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Kaum ist Rachelle in ihren Heimatort am Whitefire Lake zurückgekehrt, trifft sie auf Jackson Moore, ihre große Liebe. Noch immer spürt sie dieses knisternde Prickeln in seiner Nähe, aber die Vergangenheit steht zwischen ihnen: Jackson wurde des Mordes verdächtigt! Dennoch erliegt Rachelle erneut ihrer Leidenschaft. Dabei weiß sie, eine gemeinsame Zukunft mit Jackson ist erst möglich, wenn sie herausfinden, was damals wirklich geschah!
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Seitenzahl: 380
Lisa Jackson
Was nur die Nacht weiß
Aus dem Amerikanischen von Justine Kapeller
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2015 by MIRA Taschenbuchin der HarperCollins Germany GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:
He’s A Bad Boy
Copyright © 1992 by Susan Crose
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Mareike Müller
Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Autorenfoto: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
ISBN eBook 978-3-95649-461-1
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Es heißt, wenn der Gott der Sonne sich über die Berge erhebt und seinen flammenden Pfeil auf den See richtet, fallen Funken und glühende Asche hinein, die einen Nebel wie weißes Feuer über dem Wasser aufsteigen lassen. Demjenigen, der von dem Wasser trinkt, bevor die Sonne den Nebel vertreibt, werden Reichtum und Glück geschenkt, und er wird die Hügel um den See nie wieder verlassen. Aber er darf nur sparsam aus der magischen Quelle trinken, nur so viel, bis der Durst erloschen ist. Befolgt er dies nicht, erzürnt er den Gott der Sonne, und der Mensch wird verflucht sein, seinen Reichtum verlieren und das, was er auf Erden am meisten liebt, wird ihm entrissen.
San Francisco, Kalifornien
Gegenwart
Der Wind wehte frisch und zu kalt für den Frühsommer von der Bucht herein und kroch Rachelle Tremont unter die Lederjacke. Vom bleigrauen Himmel fing es an zu regnen. Sie eilte mit schnellen Schritten die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf.
„Mach schon, mach schon!“, murmelte sie, während sie in ihrer Handtasche vergeblich nach den Schlüsseln kramte. Der Regen tropfte aus einer überfließenden Regenrinne, und ihr schwarzer Kater Java miaute laut zu ihren Füßen. „Ich versuch’s ja“, bibberte sie, als sie endlich den Schlüssel in einem Seitenfach gefunden hatte. Die Tür allerdings klemmte, wie sie es bei Regen immer tat. Rachelle musste mit der Schulter nachhelfen.
Endlich daheim! Sie tropfte auf den abgetretenen grauen Teppich, und ihre Hände fühlten sich an wie Eis. Eigentlich, sagte sie zu sich selbst, sollte sie sich gut fühlen. Sie hatte endlich die Entscheidung getroffen, sich der Vergangenheit zu stellen, um in die Zukunft blicken zu können.
Sie stöpselte die Kaffeemaschine ein, stellte Java eine Schüssel Milch hin und spielte dann die einzige Nachricht ab, die sich auf ihrem Anrufbeantworter befand.
Es war ihre Schwester. „Rachelle? Rachelle, bist du da?“, fragte Heather. „Wenn du da bist, geh ran und erspar mir den Unsinn von wegen Deadlines und diesem ganzen Mist! Rachelle? Mom hat gerade angerufen. Sie hat gesagt, du willst zurück nach Gold Creek … Bist du wahnsinnig? Weißt du nicht mehr, was dort passiert ist? Dein Leben ist dort praktisch ruiniert worden! Du meine Güte, Rachelle, warum willst du da wieder hin?“ Eine Pause. „Das hat doch nichts mit Jackson Moore zu tun, oder? Rachelle? Rachelle?“ Noch eine Pause, in der Rachelles Herz so heftig schlug, dass Heather es tatsächlich hören müsste. „Melde dich!“, verlangte Heather besorgt. „Bevor du dich auf diese Reise begibst, die so gut wie emotionaler Selbstmord ist, ruf mich an! Hör zu, Rachelle – du bist doch die Vernünftige von uns beiden! Und du hast mal zu mir gesagt, dass ich dich erschießen soll, wenn du je etwas so Wahnsinniges vorhast wie in diese Stadt zurückzukehren. Erinnerst du dich noch? Mach bloß nicht so einen Unsinn! Und vergiss Jackson einfach! Hörst du? Vergiss ihn! Der Typ bedeutet nichts als Ärger. Das hat er immer schon getan und er wird es auch immer tun … Ich wünschte, du wärst zu Hause, damit wir darüber sprechen können“, fügte sie besorgt hinzu. „Okay. Ruf mich an. Okay?“, wiederholte sie.
Endlich ein Klicken und ein Piepton, und Rachelle atmete erleichtert aus. Ihre Hände bebten, während sie sich einen Becher Kaffee einschenkte. Die bloße Erwähnung von Jackson brachte sie schon durcheinander. Es war zwölf Jahre her. Zwölf Jahre! Wie konnte ihr das alles immer noch so unter die Haut gehen? Dieser Mann hatte ihr den Rücken zugekehrt, obwohl sie als Einzige auf seiner Seite gewesen war in einer Stadt, die ihn am höchsten Baum aufknüpfen wollte.
Die Antwort war ganz einfach – und dennoch so kompliziert. Trotz ihrer bodenständigen Art hatte Rachelle einst eine romantische Seite besessen, einen Teil ihrer Persönlichkeit, der an Märchen glaubte, an Schlösser und an Prinzen auf weißen Pferden. Und an böse Jungs? Hatte sie nicht auch an den Mythos des Bad Boy mit dem Herz aus Gold für wahr gehalten? Jackson Moore hatte ihr diese Flausen ausgetrieben. Und alles in allem hatte er ihr damit einen Gefallen getan.
Sie schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte sie über die Rückenlehne eines Korbstuhls. Von den Ärmeln lief Wasser auf den Boden, aber das war ihr egal. Sie überlegte kurz, ob sie Heather zurückrufen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Warum mit ihrer jüngeren Schwester streiten? Sie konnte sie vor sich sehen, mit den akkurat geschnittenen blonden Haaren, Seidenhose und passendem Top und mit einem perfekten Lächeln. Sie zählte zur Elite San Franciscos – wenigstens hatte sie das während ihrer Ehe mit Dennis Leonetti getan. Er war ein reicher Mann; seinem Vater gehörte die Bank of The Greater Bay. Jetzt, geschieden und alleinerziehend, verdiente Heather sich ihren Lebensunterhalt selbst. Ihre Galerie befand sich unweit vom Ghirardelli Square.
Heather hatte selbst genug Probleme. Sie sollte sich nicht auch noch um ihre ältere Schwester Sorgen machen – die eingefleischte Journalistin, die sich immer für die Schwächeren einsetzte und sich nicht davon abhalten ließ, das Büro einer x-beliebigen Person des öffentlichen Lebens zu stürmen, um ein Zitat für einen Artikel zu bekommen.
Die Reporterin, die immer noch anfing zu zittern, wenn es um einen ganz bestimmten Mann ging, einen Mann, den sie seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Rachelle blickte auf den braunen Umschlag, der auf ihrem unordentlichen Küchentisch lag, eine Kopie des Artikels, den sie bereits beim San Francisco Herald eingereicht hatte. Darin erklärte sie, warum sie ihre Kolumne für die nächsten zehn Wochen in Gold Creek, Kalifornien, schreiben würde, der Stadt, in der sie aufgewachsen war. „Zurück nach Gold Creek“ sollte am nächsten Tag landesweit in mehreren Zeitungen erscheinen.
Ihre Redakteurin Marcy Dupont erwartete mehr – viel mehr. Marcy wollte ein Interview mit Jackson Moore, telefonisch natürlich. Allerdings blieb dieses Anliegen wahrscheinlich unerfüllbar.
Nachdenklich runzelte Rachelle die Stirn und streifte sich ihre durchweichten Stiefel ab. Auch ihre Socken hatten sich mit Wasser vollgesogen. Sie zerrte sie sich von den Füßen und warf sie ins Waschbecken im Badezimmer. Barfuß tapste sie in ihr Schlafzimmer, kämmte sich die Haare mit den Fingern durch und flocht die nassen Strähnen danach zu einem kastanienbraunen Zopf, der ihr beim Gehen um die Schultern schwang.
Sie hatte sich entschlossen, nach Gold Creek zu fahren, und komme was wolle – sie würde es durchziehen. Egal, wie viel Heather auf sie einredete: Ihre Meinung konnte sie damit nicht ändern. Mit ihrer Redaktion hatte sie die Details bereits abgeklärt. Marcy war begeistert von einer Kolumnenreihe über die Besinnung auf sich selbst und die Stadt, in der sie aufgewachsen war. Rachelle biss sich auf die Unterlippe und spürte einen kleinen schuldbewussten Stich, weil sie Jackson in diese Sache verwickeln musste. So ein Pech. Besonders jetzt, da sie über ihn hinweg war – vollkommen über ihn hinweg.
Sie war jetzt mit David zusammen, dem lieben, verständnisvollen David. Hatte er nicht darauf bestanden, dass sie zurückkehrte, um „sich selbst zu finden“? Was er damit wirklich meinte, war, dass sie zurückkehren sollte, damit sie mit der Vergangenheit ein für alle Mal abschließen konnte und zu ihm zurückkam. Er wollte, dass sie bei ihm einzog, ihn heiratete und seinen Teenagern-Töchtern eine Mutter war. Und er wollte, dass sie damit zufrieden war. Weil er keine neue Familie gründen wollte – nicht mit fünfundvierzig. David war sechzehn Jahre älter als Rachelle, und er wollte eine Frau an seiner Seite, die nicht auf eigene Kinder bestand. Eine jüngere Frau, die auf Firmenfeiern einen guten Eindruck machte, ihm das Abendessen kochte und gleichzeitig eine eigene, interessante Karriere aufzuweisen hatte. Rachelle entsprach diesen Anforderungen. Nur, dass sie vorher noch einige eigene Probleme zu bewältigen hatte.
Also fuhr sie nach Gold Creek. Für David. Ihren Job. Sich selbst.
Jackson?
In einer Million Jahren nicht.
Alles, was sie jetzt noch machen musste, war packen. Aber sie starrte nur ihren Wandschrank an. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie das Jahrbuch der Tyler High entdeckte und daneben das Album mit den vergilbten, abgegriffenen Seiten aus ihrer Jugend.
Obwohl sie wusste, dass sie einen Fehler beging, trat sie an den Schrank, holte das Album heraus und setzte sich im Schneidersitz auf den Webteppich. Ihr Knie blitzte durch den Riss in ihren Jeans, während sie das ausgeblichene Fotoalbum langsam öffnete und die alten Artikel betrachtete, die sie aus dem Gold Creek Clarion ausgeschnitten hatte. Die Bilder waren verblasst und das Papier mit der Zeit brüchig geworden, doch Jackson Moore war immer noch so präsent wie damals. Er funkelte die Kamera an wie einen Feind.
Seine dunklen Augen blickten grüblerisch drein, sein sinnlicher Mund war abweisend verzogen, und das Haar klebte ihm nass am Kopf. Er schaute über die Schulter seiner schwarzen Lederjacke. Man hatte ihm die Hände auf dem Rücken in Handschellen gelegt, sie waren schmutzig und blutverklebt. Ein Polizist führte ihn durch die Türen aus Glas und Stahl ins Bezirksgefängnis.
Rachelles Herz hämmerte gegen die Rippen, in ihren Augen brannten Tränen. Die Druckerschwärze der Zeitung war verblasst und die Aufnahme von Jackson zerknittert. Doch in Rachelles Erinnerung schien es, als wäre jene Nacht, die ihr Leben für immer verändert hatte, gerade gestern gewesen …
Gold Creek, Kalifornien
Zwölf Jahre zuvor
Die Nacht war warm. Der Mond leuchtete hinter den vorbeiziehenden Wolken hervor, die immer dichter wurden, und in der Luft lag ein Hauch von Abenteuer, der Rachelles siebzehnjähriges Herz zum Klopfen brachte. Das Football-Feld leuchtete grün im künstlichen Licht, die Menschenmenge war laut und aufgeregt. Aber da war noch mehr: die flirrende Atmosphäre schien regelrecht elektrisch aufgeladen zu sein.
Vielleicht lag es daran, dass Homecoming Day war, der Tag, an dem die Absolventen zu ihrer alten Highschool zurückkehrten, und eine Parade der Schüler sich durch die ganze Stadt gewunden hatte. Vielleicht war es, weil die Tyler High Hawks gegen ihre Gegner aus Coleville spielten. Oder vielleicht hing es damit zusammen, dass Rachelle, die ihr ganzes Leben lang immer das getan hatte, was man von ihr erwartete, an diesem Abend plante, ihr Image vom „guten Mädchen“ abzustreifen. Sie hatte schon ihre Mutter angelogen, ohne es zu wollen, und bedauerte das mehr als nur ein bisschen.
Aber es gab kein Zurück. Es war an der Zeit, sich ins Abenteuer zu stürzen – oder wenigstens den großen Zeh ins Abenteuer zu tauchen. Für eine ausgemachte Rebellion war sie noch nicht bereit.
Aus den Lautsprechern jaulte ohrenbetäubend laut eine Rückkopplung.
Rachelle zuckte zusammen, richtete aber dennoch die Kamera auf die Tribüne aus Sperrholz, die man für die Zeremonie vor dem Spiel aufgebaut hatte. Als Reporterin für die Schülerzeitung schoss sie manchmal auch Fotos, und jetzt gerade musste sie diese Aufgabe übernehmen, da Carlie, die eigentliche Fotografin, ihnen Getränke am Erfrischungsstand besorgte. Es störte sie nicht. Der Blick durch die Linse verschaffte ihr manchmal ein klareres Bild auf den Menschen, den sie interviewte, und half ihr sogar noch dabei, ihre Artikel zu schreiben.
Sie richtete die Kamera auf ihren Schuldirektor, Mr Leonard, der sich mit großer Geste auf die gefüllten Zuschauerreihen an einen der Schüler wandte, die für die Lautsprecheranlage zuständig waren.
„… und zwar sofort! Oh … Test, Test. Eins, zwei, drei. Los geht’s!“ Ihm gelang ein zerknirschtes Grinsen, als er laut gegen das Mikrofon klopfte und seine Stimme durchs ganze Stadion hallte. „Gut. Jetzt, wo anscheinend alle Fehler im System behoben sind, können wir mit den Feierlichkeiten fortfahren.“ Er redete ungefähr eine Minute lang über die Tyler High und fügte dann hinzu: „Außerdem möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um Thomas Fitzpatrick für seine großzügige Spende an unsere Schule zu danken.“
Gegenüber der Zuschauertribüne, auf der anderen Seite des Spielfelds, glitzerten die tausend Lichter der neuen elektronischen Anzeigetafel. Oben an der Tafel stand in großen Buchstaben „Fitzpatrick Logging“, und das Logo des Holzfällerunternehmens prangte deutlich am unteren Teil. Keiner, der sich ein Football-Spiel im Tyler Stadion ansah, würde den Namen Fitzpatrick je wieder vergessen. Rachelle lächelte schief. Nicht, dass das irgendeinem Einwohner von Gold Creek gelingen könnte, dachte sie.
Klick. Klick. Klick. Sie schoss mehrere Aufnahmen der neuen Leuchtanzeige und noch ein paar von der kleinen Gruppe auf dem Spielfeld. Klein und rund stand Schulleiter Leonard im Mittelpunkt und redete immer weiter über die Großzügigkeit der Familie Fitzpatrick. Rachelle verzog das Gesicht. Die Fitzpatricks waren eine der reichsten Familien von Gold Creek, und Thomas Fitzpatrick ließ keine Gelegenheit aus, um seine Wohltätigkeit unter Beweis zu stellen.
Die beiden Männer gaben sich die Hand. Fitzpatrick war groß und gut aussehend. Mit seinen breiten Schultern und den silbernen Strähnen im schwarzen Haar sah er aus wie ein Politiker im Wahlkampf. Es wurde allgemein spekuliert, dass er sich mit seinem ganzen Geld eines Tages der Politik zuwenden würde – zum Vorteil von Fitzpatrick Logging, dem Hauptarbeitgeber der Stadt. Und deswegen auch zum Vorteil von Gold Creek, Kalifornien.
Tosender Applaus erhob sich im Stadion, sowie Fitzpatrick sein viel fotografiertes Lächeln aufblitzen ließ und seine Frau June umarmte, die zusammen mit ihren drei Kindern neben ihrem Mann stand.
Ja, dachte Rachelle, während sie den Film zurückspulte, den Fitzpatricks sah man an, was sie waren – die königliche Familie der kleinen kalifornischen Holzfällerstadt. June war eine große blonde Frau mit feinen, arroganten Gesichtszügen, schmalen Augenbrauen und hervorstehenden Wangenknochen. Ihr ältester Sohn Roy war ebenfalls blond, aber kräftig gebaut wie sein Vater. Noch im Jahr zuvor war Roy der Star-Quarterback der Tyler High Hawks gewesen. Jetzt führte sein jüngerer Bruder Brian das Team an. Brian stand auch bei der Familie. Er überragte Roy in seiner Ausrüstung; seinen Helm hatte er unter den Arm geklemmt. Das jüngste Mitglied der Familie Fitzpatrick, ein Mädchen namens Toni, stand ein Stück von der Familie entfernt. Sie war erst vierzehn, versprach aber bereits eine Schönheit zu werden und verursachte gerüchtehalber mehr Ärger als beide Söhne zusammen.
„Rachelle! Hier, das musst du dir reinziehen!“, rief Carlie, die zwei Softdrinks in der Hand balancierte, während sie sich durch die immer dichter werdende Menge am Spielfeldrand schlängelte. Etwas von der Limonade war über den Rand gespritzt, und sie leckte sich deshalb gerade die Finger ab. „Hier ist deine Cola.“
„Wird auch Zeit, dass du kommst“, neckte Rachelle sie. „Eigentlich bist du für die Bilder verantwortlich …“
„Ich weiß, ich weiß.“ Carlies blaugrüne Augen funkelten fröhlich. „Und jetzt komm mit! Da gibt es etwas, das musst du dir ansehen.“
„Eine Minute.“ Rachelle machte noch die letzten Aufnahmen und tauschte dann die Kamera gegen einen Becher ein. Die Cola war kalt und glitt ihr leicht die Kehle hinab.
„Sieh zum Nordrand des Spielfelds. Hier, nimm das.“ Carlie stopfte die Kamera in ihre übergroße Tasche und zog ein kleines Fernglas heraus. „Nein, nein, nicht da! Nördlicher! Siehst du ihn jetzt?“ Sie zeigte auf die gegenüberliegende Tribüne.
Rachelle spähte durch das Fernglas. Sie ließ ihren Blick über den grünen Rasen schwenken, der im Licht der Flutlichter schimmerte, und über die Laufbahn, die um das Spielfeld herumführte. Hinter der Bahn kam ein Maschendrahtzaun, der den Sportbereich vom Parkplatz abtrennte.
„Siehst du ihn?“
„Wen?“
Ungeduldig legte Carlie ihre Finger an Rachelles Kinn und drehte ihr den Kopf ein Stück zur Seite. Rachelles Blick landete auf einem Motorradfahrer, der rittlings auf einer riesigen schwarzen Maschine saß.
„Oh“, sagte sie. Ihre Kehle war auf einmal ganz trocken.
„‚Oh’ wird ihm nicht ganz gerecht.“
Carlie hatte recht. Der Junge – na ja, fast ein Mann – auf dem Motorrad war groß, über einen Meter achtzig, mit mitternachtsschwarzen Haaren und markanten Gesichtszügen, die er zu einer Miene grimmiger Entschlossenheit verzogen hatte. Seine Haut war gebräunt, aber nicht dunkel genug, um die Schnittwunde unter seinem Auge zu verbergen oder den blauen Fleck auf seiner Wange. Umrahmt von den Lichtern des Einkaufszentrums hinter ihm und von den Festlichkeiten durch den Zaun abgegrenzt schien er irgendwie bedrohlich, als wäre seine Ausgeschlossenheit ebenso seine eigene Entscheidung gewesen wie die aller anderen. Er starrte durch den Zaun auf die Mitte des Spielfelds, wo die Fitzpatricks sich wie der Inbegriff der perfekten Familie präsentierten. Der Motorradfahrer sah aus, als würde er sie gern eigenhändig in Stücke reißen.
Rachelles Herz fing an schneller zu schlagen.
„Das ist Jackson Moore“, erklärte Carlie ihr, als würde Rachelle den Namen von Gold Creeks berüchtigtstem schwarzen Schaf nicht kennen.
„Was macht er hier? Ich dachte, er hätte die Stadt verlassen.“ Rachelle stellte das Fernglas wieder scharf, bis sie Jacksons markante Züge deutlich erkennen konnte. Eine Sekunde lang fand sie ihn attraktiv mit seinen messerscharfen Zügen und den schmalen Lippen, aber es war weniger sein Aussehen und mehr seine Ausstrahlung, die ihn so geheimnisvoll wirken ließ – sogar sexy. Sie fragte sich, ob sie den Verstand verloren hatte, ließ das Fernglas um ihren Hals baumeln, griff nach der Kamera und setzte das Zoom-Objektiv auf. Und dann schoss sie einige Aufnahmen vom Bad Boy von Gold Creek.
„Davon will ich einen Abzug“, sagte Carlie grinsend, ehe sie das Fernglas vor die eigenen Augen hob.
Rachelle ignorierte sie. „Du weißt also nicht, warum er zurückgekommen ist?“
„Hast du das nicht mitbekommen? Er hat riesigen Ärger mit den Fitzpatricks“, klärte Carlie sie auf. „Deswegen sieht er sie alle so grimmig an. Mein Dad ist doch Vorarbeiter bei Fitzpatrick Logging, und normalerweise ist er deswegen immer in den Wäldern unterwegs. Aber heute musste er ins Büro kommen, um Papiere auszufüllen, weil vor ein paar Tagen ein Unfall passiert ist.“ Sie räusperte sich. „Jedenfalls war Jackson da und hat einen Aufstand gemacht, weil seine Mutter für ‚dreckiges Fitzpatrick-Geld’ arbeitet, so hat er es ausgedrückt, glaube ich. Es ist ja nicht so, als wäre sie andauernd da. Sie arbeitet ein paar Stunden die Woche und legt Akten ab oder so. Alle glauben, der alte Fitzpatrick hat sie aus Mitleid angestellt. Sie sind wohl zusammen zur Schule gegangen, und er steht auf Wohltätigkeit. Jedenfalls scheint Jackson etwas dagegen zu haben.“
Rachelle nahm noch einen Schluck von ihrer Cola, ohne den Blick von Jackson zu nehmen. Ihre Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet.
Carlie plapperte weiter. „Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass Thomas Fitzpatrick Jackson vor ein paar Jahren einen Job gegeben und ihn dann wieder gefeuert hat. Niemand weiß warum, nicht einmal mein Dad, aber er vermutet, dass Jackson Werkzeug geklaut hat oder so etwas, und dass Fitzpatrick ihn deswegen nicht anzeigen wollte.“ Ein schuldbewusster Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Das sollte ich eigentlich nicht herumerzählen …“
„Dein Geheimnis ist bei mir sicher“, versprach Rachelle, fragte sich aber, wie vielen Leuten Carlie noch davon erzählt hatte. Carlie liebte Tratsch, und wenn man ihr nicht gerade den Mund zunähen wollte, gab es keine Möglichkeit, sie davon abzuhalten, Gerüchte zu verbreiten. Wahrscheinlich wusste schon die ganze Schule von Jackson Moores Auftritt wegen seiner Mutter.
Rachelle biss sich auf die Unterlippe und starrte unverhohlen über das Spielfeld bis an die Stelle, wo Jackson unverändert dastand. Plötzlich riss er den Kopf herum und ließ den Blick über die Menge wandern. Sein Blick landete mit einer Kraft auf ihr, die sie wie ein elektrischer Schlag durchfuhr. Ihr zog sich die Kehle zusammen, und ihre Hände wurden feucht. Sie wandte sich rasch ab und trank dann ihre Cola mit einem Schluck aus.
Natürlich war das albern. Er konnte sie nicht in einer Menschenmenge ausmachen; er hatte keine Ahnung, dass sie an ihn dachte oder auch nur in seine Richtung geblickt hatte. Aber als sie einen weiteren Blick durch den Zaun wagte, starrte er sie immer noch an.
Als sie mit den Fingerspitzen ihren Hals berührte, spürte sie, wie sich dort auf ihrer Haut feine Schweißperlen sammelten. Sie konnte nicht anders, als ein klein bisschen fasziniert zu sein von diesem Jungen mit dem schwärzesten Ruf von ganz Gold Creek. Er war fast zweiundzwanzig, und er lebte zusammen mit seiner Mutter am Rand von Gold Creek in einem rostigen kleinen Wohnwagen. Niemand in der Stadt wusste, wer sein Vater war. Seit Rachelle denken konnte, hatte er Ärger mit dem Gesetz gehabt: Als Teenager hatte er Benzin und Radkappen gestohlen, auf Briefkästen geschossen und wegen Prügeleien auf dem Schulhof einen Schulverweis bekommen. Irgendwie war es ihm dennoch gelungen, seinen Abschluss zu machen, auch wenn niemand in Gold Creek ihm zutraute, dass es ihm gelingen würde, jemals etwas aus sich zu machen.
Er war zur Marine gegangen und für ein paar Jahre aus der Stadt verschwunden. Aber jetzt war er zurück, in schwarzer Lederjacke auf einer dröhnenden Harley Davidson, sein ramponiertes Image als schwer erziehbares Kind aus der schlimmen Ecke der Stadt noch immer intakt.
„Oh du lieber Gott, er sieht dich ja an!“, flüsterte Carlie laut. „Weißt du, sein Gesicht ist echt anbetungswürdig.“
„Er ist gefährlich“, entgegnete Rachelle und zerknüllte ihren Plastikbecher.
Carlies blaugrüne Augen funkelten. „Natürlich ist er das“, seufzte sie. „Das macht ihn ja so anziehend.“
„Laura hat gesagt, wir treffen uns auf dem Parkplatz, nachdem sie sich etwas anderes als die Cheerleading-Uniform angezogen hat“, teilte Carlie mit, als sie und Rachelle eine Stunde später von der immer leerer werdenden Tribüne kletterten. Sie waren im Stadion geblieben, um nach dem Spiel Aufnahmen von den besten Spielern zu machen und einige Zitate für die nächste Ausgabe der Schülerzeitung zu sammeln. Carlie hatte ein paar Schnappschüsse von Brian Fitzpatrick und Joe Knapp gemacht, dem Wide Receiver des Teams, der nach einem unsicheren Pass von Fitzpatrick fünfzig Meter gesprintet war, um den Touchdown zum Sieg zu erzielen. Carlie hatte die Spieler fotografiert, während Rachelle ein kurzes Interview mit Coach Foster geführt hatte. Jetzt wollten sie sich mit Laura treffen. Sie war Carlies und Rachelles Freundin und eines der beliebtesten Mädchen der Schule.
„Da ist ihr Wagen!“ Carlie deutete auf einen gelben Toyota. „Sie muss irgendwo hier sein. Oh, sieh mal, da drüben …“
Rachelle sah sich auf dem Parkplatz um und entdeckte Laura neben einer glänzend roten Corvette. Zwei Jungs saßen in dem Wagen, ein weiterer lehnte am Kotflügel eines Pick-ups, der neben dem Sportwagen parkte.
„Oh mein Gott, das ist Roy Fitzpatrick!“, flüsterte Carlie. „Glaubst du, er ist der neue Freund, von dem sie gesprochen hat?“ Ehe Rachelle antworten konnte, rannte Carlie bereits durch die Autos hindurch, die noch auf dem Parkplatz standen. Rachelle fand schon jetzt, dass ihre rebellische Phase nicht das hielt, was alle immer versprachen. Roy Fitzpatrick? Er hatte den Ruf, mit Worten zu schmeicheln, seine Hände schnell überall zu haben und sich noch schneller wieder zu verabschieden. Auf der Tyler High kursierten Gerüchte über seinen sexuellen Appetit, sogar über eine schwangere Freundin in Coleville wurde getratscht. In der letzten Zeit war er mit Melanie Patton zusammen gewesen, der Schwester seines besten Freundes.
Rachelle war Roy schon einige Male begegnet, um ihn für die Schülerzeitung zu interviewen. Sie war wahrscheinlich das einzige Mädchen in der ganzen Schule, das nicht in ihn verknallt war.
Sie ignorierte das ungute Gefühl, das ihr wie eine dunkle Wolke zu folgen schien, schlängelte sich durch die Autos und achtete besonders auf die Wagen, die in Reihe darauf warteten, den vollen Parkplatz zu verlassen.
Die Nacht war drückend. Über ihnen hingen inzwischen dunkle Wolken am Himmel, die Regen verhießen. Es roch nach Abgasen und heißen Motoren, darüber wehte ein schwächerer Duft nach schalem Bier und Zigaretten. Eine leichte Brise ließ die trockenen Blätter raschelnd über den Asphalt tanzen.
Der glänzend rote Lack der Corvette strahlte im Licht der Notbeleuchtung. Roy, der Kronprinz von Fitzpatrick Logging, saß am Steuer, klopfte mit dem Fuß ungeduldig aufs Gaspedal und brachte den starken Motor des Fahrzeugs damit zum Brummen.
Scott McDonald, einer seiner Freunde, saß auf dem Beifahrersitz, und Erik Patton lehnte am Kotflügel seines metallicblauen Pick-ups.
„Roy will mit uns einen Ausflug machen“, verkündete Laura, als Rachelle sich ihnen genähert hatte. Sie warf ihr einen triumphierenden Blick zu, als hätte sie einen Preis gewonnen, hinter dem alle Mädchen in der Stadt her waren.
„Wohin?“, fragte Rachelle. Sie fühlte sich unbehaglich. Auch wenn Roy und seine Freunde nur zwei Jahre älter als sie waren, schienen sie doch so viel reifer zu sein.
„Weißt du noch, als ich gesagt habe, ich kenne jemanden mit einem Sommerhaus am See?“, rief Laura ihr in Erinnerung.
Die Fitzpatricks besaßen ein Haus am Whitefire Lake, aber es musste vier oder fünf Mal so groß sein wie der Bungalow, in dem Rachelle aufgewachsen war. Sommerhaus? Andererseits – Laura war etwas anderes gewöhnt. Ihre Eltern arbeiteten beide, und sie hatte nie auf etwas verzichten müssen.
Und es sah so aus, als würde Laura jetzt Roy Fitzpatrick wollen. Als hätte sie ihr Zögern gespürt, sagte sie: „Komm schon, Rachelle, warum denn nicht?“ Ihre Augen leuchteten sehnsüchtig, als sie einen Blick auf Roy warf.
Roy schenkte ihnen allen – Rachelle, Laura und Carlie – sein geübtes, typisch amerikanisches Lächeln. Sein weizenblondes Haar trug er kurz geschoren, und unter seinem gelben Polohemd zeichnete sich sein sportlicher Körper ab. „Ja, Rachelle, warum nicht?“ Er ließ den Blick langsam und dreist an ihr hinaufwandern.
Sie musste schlucken. Bis auf die letzten paar Wochen, in denen sie sich mit Laura angefreundet hatte, war sie von Jungs kaum beachtet worden, schon gar nicht von älteren, die schon aufs College gingen und denen praktisch die ganze Stadt gehörte.
„Ja, warum nicht?“, mischte Carlie sich ein. „Wir wollten den Tanz doch sowieso sausen lassen.“
Laura hatte zu Rachelle gesagt, dass sie durch die Stadt fahren wollten, falls der Tanz zu langweilig wurde, vielleicht sogar bis nach Coleville; schließlich war keines der Mädchen mit jemand Besonderem aus Gold Creek zusammen. Übernachten wollten sie dann bei Laura zu Hause. Ganz sicher war nie die Rede davon gewesen, mit Roy und seinen Freunden zum See zu fahren.
Rachelle zögerte. Alle starrten sie an. „Immer noch die Prüde?“, zog Roy sie auf, und Rachelles Wangen färbten sich flammend rot. Woher wollte dieser Kerl irgendetwas über sie wissen?
„Ich habe meiner Mom gesagt, dass wir zum Tanz gehen …“
„Und?“, mischte Roy sich schon fast verärgert ein. „Was deine Mom nicht weiß, macht sie auch nicht heiß.“
Laura warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Da war doch sowieso nur eine Ausrede, Rachelle.“
Rachelle biss sich auf die Unterlippe. Das war ihre Chance. War sie nicht immer der Streber gewesen? Das Mädchen, das lieber lernte, für die Schülerzeitung schrieb oder Kulissen für die Theatergruppe malte, als sich mit Jungs zu beschäftigen? Doch in letzter Zeit, nachdem Laura ihr mit Make-up und Haaren geholfen hatte, riefen sie auf einmal bei ihr an und wollten mit ihr ausgehen. Das Gefühl gefiel ihr. Roy allerdings vertraute sie nicht.
„Also, was willst du sein?“, fragte Roy und sah sie mit seinen blauen Augen lodernd an. „Mamas kleines Mädchen – oder möchtest du lieber Spaß haben? Wir können hier nicht die ganze Nacht warten.“
„Ganz genau.“ Erik warf einen Blick über die Schulter. Sein Truck konnte es mit Roys schnittiger Karre nicht aufnehmen, aber das Vermögen der Pattons wurde auch nicht von einer Generation zur nächsten weitergereicht wie bei den Fitzpatricks. So lange sich Menschen in Gold Creek angesiedelt hatten, so lange hielten die Fitzpatricks schon Geld in den Händen.
„Komm schon, Rachelle!“, drängte Carlie.
„Ja, lass uns mit den Jungs abhängen“, stimmte Laura zu und lächelte die drei College-Studenten an. Sie fächelte sich mit den Fingern Luft zu. „Es ist so heiß heute Abend. Am See ist es jetzt sicher toll.“
Roy ließ sein Reicher-Junge-Lächeln aufblitzen, ein langsam breiter werdendes Lächeln, das bekannt dafür war, selbst die eisigste Jungfrau zum Schmelzen zu bringen.
Laura lehnte sich gegen den Kotflügel der Corvette und stützte sich mit den Händen auf die glänzende Motorhaube. Ihre Brüste zeichneten sich deutlich unter ihrem Pullover ab. „Also, mir wäre nichts lieber als eine Ausfahrt.“
„Das klingt schon besser. Ich dachte schon langsam, ihr Mädchen hättet Angst“, sagte Roy gedehnt. Seine blauen Augen blitzten auf, als sein Blick Rachelle streifte. Er drückte mit dem Zeh aufs Gaspedal und brachte den Motor der Corvette zum Schnurren.
„Ja, komm mit! Wir zeigen euch, wie man richtig Spaß hat“, stimmte Scott zu. Während Roy mit seinen blonden Haaren und blauen Augen wie der typisch amerikanische Junge aussah, war Scott kleiner, muskulöser, und er hatte dichtes braunes Haar und Sommersprossen.
Erik schien sich im Gegensatz zu Roy und Scott nicht für Laura oder ihre Freundinnen zu interessieren. „Verschwinden wir von hier“, presste er hervor. „Hier ist doch nichts los. Alle hauen schon ab.“
Er hatte recht. Der Strom aus Autos, die vom Parkplatz des Stadions fuhren, war zu einem Rinnsal zusammengeschrumpft. Sogar einige Spieler des Teams kletterten schon frisch geduscht in ihre Wagen und machten sich auf den Weg zur Schule, wo nach dem Spiel eine Tanzveranstaltung anfing – der Tanz, von dem Rachelle ihrer Mutter versprochen hatte, dass sie daran teilnehmen würde, ehe sie bei Laura übernachtete. Aber Laura war, so schien es, nur noch an Roy Fitzpatrick interessiert.
„Hier ist doch was los“, entgegnete Roy und warf Rachelle einen eingebildeten Blick zu. „Die kleinen Ladies müssen nichts weiter tun als Ja sagen. Wir garantieren ihnen dafür den Ritt ihres Lebens.“
„Und was für eine Art Ritt soll das sein?“, fragte Laura mit sexy Stimme, und Rachelle verschluckte sich fast.
Scott lachte aus tiefster Kehle, und Erik sah aus, als wäre es ihm peinlich.
Rachelle konnte nicht fassen, wie Laura sich benahm. „Ich glaube, das ist keine so gute Idee“, sagte sie und spürte Roys heißen Blick auf sich. Sie wollte kein Waschlappen sein, aber sie konnte den Ärger fast schon riechen. Abenteuer schnuppern.
„Entspann dich“, flüsterte Carlie ihr leise zu. „Wann bekommt man schon die Gelegenheit zu einer Ausfahrt mit Roy Fitzpatrick?“
„Wir sind zu dritt, ihr seid zu dritt. Wir könnten doch feiern“, sagte Roy.
„Eine private Feier?“, entgegnete Laura unerhört flirtend. Rachelle wäre am liebsten im Erdboden versunken, aber sie regte sich nicht. Sie konnte nirgendwo anders hin. Der Parkplatz war mittlerweile fast leer. Geblieben war nur ein einsamer Motorradfahrer, der rittlings auf seiner dröhnenden Maschine saß.
Rachelle blieb fast das Herz stehen, als sie Jackson Moore erkannte. Er saß etwa zwanzig Meter entfernt auf seiner Harley, saß einfach da und wartete.
Roy wurde bei seinem Anblick blass. „Verschwinde, Moore!“, brüllte er, doch Jackson zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Rachelle konnte ihren Blick nicht von ihm wenden.
„Wir waren noch nicht fertig mit unserem Gespräch“, entgegnete er und verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln, während er sich den blauen Fleck unter seinem Auge rieb.
„Es gibt nichts zu besprechen“, antwortete Roy gereizt. „Raus“, murmelte er zu Scott McDonald, griff über seinen Freund hinweg nach der Beifahrertür und stieß sie auf. Ein alter Song der Doors schallte in die Nacht heraus.
Jackson ließ nicht locker. Über das Grollen der Motoren und Jim Morrisons tiefe Stimme hinweg rief er: „Du und dein alter Herr hören nicht auf, meine Familie zu beleidigen.“
Roy tat, als hörte er ihn nicht. Nachdem Scott aus dem Wagen gestiegen war, winkte er Laura zu sich. „Fahren wir“, sagte er. Er nahm das Gespräch einfach dort auf, wo es unterbrochen worden war. „Ihr wollt eine private Feier? Springt rein!“ Als Laura in das Cabrio stieg, wanderte sein Blick rasch an ihren Kurven hinauf und hinunter. Roys Mundwinkel zuckten. „Das gefällt mir – ein Mädchen, das weiß, was es will.“
„Wir sind noch nicht fertig, Fitzpatrick“, stieß Jackson hervor.
„Das reicht! Ich hab dich so satt, Moore. Mach, dass du aus meinem Leben verschwindest!“
„Sobald du dich von meiner Familie fernhältst.“
„Deiner Familie? Du bist ein verdammter Bastard, Moore! Jeder in Gold Creek weiß, dass deine Mutter eine Schlampe ist und deinen angeblichen Vater wahrscheinlich nicht einmal mit Namen kennt!“
Jacksons Gesicht verzog sich wütend. „Du verlogener …“
Roy stieg aufs Gas. Die Corvette machte in einer Wolke aus Kies einen Satz nach vorn. Reifen quietschten, Roy riss sein Steuer herum und fuhr direkt auf Jackson und sein Motorrad zu.
Rachelle kreischte.
Laura erstarrte neben Roy auf dem Beifahrersitz.
Jackson ließ den Motor seiner Harley aufheulen, als die Stoßstange der Corvette den Hinterreifen erwischt hatte. Das Motorrad geriet ins Straucheln und rutschte mit den Reifen über den losen Kies. Jackson landete hart auf dem Boden, die Harley rutschte führerlos über den Parkplatz.
Roy lachte, legte einen Gang ein und raste vom Platz. Rachelle rannte los. Ihm darf nichts passiert sein, es darf einfach nicht! flehte sie. Panik stieg in ihr auf. Jacksons reglose Gestalt lag ausgetreckt auf dem Kiesboden, während der Klang des Motors und „Light My Fire“ vom Wind verweht wurden.
Erik versuchte, sie festzuhalten. „Lass ihn!“, sagte er, aber seiner Stimme fehlte die Überzeugungskraft, und sein Gesicht war weiß wie ein Laken. „Er ist schon okay, nur ein bisschen eingeschüchtert. Das ist alles.“
„Lieber Gott, ich hoffe, du hast recht.“ Rachelle schlug das Herz bis zum Hals. Sie machte sich los und rannte zu Jackson.
Er drehte sich stöhnend um. Seine Jacke war am Ärmel zerrissen, und auch in seiner Hose befand sich ein Riss. „Schwein!“, presste Jackson stöhnend heraus. „Dieses verdammte Dreckschwein.“ Er richtete sich langsam auf und humpelte auf direktem Weg zu seinem Motorrad.
Rachelle spürte, wie sich Erleichterung in ihr breitmachte, und rang sich ein schmales Lächeln ab. „Alles okay?“
„Verglichen womit?“, murmelte er, richtete seine Harley auf und entdeckte stirnrunzelnd, dass einige Speichen gebrochen waren. Er zuckte vor Schmerz zusammen, als er ein Bein über das Motorrad schwang und den Motor anließ.
„Aber dir geht es wenigstens gut.“ Rachelle sackte vor Erleichterung fast zusammen.
„Das habe ich nicht deinem Freund zu verdanken.“
„Er ist nicht mein …“
„Sicher.“ Jackson atmete tief ein, als hätte der Schmerz ihm die Luft aus den Lungen gepresst, und trat mit dem Absatz seines Stiefels fest auf den Anlasser. Die Harley röhrte auf.
„Du … solltest dich vielleicht von einem Arzt untersuchen lassen …“
„Einem Arzt?“, spottete er. „Ja, klar. Ich lasse mich ins Memorial Krankenhaus einliefern. Da warten sie nur darauf, mich zusammenzuflicken.“
„Das war ja nur ein … Vorschlag.“
„Ich kann mich nicht daran erinnern, um deinen Rat gebeten zu haben.“
Getroffen wich sie einen Schritt zurück. „Ich habe mir einfach Sorgen gemacht“, sagte sie lahm, durch seinen beißenden Sarkasmus eingeschüchtert. „Ich bin doch auf deiner Seite.“
Sein dunkler, undurchschaubarer Blick richtete sich auf sie. Er verzog spöttisch die Lippen, als hätte sie einen Scherz gemacht, den nur sie beide verstanden. „Lass mich eines klarstellen. Niemand in Gold Creek ist auf meiner Seite. Auch du nicht.“
„Aber …“
„Du kennst Fitzpatrick, oder nicht?“
„Eigentlich nicht. Er ist nicht mein Freund, und …“
„Falls ich ihn heute Abend nicht mehr einhole, kannst du ihm eine Nachricht von mir überbringen. Sag Roy-Boy, wenn er weiß, was gut für ihn ist, lässt er meine Familie in Ruhe. Und das gilt auch für seinen alten Herrn. Sag dem alten Sack, er soll Sandra Moore in Ruhe lassen. Verstanden?“
„Aber ich kenne …“
„Mach es einfach“, befahl Jackson, das kantige Kinn rebellisch vorgestreckt, ehe er Gas gab und in einer Wolke aus Kies und Wut verschwand. Sie sah zu, wie er vom Parkplatz auf die Straße fuhr, lauschte dem röhrenden Geräusch seines Motorrads. Ihr Herz raste. Sie schrieb das dem Zusammenstoß von Sportwagen und Harley zu – und natürlich der Tatsache, dass sie tatsächlich mit dem Bad Boy von Gold Creek gesprochen hatte. Sein Ruf war so schwarz wie die Nacht, und jedermann hier war felsenfest überzeugt davon, dass Sandra Moores Sohn nichts Gutes im Schilde führen konnte.
„Rachelle, komm schon!“, rief Carlie. Sie schien ihre eigenen Befürchtungen über Jacksons Gesundheitszustand abgeschüttelt zu haben und unterhielt sich angeregt mit Scott und Erik.
Rachelle sah sich um. Bis auf Lauras Wagen war der Parkplatz leer. Rachelle seufzte und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als mit Roys beiden besten Freunden mitzufahren. Keine angenehme Vorstellung. Abenteuer erschienen ihr auf einmal als etwas, das man lieber vermeiden sollte – es sei denn, Jackson war dabei. Das war doch verrückt! Jackson war auch nicht besser als Roy, und er hatte einen Komplex so groß wie Mount Whitney. Ungehobelt, ein Rebell und einfach unverschämt – genau das war er.
Trotzdem lauschte sie dem Geräusch des Motorrads, das in der Ferne heulte. Irgendetwas hatte dieser Junge an sich, das sie einfach faszinierte. Wahrscheinlich, weil er so böse war.
Obwohl der Abend schwül war, steckte sie die Hände tief in die Taschen ihrer Jeansjacke und ging zurück zu den anderen.
„Alles in Ordnung mit ihm?“, fragte Carlie und sah besorgt über Rachelles Schulter dorthin, wo Jackson auf dem Boden gelegen hatte.
„Ich weiß nicht. Ich glaube schon.“
„Er wird es Roy irgendwie heimzahlen“, sagte Erik voraus, und Rachelle musste an Jacksons geheimnisvolle Warnung denken. Erik sah nervös aus. Er suchte in seinen Taschen nach den Autoschlüsseln.
„Verschwinden wir von hier.“ Scott war bereits dabei, die Tür des Pick-ups zu öffnen, und sah sich nervös auf dem leeren Parkplatz um, als erwartete er, dass Jackson Moore zurückkehren und Rache an Roys Freunden nehmen würde. „Wir sollten nach Roy sehen.“
„Roy? Nach allem, was er getan hat? Er hat Jackson fast umgebracht! Mit Absicht.“ Rachelle schlang die Arme um ihren Oberkörper. Sie fröstelte.
„Hat er aber nicht, oder?“
„Nein, zum Glück nicht!“
„Du verstehst das nicht“, sagte Scott mit einem Anflug von Ungeduld. „Moore sucht schon seit Wochen Ärger – er bettelt regelrecht darum. Die Spannungen zwischen den beiden gibt es schon seit Ewigkeiten. Aber das ist jetzt vorbei.“
Rachelle war sich nicht sicher. „Vielleicht auch nicht. Jackson könnte ihn anzeigen.“
„Dann steht seine Aussage gegen die von Roy.“
„Aber wir haben es alle gesehen! Roy hat versucht, ihn zu überfahren“, gab Rachelle zu bedenken.
„Hätte er versucht, ihn zu überfahren, wäre ihm das auch gelungen“, konterte Scott. „Dann wäre Moore jetzt im Krankenhaus. Stattdessen haben er und seine Harley nur ein paar Kratzer abbekommen. Ist doch nicht so schlimm.“
„Das ist sehr wohl schlimm!“
Erik legte die Stirn in düstere Falten. „Kommt jetzt!“, befahl er den Mädchen. „Steigt endlich ein.“ Als in Rachelles Augen sture Verweigerung aufblitzte, fügte er hinzu: „Es sei denn, du fährst lieber auf Moores Motorrad mit? Aber wie ein Biker-Babe siehst du eigentlich nicht aus. Außerdem ist er längst weg.“
Auch Carlie sah nicht überzeugt aus, aber um sie herum senkte sich langsam die Nacht herab. „Wir müssen Laura finden.“
„Wir könnten anrufen“, schlug Rachelle vor.
„Im Sommerhaus gibt es kein Telefon.“ Scott zuckte mit den Schultern. „Ich gebe ja zu, Roy ist ein Hitzkopf. Und bei Moore, na ja, bei dem sieht er einfach gleich rot. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Roy hätte Jackson nicht einen solchen Schrecken einjagen dürfen, aber Jackson hätte auch nicht rumschnüffeln und Roy vorschreiben sollen, was er zu tun hat.“ Sein Lächeln wirkte auf sie ehrlich. „Hör zu, das war eine schlimme Szene, aber sie ist vorbei und es geht allen gut. Lass uns jetzt nach Laura suchen. Wenn du später zurückwillst, dann können Roy oder Erik …“, er sah kurz hoch, um Bestätigung von seinem Freund zu erhalten, der zögernd nickte, „dich nach Hause bringen.“
Carlie zuckte mit den Schultern. Offensichtlich machte sie sich schon lange keine Sorgen mehr um Jackson. „Lass uns fahren.“
Rachelles einzige andere Möglichkeit wäre es gewesen, ihre Mutter anzurufen und ihr zu erklären, dass sie auf dem Parkplatz vor der Schule gestrandet war, weil Laura ihren Autoschlüssel bei sich hatte und die Tasche mit ihren Übernachtungssachen sich im Kofferraum befand. Aber der Gedanke, zu gestehen, dass Laura sie wegen einer Party am See hatte sitzen lassen, behagte ihr nicht besonders. Rachelle bekäme wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens Hausarrest.
„Uns bleibt keine andere Wahl, was?“, fragte Carlie und fasste damit Rachelles Gedanken in Worte. „Sobald wir Laura gefunden haben, lassen wir uns von den Jungs hier zum Tanz zurückfahren, als wäre nichts gewesen.“ Carlie war bereits dabei, in Eriks Pick-up zu steigen. Sie warf ihr glänzendes pechschwarzes Haar zurück, und ihr gelang sogar ein Grinsen. „Davon lassen wir uns doch nicht den Spaß verderben!“
Vermutlich hatte sie recht, aber es fühlte sich dennoch nicht richtig an. Rachelle glitt auf der Fahrerseite in den Truck, gefolgt von Erik. Carlie saß auf Scotts Schoß und stieß sich den Kopf, weil sie ihm nicht noch näher kommen wollte.
Erik ließ den Pick-up an, und Carlie wurde gegen Scotts Brust geworfen. Er reagierte schnell. Sofort hatte er sie mit den Armen umfasst und presste ihren Po an seinen Schoß. Carlie kicherte, während Erik den Parkplatz verließ und nach Osten abbog.
„Warum können Roy und Jackson sich nicht leiden?“, fragte Rachelle, und Erik warf ihr daraufhin einen undurchschaubaren Blick zu. Sie ließ sich davon nicht abhalten. „Sag schon!“
„Ja, warum hasst Roy diesen Jackson eigentlich so?“, fragte Carlie.
Scott zeichnete mit dem Finger ihre Wange nach. „Jackson ist ein Niemand.“
„Aber Roy hat ihn fast überfahren!“, wandte Rachelle ein und richtete sich dabei kerzengerade auf. Sie hatte sich schon immer für die Schwächeren eingesetzt, und auch wenn Jackson die Konfrontation mit Roy angefangen hatte, spürte sie doch, dass er es war, dem man übel mitgespielt hatte. „Man überfährt niemanden ohne Grund.“
Erik drückte auf den Zigarettenanzünder und wühlte in seinen Taschen. Er zog ein zerknittertes Päckchen Marlboros heraus und steckte sich eine an. „Vergessen wir es einfach. Okay?“
Scott griff hinter den Sitz und zog zwei Flaschen Bier hervor. Er öffnete beide, indem er den Kronkorken am Armaturenbrett ansetzte und fest zudrückte. Schaum floss an den Flaschen hinab. Er reichte Rachelle eine tropfende Flasche.
„Heute nicht“, sagte sie trocken.
„Selbst schuld.“ Erik griff nach der Flasche und fing an zu trinken, während er die Seitenstraßen nahm, um das Stadtzentrum zu umfahren.
„Vielleicht solltest du beim Fahren nicht trinken“, bemerkte Carlie, aber Erik lachte einfach nur.
„Mann, ihr seid echt daneben!“
Rachelles Magen verkrampfte sich. Das war alles falsch. Sie hatte einen riesigen Fehler gemacht, als sie in diesen Truck gestiegen war. Und jetzt waren sie bereits auf dem Weg aus der Stadt und sie wusste nicht, was sie tun sollte, ohne Laura vollkommen im Stich zu lassen.
Sie hat dich doch auch im Stich gelassen, oder nicht? Ist mit Roy abgehauen und hat dich mit diesen zwei Ekeln zurückgelassen.
Sie sah in den Rückspiegel und erwartete fast, dort den Scheinwerfer von Jacksons Motorrad näher kommen zu sehen. Wenn es stimmte, was man sich über sein Temperament erzählte, dann mussten Roy und seine Freunde ihm früher oder später Rede und Antwort stehen. Wahrscheinlich standen deswegen Schweißperlen auf Eriks Oberlippe. Er zog lange an seiner Zigarette.
„Vergiss Moore“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Der macht nur Ärger.“
Jackson kochte vor Wut. Er konnte noch immer sein Blut im Mund schmecken. Mit verringerter Geschwindigkeit bog er in den Wohnwagenpark ein, wo seine Mutter noch immer lebte. Er war für einige Monate zu ihr zurückgezogen, aber die Stadt setzte ihm bereits zu. Gold Creek war wie eine Schlinge, die sich immer fester um seinen Hals zusammenzog, Stück für Stück. Und er wusste, wer das andere Ende des Seils in der Hand hielt – wer die Schlinge fester zog. Roy Fitzpatrick.
Der Gedanke an Roy brachte sein Blut wieder zum Kochen. Ignorier ihn, sagte ein Teil seines Verstandes, aber der andere, seine wilde, ungezähmte Seite sagte: Erteil ihm eine Lektion, die er nie wieder vergisst!
Der Schmerz in seiner Schulter war zu einem dumpfen Pochen verklungen, und er wusste, am Morgen würde ihm sein Knie noch Schwierigkeiten machen. Es hatte ihn hart vom Motorrad geworfen, sein ganzer Körper würde am nächsten Tag wie verrückt schmerzen. Er wollte, dass Roy ein wenig von seinem Schmerz nachempfand. Dieser dumme, verwöhnte Goldjunge machte ihm das Leben zur Hölle. Roy hasste ihn, das hatte er schon immer getan. So war es, schlicht und einfach. Und auch wenn es verrückt klang: Jackson vermutete, dass Roy neidisch auf ihn war. Aber warum?
Roy war mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden. Er hatte alles bekommen, was er wollte, und alles getan, was ihm in den Sinn kam. Jackson dagegen war arm gewesen, hatte seinen Vater nie gekannt und den Großteil seines Lebens damit verbracht, seine Mutter zu unterstützen. Warum also der Neid?
Auch egal. Jackson ging Roy normalerweise aus dem Weg.
Aber heute Abend hatte er genug gehabt. Seine Mutter hatte die Katze aus dem Sack gelassen: Die Tochter ihrer Schwester, seine Cousine Amanda aus Coleville, war letztes Jahr schwanger geworden. Jackson diente zu dieser Zeit noch in der US Navy und war auf den Philippinen stationiert. Es war Roys Kind. Amanda hatte die Schule abgebrochen, das Baby bekommen und zur Adoption freigegeben. Jetzt bereute sie diese Entscheidung und war in ein Gerichtsverfahren verstrickt, das für alle Beteiligten ebenso teuer wie herzzerreißend war.
Jackson rieb sich die Schulter und zuckte dabei zusammen.
Roy hatte seine Vaterschaft natürlich abgestritten und war irgendwie, höchstwahrscheinlich, weil Thomas die richtigen Stellen geschmiert hatte, ohne einen Kratzer aus dieser Affäre hervorgegangen. Doch Amanda, das Baby und das Paar, das den Jungen adoptiert hatte, bezahlten dafür und würden das auch für den Rest ihres Lebens tun.