Was schön war und gut - Jill Blocker - E-Book

Was schön war und gut E-Book

Jill Blocker

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Beschreibung

Der biografische Roman "Was schön war und gut" von US-Autorin Jill Blocker erzählt die Geschichte von Emmy Hennings und die Anfänge der DADA-Bewegung. Während des 1. Weltkriegs flieht Emmy nach Zürich mit ihrem Partner Hugo Ball. Viele Künstler sind wie Emmy und Hugo nach Zürich gekommen, um der Armut, dem Elend und der Einberufung zu entfliehen. Doch bald realisieren sie, wie herausfordernd das Überleben als Flüchtling ohne Arbeitsbewilligung ist.

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Jill Blocker

Was schön war und gut

biografischer Roman über Emmy Hennings-Ball

und die Anfänge der Dada-Bewegung

Translated by Christine K. Gubler

Inhaltsverzeichnis

Prolog oder Geduld Tessin, Schweiz, Mai 1934

Teil 1 Deutschland, Herbst 1913 – Frühling 1915

Liebesleben

Hinter der Bühne

Kabarett

Der Garten

Krieg

Patriotisch

Zurück im Garten

Café Luitpold

Aufruhr auf der Strasse

Japonismus

In der Fabrik

Wild oder frei

Erich

Die Passfabrik

Ein unbehaglicher Traum

Der Katalysator

Berlin

Teil 2 Zürich, Schweiz Frühling 1915 – Winter 1915

Umzug nach Zürich

Die ersten Tage in Zürich

Cabaret Bonbonnière

Warnungen

Anarchie

Herbst

Genf

Emmy allein

Glück und Verzweiflung

Schätze

Flamingo

Mütter/Liebe

Vorsätze

Teil 3 Das Cabaret Voltaire Zürich, Schweiz Februar 1916

Optimismus (die Philosophie)

Der Eröffnungsabend

Totentanz

Szenenwechsel, oder Männer

Spielplatz der verrückten Emotionen

Geister

Annemarie

-ismen

Unterbrechung

Der Star des Cabarets

Karawane

Schwächen oder Schicksal

Manifest

Ein Stück Menschheitsgeschichte

Abschied

Die letzte Abrechnung

Epilog Tessin, Schweiz, Mai 1934

Nachtrag

Widmung und Dank

Prolog oder Geduld Tessin, Schweiz, Mai 1934

Emmy sass an ihrem Schreibtisch und zupfte an einem Holzsplitter, der in ihrem Nagelbett steckte. Auf dem Tisch lag ein einzelnes Stück Papier. Ein Brief der Neuen Zürcher Zeitung, der Zeitung, die ihr kleines Kabarett als erste angekündigt hatte.

Sie war sich nicht sicher, ob sie auf die Interviewanfrage antworten wollte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie eine Antwort auf die einfache Frage hatte: Warum sind Sie nach Zürich gekommen? Es war bloss einer jener Zufälle, die sie ihr Leben lang blind akzeptiert hatte. Das war jetzt fast 20 Jahre her. In den ersten Tagen des Krieges.

Sie legte ihre Hände auf die Tasten der Schreibmaschine, nahm sie wieder hoch und betrachtete die Haut an ihren Fingern und Handrücken. Runzeln der Weisheit, Furchen der Verzweiflung. Sie versuchte, sich nicht über die endlosen Schmerzen des Lebens zu beklagen. Sie wusste, dass die guten und schlechten Tage wie Morphin durch die Adern rannen.

Draussen vor dem offenen Fenster sang ein Alpensegler ein frühsommerliches Lied. Das Echo seiner Rufe hallte durch den Raum, den schmalen Kamin hinunter. Emmy lauschte und erinnerte sich an eine Geschichte, die man ihr als Kind erzählt hatte. Wenn ein Vogel im Käfig stirbt und sein Partner vereinsamt, hatte man ihr gesagt, dann stell einen Spiegel in den Käfig und der Vogel wird im Spiegelbild seinen Partner wiedererkennen. Wie einfach und ablenkbar Vögel doch lieben können! Emmy hatte die Anekdote immer charmant gefunden.

Sie hatte keinen Spiegel. Aber auch bei ihr war der Geist ihres Geliebten geblieben war. Er hatte ihr versprochen, sie werde ihn immer in ihrer Nähe finden, immer in ihrem Herzen. Sie sah sich in dem Haus um, in dem sie und Hugo gelebt hatten. In den gemalten Spatzen an der Decke und in den Ecken des alten Tessiner Steins war er noch immer präsent. Die Sonne küsste die verputzten Wangen seiner Totenmaske, die über dem Kaminsims neben Bildern der Madonna Christi hing. Beide schweigend und doch sanft lächelnd.

Sie versuchte sich an den Tag zu erinnern, an dem sie und Hugo in Zürich angekommen waren, und wie das Leben davor gewesen war, das sie zum Verlassen Deutschlands bewogen hatte. Wir werden wie zwei Seiltänzer im Dunkeln sein, hatte er ihr gesagt. Sie hatte seinen Sinn für Abenteuer geliebt und hatte gehofft, dass es immer so bleiben würde.

Als die Uhr an der Wand die volle Stunde schlug, dachte Emmy darüber nach, wie schnell die Zeit zu vergehen schien, jetzt, da sie älter geworden war. Obwohl sie glaubte, dass das ewige Leben noch kostbarer war, klammerte sie sich an jeden einzelnen Augenblick.

Sie wünschte sich, Hugo wäre jetzt da, zusammen mit ihren Freunden Erich, Hardy, Rudi, Lotte, Else, Huelsenbeck, Arp, Janco und Tzara. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich um ein Podium oder einen Tisch in einem Café versammelt, über soziale Theorien diskutiert hatten und auf der Bühne aufgetreten waren.

Emmy schaute aus dem Fenster vor ihr über den Hof hinaus, wo die Birken im Wind tanzten. Ihre vollen, hochstrebenden Äste spiegelten sich im Luganersee, bis nach Italien. Emmy schloss die Augen vor dem azurblauen Himmel und senkte dann den Kopf zum Gebet.

«Herr bleibe bei mir», wisperte sie leise und flehentlich. Es klang wie ein Lied. «Nimm meinen Dank an und lass mich deinen Willen erfüllen.»

Als sie wieder hinausschaute, sah sie nichts als Licht; den Himmel im frühen Mai, der mit einem Mal hell leuchtete. Eine goldene Verheissung, die mit jedem sonnigen Tag kam und die an Regentagen so tragisch verborgen blieb.

«Wie schön das ist», dachte sie. «Frei zu sein, wie ein kleiner Vogel, der sorglos seine Kreise zieht und sich um nichts kümmert.»

Genau diese Sehnsucht nach Freiheit war es, das sie damals nach Zürich gebracht hatte.

Teil 1DeutschlandHerbst 1913 – Frühling 1915

«Die Welt und die Gesellschaft im Jahr 1913 sahen so aus: Alles ist völlig eingeengt und gefesselt.»

Hugo Ball

«Es schien mir, als ob das Leben endlich seine Fülle und Schönheit von allen Seiten anbieten würde.»

Emmy Hennings

Der Simplizissimus

Der Schatten des roten Samtvorhangs umhüllte sie. Er war opulenter und prächtiger als andere, die sie gesehen hatte in all den Theatern in Berlin, Kattowitz, Hamburg und Köln, in den Kaffeehäusern und Kabaretts in Moskau, Budapest, Wien und Bern.

Sie war dankbar für dieses Leben, dankbar dafür, dass sie singen und reisen konnte wie es ihr gefiel. Auch für jene Nächte, die nicht so glamourös waren. Jene, die in Sünde endeten. Besonders die Theaterszene in Frankfurt hatte ihr das Gefühl gegeben, dass sie bei einem Leben auf der Gasse weniger beschmutzt werden würde.

Es war reiner Zufall, dass sie in München war. Sie hatte sich nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in den nächstbesten Zug gesetzt. Sie kannte nicht mehr viele Leute hier, aber das war auch gut so, denn sie versuchte, einen Neuanfang zu machen.

Sie betrat die Bühne und strich ihr schimmerndes Kleid über den Oberschenkeln glatt. Heute Abend, so dachte sie, würde sie es vielleicht endgültig schaffen, wäre sie nach 28 Jahren endlich auf dem richtigen Weg.

Auf den Einsatz des Klaviers hin schloss sie die Augen und begann dann in einem langsamen, tragenden Ton zu singen. Das warme Licht des Scheinwerfers fühlte sich an wie der Sonnenschein des Frühlings.

«Bravo, mein Schatz!»

Emmy bahnte sich gerade einen Weg durch das Meer von Tischen, als ein Mann nach ihrer Taille grapschte. Sie schaute auf seine Hände hinunter, bedankte sich freundlich und löste sich geschickt aus seiner Umarmung.

Es bereitete ihr eine besondere, prickelnde Freude, dass sie von und durch ihre Kunst leben konnte. Auch wenn ihre Erscheinung manchmal dem im Weg stand, was sie eigentlich wollte. Es war nicht die äussere Pracht, die sie zum Theater zog. Auch wenn es manche glaubten, Emmy wusste, es hatte nichts mit Kunst zu tun, wenn man sich zu einer gutaussehenden Person hingezogen fühlte.

«Emmy!»

Jemand aus dem hinteren Teil des Raumes rief ihren Namen. «Emmy, Liebes, komm hierher!» Es war Frank Wedekind, stellte sie fest, mit seinen hübschen Augenbrauen und seinem tiefen Blick.

Früher einmal hatte sie sich heftig zu ihm hingezogen gefühlt, doch in letzter Zeit fand sie ihn zunehmend langweilig. In Anbetracht seiner Herkunft aus einem Schloss in der Schweiz missfiel ihr die Ironie, die in seiner kritischen Sicht auf die Bourgeoisie lag.

«Emmy, Liebling», sagte Wedekind, als sie zu seinem Tisch hinüberging. Er murmelte etwas zu dem Man neben ihm, drehte sich dann um und lächelte ihr zu. «Schön, dass du wieder da bist. Wie geht es dir?»

«Mir geht es gut, danke», sagte sie und beugte sich für einen Kuss auf beide Wangen zu ihm hin.

«Das ist schön», antwortete er. «Hast du von meinem Stück gehört? Es bekommt begeisterte Kritiken in den Zeitungen. Es ist eine Kriminalgeschichte, aber modern. Die Heldin ist ein weiblicher Faust. Sie verkauft ihre Seele an den Teufel im Tausch gegen weltliche Vergnügungen.»

Emmy sah Wedekind skeptisch an, während er sich selbst weiter lobte. Sie hatte das Werk von Goethe gelesen und war sich sicher, dass das Original besser war.

«Ja», sagte sie. «Ich bin sicher, es ist grossartig.» Sie machte sich nicht die Mühe zu erwähnen, dass für sie Gott und Teufel ein und dasselbe waren. Sie glaubte an die Einheit der Gegensätze. Ausserdem wusste sie, welchen weltlichen Vergnügungen Wedekind frönte. Der grösste Teil seiner Kritik an der Bourgeoisie hatte mit deren konservativen Ansichten über Sex zu tun.

Emmy stand neben dem Tisch, während Wedekind weiterredete. Sie bemerkte, dass sein grosser, ernst aussehender Freund sie immer wieder ansah. Auf den ersten Blick wirkte er nicht sehr anziehend, aber sie fand es charmant, wie sein Blick zwischen dem Gewühl der Gäste, der Tapete und ihr hin und her wanderte.

«Willst du mich nicht deinem Freund vorstellen?» fragte Emmy und unterbrach Wededkinds Monolog.

«Oh», sagte Wedekind, «Ja, das ist Hugo Ball...» Er fuchtelte mit seiner Zigarette vor dem Mann herum. «Er ist Dramaturg an den Kammerspielen, wo Franziska gerade spielt.»

Emmy lächelte. «Schön, Sie kennenzulernen, Herr Ball», sagte sie.

«Bitte», sagte er, «nennen Sie mich Hugo.» Sie sahen sich eine Sekunde lang in die Augen, dann sprach Wedekind weiter.

«Ich habe Sie schon einmal getroffen», sagte Hugo und schob seinen Stuhl zur Seite. «In Berlin, vor ein paar Jahren, habe ich Sie singen sehen.»

Emmy sah sich den Mann genau an und versuchte, ein bekanntes Merkmal zu finden. Er war jung, hatte ein langes, schmales Gesicht und eine hohe Stirn und trug einen schlechtsitzenden Anzug. Sie erkannte ihn nicht wirklich, aber sie vertraute seinen Worten.

«Ich habe Ihren Namen schon oft gelesen», sagte er, in Ruf und Echo.

«Ich bin mir sicher, dass es nur gute Dinge sind», bemerkte Wedekind mit einem Lachen.

Emmy blickte Wedekind über ihre Schulter an. Jetzt, dachte sie, wäre der perfekte Zeitpunkt, um ihn nach den Gerüchten über seine Syphilis zu fragen.

«Ich habe einige Ihrer Gedichte aufgehoben», fuhr Hugo fort und ignorierte seinen Freund. «Ich habe sie aus der Zeitung ausgeschnitten, als ich Ihren Namen erkannte.»

«Wirklich?» fragte Emmy ein wenig überrascht. «Das ist aber nett. Ein echter Bewunderer.»

Er lächelte.

«Es ist allerdings schade, dass Sie meine Gedichte aus der Zeitung schneiden mussten», sagte sie. «Ich verkaufe sie eigentlich selbst.» Sie griff in den geflochtenen Korb, der an ihrem Arm hing, und hielt ein dünnes, in Schilfgras und Seide gebundenes Buch hoch.

«Sehen Sie, Herr Ball, es ist üblich, dass Künstler ihre Werke nach einer Aufführung verkaufen. Wie mein Gedichtband hier, oder diese Fotos von mir und den anderen Schauspielern. Haben Ihnen Else und Viola, die anderen Sängerinnen, gefallen?» Sie hielt ihre Bilder hoch, damit er sie sich ansehen konnte.

«Ja», sagte er und betrachtete die Fotos. «Nein, ich meine … Ihr Gedichtband. Ich würde gerne einen Blick hineinwerfen.»

Emmy lächelte und reichte ihm einen. Er öffnete vorsichtig den Einband und blätterte die Seiten durch. Sie hatte die Titel oben auf jede Seite geschrieben.

1. Mai 1913

Budapest

Äther-Verse

Neben den Versen hatte sie mit Aquarellfarbe kleine Blumen gemalt, die ihrer Meinung nach gut zu den Tintenklecksen passten, die kleine Rechtschreibfehler verdeckten.

Sie beobachtete, wie er durch die Seiten blätterte und dann ihre Worte zwischen seinen Händen festhielt.

«Möchten Sie einen Band?», fragte sie mit sanfter Stimme.

«Ja», sagte er einfach. «Ich möchte sie alle kaufen.»

Sie alle kaufen? Emmy überlegte. Sie begegnete bei ihren Auftritten jeden Abend vielen Leuten, aber niemand hatte ihr je ein solches Angebot gemacht. Es würde natürlich ein nettes Zubrot bringen, aber irgendwie wusste sie auch, dass alles seinen Preis hatte.

«Das ist sehr nett», sagte sie, «aber das meinen Sie sicher nicht so. Was wollen Sie mit so vielen Kopien der gleichen Gedichte machen?»

«Ich werde sie an Freunde weitergeben», sagte er selbstsicher.

«Oh?» Sie dachte darüber nach. «Sie kennen also noch jemanden, der sie haben möchte?»

«Ja, … viele.»

Emmy wusste nicht, was sie sagen sollte. «Nun», sagte sie schliesslich. «Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Ball. Ich weiss nicht, wie ich Ihnen danken kann.»

Emmy sah, wie er wieder auf die Fotos schaute, die sie immer noch in der Hand hielt. Auf dem obersten war sie in einem langen Kleid zu sehen, im roten Schein der Kabarett-Bühne. Emmy dachte an den Gewinn, den sie mit jedem Foto machte. Dreissig Pfennig. Genug für ein Kilo Pferdefleisch oder ein paar Laibe Brot.

«Warum wählen Sie nicht mein nächstes Lied aus?», schlug sie vor und legte die Fotos zurück in ihren Korb.

Im Restaurant wurde es jetzt lauter, was bedeutete, dass die Menge unruhig wurde.

«Wie wäre es mit Nur Liebe ist Leben?»

«Oh» antwortete Emmy leicht überrascht. «Leider kann ich das nicht singen.»

«Aber sicher können Sie das, warum nicht?»

«Nun, ich habe es erst vor einer Stunde gesungen.»

«Oh», entgegnete er in einem weichen, sanften Ton. «Das ist schade. Das ist das eine Lied, das man nicht oft genug singen kann.»

«Emmy!» Kathi, die Wirtin des Simplizissimus rief ihren Namen. Emmy drehte sich um und winkte Kathi bestätigend zu. Die Frau stand selbstbewusst hinter der Theke, mit ihrem vertrauten halb wütenden, halb lachenden Gesicht.

Emmy wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber wieder zu Herrn Ball um. «Gut», sagte sie, seine Enttäuschung spürend. «Ich werde es noch einmal singen, wenn das Publikum einverstanden ist...»

Zurück auf der Bühne stand Emmy zwischen dem Vorhang und dem Publikum. Die dunstige Luft war erfüllt von Rauchwolken aus Lippen und Zigarettenspitzen. Emmy bat darum, das Lied wiederholen zu dürfen. Das Publikum applaudierte. Und durch den Dunst, ganz hinten, sah sie Herrn Ball lächeln.

Liebesleben

Emmy rollte sich vom Bett. Bis auf die wenigen Stellen, wo die Sonne durchs Fenster kam, war es dunkel im Atelier. Sie bewegte sich auf die Strahlen zu, so dass sie ihre Brüste und Schultern kitzelten. Sie zog ihr Korsett zurecht, um ihren Körper, in eine – laut Werbung – modischere Form zu bringen.

«Hier», sagte Emmy und ging zu Rudi hinüber. «Kannst du das bitte festbinden? Diese Dinger kann man unmöglich allein anziehen.»

Reinhold Rudolf Junghanns, oder ‘Rudi’, wie sie ihn nannte, war ein Maler, Radierer und Kalligraph, der durch die Welt gereist war, um Kunst zu studieren. Er und Emmy hatten eine Art gegenseitige Partnerschaft, wie sie es nannten, die Emmy weit mehr schätzte als nur die körperliche Anziehung. Sie posierte für ihn und diente ihm als Muse, und er hatte sie mit einem Verleger bekannt gemacht und ihr zu einer ersten Veröffentlichung verholfen.

Emmy stand mit dem Rücken zu Rudi. Sie spürte, wie er die Schnürbänder um ihren Rücken band. Dann strich er mit den Fingern über ihren Hals und ihre Schultern und hinterliess leichte Spuren auf ihrer Haut. Er drehte sie um und küsste sie auf die Wange.

«Du bist ein fantastisches Modell, Emmy», sagte er. «Im reinsten Sinne des Wortes. Alles andere als wohlerzogen, aber ausserordentlich anregend.»

Emmy drehte sich um, lächelte und hielt ihre Hände über die Brust. «Danke», sagte sie und beugte sich vor, um ihn zu küssen.

«Ich kann nicht glauben, dass ich so viel Zeit mit Landschaften verschwendet habe», sagte er und wandte sich wieder seiner Leinwand zu. «Dein Körper, das Licht. Das ist die ganze Inspiration, die ich brauche.»

Emmy errötete. «Wir sehen uns nächste Woche», sagte sie und küsste ihn zweimal auf beide Wangen.

Emmy mochte es, wie Rudi sie malte: feurig und kühn. Aber sie war sich nicht sicher, ob die Morgenstunden nach so wenig Schlaf für sie die beste Zeit zum Posieren war. Zudem waren die Morgenstunden die kältesten. Sobald sie nach draussen trat, bibberte sie vor Kälte,

Als Emmy von Rudis Atelier wegging, spürte sie, wie glücklich sie war. Das war schön, dachte sie, denn noch vor ein paar Monaten hatte sie sich ziemlich schrecklich gefühlt. Sie hatte sich, um einer Kollegin zu helfen, leichtsinnigerweise an deren Stelle wegen eines Diebstahls einsperren lassen. Heute jedoch, mit der Sonne direkt über sich, hatten sie und die Stadt gute Schwingungen und Energie.

Die Bürgersteige waren voller Menschen: Jungen, die Zeitungen verkauften, Frauen, die einkauften und flanierten. Die Männer standen vor den Schaufenstern, rauchten und unterhielten sich. Alles war geordnet und friedlich, oder zumindest schien es so.

«Guten Morgen», sagte eine dünne Stimme neben ihr. Emmy blickte nach unten und sah ein kleines Mädchen mit strahlend blauen Augen und lockigem braunem Haar.

«Oh», antwortete Emmy. «Hallo...» Sie bemerkte, dass das Mädchen einen Korb mit Rosen in der Hand hielt und ihren kleinen Arm wir ein Rokoko Engel ausstreckte, um eine Gabe zu erbitten.

Emmy lächelte traurig, griff in ihre Manteltasche und suchte einen Pfennig.

«Du hast wunderschönes lockiges Haar», sagte Emmy und drückte ihr ein paar Münzen in die Hand. «Du erinnert mich an mein kleines Mädchen. Sie heisst Annemarie.»

Das Kind lächelte und schenkte ihr eine Blume. Dann hüpfte es um die Ecke, um jemand anderen zu verzaubern.

Emmy versuchte, nicht zu viel an Annemarie zu denken. Ihre Tochter zurückgelassen zu haben war das Einzige, was ihr ein schlechtes Gewissen bereitete. Nach reiflicher Überlegung war sie zu dem Schluss gekommen, dass es keine andere Möglichkeit gab, als Annemarie bei ihrer Grossmutter zu lassen. Selbst wenn Emmy sich um sie kümmern wollte, war das bei ihrem Lebensstil in der Stadt nicht möglich.

Sie ging am Rand des Bürgersteigs entlang und blieb abrupt stehen, als ein Cabrio vorbeifuhr. Der Auspuff knallte, schwarze Staub wirbelte in die Luft. Die Männer darin hielten sich an den Seiten fest und lachten, als sie um eine Ecke bogen und fast umkippten. Emmy beobachtete, wie das Auto in Richtung Max-Joseph-Platz abbog in Richtung Stadtzentrum. Die offenen Autos waren neu und teuer, aber Emmy war nicht beeindruckt von den Maschinen. Sie war einmal in Budapest in einem solchen Wagen mitgefahren und hatte den Abend in schlechter Erinnerung. Für sie war es nur Lärm ohne Melodie.

Als sie in Richtung Stadtzentrum ging, zur Amalienstrasse, nicht weit vom Simplizissimus, fiel ihr eine Menschenmenge vor dem Café Stefanie auf. Es war zwar Samstag, aber dennoch etwas ungewöhnlich, dass so viele Leute in die Fenster schauten und die Männer im Inneren beim Schachspielen beobachteten.

Emmy stellte sich zu den Leuten und schaute in die Scheibe, aber anstatt der Spieler sah sie ihr eigenes Spiegelbild: Die hohen Wangenknochen, umrahmt von dem zu einem kurzen Bop geschnittenen Haar, und auffallend dunkle Ringe unter den Augen. Hoffentlich hatte Rudi das nicht so festgehalten.

Sie rieb sich mit den Händen die Augen und öffnete sie wieder. Da sah sie ihren alten Freund Erich, der sie von drinnen beobachtete. Emmy lächelte und winkte ihm zu, ging dann hinein und drückte sich neben ihn in eine Nische.

«Und was habt ihr alle vor?», fragte sie und küsste Erich auf die Wange. Er hatte volles, zotteliges Haar und war einer der klügsten Menschen, die sie kannte.

«Ach, du weisst schon», sagte er mit einem Augenzwinkern. «Ich plane nur, wie die Zukunft der Welt aussehen wird.»

Emmy sah ihn schräg an. «Wie schön», sagte sie. «Mach mir bitte Platz.» Sie zog ihren Mantel aus und stellte die Rose in ein Wasserglas in die Mitte des Tisches.

Emmy hatte Erich vor Jahren kennengelernt, als sie mit ihren Auftritten begonnen hatte. Das war noch vor ihrer Münchner Zeit und bevor sie ins Gefängnis gekommen war. Er hatte den Ruf, Unruhe zu stiften, und die Zeitungen hatten ihn kürzlich in die Liste der ‘gefährlichsten anarchistischen Agitatoren in Deutschland’ aufgenommen.

Emmy kannte eine andere Seite von Erich. Eine, die als Kind davon träumte, erwachsen zu werden und ein Dichter zu sein. Sie mochte, dass er leidenschaftlich war und sich für die Rechte anderer Menschen einsetzte. Er wollte einfach immer dort sein, wo das Leben am buntesten war, immer mittendrin, wie sie.

«Was machst du hier?» fragte er, als Emmy nach seiner Kaffeetasse griff.

«Oh», sagte Emmy. «Ich bin nur zufällig vorbeigekommen.»

«Hallo Emmy», sagte der Mann neben Erich.

«Hallo Hans.» Emmy lächelte und reichte ihm die Hand. Sie wusste nicht allzu viel über Erichs Freund Hans Richter, abgesehen von seiner Blauen Aura.

«Du siehst müde aus», sagte Erich und schaute auf seinen Kaffee in ihren Händen.

«Na ja», sagte Emmy und nahm einen Schluck. «Ich habe letzte Nacht nicht viel geschlafen. Ich war bis drei Uhr morgens im Kabarett, dann musste ich um neun bei Rudi sein.»

«Du Arme», sagte Erich leicht sarkastisch. «Vielleicht solltest du dich etwas mehr zurückhalten, wenn jemand etwas von dir will?»

Emmy warf ihm einen prüfenden Blick zu.

Er war bloss neidisch auf sie. Darauf, dass sie so begehrt war. Sie versuchte seinen Kommentar nicht allzu persönlich zu nehmen. Damals, als sie kurz zusammen gewesen waren, hatte er ihr ständig vorgehalten, wie naiv sie sei. Es war nicht so, dass sie glaubte, die Liebe sei ein zwangsloses Spiel, sie war nur der Auffassung, dass die Liebe weit und frei verbreitet sein sollte. Wenn man richtig liebte, spielte es für sie keine Rolle, wo man war und wie man dorthin kam. Erich hatte das nie verstanden.

«Du hast gerade Wedekind verpasst», unterbrach Hans das Schweigen. «Er erzählte, dass er gestern Abend deinen Auftritt mit einem befreundeten Regisseur gesehen hat, der offenbar ziemlich beeindruckt war.»

«Oh?» fragte Emmy, gespannt auf seinen weiteren Bericht. Es musste sich um Herrn Ball handeln, dachte sie. Sie wollte mehr über seine Eindrücke wissen.

«Er ist ein wunderbarer Dramaturg», fuhr Hans fort. «Ein brillanter, genialer Regisseur. Ich glaube nicht, dass es unbegründet ist, etwas Grosses von ihm zu erwarten.»

«Brillant und genial?» fragte Emmy verblüfft.

«Mach dir keine Sorgen», sagte Erich. «Ich bin sicher, du wirst ihn bald kennen lernen. Aber nun zu wichtigeren Themen», er schlug mit der Hand auf die Zeitung, die auf dem Tisch lag. «Habt ihr diese ganze nationalistische Berichterstattung gelesen? Es muss etwas getan werden um diesen kulturellen Wandel zu stoppen, anstatt sich ihm anzupassen!»

Emmy las die Zeitungen, aber nicht unbedingt wegen der aktuellen Ereignisse. Meist las sie nur, um den Rhythmus neuer Wörter zu lernen. Natürlich wusste sie über die grossen Themen Bescheid, wie den Krieg auf dem Balkan und andere Tragödien dieser Art, aber sie glaubte, genug Lebenserfahrung zu haben, um sich ihre eigene Meinung zum Weltfrieden zu bilden.

Erich starrte mit gerunzelten Brauen auf das Blatt und zupfte an den Haaren seines ihm über die Lippen reichenden Schnurrbarts. Sie sah, dass er wirklich etwas unternehmen wollte. Er hatte die Angewohnheit, politische Theorien in seine Kunst einfliessen zu lassen und seine Überzeugungen in Theaterstücken, Gedichten und anderen dramatischen Formen zu verstecken. Sie verstand nicht ganz, warum er solche Auseinandersetzungen suchte, aber sie hatte das Gefühl, dass es mit seiner Kindheit zu tun hatte. Er schien seine streitbare Natur nur allzu gerne einzusetzen, um für Gleichheit zu kämpfen, selbst wenn er beschuldigt wurde, ein Kommunist oder Sozialist zu sein.

Vor einigen Jahren, nachdem er vor Gericht wegen Verschwörung angeklagt worden war, hatte er sein eigenes Journal Kain – Zeitschrift für die Menschlichkeit gegründet. Er äusserte seine Meinung über Amtsmissbrauch und Zensur und verteidigte seine Überzeugung, dass alle Menschen, insbesondere die Ausgestossenen der Gesellschaft, genauso wichtig und mächtig sind wie alle anderen.

«Die Menschen müssen verstehen, was kommunistischer Anarchismus ist», sagte er. «Die bürgerliche Presse weigert sich, etwas Kontroverses zu veröffentlichen. Die Menschen wissen nicht, dass sie unter dem Status quo leiden. Sie nehmen ihr Schicksal einfach hin, anstatt ihrer inneren Wut zu folgen.»

Emmy kaute an ihren Nägeln, während sie Erichs Rede zuhörte. Er war der Meinung, dass es für die Befreiung des Volkes einen Aufstand der Unterdrückten und Gefolterten braucht. Aber Emmy war sich nicht sicher, ob er allein etwas ändern konnte. In Deutschland wurde seit 1874 die Rede zensiert – nicht nur in Zeitungen, sondern auch in Kinos, Kabaretts und Theatern.

«Ich weiss nicht», sagte Emmy und trank den letzten Schluck aus Erichs Kaffeetasse. «Ich habe den Eindruck, dass die Leute leicht verdaulichen Stoff wollen. Tagsüber krüppeln sie sich zu Tod, da wollen sich abends nur ein paar Stunden lang unterhalten lassen.»

Erich erwiderte nichts.

«Ich muss gehen», sagte Emmy schliesslich. Sie stand auf und nahm ihren Mantel auf den Arm. «Kommst du am Freitag zur Vorstellung?»

«Ich werde dort sein», sagte Hans und überreichte Emmy die Rose, die sie auf den Tisch gestellt hatte.

«Ich will es versuchen», sagte Erich. Emmy beugte sich zu ihm, um einen Kuss auf beide Wangen zu bekommen.

«Oh, und Emmy...», sagte er, bevor sie sich abwandte. «Versuch, dich vorher etwas auszuruhen. Dein Liebesleben lässt dich ziemlich mitgenommen aussehen.»

Hinter der Bühne

Hinter der Bühne des Simplizissimus machte sich Emmy für die Revue fertig. Viola, Else und Lotte standen neben ihr vor einer Spiegelwand. Emmy würde singen, Viola tanzen und Else ein paar ihrer Gedichte vortragen. Lotte arbeitete hinter den Kulissen und nähte die Kostüme für die Aufführung.

Emmy schaute in den Spiegel und umrandete ihre Augen mit einem Kohlenstift. Sie kniff sich in die Wangen, bis sie sich rosa färbten und die Sommersprossen auf ihrer Nase betonten.

Viola bürstete ihr langes, blondes Haar, worauf Emmy bedauernd mit den Fingern durch ihre eigenen kurzen Strähnen fuhr und an ihren Spitzen zog.

Lotte sass auf einem roten Samt Sofa, einen Rock in der Hand, die Strümpfe bis zu den Knien hochgezogen und nähte einen Riss am Saum. Else, die Älteste von ihnen, setzte sich auf einen hohen Barhocker und wippte hin und her.

«Kennt jemand von euch Hugo Ball?» fragte Emmy ziemlich unvermittelt. Sie dachte nicht speziell an ihn, sondern ganz allgemein, wer bei ihrem Auftritt dabei sein könnte.

«Der Dramatiker?» fragte Else und blickte in den Spiegel zu Emmy.

«Ja», bestätigte Emmy. «Ich glaube schon. Er war letztes Wochenende mit Wedekind hier. Und neulich im Café hat Hans Richter ihn als 'brillanten und genialen Regisseur' bezeichnet.»

«Brilliant und genial?» fragte Lotte mit einem übertriebenen Atemzug. Sie hatten am gleichen Tag Geburtstag, doch Lotte war zwei Jahre jünger als Emmy.

Emmy lachte. «Das war genau meine Reaktion. Aber Hans Richter meinte, dass es nicht übertrieben wäre, etwas Schönes und Grosses von ihm zu erwarten.»

«Ist er hübsch?» fragte Lotte.

Emmy dachte darüber nach. «Vielleicht nicht nach jedermanns Geschmack ... aber ich habe nach meiner gescheiterten Ehe gelernt, dass das Aussehen nicht alles ist.»

«Ausserdem», sagte Else, «ist es sowieso egal, weil er verlobt ist.»

«Verlobt?» fragte Emmy. Er hatte es nicht erwähnt.

«Ja», erwiderte Else beiläufig. «Mit einer Schauspielerin in Wien.»

Emmy wusste nicht, was sie sagen sollte.

«Mit wem?» fragte Lotte. Emmy versuchte, nicht zuzuhören. Es war ihr egal, wer sie war. Es war ihr nur wichtig, dass Hugo es nicht selbst erwähnt hatte. Auch wenn er all ihre Gedichte gekauft hatte und so tat, als würde er sich dafür interessieren, würde er vielleicht erst einmal die Meinung seiner Verlobten darüber hören wollen, dachte sie. Sie schwieg und spürte einen leichten Anflug von Enttäuschung.

Lotte stand auf und band Emmy ein Seidenband um die Taille.

«Erwartet nie irgend etwas von einem Mann», sagte Else an beide gewandt. «Verliebt euch so viel ihr wollt, aber macht euch nicht abhängig.»

Emmy nickte, wohlwissend, dass es Else einfach an Enthusiasmus fehlte, nachdem sie im Laufe der Jahre zu viel davon aufgebracht hatte. Sie war vor kurzem nach einer hässlichen Scheidung ihrer zweiten Ehe mittellos geworden. Ihr Mann hatte sie für eine schwedischen Malerin, die fast zwanzig Jahre jünger als sie war, verlassen.

«Oh, mach dir keine Sorgen», sagte Emmy. «Ich werde nie wieder das Privateigentum eines Mannes sein. Diesen Fehler habe ich bei meinem Verflossenen gemacht.»

Emmy schaute wieder in den Spiegel und betrachtete sich. Sie hatte ein bisschen zu viel Make-up aufgetragen, was im Scheinwerferlicht gut aussah, aber nicht in der Sonne. Es stimmte, was Erich gesagt hatte, dachte sie und sah sich in die Augen. Vielleicht war ihr Liebesleben zu anstrengen. Das Heroin- und Ätherrauchen waren wahrscheinlich auch nicht gerade hilfreich. Vielleicht, überlegte Emmy, wären Morphintropfen besser. Sie hatte gehört, dass Ärzte sie verschrieben, um Menstruationskrämpfe zu lindern.

«Welches Gedicht wirst du heute Abend vorlesen, Else?» fragte Viola. Sie hörte endlich auf, ihr Haar zu bürsten und setzte sich neben Lotte auf die Couch.

«Oh, ich hoffe, eines über die Liebe», sagte Lotte aufgeregt.

«Ja» sagte Else und holte tief Luft. «Eins für einen Mann, der mich in letzter Zeit sehr inspiriert hat.»

Emmy sah zu Else hinüber, die ein langes Kleid mit einem Spitzenkragen trug. Sie lächelte über die Heuchelei ihrer Konkurrentin, liess ihre Meinung aber gelten. Else war viel älter, was bedeutete, dass sie weiser sein sollte, aber vielleicht, so dachte Emmy, spielte das Alter keine Rolle, wenn es darum ging, die Liebe zu verstehen.

Emmy ging zum Vorhang hinüber und spähte hinter den roten Samtstoff. Lärm und dunstige Luft drangen in ihre provisorische Hütte ein. Sie blickte hinaus in die Menge, doch dann fiel ihr Blick auf Kathi, die auf sie zukam und nicht sonderlich erfreut aussah.

«Ich hoffe, ich bin heute Abend von euch Mädels beeindruckt», sagte Kathi, in jeder Hand ein Bierfass. Wenn sie etwas war, dann eine kräftige Frau, dachte Emmy.

«Das wirst du sein», erwiderte Emmy und lächelte sie an. Sie war sich nicht sicher, was Kathi gegen sie hatte, aber sie hatte ihr einmal gesagt, sie habe Augen wie Till Eulenspiegel – der arglistige Junge aus alten deutschen Märchen.

Kathi nickte und stellte die Fässer vor die Hintertür, dann rollte sie ein volles Fass nach vorne in die Bar. Sie schwiegen alle, bis die Wirtin ausser Sichtweite war, dann wählte Lotte ein Kleid aus dem Regal und half Viola beim Anziehen.

Emmy hatte sich schon immer gerne verkleidet und verschiedene Rollen gespielt. Als Kind führte sie für die Nachbarschaft Theaterstücke auf. An einem Tag Dornröschen, am anderen Schneewittchen, dann die Venus im Grünen und Ophelia. Sie liebte Geschichten von Helden und Schlachten, von Liebe auf den ersten Blick und von der Vorstellung, in ein glückliches Leben zu entkommen. Ein Kuss von einem Mann und eine ganze Welt konnte sich öffnen.

Sie fragte sich wieder, wer in der Menge sein könnte; ob Erich oder Rudi oder Hugo Ball dort sein würden. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob einer von ihnen etwas wunderbar Romantisches an sich hatte, aber sie wusste, dass sie die Liebe liebte; das Verliebtsein, das Liebemachen, einfach alles.

Kabarett

Emmy erinnerte sich nie an den Geruch eines Auftritts. Sie erinnerte sich immer nur an die Lichter und das Leuchten. Der Glanz von Fenstern und Rahmen an der Wand, der in alle Richtungen strahlte und ihre Seele erfüllte. Sie dachte nicht über vieles nach, meist nur über das, was sie sang. Und da sie jetzt ein Liebeslied sang, dachte sie an die Liebe.

Passend zu den Geigen erreichte sie den höchsten Ton, hielt kurz an und liess die Luft wieder strömen. Am Ende des Liedes liess sie ihre Stimme ausklingen, dann lächelte sie und verbeugte sich unter dem Applaus des Saals.

Das Haus war an diesem Abend voll, mindestens 100 Leute sassen auf Holzstühlen an Bistrotischen im französischen Stil. Sie verbeugte sich ein zweites Mal, bis das Klatschen verstummte, und verliess die Bühne, um ihre Runde zu drehen.

Emmy ging zu den Tischen, ihren Korb mit Fotos und Gedichten in der Hand, und suchte nach einem bekannten Gesicht. Sie sah zuerst Wedekind an seinem üblichen Platz, daneben Erich und Hugo Ball, der ihr direkt in die Augen sah.

Kaum zu glauben, dachte sie. Sicher, er war ein bewunderter Regisseur, aber er war auch verlobt. Sie drehte sich um, um in die andere Richtung zu gehen.

«Emmy!» rief Hugo, als sie sich gerade entfernen wollte. Sie drehte sich um und sah, wie er sein Getränk hinstellte und aufstand.

«Emmy», sagte er und kam zu ihr. «Ich wollte schon lange mit Ihnen reden.»

Sie sah ihn an. Es lag etwas an seinem Wesen, das sie irgendwie irritierte.

«Darf ich Sie auf einen Drink einladen?», fragte er.

«Es tut mir leid, Herr Ball», sagte sie, «aber ich habe noch andere Gäste...»

«Bitte…», sagte er. «Ich möchte mit Ihnen über etwas Wichtiges reden.»

Emmy kannte solche Angebote zur Genüge und hatte gelernt, sie nicht sofort zu akzeptieren. Und im Grunde genommen war es erniedrigend, von den flüchtigen Begierden der anderen zu profitieren. Doch je länger sie Hugo ansah, desto schöner und klüger wurde er.

«Nun gut», sagte sie vorsichtig. «Einen Drink.»

Hugo stand aufrecht vor ihr, mindestens 1,80 m gross. Seine dunklen Fransen fielen ihm fast bis zu den Augen.

«Heute ist also Samstag?», fragte er und reichte ihr ein Getränk. Es war Champagner mit Erdbeeren, was sie an den Sommer erinnerte.

«Warum?»

«Ihr letztes Lied», sagte er. «Der Text lautet: Es ist Samstagabend, ich steh’ wartend an der Tür.»

«Oh», sagte sie. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, dass man die Worte wörtlich nehmen könnte.

«... also ist morgen Sonntag?» fuhr er fort.

Sie dachte einen Moment nach. «Ich nehme es an.»

«Sind Sie sich da sicher?»

«... Nein?» Jetzt war sie verwirrt.

«Vielleicht wird es Samstagabend sein», sagte er und zuckte mit den Schultern. «Die Welt ist voller Irrtümer, wissen Sie.»

Emmy versuchte zu verstehen, worauf er hinauswollte. «Sind Sie ein Philosoph, Herr Ball?»

«Nein», antwortete er. «Ich bin ein Dramaturg.»