angekommen sind. Das ist wichtig, aber darüber hinaus ist ein Wandel auch im sozialen, politischen und kulturellen Bereich unerlässlich. Und der lässt sich nicht innerhalb des Systems durchsetzen, angestoßen von je einer progressiven weiblichen Geschäftsführerin in jedem einzelnen Unternehmen.
Wir müssen unsere Gesellschaft so umgestalten, dass Kosten und Kopfzerbrechen für Kinder- und Seniorenbetreuung nicht nur die Frauen und ihre Familien belasten, und wir müssen unsere Arbeitswelt so umgestalten, dass unsere Arbeitgeber nicht mehr länger davon ausgehen, dass ein Anwalt oder Vertriebsmitarbeiter rund um die Uhr seine E-Mails beantwortet oder dass ein Angestellter in Gastronomie oder Verwaltung rund um die Uhr für den Schichtdienst zur Verfügung steht. Solche Veränderungen gehen über den Feminismus weit hinaus. Wenn wir Modelle in die Tat umsetzen, die Frauen auf jeder Ebene unserer Gesellschaft unterstützen und fördern, dann verändern wir die Dinge für alle zum Besseren.
Mein Mann hat mir beigebracht, mich wie ein Mann zu verhalten. Schon früh in unserer Beziehung saßen wir als junge Dozenten beide in denselben Seminaren und Konferenzen. Andy kann überzeugende Vorträge halten und gewandt diskutieren; er hörte sich an, wie ich meine Argumente vorbrachte. Danach zählte er mir alle Punkte auf, mit denen ich mir selbst ein Bein gestellt hatte: die typisch weiblichen Tropen in Rede und Haltung, die mangelndes Selbstvertrauen signalisieren und damit bewirken, dass andere uns nicht ganz für voll nehmen.[19]
Mein häufigster Fehler bestand darin, einen Kommentar zu einem Vortrag mit einer Bemerkung einzuleiten wie: »Ich bin zwar keine Expertin, aber ich denke …« Wie sagte Andy so treffend: »Wenn du als Erstes allen erzählst, dass du keine Ahnung hast, wie kannst du dann erwarten, dass die Leute dir zuhören?«
Seit Jahren beobachte ich daher meine eigenen Studentinnen und Schützlinge und gebe die Lektionen weiter, die ich selbst gelernt habe: Ich bringe ihnen bei, sich nach einem Vortrag oder einer Vorlesung als Erste zu melden, weil sie so auf jeden Fall aufgerufen werden, selbstbewusst und bestimmt zu sprechen, die Schwachpunkte in einer Argumentation auszumachen und Fragen zu stellen, die die Grundlage für eine bestimmte These darstellen, statt sofort mit einer Gegenthese zu kommen, die sich einfach vom Tisch fegen lässt. Und doch kann die Angst klammheimlich wiederkehren. Noch nach zehn Jahren als Professorin, Dekanin und bezahlte Rednerin kam der alte nagende Selbstzweifel wieder hoch, als ich mit 50 Jahren beim morgendlichen Meeting mit Hillary Clinton gemeinsam mit Menschen am Tisch saß, die schon Regierungserfahrung hatten oder bereits früher für sie gearbeitet hatten. Es dauerte Monate, bis ich mich wieder so selbstsicher und deutlich zu Wort melden konnte wie sonst.
Ich selbst kann bezeugen, dass diese Angst für Frauen ein enormes Hindernis darstellen kann. Wenn dagegen die Zweifel einmal überwunden sind, kann eine Aufwärtsspirale in Gang kommen: Wir gehen davon aus, dass wir Arbeit und Familie unter einen Hut bringen können, wir machen einen Schritt voran, wir haben beruflichen Erfolg, und damit sind wir in einer besseren Ausgangslage, um einzufordern, was wir brauchen, und um Veränderungen anzustoßen, von denen auch andere profitieren können. Ich selbst konnte als Professorin mit 35 Jahren meine Zeit selbst einteilen und hatte mit 42 als Dekanin der Woodrow Wilson School eine Führungsposition inne – ich weiß aus Erfahrung, dass sich Beruf und Familie umso besser vereinbaren lassen, je schneller man selbst der Boss ist. Und daran zu glauben, dass man der Boss sein kann, ist ein ganz erheblicher Schritt, um es auch zu werden.
Was aber, wenn das Leben hineinfunkt? So sehr wir auch versuchen, selbst unser Glück zu machen – dieses Konzept scheint mir übrigens rein amerikanisch zu sein –, wie oft hört man, dass jemand einen bestimmten Job nur deshalb bekommen hat, weil er oder sie »zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort« war? Als ich das College abgeschlossen hatte, hatte ich meine ganze Karriere vorgeplant: Ich wollte für eine große New Yorker Anwaltskanzlei mit internationaler Ausrichtung arbeiten, mich für einen Kanzleipartner unverzichtbar machen, der Regierungserfahrung hatte und möglicherweise auch wieder dorthin gehen würde, und ihm dann gewissermaßen als persönliche Assistentin nach Washington folgen – dieser Weg war damals durchaus nicht ungewöhnlich. Nie hatte ich daran gedacht, dass ich das Arbeitsleben einer Großkanzlei wirklich nicht mögen würde oder dass ich einen Mann heiraten würde, der derart fest in Boston verwurzelt war.
Natürlich sind das relativ harmlose Beispiele für die unerwarteten Umstände, die man früher Schicksal nannte. Sie lassen sich nie im Voraus planen, aber sie können sich später erheblich und ganz real auswirken. So eine unerwartete Wendung im Leben kann eine späte Heirat sein, gar keine Heirat, eine Scheidung oder Unfruchtbarkeit. Ein Konjunkturtief, ein Chef, der Ihre Verdienste einfach nicht erkennt, so selbstsicher Sie sie auch vortragen, eine Arbeitsstelle weit weg von Ihrem Partner, ein Kind, das Sie mehr braucht, als Sie erwartet haben, oder mit dem Sie mehr Zeit verbringen möchten, als Sie erwartet haben, pflegebedürftige Eltern. Krankheit, Arbeitslosigkeit, Schulden, natur- oder menschengemachte Katastrophen.
Bei einem System spricht man von Resilienz, wenn es unerwartete Störungen auffangen kann, wenn es voraussieht, dass es viele verschiedene Wege zum selben Ziel gibt. Wichtige Faktoren der persönlichen Resilienz sind Selbstvertrauen und Überzeugung. Doch selbst für die Optimisten unter uns ist die Annahme, dass das Leben schon seinen Lauf nehmen wird, kein alleiniges Erfolgsrezept. Wir sollten die Möglichkeit von Rückschlägen und unvorhergesehenen Ereignissen einbeziehen, darauf vorbereitet sein, sie einplanen. Dazu gehört eine realistische Einschätzung unserer eigenen Fähigkeiten; wenn Sie acht Stunden Schlaf brauchen, ist ein Leben mit Fünf-Stunden-Nächten nicht machbar. Wenn Sie kein Organisationsweltmeister sind, dann ist bei dem Versuch, ein Büro und einen Haushalt gleichzeitig zu führen, Stress praktisch vorprogrammiert, und das nicht erst mit pubertierenden Kindern. Wenn Sie eher eine kreative Person sind, wird ein Stundenplan, bei dem jede Minute mit familiären oder beruflichen Terminen vollgestopft ist, Sie bald an den Rand Ihrer Kraft bringen.
Besonders wichtig ist es, die Möglichkeit eines Tipping-Points einzubeziehen, also eines Momentes, ab dem alles, was bisher eine zu schaffende, gewinnbringende Balance zwischen Beruf und Familie war, plötzlich nicht mehr funktioniert – ganz unabhängig von Ehrgeiz, Selbstvertrauen oder auch einem gleichberechtigten Partner. Nach meiner eigenen Erfahrung, aber auch laut Briefen und Gesprächen mit anderen Frauen, die mit allem erdenklichem Ehrgeiz angefangen hatten, sich aber plötzlich in einer ganz unerwarteten Situation der »Schwäche« wiederfanden, ist der Tipping-Point immer individuell; aber sein Auftreten ist so regelmäßig, dass er sich als klares Muster fassen lässt.