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Kleingeld, Haus und Saugroboter: Was macht das Haben mit dem Sein? „Ein furioser Rundumschlag durch Kapitalismus und Klasse.“ Maggie Nelson
Es habe zwei Phasen in ihrem Leben gegeben, schreibt Eula Biss: die Phase vor und die nach dem Kauf einer eigenen Waschmaschine. Ausgehend von feinen Alltagsbeobachtungen und mit selbstironischem Humor stellt sie sich den großen konsumkritischen Fragen: Wie bestimmen Dinge unser Leben? Warum wollen wir immer mehr? Und was macht das Haben mit dem Sein?
Eula Biss fragt, welchen Wert die Dinge wirklich für uns haben und wie unser Alltagsleben mit den großen Wirtschaftsphilosophien unserer Zeit zusammenhängt.
So werden – persönlich, subtil und mit überraschenden Wendungen – alte Überzeugungen zu Kapitalismus, Besitz und Identität auf den Prüfstand gestellt.
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Seitenzahl: 302
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Kleingeld, Haus und Saugroboter: Was macht das Haben mit dem Sein? »Ein furioser Rundumschlag durch Kapitalismus und Klasse.« Maggie NelsonEs habe zwei Phasen in ihrem Leben gegeben, schreibt Eula Biss: die Phase vor und die nach dem Kauf einer eigenen Waschmaschine. Ausgehend von feinen Alltagsbeobachtungen und mit selbstironischem Humor stellt sie sich den großen konsumkritischen Fragen: Wie bestimmen Dinge unser Leben? Warum wollen wir immer mehr? Und was macht das Haben mit dem Sein?Eula Biss fragt, welchen Wert die Dinge wirklich für uns haben und wie unser Alltagsleben mit den großen Wirtschaftsphilosophien unserer Zeit zusammenhängt.So werden — persönlich, subtil und mit überraschenden Wendungen — alte Überzeugungen zu Kapitalismus, Besitz und Identität auf den Prüfstand gestellt.
Eula Biss
Was wir haben
Über Besitz, Kapitalismus und den Wert der Dinge
Aus dem Englischen von Stephanie Singh
Carl Hanser Verlag
Für John, in Liebe und Schuld
Um meinen Leib ist es mir bang —
Und bang um meine Seele —
Profund — labiles Eigentum —
Besitz, den wir nicht wählen —
Emily Dickinson
»Wollen wir die moralischen Grundlagen des ökonomischen Lebens und in Erweiterung davon des menschlichen Lebens insgesamt verstehen, müssen wir mit den ganz kleinen Dingen beginnen.«
David Graeber
Wir kommen gerade aus einem Möbelgeschäft zurück, wieder einmal. Was sagt es über den Kapitalismus aus, fragt John, dass wir Geld haben und es ausgeben wollen, aber nichts finden, was die Ausgabe wert ist? Wir hätten fast eine Anrichte gekauft, doch dann zog John die Schubladen heraus und merkte, dass sie nicht für die Ewigkeit gemacht waren.
Wahrscheinlich gerät die Massenproduktion irgendwann an ihre Grenzen, sage ich.
Wir haben gerade ein Haus gekauft, haben aber noch keine Möbel. Die letzten drei Monate saßen wir oft auf unserer Veranda hinter dem Haus. Letzte Woche klingelte eine mexikanische Frau mit vier Kindern und fragte, ob das vordere Zimmer zu vermieten sei. Tut mir leid, stammelte ich, wir wohnen hier. Sie war verwirrt. Aber das Zimmer steht leer, sagte sie.
Es steht tatsächlich leer. Ich hänge Gardinen auf, um die Leere zu verbergen, aber es bleibt leer. In dem Haus, in dem ich aufwuchs, gab es keine Möbel, bis ein deutscher Tischler bei uns einzog. Er kam in einem Lastwagen, der so schwer war, dass unsere Einfahrt sich absenkte. Er stellte seine Möbel in unser Esszimmer und fertigte dann mit den Maschinen aus seinem Lastwagen kleine Nachbildungen dieser Möbel für mich an. Noch immer habe ich einen winzigen Eckschrank mit kunstvoll durchbrochenen Türen, eine winzige Kiste mit Kupfergriffen und einen winzigen Esstisch mit perfekt geschwungenen Beinchen. Sie stehen im Keller und sind in Zeitungspapier gewickelt. Die winzige Kommode steht auf meiner Ikea-Kommode.
Unsere bisherige Wohnung war mit Regalen ausgestattet, die John aus billigem Pinienholz gemacht hatte. Nun stehen sie zerhackt im Keller. Die Munitionskiste, die ich am Straßenrand gefunden und in einen Couchtisch verwandelt hatte, steht jetzt im Garten und beherbergt Ringelblumen. Mein Vater murmelte einmal, wie aus dem Nichts: »Ich hasse Möbel.« Er hatte gerade ein Geschäft für Möbel aus Pinienholz besucht. Der deutsche Tischler war damals längst im Altersheim, und seine Möbel waren mit ihm verschwunden. Als Kind habe ich ein Loch in den Esstisch gebrannt. Der Tischler, der Pfeifenraucher war, hatte mir Streichhölzer gegeben. Ich verbrannte gern Dinge, aber das mit dem Tisch tat mir leid, weil ich den auch gern mochte.
Die Liedzeile I burned a hole in the dining room table verbinde ich mit dem Booklet eines Albums von Billie Holiday, das ich mir im College in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Der Begleittext erklärte, dass die Lieder von jemand anderem verfasst waren, aber Billie schrieb sie durch ihren Gesang neu. Ihr Vortrag verwandelte das banale Porträt des privilegierten Lebens in eine ironische Kritik ebendieses Lebens.
In den Möbelläden überfällt mich eine seltsame, ungerichtete Begierde. Ich will alles und nichts. Die sanften Farben der Teppiche, die warmen Hölzer, das Kupfer und Glas der Lampen scheinen alle zu signalisieren, dass die Läden voll schöner Dinge sind, doch wenn ich eines dieser Dinge für sich betrachte, finde ich es nicht schön. Das Verlangen nach Konsum sei eine Art Lust, schreibt Lewis Hyde. Doch Konsumgüter reizten diese Lust nur, ohne sie zu befriedigen. Der Warenkonsument bekomme eine Mahlzeit, die nicht satt mache; er konsumiere, ohne dass sich Befriedigung einstelle oder Leidenschaft entfacht werde.
Letztlich fühlen sich alle Möbel, die wir kaufen, wie Liedzeilen an, die für den Song von jemand anderem verfasst wurden. Die Ausnahme ist der von den Amish gefertigte Esstisch. Er wird aus solidem, wunderschönem Kirschholz sein. Von guter, aber nicht ganz so guter Qualität wie der Tisch, mit dem ich aufwuchs und in den ich ein Loch brannte. Für so einen Tisch müssten wir viel mehr Geld ausgeben. Oder ein deutscher Tischler müsste bei uns einziehen.
I once had a girl / Or I should say, she once had me, singt es aus dem Autoradio. John und ich schweigen. Es ist lange her, dass ich diesen Song zuletzt gehört habe, und ich bin nicht sicher, ob ich je auf die letzten Zeilen geachtet habe: So I lit a fire / Isn’t it good, Norwegian wood. Was ist dort geschehen, frage ich mich. Hat er Feuer im Kamin gemacht, während das Mädchen arbeiten war? Nein, sagt John, er hat ihre Wohnung niedergebrannt. Er klingt überzeugt, aber ich bin nicht so sicher.
Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Norwegisches Holz. Das stört mich. Ich lese Interviews mit den Beatles. »Eigentlich war es billiges Pinienholz«, so McCartney über die Holzvertäfelung, die den Song inspirierte. Über das Ende sagte er: »Es könnte bedeuten, dass ich Feuer machte, um mich warmzuhalten, und dass sie ein wirklich schön ausgestattetes Haus hatte. Aber das stimmt nicht. Es bedeutet, dass ich das verdammte Haus niederbrannte.«
Ich kehre zu meinem alten Wohnkomplex zurück, um ein im Keller vergessenes Fahrradschloss zu holen. Was machst du hier, fragt meine Nachbarin, Slumtourismus? Sie hat mich noch nie gemocht. Sie arbeitete bis zwei Uhr früh und ging immer ins Bett, wenn mein Kleinkind morgens aufwachte. Um sich für das Geräusch seiner Schritte über ihr zu rächen, saugte sie nachts. Ehe sie hier einzog, hatte sie ein Haus besessen, sich inzwischen aber dagegen entschieden. Nun hat sie eine Bar.
Slumtourismus war eine Freizeitbeschäftigung der wohlhabenden Damen im viktorianischen England. Sie besuchten die Armen, schrieben darüber und verschafften ihnen Arbeit als Wäscherinnen. Sie ließen sie die Bettwäsche der Reichen auskochen, schrubben und bügeln und lasen ihnen währenddessen Gedichte vor. Auf diese Weise sollten die Mädchen seelisch gereinigt und durch Arbeit erlöst werden. Die Frauen glaubten, den Armen zu helfen, doch in Wahrheit halfen die Armen ihnen. Laut Alison Light betrieben die Frauen Slumtourismus, um die »engen Grenzen ihrer gut gepolsterten Welt« hinter sich zu lassen. Der Slumtourismus wurde zu einer Art Beruf für Frauen, denen das Arbeiten nicht gestattet war. Eine von ihnen betrieb ein Heim, in dem Waisen und arme Mädchen zu guten Bediensteten erzogen wurden. Unter diesen Mädchen war das Findelkind Lottie Hope, das später als Dienstmädchen für Virginia Woolf arbeitete.
Eines der beiden Schlafzimmer in unserer Wohnung war ursprünglich für die Dienstmagd gedacht. Das Gebäude am Seeufer war früher ein Ferienhaus, weit entfernt von der Innenstadt Chicagos. Doch die heutigen Bewohner sind keine Urlauber. Als wir einzogen, sahen wir Kinder mit Zigarettenmalen auf der Haut. Sie krochen durch ein zerbrochenes Fenster des Nachbargebäudes aus der Wohnung ihrer Mutter, und ein Verrückter brüllte aus einem anderen Fenster. Unsere Wohnung hatte Seeblick, sodass ich mich reich fühlte. Penner angelten auf den Felsen am See Regenbogenforellen, und Gischt sprühte über den Pier. Hunde liefen frei am sandigen Ufer herum; ihre Hinterlassenschaften trockneten in der Sonne. Eine alte Frau, die mir manchmal etwas zurief, saß auf einer Bank am See. Heute lebe ich weiter weg von alldem. Auch vom See, dessen postindustrielles Wasser die Sturmwolken am weiten Horizont widerspiegelt.
Ist es das?, fragt mein Vermieter, als er mich sieht. Jahrelang fuhr ich ein Fahrrad, das ein Vormieter zurückgelassen und das mein Vermieter mir geliehen hatte.
Ich bleibe für einen Moment im betonierten Hinterhof und unterhalte mich mit der Friseurin, die mir in ihrer Küche die Haare schnitt. Über ihr wohnt eine Köchin, die mir tütenweise Rucola brachte, wenn er Saison hatte, und über der Köchin wohnt ein Bildhauer, mit dem ich manchmal Wein trank. Über unserer alten Wohnung lebt die Witwe eines Postangestellten. In einem unserer wenigen Gespräche erzählte sie, sie liebe Toni Morrison, und ich gab ihr meine signierte Ausgabe von Sula. Auf der anderen Seite vom Hof wohnen ein Teppichverkäufer, ein Schauspieler und eine Frau, die das Drehbuch zu einem Film geschrieben hat, den ich nie gesehen habe. Und eine junge Frau, deren Spitzenunterwäsche immer auf der Wäscheleine im Keller hängt. Plötzlich vermisse ich all das. Hier lebt der Alkoholiker, der meinem Sohn einen durchsichtigen Frosch geschenkt hat, und der Meth-Süchtige, der ihm einen Osterkorb voller Plastikkakerlaken gab. Mein Sohn wird sich nicht an diese Männer erinnern, aber die Kakerlaken werden auch im neuen Haus weiter durch mein Leben kriechen.
Unser Haus ist ein Ziegelbungalow und sieht fast genauso aus wie das Haus nebenan. Die Häuser wurden von inzwischen verstorbenen Brüdern errichtet. Das hat mir mein Nachbar erzählt, der im Haus des anderen Bruders lebt. Er ist Postangestellter im Ruhestand und übt immer noch jeden Tag Saxofon, obwohl er wegen seines schlechten Gesundheitszustands nicht mehr auftreten kann. Innen sind unsere Häuser identisch, so sagt er, mit Ausnahme meines Dachbodens, der von den Vorbesitzern renoviert wurde. Er würde seinen Dachboden auch gern renovieren, hat aber kein Geld dazu. Einige seiner Verwandten sitzen im Gefängnis, und mit seinen Ersparnissen unterstützt er deren Familien. Gott will wohl nicht, dass ich Geld habe, vermutet er. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, das mit Gott meint er nicht ernst.
Er hat mir schon erzählt, dass er die gleiche Grundschule besucht hat wie mein Sohn heute und dass er auf dem Schulhof verprügelt wurde. Er sagte, damals hätte er es nicht wagen dürfen, sich mit einer Frau wie mir zu unterhalten. Begegnete er auf dem Gehweg einer weißen Frau, musste er zu Boden blicken. Wenn sie ihn ansprach, musste er mit »Ja, gnädige Frau« antworten. Er hat mir auch erzählt, dass er einmal einen Festtagstruthahn ablehnte, den ihm ein reicher Villenbesitzer vom See angeboten hatte. Der reiche Mann hatte von ihm verlangt, durch den Tiefschnee zum Dienstboteneingang hinter dem Haus zu stapfen, um Pakete abzugeben.
Die Vorbesitzer unseres Hauses waren weiß. Sie verdienten sich etwas dazu, indem sie das Haus als Set für Werbeaufnahmen vermieteten. Das fand John durch den Anruf eines Castingagenten heraus, der wissen wollte, ob unser Haus dafür noch zur Verfügung stünde. Steht es nicht — wir leben hier. Doch dann erfuhren wir, wie viel wir dafür bekämen. Wir müssten das Haus nur für drei Tage und zwei Nächte verlassen und erhielten 8000 Dollar.
Die Werbung ist für Walmart — jenen Konzern, der das Vermögen von vier der zwanzig reichsten Menschen der USA hervorgebracht hat. Jahrzehntelang konnte Walmart in Chicago keine Läden bauen, aber jetzt sind sie hier und wollen, dass ihr Werbefilm in einem klassischen Bungalow im Chicagoer Stil spielt. Wir besitzen nichts von Walmart, aber das macht nichts, weil Walmart-Möbel ins Haus geschafft, Walmart-Vorhänge angebracht und Walmart-Bilder in Walmart-Rahmen aufgehängt werden. Ein weißer Set-Designer und ein weißer Regisseur schaffen auf diese Weise ein authentisches afroamerikanisches Interieur. Sie erzählen, dass in dem Werbefilm eine afroamerikanische Großmutter einen Festtagstruthahn servieren wird.
Nebenan, in dem Haus, das aussieht wie unseres, lebt eine echte afroamerikanische Großmutter, nämlich die Frau des pensionierten Postangestellten. Wir werden dafür bezahlt, dass unser Haus so aussieht, wie sich ein Set-Designer das Haus unserer Nachbarn vorstellt, damit Walmart Leuten wie ihnen etwas verkaufen kann. John erzählt das seinem Freund Dan, der meint, dies sei der Inbegriff weißer Privilegiertheit.
Das verstehe ich nicht, sagt meine Mutter. Wieso ist das der Inbegriff weißer Privilegiertheit? Es ist nicht die erste Pointe, die sie ruiniert hat.
Meine Mutter hat die Schule abgebrochen. Später, nachdem sie doch studiert und eine Scheidung hinter sich gebracht hatte, rutschte sie beinahe aus der Mittelschicht heraus. Sie ist immer noch weiß und hat Privilegien, aber oft hat sie kein heißes Wasser. Ich bewundere sie dafür, wie gründlich sie das Leben, in das sie hineingeboren wurde, hinter sich gelassen hat — das Silber im Büfett und die Schallplatten mit den Opern. Behalten hat sie nur die Bücher.
In einem der Märchen, die sie mir als Kind erzählte, wird ein Mädchen von einer Hexe verfolgt. Während das Mädchen wegläuft, wirft es die Dinge weg, die es in den Taschen hat und die von seiner Mutter stammen. Es wirft eine Haarbürste, die zu einem dichten Wald wird. Es wirft einen Handspiegel, der zu einem See wird und die Hexe aufhält. Du musst alles wegwerfen, was du bekommen hast, könnte meine Mutter sagen. So weit begreife ich es. Aber erst seit Kurzem frage ich mich, vor welcher Hexe sie wegläuft. Und ob ihre Hexe auch meine Hexe sein wird.
Meine Mutter tauschte Eier ihrer Hühner bei einem Nachbarn gegen abgelaufenes, aber noch essbares Brot ein. Wenn sie uns von der Schule abholte, hielt sie immer an einem Müllcontainer hinter einem Restaurant, um dort nach noch genießbarem Obst zu suchen. Einmal fragte ich meine Mutter, ob sie ein Rentenkonto habe. Sie lachte. So etwas hatte ich nie, sagte sie. Und, nach einer Pause: Meine Kinder sind mein Rentenkonto. Du warst meine Investition.
Mit dreißig Jahren hatte sie vier Kinder, aber kein Einkommen, und zahlte keine Sozialbeiträge. Ich war mit dreißig noch immer kinderlos und arbeitete bereits an der Uni. Ich habe ein Rentenkonto, weshalb ich nicht besonders gut geeignet bin, meiner Mutter den Begriff »privilegiert« zu erklären. Niemand versteht das Prinzip der Privilegiertheit besser als die Leute, auf die es nicht zutrifft. Ich glaube, sage ich ihr, ich verstehe das auch nicht.
Ich ergreife Besitz von dem Haus, indem ich jedes Zimmer streiche. Die Frage, welche Farbe zu welchem Raum passt, frisst mich auf. Vielleicht sollte ich mit historischen Farben anfangen, aber ich kann die Originalfarbe unter den abgesplitterten Farbschichten sehen: unangenehmes Rosa. Vielleicht sollte ich doch nicht mit der Geschichte beginnen, sondern mit den Erinnerungen. Gebutterte Yamswurzel aus dem Garten meiner Mutter. Abendblau, eine alte, halb im Dreck vergrabene Flasche. Waldmoos, die Farbe des kleinen Wohnzimmers meiner Mutter, das nach Holzrauch roch.
In ihrem Werk Color(ed) Theory strich die Künstlerin Amanda Williams Häuser an der South Side von Chicago, die zum Abriss vorgesehen waren, in bunten Farben. Das Projekt begann als Farbsammlung: Harold’s Chicken Shack Red, Crown Royal Purple, Pink Oil, Ultrasheen Blue, Flamin’ Hot Orange, Currency Exchange Yellow. »Diese Palette kombinierte mein Architekturstudium an einer Ivy-League-Universität mit meiner gelebten Erfahrung als Einwohnerin der South Side«, schreibt sie. Jedes Haus wurde vom Fundament bis zum Dach in einer einzigen Farbe gestrichen. Sie strich nur Häuser, die für niemanden mehr irgendeinen Wert hatten — weder für Drogendealer noch für Obdachlose noch für Teenager aus der Gegend. Ihr Begriff dafür war zero value — null Wert. Diese wertlosen Häuser strich sie in Farben von Produkten, deren Zielgruppe Schwarze sind. Sie sagt: Jede Farbe ist ein Code.
Ich habe Schwierigkeiten, das richtige Weiß zu finden. Opulence White, Chantilly Lace oder French Manicure gefallen mir nicht. Die Unterhaltung darüber sei langweilig, beschwert sich meine Schwester. Vielleicht gebe ich Weiß auf und streiche das Wohnzimmer pfirsichfarben, antworte ich. Pfirsich ist problematisch, sagt sie. Jetzt lacht sie mich aus.
Ich habe eine bestimmte Marke für Farben entdeckt, die ich mir nicht leisten kann. Aber ich könnte sie kaufen. Für Menschen aus meiner Schicht ist »sich etwas leisten können« meistens gleichbedeutend mit einer Zurschaustellung meiner Werte, nicht meiner finanziellen Möglichkeiten. Ich kann einer Farbe, die 110 Dollar für 3,8 Liter kostet, diesen Wert nicht beimessen. Aber ich finde diese Farbe unfassbar strahlend und unbestreitbar besser als jede andere. Nachts, wenn meine Familie schläft, vergleiche ich Farbmuster aus dem Baumarkt. Dann öffne ich den schweren Katalog von Farrow & Ball und streiche mit den Fingern über die kleinen, leicht erhabenen Farbvierecke. Selbst ihre Namen klingen besser: Matchstick, String, Cord, Skimming Stone. Diese Weißtöne müssen sich nicht mehr beweisen. Sie können sich Bescheidenheit leisten. Eine heißt sogar Blackened.
Ich erinnere mich an das Erweckungserlebnis, statt der aus der Schule bekannten Acrylfarben an der Uni erstmals Ölfarben zu benutzen. Erst nur Schwarz und Weiß auf Papier, dann das volle Spektrum auf Leinwand. Die seidigen Öle in den schmalen Metalltuben waren ihren Preis wert. Ich liebte alle Farben, vor allem das leicht giftige Kadmium-Orange. Flamin’ Hot. Die Auswahl der Wandfarben bringt mich der Malerei so nahe, wie ich ihr seit Jahren nicht gekommen bin.
Ich schicke Robyn ein Muster von Sulking Room Pink, weil ich weiß, dass ihr der Name gefallen wird. Schmollen (to sulk) heißt auf Französisch bouder, und davon abgeleitet wird boudoir, der Privatraum einer Frau. Ein Zimmer für sich allein in staubigem, begütertem Rosa. Dann gibt es noch Etiquette, ein als »manierlicher Farbton« beschriebenes Weiß. Es ist ein Weiß, das sich hinter seinem eigenen Weißsein versteckt. Eine weitere Zeile in diesem weißen Gedicht. Ich denke jetzt häufiger über Farben nach als über Lyrik. Ich habe eine neue Form der Literatur entdeckt: Crisp Linen, Collector’s Item, White Zinfandel, Pashmina, Fine China, Ivory Tower, Mirage White, American White.
Benjamin Moore hat Simply White zur Farbe des Jahres erklärt. Und das in dem Jahr, in dem ein weißer Mann ins Weiße Haus gewählt wird. Die Wahl von Weiß zur Farbe des Jahres sei »unausweichlich«, so der Kreativdirektor von Benjamin Moore. »Die Farbe Weiß ist transzendent, kraftvoll und polarisierend — man nimmt sie entweder für selbstverständlich oder ist von ihr besessen.«
Ich bin vom Weiß besessen, was nicht hilfreich ist. Deep in Thought ist mein Lieblingsname, aber das dazugehörige Weiß gefällt mir nicht. Ich möchte nicht, dass meine Wände tief in Gedanken versunken sind. Auf dem Weg zu einer Lehrersprechstunde in der Grundschule bleibe ich auf dem Gang stehen, um eine große Kiste Toilettenpapier zu fotografieren. Der Farbton auf dem Schild heißt Empathy White. Vielleicht ist das die Farbe, nach der ich suche. Oder eine Variante, ein betroffenes Off-White wie All Apologies. Oder etwas Vielsagenderes, wie Paperwork White oder Payroll White. Vielleicht sollte ich auch alles in Property streichen.
Es kommen immer mehr Kataloge. Ich weiß nicht, wie die Hersteller uns finden oder wie man die Zusendung stoppt. Manchmal kommt ein und derselbe Katalog am selben Tag zweimal. Sie stapeln sich, übertrumpfen einander mit schwererem Papier oder satteren Farben. Dann kommt der Katalog von Restoration Hardware, wie eine Parodie der Situation, in zwei Bänden, von denen jeder so umfangreich ist wie ein Telefonbuch. Sie sind größer und schwerer als die zweibändige Illustrierte Englische Gesellschaftsgeschichte meines Großvaters. Wir legen die Kataloge von Restoration Hardware neben den Kamin und benutzen sie als Hocker.
Auf dem Ikea-Katalog prangt eine Botschaft: »Für Menschen, nicht für Verbraucher.« Auf dem Foto sitzen junge Leute gut gelaunt und entspannt um einen vollgestellten Esstisch. Auf einem Servierwagen stapelt sich schmutziges Geschirr. An der Wand lehnt eine Gitarre. Der Ikea-Katalog liegt ganz oben auf einem Stapel von Katalogen mit Fotos steriler Räume, in denen unberührte Möbel stehen. Ikea suggeriert, dass dieses andere, chaotischere Leben nicht nur günstiger, sondern auch menschlicher sei.
John und ich haben zwei Ikea-Kommoden. Nick und Robyn haben die gleichen. Nicks ist schon die zweite dieses Modells, weil bei der letzten Kommode alle Schubladenböden herausgefallen waren. Sie war wie ein Gebäude mit perfekter Fassade, in dem alle Etagen in den Keller gestürzt waren, sagte Robyn. Einmal habe ich ein Wohnhaus in New York City gesehen, in dem das passiert war. Nun wuchsen dort Bäume inmitten der Mauern. Ein andermal sah ich ein zur Zwangsversteigerung freigegebenes Haus in einem Vorort. Von außen war es unversehrt, aber innen fehlte die gesamte Ausstattung; nicht einmal Kabel und Rohre gab es.
Die Kommode ist schlicht und im Shaker-Design gehalten. Die Shaker glaubten an das nahe Ende der Welt, was eher kein Argument für haltbare Möbel ist, aber die Herstellung haltbarer Güter war für die Shaker eine Form des Gebets. »Arbeite, als hättest du tausend Jahre zu leben«, predigte die Gründerin Ann Lee ihren Glaubensbrüdern und -schwestern, »und als wüsstest du, dass du morgen sterben musst.«
Heute gibt es nicht mehr viele Shaker. Ihre Möbel haben sie überlebt und damit ihren Zweck erfüllt. Ein Touristenführer in dem Shaker-Dorf, in dem Ann Lee starb, erzählte mir, die Möbel verkörperten die Werte der Shaker. Ich frage mich, ob eine Shaker-Kommode außerhalb des Kontexts eines Shaker-Lebens noch immer die Hingabe an Zölibat und harte Arbeit verkörpert. Vielleicht flüstert sie ihrem Besitzer nachts zu. Vielleicht kommen meine Zweifel aus meiner Kommode.
In dem Shaker-Dorf, in dem Ann Lee starb und das ich als Schulkind besuchte, hingen Shaker-Stühle auf Shaker-Haken, und mir wurde ein Shaker-Lied beigebracht. Die Möbel interessierten mich nicht, aber das Lied faszinierte mich, vor allem die beiden letzten Verse: To turn, turn, will be my delight / Till by turning, turning, I come round right.
In meinen Zwanzigern bin ich zehnmal umgezogen. Bei unserem vierten oder fünften Umzug verließ ich New York und ließ ein Bettgestell zurück, das meine Mutter gemacht hatte. Es war schlicht und hatte kein Kopfbrett. Es sah fast wie ein Shaker-Bett aus und war für den Zölibat gebaut, da es noch schmaler als ein gewöhnliches Einzelbett war. Als meine Mutter erfuhr, dass ich es zurückgelassen hatte, wurde sie wütend. Ich versuchte zu erklären, dass in meinem Leben kein Platz für Möbel war.
In Kalifornien schlief ich auf einem Stück Schaumstoff, das einfach aufgerollt und weggeräumt werden konnte. Mein Freund, der seine Kleidung in einem großen Pappkarton aufbewahrte, schlug vor, all unsere Möbel aus Pappkartons anzufertigen. Das hatte Ikea bereits mit den innen hohlen Beistelltischen aus Pressspan vorgemacht. »Dass Ikea es uns so leicht macht, uns selbst zu erfinden, ist befreiend«, schreibt Lauren Collins, »aber es kann auch traurig sein, ein Leben so billig auf- oder abzubauen.« Binnen eines Jahres hatte ich meine Matratze zusammengerollt und war nach Iowa gezogen. Dort fand ich meine Möbel am Straßenrand.
Auf dem Papier lautet Ikeas Mission: »Ein besseres Alltagsleben für mehr der Vielen.« Ich denke an all die Ikea-Möbel, die ich das Leben habe auffressen sehen. Die Beistelltische mit den abgebrochenen Beinen, die zerbrochenen Lattenroste von Futons, die Spanplattentische, die an den Straßenrand gestellt und vom Regen zerstört werden, ehe sie jemand in ein neues Zuhause mitnehmen könnte. Ikea ist der drittgrößte Holz verarbeitende Betrieb der Welt und hat Möbel zu Verbrauchsgütern gemacht. Es sind Möbel für die Apokalypse. Was mir jedoch gefällt und mich zum Lachen bringt: Der Slogan »für Menschen, nicht für Verbraucher« impliziert, dass Verbraucher keine Menschen sind.
Maggie sagt, Dinge seien wie Menschen, in der Theorie lebendig. Vielleicht sind wir Menschen einfach so sehr wie Dinge, denke ich, dass wir uns in flackernden Glühbirnen und leeren Flaschen wiedererkennen. Ich lese My Life with Things: The Consumer Diaries von Elizabeth Chin. Sie schreibt: »Die Menschen sind so umfassend und wirkungsvoll entfremdet, dass sie zu Gegenständen reduziert werden, während die Dinge, die sie herstellen und kaufen, sich das Lebendige angeeignet haben, das den Menschen selbst abhandengekommen ist.«
Chins Text ist ein Tagebuch der verlorenen Lebendigkeit. Ein Eintrag erzählt von ihrer Fehlgeburt. Sie läuft blutend durch den Supermarkt und gestattet sich, zwei Stühle zu kaufen, die sie schon lange haben wollte. Am nächsten Tag, sie blutet noch immer, geht sie zu Ikea und kauft einen kleinen Tisch, der zu den Stühlen passt. Sie stellt sich eine MasterCard-Werbung vor: »Stühle je 79 Dollar, Tisch 39 Dollar. Eine Fehlgeburt überstehen: unbezahlbar.«
Sie ist Anthropologin, und die Tagebucheinträge sind Notizen aus ihrem Leben. Sie erforscht sich selbst, so wie sie einst arme, schwarze Kinder erforschte. Als Professorin hat sie ein Jahreseinkommen von über 90.000 Dollar und gehört damit zu den oberen zwanzig Prozent in dem reichsten Land, das es in der Menschheitsgeschichte je gab. Sie weiß, dass sie zu einer Wirtschaftselite gehört, fühlt sich aber nicht reich. Das Bezahlen der Rechnungen und das Putzen ihres Hauses strengen sie an. Sie will keine Frau dafür bezahlen, ihr Haus zu putzen, das ist ihr zu intim. Aber sie bezahlt eine Frau dafür, ihr im rosa Hinterzimmer eines Nagelstudios die Beine zu enthaaren. Sie lebt ein Leben voller Widersprüche, und sie ist gefangen in ihrem eigenen widersprüchlichen Begehren. Sie will mehr und weniger zugleich, genau wie ich.
»Was ich wirklich, wirklich, wirklich will, ist, weniger zu arbeiten«, schreibt sie. Allerdings möchte sie auch einen antiken Teppich — am liebsten einen ganz bestimmten. Er gehört ihren Paten, die sich um sie kümmerten, als ihre Mutter es nicht konnte. Wenn sie die Paten besucht, sieht sie den Teppich und kann an nichts anderes denken. Sie will, dass sie ihr den Teppich anbieten, aber sie tun es nicht. Sie haben ihr bereits einen Teppich geschenkt. Sie will diesen Teppich so unbedingt, dass sie sich »betrogen« fühlt. Als hätten die Paten ihr etwas gestohlen, nur indem sie einen Teppich besitzen, den sie selbst haben will. Ihre Gier nach dem Teppich hat ihn zu ihrem Eigentum gemacht und ihm jene Lebendigkeit verliehen, die ihr selbst abhandenkommt, weil sie ihre Paten für den Besitz des Teppichs zu hassen beginnt. Deshalb ekelt sie sich vor sich selbst. Trotzdem will sie den Teppich immer noch. Sie schreibt: »Eine der Haupteigenschaften des Kapitalismus ist laut Marx, dass er die Menschen dazu bringt, Beziehungen zu Dingen statt zu anderen Menschen zu haben.«
Ich bin müde von der Arbeit, nehme aber den Zug in die Innenstadt, um mich in der Ausstellung von Kemang Wa Lehulere mit Mara zu treffen. Ich beobachte, wie Mara durch die Galerie geht, jedes Werk betrachtet und sich Notizen macht. Ich habe erst wenige Schritte getan und noch nichts richtig angesehen. An der Wand neben mir ist die riesige Kreidezeichnung eines Bleistiftspitzers — von der Art, wie sie in Grundschulen an der Wand über dem Mülleimer hängen. Darunter befindet sich ein Haufen Knochen. Weiter vorn gibt es eine Reihe zerbrochener Porzellanhunde neben geöffneten Koffern voll mit lebendigem Rasen. Diese Kunst will interpretiert werden. Ich bewege mich durch die Galerie, ohne mich wirklich auf etwas zu konzentrieren, und hoffe, dass es niemand merkt. Ich habe das Gefühl, der Kunst nicht gerecht zu werden, ich bin zu müde, um mich anzustrengen. Schließlich tue ich so, als betrachte ich ein Video in Endlosschleife. Irgendwann schlägt Mara vor, etwas essen zu gehen.
Auf dem Weg hinaus machen wir im Museumsladen halt. Dort kann ich meinen Blick endlich scharf stellen. Ich erinnere mich daran, dass ich eine Halskette wollte. Und hier gibt es Vitrinen voller Ketten. Ich fühle mich angezogen von einer Kette, die aus Bronzegüssen winziger Blätter besteht. Diese Kette war einmal am Leben. Sie kostet 200 Dollar, also doppelt so viel wie mein Ehering, und der ist mein teuerster Schmuck. Ich kaufe sie trotzdem und habe das seltsame Gefühl, etwas geleistet zu haben. Das Gefühl hält während des Abendessens an. Auf der Heimfahrt bin ich noch immer zu müde zum Lesen, aber es kommt mir vor, als hätte ich heute etwas vollbracht. Oder als hätte die Kette es für mich vollbracht.
»Letztlich ist das nichts als eine Metapher«, schreibt David Graeber. Er meint Konsum oder Verzehr, früher in Form von Auszehrung oder Schwindsucht der Name einer Krankheit und heute der Begriff, mit dem Anthropologen alles beschreiben, was wir jenseits der Arbeit tun: essen, lesen, einkaufen, Musik hören. Konsum, so Graeber, stammt vom lateinischen consumere, »verwenden, gebrauchen, aufbrauchen, verzehren«. Man kann Essen verzehren oder von Wut aufgezehrt werden. Ursprünglich implizierte der Begriff immer auch Zerstörung.
In Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen verwendet Adam Smith Konsum als Gegenbegriff zu Produktion. Seine Untersuchung stammt aus dem Jahr 1776, als die Arbeit in die Fabriken zurückverlagert wurde und sich das Leben zwischen Arbeitsplatz und zu Hause aufteilte. Noch heute benutzen wir die damalige Mathematik, um zu berechnen, welcher Anteil des bei der Arbeit Produzierten zu Hause konsumiert wird. In dieser groben Gleichung ist nur jene Arbeit produktiv, die Geld einbringt. Solange es keine dritte Größe gibt — etwa die Reproduktion —, beläuft sich die Gleichung auf null.
»Sie hat sie gegessen«, sagte mein Vater meiner Schwester vor vielen Jahren, als sie wissen wollte, was mit meiner Stereoanlage passiert war. Wir lebten damals noch kein Jahr in New York, und das Geld für die Anlage war ein Geschenk meines Vaters, der angekündigt hatte, mir außer meinem Studium niemals etwas bezahlen zu wollen. Er musste noch drei weiteren Kindern das Studium finanzieren. Die Anlage war eine Ausnahme, eine Überraschung zu meinem Geburtstag, und ich habe sie tatsächlich gegessen. Ich wollte eine Stereoanlage, aber ich brauchte Essen.
Essen wird durch unseren Konsum vernichtet, Silberbesteck aber nicht, obwohl die Metapher dahinter suggeriert, dass wir auch unser Silberbesteck und Geschirr verzehren. »Wir sollten darüber nachdenken, wie weit wir die Metapher ausdehnen wollen«, warnt Graeber. Ja, wir konsumieren fossile Brennstoffe, und zwar im Sinne von verzehren, verschlingen, verschwenden, vernichten. Aber Musik konsumieren wir nicht. Sie mag ein Teil von uns werden, wie Essen, aber sie wird dabei nicht zerstört.
Was wir laut Graeber zerstören, wenn wir uns als Konsumenten begreifen, ist die Möglichkeit, jenseits der Arbeit etwas Produktives zu leisten.
Die Tapete unter der alten Farbe im Wohnzimmer wellt sich leicht. Ich zeige John eine abstehende Ecke, die ich hinter der Heizung entdeckt habe. Er zieht daran und reißt dabei ein großes Stück Tapete von der Wand. Der Putz kommt zum Vorschein. Ich habe das Gefühl, dass wir dafür Ärger bekommen — dabei gehört das Haus uns. John reißt auch im Rest des Zimmers die Tapete ab. Er arbeitet mit einer Bodenlampe, die meinen Schatten auf die jetzt nackte Wand wirft. Bleib so stehen, sagt John. Mit einem Tischlerbleistift aus seinem Werkzeugkasten zeichnet er den Umriss meines Schattens direkt auf den Putz. Das berührt mich. Ich zeichne den Umriss seines Schattens neben meinen.
Wir sind immer noch da, unter der neuen Farbe, zwei Schatten in Bleistift. Wir hatten ohne Papierkram geheiratet, nur kraft unserer eigenen Autorität. Und dann heirateten wir Jahre später noch einmal, wegen der Krankenversicherung, standesamtlich, mit Unterlagen und Gebühren. Meine Ehe, meine Hypothek, ein Dokument, das nicht geschrieben wurde, um verstanden zu werden. Bei der Unterzeichnung versuchte ich, jede Seite zu lesen, bis ich merkte, wie viele Seiten es gab, und dann verpflichtete ich mich einfach mit meinem Namen, wieder und wieder. Nicht zum Eigentum, aber zur Bezahlung.
Das Haus gehört nicht mir. Ich besitze es nicht, sondern kümmere mich darum. Das geht mir durch den Kopf, als ich die alten Zweige der Rosen abschneide. Ich mag die Rosen nicht, kümmere mich aber um sie, weil sie zum Haus gehören. Während ich sie beschneide, beschleicht mich das Gefühl, dass alles hier ein Geschenk ist — die Ziegelwand, an der die Rosen emporklettern, der Putz, die Kupferrohre, das Eichenparkett, der Kohlenkeller und der trockene Boden, auf dem alles ruht. Es ist ein Geschenk nicht für mich, sondern für die Zukunft. Ich besitze das Haus nur vorübergehend. Es ist kein Kauf, sondern eine Bewirtschaftung.
Ich diene dem Haus. Diese Wahrheit ist mit einer anderen Wahrheit verbunden: Das Haus dient mir. Ich kann es beleihen, und wenn alles gut geht, wird es an Wert gewinnen. Mein Großvater warnte mich allerdings kurz vor dem Kauf: Ein Haus sei ein Ort zum Leben. Keine Investition.
Um Mitternacht weckt mich das Knattern eines Auspuffs. Im Dunkeln sage ich zu John: Camaro. Der kommt in zwanzig Minuten wieder um den Block, sagt John. Er kennt sich mit alten Sportwagen aus.
Ehe wir dieses Haus kauften, fragte John den Makler, wie das Viertel so sei. Der Makler antwortete nicht gleich — es war ihm gesetzlich untersagt, sich zur Demografie zu äußern. Er durfte uns beispielsweise nicht sagen, dass die meisten Schwarzen schon lange in dieser Straße leben und die meisten Weißen erst in letzter Zeit zugezogen sind. Stattdessen sagte er uns, dass er das von uns aus gesehen übernächste Haus gerade an eine Familie verkauft habe, die es renovieren wolle. Auch das Haus gegenüber sei kürzlich renoviert worden. An der einen Ecke sei ein Geschäft, an der anderen wohne ein Vater, der sich zu Hause um die Kinder kümmere, während seine Frau unterrichte. Und da drüben — er deutete auf ein weiteres Haus — wohne ein Mann, der seine Autos in der Einfahrt repariere.
Als wir einzogen, trugen die Bäume noch keine Blätter, sodass wir über den Vorgarten unseres Nachbarn und über die Straße durch das offene Garagentor der Werkstatt an der Ecke sehen konnten. Dort stand ein Auto mit geöffneter Motorhaube auf einem Wagenheber. In der Einfahrt stand noch ein Auto mit knatterndem Auspuff, dessen Motor gerade laut hochgedreht wurde. Das ist der Camaro, sagte John ehrfürchtig. Und dann sagte er: »Den Typen muss ich kennenlernen.«
Der Mann mit dem Camaro hört in seiner Werkstatt Sade, Genesis, Chaka Khan und Human League, während er an seinen Autos arbeitet. Seine Musik wird zum Soundtrack unseres Sommers — zusammen mit der Blaskapelle der nah gelegenen Highschool und der Jazzmusik des Saxofonisten, die aus dem Souterrain nebenan ertönt. Wo immer wir sind, im Haus oder im Garten: Wenn wir den Camaro hören, sehen wir uns an und sagen: »Camaro.« Er ist nahe genug, um unser Fensterglas zum Klirren zu bringen, und doch weit weg, weil er sich auf der anderen Straßenseite befindet, wo keine Weißen leben. Wir kennen sein Motorengeräusch genau und wissen mittlerweile auch, wie der Besitzer heißt, dessen Namen ich von einem anderen Nachbarn erfahren habe. Aber kennengelernt haben wir ihn nicht.
Ich blicke durch einen Maschendrahtzaun in ein Loch. Gestern noch stand dort ein Haus. Jetzt wird hier ein neues Haus gebaut, nur vier Zentimeter unterhalb der erlaubten Maximalhöhe und über 1 Million Dollar wert. Runter von meinem Rasen, sagt eine Frau, als ich in das Loch blicke. Ich hatte sie vorher nicht gesehen. Sie ist schon älter, schwarz und steht auf der Veranda des Hauses nebenan. Ich befinde mich eigentlich nicht auf ihrem Rasen, aber ich weiß, dass es darum nicht geht. Sie will, dass ich verschwinde. Ich bin Ihre Nachbarin, sage ich, als wäre das die Lösung. Runter von meinem Rasen, wiederholt sie.
Der Großvater dieser Frau hat ihr Haus gebaut, erfahre ich später. Es gehörte ihr. Sie hätte es ihren Kindern vererben können, aber die Grundsteuer stieg, als sie schon alt war. Ein Kreditberater überredete sie, eine Hypothek aufzunehmen, um damit die Steuern zu bezahlen, erzählt mir ein anderer Nachbar. So verlor sie das Haus. Jetzt gehört es der Bank und wird zwangsversteigert, aber sie ist neunzig Jahre alt und die Bank wird sie nicht rauswerfen. Man wartet darauf, dass sie stirbt. Auf dem Dach ist eine Plane, die den Regen abhält, und im Obergeschoss sind zwei Fenster zerbrochen.
Unsere Häuserreihe befindet sich gerade noch innerhalb eines Gebiets, das auf der Home Owner’s Loan Corporation Map von 1940 rot schraffiert ist. Das Gebiet ist dort am niedrigsten bewertet und wird so beschrieben: »Es ist etwas besser als ein durchschnittliches Negroviertel in dieser Bevölkerungsschicht. Hier leben die Bediensteten vieler am Nordufer ansässiger Familien.« Die niedrige Bewertung sollte Investitionen durch Banken und Versicherungen verhindern. So wurde »Rasse« effektiv in Grundstückswerte umgerechnet.
Einen Block neben dem Loch im Boden, in meinem Block, steht ein kleines Haus auf einem Grundstück, das schmaler als die anderen ist. John lernte eine der dort lebenden Frauen kennen, als er ein Uber bestellte und sie ihn Sekunden später abholte. Die schwarze Frau lebt mit ihrer Mutter in dem Haus und ist auch dort aufgewachsen. Das Haus wird bald zwangsversteigert. Es ist eine Schande, sagte die Frau zu John, dass nur noch so wenige Familien von früher in diesem Viertel wohnen. Dann lud sie uns zum Friends-&-Family-Wochenende ihrer Kirchengemeinde ein.
Die Sauciere macht mich wütend. Und der Bräter und die Untersetzer und die Servierplatten und die Käseplatte. Ich will das alles nicht. Ich wollte nur Servierbesteck für unser Abendessen zu Thanksgiving, und John hat all diese anderen Dinge gekauft.