Was schulden wir künftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik - Kirsten Meyer - E-Book

Was schulden wir künftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik E-Book

Kirsten Meyer

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Beschreibung

Was wir heute tun oder unterlassen, hat erheblichen Einfluss auf das Leben kommender Generationen. Sind wir deshalb nicht verpflichtet, in unserem Handeln auf die Interessen unserer Nachfahren Rücksicht zu nehmen?Es stellen sich damit elementare Fragen: Welchen Wert hat Existenz als solche? Was sind grundlegende menschliche Bedürfnisse? Und kann man diese gegeneinander aufrechnen? (Wie) kann man Glück berechnen? Was bedeuten Fairness und Menschlichkeit? Und welche Rechte und Ansprüche können zukünftige Generationen überhaupt haben? Kirsten Meyer nimmt diese Fragen ernst und untermauert ihre Argumentation mit Zahlen und Statistiken zu einem Thema, das jeden etwas angeht. Ihr Fazit: Wenn sich gute, überzeugende Gründe finden lassen, warum wir auch uns ferner stehenden Menschen moralisch etwas schuldig sind, dann beeinflusst das unser Handeln. Es gibt also durchaus Anlass zum Optimismus.

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Seitenzahl: 330

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Kirsten Meyer

Was schulden wir künftigen Generationen?

Herausforderung Zukunftsethik

Reclam

2018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverabbildung: © Balazs Kovacs / Alamy Stock Photo

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961397-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011180-2

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung1. Eine gute Zukunft? Währung der Zukunftsethik1.1 Wohlergehen1.2 Grundbedürfnisse und menschliche Fähigkeiten1.3 Der Wert der Existenz2. Das Gute maximieren – Grundlage der Zukunftsethik?2.1 Konsequentialismus in der Zukunftsethik2.2 Einwände gegen konsequentialistische Positionen2.3 Quantität gegen Qualität3. Rechte respektieren – Rätsel der Zukunftsethik3.1 Können zukünftige Personen jetzt Rechte haben?3.2 Das Problem der Nicht-Identität3.3 Künftige Personen und individuelle Ansprüche4. Ansprüche künftiger Personen4.1 Der Anspruch darauf, nicht geschädigt zu werden4.2 Der Anspruch darauf, ein basal gutes Leben führen zu können4.3 Der Anspruch auf eine gerechte Verteilung natürlicher Ressourcen5. Wie lassen sich diese Ansprüche begründen?5.1 Eigentum, Aneignung und natürliche Ressourcen5.2 Verträge zwischen Generationen?5.3 Fairness und Menschlichkeit6. Theoretische und praktische Herausforderungen6.1 Steigende Bevölkerungsgrößen6.2 Risiken und Unsicherheiten6.3 Konflikte der Gerechtigkeit: Gegenwart versus Zukunft7. Was sollen wir tun?LiteraturhinweiseZur AutorinDanksagungPersonenregister

Einleitung

Unsere Handlungen haben oftmals erheblichen Einfluss auf die Lebensumstände späterer Generationen. Sind wir deshalb aber auch jetzt schon künftigen Generationen etwas schuldig? Inwiefern sind wir verpflichtet, ihre künftigen Interessen in unserem heutigen Handeln zu berücksichtigen?

Diese Fragen spielen in vielen Bereichen eine Rolle, z. B. hinsichtlich der Staatsverschuldung oder des Rentensystems. Besonders weitreichende Fragen stellen sich mit Blick auf das gegenwärtige Umwelthandeln. Der Einfluss auf die natürliche Umwelt hat schon immer auch spätere Generationen betroffen, man denke etwa an die Abholzung von Wäldern. Dieser Zusammenhang hat heute aber andere Dimensionen und eine andere Intensität angenommen. Beispiele sind der Klimawandel, der Verlust von Biodiversität und der Eintrag giftiger Stoffe in die Umwelt. Es spricht heute leider vieles dafür, dass unser aktueller Umgang mit der Natur besonders wichtige und tiefgreifende Forderungen der intergenerationellen Gerechtigkeit verletzt. In diesem Buch geht es daher um die mit diesem Problem verbundene Frage, was wir künftigen Generationen mit Blick auf deren Umweltbedingungen schuldig sind.

Unser Umwelthandeln hat selbst auf sehr ferne Generationen negative Auswirkungen. So können unsere hochradioaktiven Abfälle auch die Gesundheit sehr ferner Generationen noch beeinträchtigen. Die Gesetzeslage sieht momentan vor, dass die Sicherheit einer Lagerstätte für hochradioaktiven Müll für eine Million Jahre gewährleistet sein muss. Dem liegt offenbar die Überlegung zugrunde, dass wir es künftigen Generationen schuldig sind, ihre Gesundheit in unseren Entscheidungen für einen derartig langen Zeitraum zu berücksichtigen.

Diese Überlegung ist jedoch klärungsbedürftig: Sollten wir nur das bloße Überleben und die basale Gesundheit künftiger Personen im Blick haben? Oder ist noch mehr verlangt? Sollten wir etwa unseren Verbrauch bestimmter Bodenschätze auch deshalb erheblich einschränken, damit künftige Generationen diese ebenso gut nutzen können wie wir? Und greifen diese Pflichten nur dann, wenn wir tatsächlich Ressourcen zerstören oder Wohlergehen senken? Oder sollten wir auch unabhängig davon das Wohlergehen befördern oder zumindest eine basale Lebensqualität künftiger Generationen garantieren?

Die Frage, inwiefern wir in unserem Umwelthandeln auf die Interessen künftiger Generationen Rücksicht nehmen müssen, stellt sich in vielen Bereichen. So betrifft zum Beispiel das Problem des Klimawandels künftige Generationen in besonderer Schärfe. Selbst wenn wir unsere Emissionen von heute an radikal einschränkten, würde sich die CO2-Konzentration noch mehrere hundert Jahre auf ihrem hohen Level halten, bevor sie erst langsam wieder sinken würde, und die Temperatur würde zunächst weiter ansteigen. Dieser Temperaturanstieg selbst würde sich auch erst allmählich verlangsamen, so dass die globalen Oberflächentemperaturen auf einer Art Plateau lange Zeit deutlich erhöht bleiben würden.1 Noch träger sind die Effekte für die Eisschmelze und den Meeresspiegelanstieg. Falls wir weiter emittieren wie bisher, werden sich diese Probleme in der Zukunft weiter zuspitzen.

Was bedeutet das? Eine radikale Einschränkung unserer Emissionen ist mit Kosten für uns verbunden. Aber wäre sie moralisch gefordert? Schulden wir dies nicht nur den gegenwärtig vom Klimawandel betroffenen Menschen, sondern auch künftigen Generationen?

Solche Fragen stellen sich nicht nur angesichts des Klimawandels. Auch unser Ressourcenverbrauch hat einen direkten Einfluss auf die Verfügbarkeit dieser Ressourcen für künftige Generationen. Dazu gehört zum Beispiel der Verbrauch nichtregenerativer Brennstoffe wie Erdöl und Kohle. Aber auch die Nutzung vieler anderer Bodenschätze hat Folgen für künftige Generationen. Sollten wir also sparsamer mit ihnen umgehen, damit sie länger auch für andere reichen? In welchem Ausmaß darf die jetzige Generation zum Beispiel Metalle wie etwa Kupfer nutzen und deren Verfügbarkeit für spätere Generationen reduzieren?2

Doch das ist noch nicht alles: Wir entnehmen nicht nur Stoffe, sondern wir hinterlassen auch zahllose Stoffe in veränderter und oft problematischer Form. Ein Beispiel dafür ist giftiges Quecksilber. Weltweit sind neben der Energiegewinnung vor allem der Bergbau sowie die Metall- und Zementproduktion für Quecksilberemissionen verantwortlich. Insgesamt werden jährlich über eintausend Tonnen Quecksilber weltweit in die Luft emittiert.3

In die Kategorie der gesundheitsgefährdenden Stoffe gehören außerdem die hochradioaktiven Abfälle, die wir künftigen Generationen hinterlassen. Bis heute ist nicht geklärt, was mit diesen Abfällen passieren soll, und wie sie sich so lagern lassen, dass sie kein Sicherheitsrisiko für künftige Generationen darstellen.

Auch die Meere werden mit Abfällen, Abwässern und Giftstoffen aller Art belastet. Zu den eingetragenen Stoffen zählen Nährstoffe, Pestizide, Schwermetalle, toxische Stoffe aus der Industrieproduktion, Plastik- und sonstiger Müll sowie radioaktive Einträge und Verklappungen.4 Neue Technologien, wie die Nanotechnologie, fügen den bereits klar als gefährlich erkannten Stoffen weitere potentiell gefährliche Stoffe hinzu.

Die Art und Weise, wie Landwirtschaft betrieben wird, hat Auswirkungen auf die Qualität der Böden, und zwar über sehr lange Zeiträume. Darüber hinaus hat sie irreversible Folgen, wenn sie zu einem Artensterben führt, etwa durch die Abholzung des tropischen Regenwaldes. Der Verlust an Biodiversität wird jährlich auf tausende Arten geschätzt. Die Aussterberate sei um das Hundert- bis Tausendfache gestiegen.5

Zudem hat die Landwirtschaft erheblichen Einfluss auf den Verbrauch und die Verfügbarkeit von Wasser, in vielen Gegenden der Welt wird Wasser zu einer immer knapperen Ressource. Hier wird sowohl die mengenmäßige Übernutzung als auch die Wasserverschmutzung zum Problem. In vielen Wassereinzugsgebieten fallen die Grundwasserspiegel und etliche große Flüsse sind bereits jetzt übernutzt und stark verschmutzt. Es wird erwartet, dass der Klimawandel diese Probleme zusätzlich verstärkt und in vielen Regionen den Wasserhaushalt so beeinflusst, dass sich die Wasserverfügbarkeit weiter verschlechtert.6

Die genannten Umwelthandlungen haben bereits Einfluss auf die Lebensumstände unserer Kinder. Insofern wir diese Lebensumstände durch unser heutiges Handeln erheblich zum Negativen ändern, liegt es nahe, von einer Pflichtverletzung gegenüber unseren Kindern zu sprechen: Wir dürfen mit dem Planeten nicht einfach so umgehen, wie wir wollen, sondern müssen auch um unserer Kinder willen die Umwelt schützen, also z. B. unsere Emissionen erheblich reduzieren. Allerdings hat das Handeln der jetzigen Generation von Erwachsenen nicht lediglich Auswirkungen auf die jetzige Generation von Kindern. Der Klimawandel betrifft auch noch spätere Generationen, und er trifft sie möglicherweise besonders hart.

Die Forderung, unseren Umgang mit dem Planeten an den Interessen künftiger Generationen zu orientieren, findet sich auch unter dem Begriff einer »nachhaltigen Entwicklung«. So heißt es in der Präambel der 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung, die 2015 beim UNO-Nachhaltigkeitsgipfel verabschiedet worden ist:

»Wir sind entschlossen, den Planeten vor Schädigung zu schützen, unter anderem durch nachhaltigen Konsum und nachhaltige Produktion, die nachhaltige Bewirtschaftung seiner natürlichen Ressourcen und umgehende Maßnahmen gegen den Klimawandel, damit die Erde die Bedürfnisse der heutigen und der kommenden Generationen decken kann.«7

Die Bedürfnisse der kommenden Generationen waren bereits Gegenstand des sogenannten »Brundtland-Berichts«, den die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (»Brundtland-Kommission«) 1987 unter dem Titel Unsere gemeinsame Zukunft veröffentlicht hat. In diesem Bericht wurde »nachhaltige Entwicklung« so definiert, dass sie »die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen aufs Spiel zu setzen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen«8. Diese Nachhaltigkeitsdefinition ist recht einflussreich gewesen und viel zitiert worden.

In der philosophischen Diskussion wurde diese Definition als suffizientaristische (nach lat. sufficere, ›ausreichen, genügen‹) Position der Generationengerechtigkeit interpretiert.9 Dem Suffizientarismus zufolge schulden wir es künftigen Generationen, dass es ihnen gut genug geht, dass sie also ein Leben oberhalb einer bestimmten Suffizienzschwelle führen können. Das bedeutet, dass es künftigen Generationen möglich sein muss, bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, bzw. dass die Minimalbedingungen für ein gutes Leben erfüllt sein müssen.

Zumindest in der philosophischen Diskussion zeichnet sich der Suffizientarismus aber auch durch eine zusätzliche negative These aus: Wir schulden anderen nichts oberhalb der Schwelle. Ich komme auf die philosophischen Gründe für und gegen den Suffizientarismus im vierten Kapitel noch ausführlich zurück. Ein möglicher Einwand sei jedoch an dieser Stelle bereits genannt: Es scheint Ungleichheiten oberhalb der Suffizienzschwelle zu geben, die moralisch fragwürdig sind, vom Suffizientarismus aber gar nicht erfasst werden.10

Eine Position, die von dieser Art von Suffizientarismus abweicht, besagt, dass wir nicht nur dafür sorgen müssen, dass es künftigen Generationen gut genug geht, sondern dass es ihnen genauso gut gehen sollte wie uns. So wird unter einer »nachhaltigen Entwicklung« zuweilen auch eine Entwicklung verstanden, bei der es künftigen Generationen nicht schlechter geht als der gegenwärtigen Generation.11 Solche Nachhaltigkeitsdefinitionen haben einen stärker egalitaristischen, also an Gleichheit orientierten Einschlag. Das angestrebte Wohlergehen künftiger Generationen bemisst sich dann direkt an unserem Wohlergehen. Dies zieht vergleichsweise anspruchsvollere Forderungen als eine suffizientaristische Position nach sich, zumindest an diejenigen Mitglieder der jetzigen Generation, deren Wohlergehen über der Suffizienzschwelle liegt.

Die genannten Nachhaltigkeitsdefinitionen enthalten damit unterschiedliche normative Forderungen. In diesem Buch wird es darum gehen, solche Forderungen herauszuarbeiten und Begründungen für sie zu liefern. Das Ziel besteht also darin, unsere Pflichten gegenüber künftigen Generationen inhaltlich zu präzisieren und zu begründen. Letztlich werde ich in diesem Buch für eine pluralistische Position argumentieren, die Elemente des Suffizientarismus aufgreift, dessen negative These jedoch zurückweist und für darüber hinausgehende Pflichten argumentiert.

Bevor es um die Struktur dieses Buches am Ende der Einleitung gehen soll, sind noch zwei kurze Vorklärungen erforderlich. Erstens: Welche zukünftigen Menschen stehen in diesem Buch im Fokus? Wer ist mit »künftigen Generationen« überhaupt gemeint? Und zweitens: Wer ist Adressat der Pflichten? Wer ist gemeint, wenn ich von »unseren« Pflichten gegenüber künftigen Generationen spreche?

Die Rede von einer »Generation« ist nicht eindeutig. Zum einen kann damit die Generationenfolge in der Familie gemeint sein. Demnach gehören Eltern zu einer Generation, deren Kinder zu einer anderen Generation, und die Kindeskinder wiederum zu einer anderen Generation. Diese Generationen überlappen sich zeitlich gesehen, sie teilen eine gemeinsame Lebensspanne. Zum anderen kann eine Generation aber auch die Menge der Menschen bezeichnen, die in einem bestimmten Zeitabschnitt geboren werden. Von einer »künftigen Generation« ist meistens in diesem Sinne die Rede. Dabei liegt der Beginn dieses Zeitabschnitts in der Zukunft, umfasst unsere bereits geborenen Kinder also nicht mehr. Künftige Generationen (im Plural) bezeichnen dann die künftig in verschiedenen Zeitabschnitten geborenen Menschen. Die Menge aller künftigen Generationen enthält damit alle in der Zukunft geborenen einzelnen Menschen.

Um diese künftigen Menschen und unser Verhältnis zu ihnen soll es in diesem Buch vorrangig gehen. Mit »unserem« Verhältnis zu diesen Menschen sind alle jetzt lebenden Menschen gemeint, die ich als die »gegenwärtige Generation« bezeichne. Konkret geht es um die zum moralischen Handeln fähigen Mitglieder der gegenwärtigen Generation, weil in diesem Buch die moralischen Pflichten der jetzigen Generation gegenüber künftigen Generationen thematisiert werden. Jetzt lebende Kleinkinder sind zum Beispiel (noch) nicht selbst Träger dieser Pflichten.

Statt von »künftigen Generationen« könnte man auch von »künftigen Menschen« sprechen. Ich werde den Ausdruck »künftige Generationen« aber nicht ganz aufgeben, weil er mehrere, in der Zukunft zeitgleich lebende Menschen als die Mitglieder einer künftigen Generation und die Abfolge solcher Generationen doch recht gut sprachlich erfassen kann. Das wird insbesondere in der Rede von einem »Generationenvertrag« deutlich.

In diesem Buch soll es einerseits um die künftigen Menschen gehen, die heute noch nicht leben, mit denen die heute lebenden Menschen aber eine gemeinsame Lebensspanne teilen werden. Andererseits soll es auch um die künftigen Menschen gehen, mit denen uns keine gemeinsame Lebensspanne verbindet. Was schulden wir diesen Menschen? Haben sie bestimmte Rechte oder Ansprüche?

Die Beantwortung dieser Fragen stellt u. a. deshalb eine Herausforderung dar, weil sie spezifische Probleme aufwerfen, die sonst in der Ethik nicht entstehen. So wurde etwa bezweifelt, dass noch nicht existierende Personen überhaupt Rechte haben und dass wir noch nicht existierenden Personen überhaupt schaden können, wenn die vermeintlich schädigende Handlung gleichzeitig die Bedingung für ihre Existenz ist. Zudem stellt sich die Frage, ob wir unsererseits überhaupt Pflichten gegenüber Personen haben können, die uns ihrerseits weder schaden noch etwas Gutes tun können. Wer unsere moralischen Pflichten auf eine Form der Wechselseitigkeit gründet, hat mit vermeintlichen Pflichten gegenüber künftigen Personen besondere Schwierigkeiten. Solche Probleme entstehen insbesondere im Zusammenhang mit Forderungen nach Gerechtigkeit gegenüber künftigen Generationen. Daher wird behauptet, dass wir zwar das Wohl künftiger Generationen mit bedenken sollen, aber dass nicht davon die Rede sein könne, dass dies eine Forderung der Gerechtigkeit sei.

In diesem Buch wird es darum gehen, diese Behauptung zurückzuweisen. Ein angemessener Umgang mit den Ansprüchen künftiger Personen ist demnach sehr wohl eine Forderung der Gerechtigkeit. Wie ist dabei aber die Rede von »unseren« Pflichten gegenüber künftigen Generationen zu verstehen? Zunächst einmal sind damit die Pflichten aller gegenwärtigen Personen gemeint. Mit den Ansprüchen künftiger Personen korrespondieren also Pflichten gegenwärtiger Personen. Doch Einzelpersonen können die Interessen künftiger Personen in ihrem individuellen Handeln nur eingeschränkt berücksichtigen – eine Einzelperson kann den Klimawandel etwa auch dann nicht aufhalten, wenn sie beispielsweise überhaupt keine Flugreisen und keine Autofahrten mehr unternimmt und auch in anderen Lebensbereichen die auf sie zurückgehenden Emissionen drastisch einschränkt. Darüber hinaus wurde bestritten, dass Einzelpersonen irgendwelche konkreten Schäden anrichten, die mit dem Klimawandel einhergehen, denn dafür emittieren Einzelpersonen möglicherweise nicht genug.12

Für dieses Problem wurden verschiedene Lösungsvorschläge angeboten. Einer besagt, dass man auch Einzelpersonen vorwerfen kann, gemeinsam mit anderen Schaden anzurichten. Sie leisten hier also durchaus einen kleinen Beitrag innerhalb einer Praxis, in der die vielen kleinen Beiträge zusammengenommen tatsächlich großen Schaden anrichten.13 Ihre Verantwortung könnte darin bestehen, gemeinsam mit anderen Anstrengungen zu unternehmen, um weitere Schäden zu verhindern, und sich dafür mit anderen zu koordinieren.14

Ein weiterer Lösungsvorschlag sieht vor, nicht Individuen, sondern strukturierte Gruppen in den relevanten Hinsichten für verantwortlich zu erklären, etwa Regierungen, Wirtschaftsunternehmen, Nationen oder die Europäische Union. Deren Verantwortung könne dann wiederum auf die individuellen Mitglieder dieser Gruppen ausstrahlen.15

Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, alle Vorschläge im Einzelnen aufzugreifen. Diesem Buch liegt jedoch die Annahme zugrunde, dass es hilfreich ist, sich zunächst allgemein zu überlegen, was »wir« künftigen Personen schulden, um dann genauer zu klären, wer dafür konkret in Frage kommt, und inwiefern sich diese Pflichten auf Individuen einerseits und potentielle kollektive Akteure anderseits erstrecken. Dem liegt letztlich eine optimistische Annahme zugrunde: Es ist nicht so, dass an dieser Stelle Pflichten identifiziert werden, die keinen Träger haben, weil in diesem Fall weder Individuen noch kollektive Akteure moralisch zur Verantwortung gezogen werden könnten. Diese skeptische Position wird hier ausgeschlossen – sie wird jedoch in der gegenwärtigen Debatte auch so gut wie nicht vertreten. Stattdessen wird von verschiedenen Seiten her jeweils versucht, Individuen oder bestimmte Gruppen moralisch zur Verantwortung zu ziehen.

Die Frage, was wir künftigen Personen schulden, ist jedoch in einer weiteren Hinsicht erklärungsbedürftig. Zunächst einmal sind mit diesem undifferenzierten »wir« alle jetzt lebenden Personen gemeint. Es könnte sich allerdings herausstellen, dass nur ein bestimmter Teil der jetzt lebenden Personen in besonderer Weise dazu verpflichtet ist, die Interessen künftiger Personen zu berücksichtigen – etwa diejenigen Personen, die deren Interessen besonders gut berücksichtigen können (z. B. weil sie finanziell dazu in der Lage sind), oder diejenigen Personen, die den Interessen künftiger Personen in besonderer Weise entgegenwirken (z. B. die Mitglieder der Industrieländer durch ihren hohen Ressourcenverbrauch oder auch bestimmte kollektive Akteure). Die undifferenzierte Rede von »unseren« Pflichten gegenüber künftigen Generationen wird also in diesem Buch jeweils nur so lange beibehalten werden, bis diese grundlegenden Fragen geklärt sind und feinere Differenzierungen möglich werden.

Dies betrifft auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen zwei Typen von Verpflichtungen, nämlich erstens denen der intragenerationellen Gerechtigkeit (also der Gerechtigkeit innerhalb einer Generation) und zweitens denen der intergenerationellen Gerechtigkeit (also der Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Generationen). Diejenigen, die in besonderer Weise dazu aufgefordert sind, die Interessen künftiger Generationen zu berücksichtigen (z. B. die Mitglieder der Industrieländer), könnten zusätzlich in besonderer Weise dazu aufgefordert sein, Gerechtigkeitsforderungen auch gegenüber Zeitgenossen nachzukommen (z. B. mit Blick auf die schon jetzt spürbaren Folgen der globalen Erwärmung und die Armutsbekämpfung). Auch hier soll jedoch zunächst geklärt werden, worin die Pflichten gegenüber künftigen Generationen eigentlich genau bestehen, um diese dann auf etwaige Konflikte mit den Pflichten gegenüber Zeitgenossen zu prüfen.

Das erste Kapitel behandelt die Frage, worin ein gutes Leben künftiger Personen überhaupt besteht und was diesem zu- bzw. abträglich ist. Überlegungen zu den moralischen Ansprüchen künftiger Generationen setzen werttheoretische Überlegungen voraus, also Überlegungen dazu, was überhaupt gut für diejenigen ist, von denen behauptet wird, dass man ihnen etwas schuldet. Die Frage, was genau wir künftigen Personen schulden, kann nur beantwortet werden, wenn wir zumindest eine grobe Vorstellung davon haben, was gut und was schlecht für künftige Personen ist.

Nachdem so zumindest ein grobes Bild davon entworfen wurde, welche Aspekte des guten Lebens, welche Wahlmöglichkeiten und Freiheiten für künftige Generationen relevant sind, soll anschließend untersucht werden, in welchem Zusammenhang diese mit bestimmten moralischen Forderungen stehen. Im zweiten Kapitel werden Begründungen für unsere Pflichten in den Blick genommen, die von der Annahme ausgehen, dass wir das Wohlergehen jetziger und künftiger Generationen maximieren sollten. Allerdings wird sich herausstellen, dass diese Begründungen einige Schwächen aufweisen. Daher wird am Ende des zweiten Kapitels ein Perspektivwechsel vorgeschlagen: Man sollte sich auf die Frage konzentrieren, welche Rechte oder Ansprüche künftige Personen uns gegenüber haben.

Im dritten Kapitel geht es darum, einige Schwierigkeiten auszuräumen, die eine Rede von den Rechten künftiger Personen mit sich bringt. So stellt sich etwa die Frage, inwiefern künftige Personen jetzt Rechte haben können und wie sich die Tatsache, dass die Identität künftiger Personen noch gar nicht feststeht, zur Rede von deren Rechten und Ansprüchen verhält.

Im vierten Kapitel werden drei Arten von Ansprüchen künftiger Personen diskutiert: erstens der Anspruch darauf, nicht geschädigt zu werden, zweitens der Anspruch darauf, ein basal gutes Leben führen zu können, und drittens der Anspruch auf eine gerechte Verteilung natürlicher Ressourcen.

Das fünfte Kapitel widmet sich der Begründung dieser Ansprüche. Dabei geht es um die legitimen Grenzen der Aneignung natürlicher Ressourcen, die Idee eines Vertrags zwischen den Generationen sowie um grundlegende Überlegungen zu Fairness und Menschlichkeit.

Im sechsten Kapitel werden Herausforderungen diskutiert, vor denen man theoretisch wie praktisch in der Zukunftsethik steht. Im Zentrum der Diskussion stehen dabei steigende Bedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung, der vernünftige Umgang mit Risiken und Unsicherheiten sowie das Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit innerhalb der jetzigen Generation und den Ansprüchen künftiger Generationen.

Im siebten Kapitel werde ich schließlich einen knappen Vorschlag machen, was man (unter vielen anderen Möglichkeiten) tun könnte, um die in diesem Buch formulierten Ansprüche künftiger Generationen zumindest ein Stück weit einzulösen.

In vier Unterabschnitten dieser sieben Kapitel geht es jeweils um ein theoretisches Problem, das die gegenwärtige philosophische Diskussion stark fordert, und zwar um das »Problem der abstoßenden Folgerung« (2.3), das »Problem der Nicht-Identität« (3.2 und 3.3) und das »Paradox der bloßen Addition« (6.1). Ein philosophisches Buch zum Thema Zukunftsethik kommt an diesen theoretischen Problemen und an den entsprechenden Vorschlägen zu deren Lösung nicht vorbei, da diese Probleme jeweils im Kern der aktuellen philosophischen Debatten stehen. Wer sich jedoch eher für die anwendungsorientierten Fragen interessiert, kann meine Auseinandersetzung mit diesen abstrakten und möglicherweise etwas schwer zugänglichen philosophischen Problemen (in den genannten Kapiteln) etwas flüchtiger lesen. Den anderen Kapiteln sollte man dennoch gut folgen können.

1. Eine gute Zukunft? Währung der Zukunftsethik

In die verschiedenen Nachhaltigkeitsformulierungen gehen normative Annahmen ein. Diese Definitionen beinhalten also Annahmen darüber, was wir künftigen Generationen schuldig sind und aus welchen Regeln sich dies ableiten lässt. Um eine Diskussion solcher normativen Annahmen soll es im weiteren Verlauf dieses Buches gehen. In diesem Kapitel wird dafür zunächst die evaluative Grundlage solcher Überlegungen im Vordergrund stehen. Es geht also um die Frage, in welchem Zusammenhang die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen und das Wohlergehen oder gute Leben künftiger Generationen stehen. Verschiedene Antworten auf diese Frage haben Eingang in unterschiedliche Konzepte von Nachhaltigkeit gefunden. Sie finden sich auch in der Debatte um zwei konkurrierende Positionen wieder, die »schwache« und »starke« Nachhaltigkeit genannt werden.1

Die Position der schwachen Nachhaltigkeit nimmt an, dass das natürliche Kapital ersetzbar ist. So dürfe die jetzige Generation dann Braunkohle verbrennen, wenn sie dafür Windräder baut und auf diese Weise die Energieversorgung künftiger Generationen auf eine von den fossilen Energieträgern unabhängige Weise sicherstellt. Dieser Konzeption liegt also die Auffassung zugrunde, dass eine Kompensation für unseren Verbrauch natürlicher Ressourcen grundsätzlich möglich ist. Der technologische Fortschritt stelle Lösungen für bestimmte Umweltprobleme bereit und könne den Verbrauch nicht-regenerativer natürlicher Ressourcen (wie etwa fossiler Energieträger) kompensieren.

Die Position der starken Nachhaltigkeit geht hingegen davon aus, dass das natürliche Kapital nicht oder nur in sehr engen Grenzen ersetzbar ist. Das künstliche Kapital kann das natürliche Kapital z. B. hinsichtlich der Erholungsfunktion der Natur oft nicht substituieren. Ein Vergnügungspark ersetzt in dieser Hinsicht keinen Wald. Außerdem schränken wir durch unsere Tauschgeschäfte die Freiheit künftiger Generationen ein. Wir hinterlassen ihnen z. B. verschmutzte Gewässer und bieten ihnen dafür große Schiffe zum Tausch an – ohne dass sie die Möglichkeit hätten, dieses Tauschgeschäft abzulehnen.

Der Streit darüber, ob und, falls ja, in welchem Ausmaß das natürliche Kapital ersetzt werden darf, wirft grundlegende Fragen auf: Welchen Wert hat die Natur für den Menschen? Wie ist dieser Wert gerecht zu verteilen? Sind etwaige Tauschgeschäfte überhaupt legitim? In diesem Kapitel soll es zunächst um die erste Frage gehen.

Die große Unsicherheit darüber, welchen Wert die Natur konkret für künftige Menschen haben wird, erfordert grundsätzliche Überlegungen. Zukünftige Menschen gibt es noch nicht, und sie können uns nicht sagen, was ihnen einmal wichtig sein wird. Es ist somit unklar, was ihnen natürliche Ressourcen bedeuten werden (z. B. die fossilen Energieträger oder bestimmte Metalle). Statt mit Überlegungen zu solch konkreten Ressourcen anzufangen, lohnt es sich daher, die Sache zu Beginn allgemeiner anzugehen. Was lässt sich allgemein über das menschliche Wohlergehen sagen? Und lassen sich daraus allgemeine Überlegungen ableiten, die uns über die Unsicherheit in konkreten Fragen hinweghelfen? Wenn sich zum Beispiel ein allgemeiner Zusammenhang zwischen dem menschlichen Wohlergehen und bestimmten allgemeinen Fähigkeiten oder Wahlmöglichkeiten aufzeigen ließe, könnte dies Anhaltspunkte liefern, welche Ressourcen zukünftige Generationen für ihr Wohlergehen tatsächlich brauchen und schätzen.

Ein weiterer Grund, sich mit allgemeinen Überlegungen zu Fragen des guten Lebens auseinanderzusetzen, besteht in dem umgekehrten Zusammenhang. Selbst wenn wir konkrete Vorstellungen von den Wünschen künftiger Generationen hätten, könnte damit noch offen bleiben, wie gut es ihnen unter diesen Umständen ginge. Selbst wenn zum Beispiel absehbar wäre, dass künftigen Generationen an einem Bezug zur Natur, wie wir ihn kennen und schätzen, unter bestimmten Umständen nichts mehr liegt, ist unklar, wie das zu bewerten wäre. Wäre ein fehlender Naturbezug dann ein bedauernswerter Umstand ihres künftigen Daseins? Um Vertreter dieser Meinung besser verstehen zu können, ist eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit philosophischen Positionen zu Fragen des guten Lebens erforderlich.

Einen dritten Grund liefert die umweltethische Diskussion selbst. Hier wird darauf verwiesen, dass wirtschaftliches Wachstum nicht notwendig mit einer Steigerung des menschlichen Wohlergehens zusammenfalle, und auch dieser These gilt es, näher nachzugehen. Ein Grund dafür, wirtschaftliches Wachstum kritisch zu hinterfragen, besteht darin, dass Wachstum in aller Regel sowohl mit einem höheren Verbrauch natürlicher Ressourcen als auch mit einem größeren Ausmaß an Umweltproblemen einhergeht. Ein Grund dafür, dass Wachstum und Wohlergehenssteigerung auseinanderfallen, besteht nun darin, dass der höhere Verbrauch der Ressourcen und die Umweltprobleme selbst zu einer Wohlergehensminderung führen. Zusätzlich wird betont, dass der enge Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum und menschlichem Wohlergehen grundsätzlich überbewertet wird. Stephen GardinerGardiner, Stephen etwa meint in seinem Buch über Klimaethik, es könnte Wege in eine Zukunft geben, die einen geringeren ökonomischen Output haben, aber dennoch »besser für alle« sind.2

Um zu überlegen, woran sich das, was »gut für alle« wäre, bemisst, und um dies von rein ökonomischen Überlegungen abzugrenzen, werde ich im Folgenden verschiedene Theorien des guten Lebens untersuchen, die in diesem Zusammenhang einschlägig sind. Dazu gehören der Hedonismus und die Wunschtheorie (1.1) sowie der Fähigkeiten-Ansatz, der sich vor allem aus einer Kritik an der Wunschtheorie und bestimmten Annahmen ökonomischer Modelle entwickelt hat (1.2). Schließlich soll es um die Frage gehen, welchen Wert neben der Qualität des Lebens auch die Existenz gegenüber der Nicht-Existenz hat (1.3), da eine Klärung dieser Frage für bestimmte zukunftsethische Überlegungen wichtig ist.

Die Frage nach dem guten Leben ist von großer philosophischer Komplexität und kann im Rahmen dieses Buches nicht erschöpfend behandelt werden. Daher muss eine allgemeine Skizze genügen, die mit verschiedenen in der Literatur vorgeschlagenen Antworten auf diese Frage kompatibel ist. So spricht etwa aus verschiedenen theoretischen Perspektiven viel dafür, künftigen Generationen bestimmte Wahlmöglichkeiten und Freiheiten zu erhalten. Wir müssen jedoch bestimmen, welche Wahlmöglichkeiten und Freiheiten dies genau sein sollen. Mein Vorschlag lautet, dass man sich dafür stark an den Erfahrungen orientieren sollte, die Menschen bisher gemacht haben und die daher absehbar auch für künftige Generationen bedeutsam sein werden.

1.1 Wohlergehen

Eine verbreitete Antwort auf die Frage, was gut für eine Person ist, besagt, das hänge in erster Line davon ab, was sie selbst für gut erachtet. In der philosophischen Diskussion findet sich diese Grundintuition in zwei sehr einflussreichen Perspektiven auf das gute Leben wieder: dem Hedonismus und der Wunschtheorie. Beiden Theorien geht es darum, was das individuelle Wohlergehen einer Person ausmacht.

Auch wenn die freudvollen Erfahrungen, um die es dem Hedonismus geht, möglicherweise nicht das einzige Kriterium sind, anhand dessen sich die Güte eines Lebens bemessen lässt (und dies gegen den Hedonismus spricht), so hat der Hedonismus doch immerhin das Potential, bestimmte Wünsche besser einordnen und vorwegnehmen zu können als die Wunschtheorie. Das gilt auch für die potentiellen Wünsche künftiger Generationen.

Der individualethische Hedonismus nimmt an, dass sich die Güte des Lebens an unseren individuellen Erfahrungen und deren subjektiver Qualität bemisst. Es geht hier also um die freud- und leidvollen Momente im Leben einer Person. Hedonisten gehen in der Regel davon aus, dass die Frage nach dem guten Leben mit Blick auf die Freude-Leid-Bilanz zu beantworten ist. Ein Leben sei umso besser, je stärker insgesamt die freudvollen Momente die leidvollen Momente überwiegen. Dabei ist sowohl die Intensität als auch die Dauer der freud- bzw. leidvollen Erfahrungen relevant. Zudem zeichnet sich diese Position dadurch aus, dass nur Freude und Leid bei der Bewertung eines Lebens zählen, auf diese Weise also bereits alles über die Güte eines Lebens gesagt ist.

Doch was ist dabei mit »Freude« gemeint? Man könnte einwenden, die hedonistische Freude sei kein eigenständiges Phänomen. Stattdessen handele es sich um eine heterogene Ansammlung von verschiedenen Erfahrungen, die weder als ein Gefühl zu bezeichnen sind, noch von einem Gefühl der Freude begleitet werden. Man denke etwa an die Freude, im Gras zu liegen und in den Himmel zu schauen; an die Freuden des Musikhörens; die Freude daran, ein intellektuelles Problem zu lösen; oder an die Freude, die sich einstellt, wenn man seinen Durst löscht. Wir können uns über sehr viele verschiedene Dinge freuen: Wir freuen uns über ein Geschenk, einen Schulabschluss, über unsere Kinder, unser Lieblingsessen oder darüber, dass es endlich Frühling wird. Der Unterschiedlichkeit der freudvollen Erfahrungen scheinen kaum Grenzen gesetzt. Was also haben all diese Erfahrungen gemeinsam? Geht es hier überhaupt um ein irgendwie einheitliches Phänomen, welches mit dem Ausdruck Freude herausgegriffen werden kann?

Dieses Problem wurde bereits von Henry Sidgwick, HenrySidgwick formuliert, der selbst eine hedonistische Position vertritt. Sidgwick, HenrySidgwick räumt ein, dass es kein einheitliches Gefühl zu geben scheint, welches allen Erfahrungen, die wir als freudvoll betrachten, gemeinsam sei.1 Nun kann ein Hedonist allerdings versuchen, eine Theorie der Freude zu entwickeln, die nicht auf der Idee eines einheitlichen Gefühls basiert. Auch Sidgwick, HenrySidgwick verfolgt diese Strategie: Er sieht eine Lösung für das Heterogenitätsproblem darin, dass alle diese Erfahrungen wünschenswert (»desirable«) seien.2 Dies sei also ihre grundlegende Gemeinsamkeit.

Allerdings provoziert Sidgwick, HenrySidgwicks Vorschlag mehrere Einwände. Zunächst enthält der Ausdruck »wünschenswert« eine Wertung, die ihrerseits wiederum erklärungsbedürftig ist. Außerdem sind Wünsche und Freuden nicht dasselbe. Manchmal wünschen wir uns Dinge, die uns keine Freude bereiten. Und manchmal haben wir Freude an Dingen, die wir uns nicht gewünscht haben. Eine mögliche Replik auf diese Einwände besteht darin, zur Erklärung der relevanten Freuden nicht alle Wünsche, sondern nur bestimmte Wünsche heranzuziehen, und zwar die sogenannten »intrinsischen Wünsche«. Intrinsische Wünsche treten zum Zeitpunkt des Erlebens ein und beziehen sich nur auf die konkrete Qualität des Erlebens. Man wünscht sich dann während einer Erfahrung, dass man die jeweilige Erfahrung zu diesem Zeitpunkt auch tatsächlich erlebt.3

Was hätte man aber mit einer solchen Erklärung von Freude durch gegenwartsbezogene Wünsche gewonnen? Es stimmt zwar, dass wir meistens dann, wenn wir irgendeine Art von Freude erleben, dieser Erfahrung gegenüber positiv eingestellt sind. Falls diese positive Einstellung jedoch als Bewertung der Erfahrung zu verstehen ist, bleibt offen, warum die jeweilige Erfahrung so bewertet wird. Eine mögliche Antwort besteht darin, diese positive Einstellung über das subjektive Erleben zu erklären. Doch in diesem Falle stellt sich das Heterogenitätsproblem erneut. Eine Erklärung von Freude, die besagt, dass Freude in einer Art des positiven Erlebens besteht, ist offenbar eine Gefühlstheorie der Freude.

Gefühlstheorien der Freude sind jedoch stärker als sie angesichts des Heterogenitätsproblems zunächst zu sein scheinen. Denn obwohl es auf den ersten Blick schwierig ist, Freude als ein eigenständiges Gefühl auszumachen, könnte es sich bei ihr immerhin um einen Aspekt unserer Erfahrungen handeln. In der Literatur wird dieser Aspekt auch als »hedonischer Ton« bezeichnet.4 Dieser hedonische Ton ›färbt‹, metaphorisch gesprochen, unsere Erfahrungen auf eine bestimmte Weise ein. Das würde auch erklären, warum wir kein von den Erfahrungen abgrenzbares Freudeerleben ausmachen können. Man muss das Heterogenitätsproblem also nicht zu stark machen. Die positiven Erfahrungen, die ein Hedonist in den Blick nimmt, sind zwar voneinander deutlich verschieden. Dennoch weisen sie eine gewisse Ähnlichkeit auf, die mit dem Ausdruck Freude herausgegriffen wird, wobei die Rede von ›positiv getönten Erfahrungen‹ der möglichen Heterogenität dieser Erfahrungen besser gerecht würde. Zudem wird diese Rede dem Umstand gerecht, dass unsere Freuden meistens auf etwas gerichtet sind, dass wir also an etwas Freude haben. Die Rede von einem »hedonischen Ton«, die nur auf einen Aspekt unseres Erlebens gerichtet ist, fängt dies jedoch nicht ein.5

Im Gegensatz dazu sehen die Wunschtheorien keine irgendwie getönten Erfahrungen, sondern bestimmte Wünsche und deren Erfüllung selbst als die basale Größe für die Güte eines Lebens an. Zur Verbreitung der Wunschtheorien hat maßgeblich die Wohlfahrtsökonomie beigetragen. Ökonomen haben zunächst selbst auf hedonistische Überlegungen Bezug genommen. Seit dem 20. Jahrhundert werden jedoch größere Ansprüche an eine empirische Überprüfbarkeit der Einschätzung von Wohlergehen gestellt.6 Eine solche Überprüfung ist in Bezug auf Freude als relevante Einheit schwierig, denn Freude und Leid sind als innere Phänomene schwer zu messen. Ökonomen versuchen daher, das Wohlergehen einer Person an der Befriedigung ihrer Wünsche festzumachen. Die Stärke dieser Wünsche sei in Form von Vorlieben bzw. Präferenzen (als Wahlakte zwischen mehreren Optionen) empirisch gut überprüfbar. Die relative Stärke eines Wunsches wird also über die Präferenz der Erfüllung dieses Wunsches anstelle der Erfüllung eines anderen konkurrierenden Wunsches erfasst. Unter der Annahme, dass monetäre Güter ein Mittel zum Zweck der Erfüllung vieler Wünsche sind, könne deren Verwendung darüber Aufschluss geben, wie sehr jemand an der Erfüllung eines bestimmten Wunsches interessiert ist.

Wunschtheorien werden in der zeitgenössischen Philosophie vor allem von Utilitaristen vertreten, also von denjenigen, die in moralischen Fragen für eine Maximierung des Wohlergehens plädieren. Diese sind dann nicht hedonistische Utilitaristen, sondern sogenannte Präferenzutilitaristen.7 Wunschtheorien werden aber auch vor dem Hintergrund anderer normativer Theorien vertreten.8 Allgemein lässt sich daher sagen, dass uns die Wunschtheorien ebenso wenig wie der individualethische Hedonismus auf eine bestimmte normative Theorie festlegen. Sie können also getrennt von der Plausibilität dieser normativen Theorien untersucht werden. Doch was ist nun aus philosophischer Perspektive die einsichtigere Theorie des Wohlergehens – die Wunschtheorie oder der Hedonismus?

Gegen die Wunschtheorie spricht, dass sie die Beantwortung der Frage offenlassen muss, was eigentlich an der Wunscherfüllung gut ist. Denn die individuellen Wünsche und deren Befriedigung bilden dieser Theorie zufolge ja die basale Größe, anhand derer sich die Güte eines Lebens bemisst. Zwar kann die Wunschtheorie auch so verstanden werden, dass wertvolle Dinge das Leben gut machen. Und wertvoll sei eben das, auf das sich unsere Wünsche richten (z. B. wenn man sich wünscht, selbstbestimmt zu leben). Demnach ist nicht die Wunscherfüllung selbst gut, sondern die wertvollen Dinge (also z. B. ein selbstbestimmtes Leben). Allerdings erlaubt auch dies keine andere Aussage über das gute Leben künftiger Generationen als die, dass das eben davon abhängt, worauf sich ihre Wünsche richten werden. Und auch hier bleibt der Zusammenhang zwischen den faktischen Wünschen und den dadurch konstituierten wertvollen Bestandteilen eines guten Lebens offen.

Der Hedonist kann dagegen sagen, gut an der Wunscherfüllung sei, dass diese einem freudvollen Leben zuträglich ist und ein leidvolles Leben verhindert. Wenn zentrale Wünsche unerfüllt bleiben, dann gehe das mit Leid oder negativen Empfindungen, und die Erfüllung zentraler Wünsche gehe mit positiven Erfahrungen einher. Auch der Grund dafür, warum wir uns etwas wünschen, sei oftmals in den positiven Erfahrungen zu suchen, die wir uns von der Erfüllung dieses Wunsches versprechen. Auf diese Weise liefert der Hedonismus also Gründe dafür, warum wir bestimmte Wünsche haben, warum es gut für uns ist, bestimmte Wünsche zu haben (und nicht andere) und warum es gut für uns ist, wenn sich diese Wünsche auch tatsächlich erfüllen. Dass der Hedonismus solche Gründe angeben kann, macht ihn im Vergleich zur Wunschtheorie attraktiver.

Allerdings stellt sich die Frage, ob der Hedonismus tatsächlich eine vollständige Theorie des guten Lebens darstellt. So könnten wir beispielsweise den Wunsch haben, eine unangenehme Wahrheit zu erfahren. Der Wunschtheorie zufolge wäre die Erfüllung dieses Wunsches selbst dann gut für uns, wenn sie mit einer schmerzlichen Erfahrung einhergeht. Wer also diese Intuition teilt und meint, dass etwas auch dann gut für uns sein kann, wenn es unsere Freude-Leid-Bilanz verschlechtert, wird den Hedonismus insofern für fragwürdig halten. Solche Fälle sprechen dann gegen den Hedonismus und für die Wunschtheorie – oder für eine hybride Theorie, die Elemente aus beiden Theorien aufgreift.9

Grundsätzlich hat der Hedonismus jedoch ein größeres kritisches Potential als die Wunschtheorie. Aus einer hedonistischen Perspektive lassen sich bestimmte Wünsche und deren Erfüllung daraufhin überprüfen, ob uns dies wirklich zuträglich ist. Trägt es wirklich zu einem freudvollen Leben bei – so mag der Hedonist etwa kritisch fragen –, wenn wir dem Erwerb bestimmter Konsumgüter eine sehr große Bedeutung beimessen und dafür weniger Zeit in unsere Freundschaften investieren?

Auch wenn die freudvollen Erfahrungen also möglicherweise nicht das einzige Kriterium sind, anhand dessen sich die Güte eines Lebens bemisst, so hat der Hedonismus doch immerhin das Potential, bestimmte Wünsche besser einordnen zu können. Das gilt auch für die potentiellen Wünsche künftiger Personen. Hier geht es weniger darum, die potentiellen Wünsche künftiger Personen zu kritisieren, als diese zuallererst zu antizipieren. In dieser Hinsicht kann der Hedonismus durchaus eine Richtung angeben: Wir wissen zwar nicht genau, was künftige Personen sich später einmal wünschen werden, aber wir können davon ausgehen, dass es zumindest einen starken Bezug zwischen der subjektiv erfahrbaren Qualität ihres Lebens und ihren Wünschen geben wird. Wenn etwa angenommen wird, dass auch künftige Personen noch den Wunsch haben werden, Zeit in der Natur zu verbringen, dann speist sich diese Annahme aus unserer positiven Erfahrung des Naturerlebens, von der wir eine gewisse Zeitlosigkeit annehmen. In der Literatur finden sich zahlreiche Beschreibungen, die zeigen, inwiefern das Naturerleben, z. B. der erhabenen Natur, eine wesentliche Bereicherung für das eigene Leben darstellen kann. Diese Beschreibungen können Hinweise darauf geben, inwiefern ein Leben mit einem ästhetischen Bezug zur Natur besser sein kann als eines ohne solch einen Bezug. Dies lässt sich durchaus als empirische Tatsache beschreiben: Man kann beobachten, dass bisher viele Menschen das Naturerleben als erhebliche Bereicherung für ihr Leben empfunden haben und daraus die vorsichtige Hypothese ableiten, dass es auch künftigen Menschen so gehen könne.10

Zwar stellt sich hier und hinsichtlich vieler anderer von uns als positiv wahrgenommener Erfahrungen die Frage, wie stark eine solche Zeitlosigkeit tatsächlich gegeben ist. Für die Probleme, die sich diesbezüglich stellen, gibt es jedoch eine naheliegende Lösung: Wir halten künftigen Personen verschiedene Optionen offen, deren Wahl jeweils ihrem guten Leben zuträglich sein könnte. Hedonisten würden das gutheißen, weil so die Wahrscheinlichkeit dafür steigt, dass künftige Personen möglichst positive Erfahrungen machen. Denn sie können unter den verschiedenen Möglichkeiten dann diejenigen wählen, die ihnen am zuträglichsten sind.

Zwar könnte theoretisch der Fall eintreten, dass das Offenhalten verschiedener Wahlmöglichkeiten den Preis hat, dass dadurch trotzdem bestimmte Möglichkeiten, die besonders viel Freude bringen, wegfallen. Dennoch spricht aus hedonistischer Perspektive einiges für das Offenhalten von Wahlmöglichkeiten. Gerade dann, wenn man nicht weiß, welche Möglichkeiten besonders viel Freude mit sich bringen, ist es in der Regel besser, verschiedene Wahlmöglichkeiten zu haben. Dennoch sollte man beachten, dass es nicht um die bloße Anzahl an Wahlmöglichkeiten, sondern stets auch um deren erwartbare Qualität geht.

Auch der Wunschtheoretiker kann sich prinzipiell dafür aussprechen, verschiedene Optionen offenzuhalten. Der Wunschtheoretiker könnte behaupten, dass auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich künftige Personen diejenigen Wünsche, die sie faktisch haben, auch tatsächlich erfüllen können. Allerdings wird man diese Wünsche irgendwie antizipieren müssen, z. B. dann, wenn sich die Frage stellt, welche Optionen besonders wichtig sind und daher künftigen Generationen in jedem Fall offenstehen sollten. Dafür bietet der Hedonismus erneut konkretere Anhaltspunkte als die Wunschtheorie.

Den Hedonismus und die Wunschtheorie verbindet die Annahme, dass die Güte des Lebens aus der jeweiligen Perspektive derjenigen Person betrachtet werden sollte, um deren Leben es tatsächlich geht. Daher muss man fragen, was sie sich wünscht oder was ihr Freude macht. Doch dieser insofern subjektive Ansatz kann durchaus eine starke intersubjektive Komponente haben. Menschen teilen als Menschen bestimmte Erfahrungen. Diese Gemeinsamkeiten sorgen auch für eine gewisse Kontinuität ihrer Erfahrungen und Wünsche über die verschiedenen Generationen hinweg. Eine solche Kontinuität ist umso naheliegender, je basaler die jeweiligen Wünsche sind und je stärker sie mit der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse verbunden sind. So ist anzunehmen, dass die Verfügbarkeit sauberen Wassers und fruchtbarer Böden sowie einer nicht verstrahlten, nicht vergifteten oder in anderer Weise nicht lebensfeindlichen Umwelt auch für künftige Generationen von großer Bedeutung ist.

Darüber hinaus unterliegen zahlreiche Wünsche jedoch einem größeren Wandel. Entsprechend stellt sich die Frage, welche Rolle ein möglicher Wandel in den Wünschen künftiger Generationen für unsere Überlegungen spielen sollte. Angenommen etwa, der Wunsch nach einem Aufenthalt in einer möglichst unberührten Natur könnte verloren gehen, weil künftigen Generationen ein solcher Naturbezug fehlt, und die Menschen überwiegend in sehr großen Städten leben – würden die fehlenden Möglichkeiten des Naturerlebens dann in irgendeiner Weise bedauerlich sein? Brian Barry, BrianBarry stellte sich Ende des letzten Jahrhunderts bereits vor, dass künftige Menschen Freude an künstlichen Landschaften empfinden könnten: an Plastikbäumen, Kunstrasen und künstlichen Vögeln. Er kritisiert die Wunschtheorie entsprechend dafür, dass sie nicht erklären könne, was an einer solchen Vorstellung bedauerlich ist.11 Denn er selbst hält es durchaus für eine schreckliche Vorstellung, dass Menschen das echte Gras, die echten Bäume und echten Vögel nicht einmal mehr missen würden.

Heute mutet Barry, BrianBarrys Beispiel fast schon etwas antiquiert an. Angesichts der Möglichkeiten der Virtual Reality erscheint der Plastikrasen als ein Relikt aus alten Zeiten. Das Unbehagen aber bleibt: Wäre es nicht sehr bedauerlich, wenn die Virtual Reality die echte Natur weitgehend ersetzte, aber niemand mehr