Wasser ist dicker als Blut - Andreas Eichelberger - E-Book

Wasser ist dicker als Blut E-Book

Andreas Eichelberger

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Beschreibung

2003: Konrad Wallinger entsorgt Hinterlassenschaften von unbekannt Verzogenen. Er findet ein Manuskript und beginnt mit Nachforschungen über einen Mann, der aus unerklärlichen Gründen regelrecht die Flucht aus seiner Heimatstadt ergriffen hat. Dabei stößt er auf verdrängte Geschehnisse, die auch das eigene Leben verändern und greift in ein Räderwerk aus Schuld und Rache ein.

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2003: Konrad Wallinger entsorgt Hinterlassenschaften von unbekannt Verzogenen. Er findet ein Manuskript und beginnt mit Nachforschungen über einen Mann, der aus unerklärlichen Gründen regelrecht die Flucht aus seiner Heimatstadt ergriffen hat. Dabei stößt er auf verdrängte Geschehnisse, die auch das eigene Leben verändern und greift in ein Räderwerk aus Schuld und Rache ein.

Andreas Eichelberger, geboren 1962 in Karl-Marx.Stadt, verheiratet, ein Sohn

2008 „Nichts von alledem“

2008 „Dämmerung“

2015 „Feldzug mit Burgunder“

gewidmet H. Walzel, der es noch gelesen hat

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Zweiter Teil

Erster Teil

2003

Vor ein paar Tagen bekamen wir einen rätselhaften Auftrag. Die Grundstücksgesellschaft hatte unsere kleine Firma angewiesen, eine Wohnung zu beräumen, deren Mieter seit ungefähr zwei Monaten als verschwunden galt. Der Briefkasten war mit Werbebroschüren verstopft. Die Nachbarn meldeten es schließlich. Derlei war oft um die Wendezeit vorgefallen, aber jetzt, vierzehn Jahre später?

Wir rückten acht Uhr morgens zu zweit mit dem Transporter an. Ein Sperrmüllcontainer stand im Hof bereit, direkt unter dem Wohnzimmerfenster. Mein Chef hatte den Schlüssel zu den Räumen und öffnete; er packte selbst mit an.

Der Name des ehemaligen Bewohners lautete Gernot Ebeling. Niemand hatte von einer überstürzten Flucht etwas bemerkt oder Außergewöhnliches an seinem Gebaren festgestellt. Eingezogen war Ebeling erst vor drei Monaten. Was er beruflich ausübte, wusste keiner zu sagen; er galt als wortkarg. In der Wohnung hatte er laut Aussagen allein gelebt. Im Übrigen ging uns das nichts an; das war Sache der Behörden.

Als wir in die verlassene Wohnung Ebelings eindrangen, empfing uns stickiger Geruch. Wir sahen uns zunächst um, die Lage sondierend, die wenigen Gegenstände überfliegend, die in der Wohnstube verteilt waren, nachdem wir den kleinen Flur durchschritten hatten. Der Chef riss das Doppelfenster zum Hof auf und ließ frische Luft herein. Wir begannen mit der Entsorgung und Asservation der Sachen. Das kümmerliche Mobiliar wurde durch das Fenster in den Container geworfen. Die Brutalität einer Zwangsräumung. Ich hörte unten im Hof das Holz splittern. Die kleineren persönlichen und beweglichen Dinge verbrachte ich unterdessen in mitgenommene Fässer zur Aufbewahrung. Das war Vorschrift, gesetzt den Fall, dass der ehemalige Besitzer sich wieder melden könnte.

Der Ex-Mieter hatte eine spartanische Einrichtung. Keine Schrankwand oder monströse Kommoden, sondern nur billige gebrauchte Kleinmöbel. Ein eigenartiges Gefühl bemächtigte sich meiner, als ich die Habseligkeiten verstaute. Es war, als räumte ich die Dinge eines Verstorbenen ein. Dann wieder kam ich mir wie ein Dieb vor, der alles stahl. Gleich würde dieser Ebeling im offenen Türrahmen stehen und empört fragen, was wir hier trieben. Doch nichts dergleichen geschah.

Im Flur blieben eine Bohrmaschine und etwas Werkzeug übrig. Aus dem Badezimmer entfernte ich ein paar Pflegemittel, aus der winzigen Küche einen Teller, etwas Besteck, eine Kaffeemaschine. Der Kühlschrank war fast leer. Da fiel mir zum ersten Mal auf, dass der Mieter sich vielleicht gar nicht so Knall auf Fall verzogen hatte. Auch waren nirgends Pflanzen zu sehen. Die Wohnstube barg kaum mehr: einen uralten Rechner, ein paar Zeitschriften und Bücher in einem Regal.

Mittlerweile waren die Räume ihrer Gegenstände fast völlig beraubt. Zuletzt wartete noch ein Schreibtisch auf das Abwracken. Aus den Schubladen zog ich letzte Utensilien, Kugelschreiber, Leimtuben, Taschenrechner, Locher. Und schließlich geriet mir ein Päckchen beschriebener kopierter Blätter in die Hände. Der Chef wartete bereits ungeduldig auf das Entsorgen des Tisches; offensichtlich war er ein Zerstörungsfanatiker, vielleicht wollte er auch nur den Auftrag ohne Zeitverlust beenden.

Auf dem Deckblatt stand oben rechts der Name Ebelings. Ich packte die Papiere mit in das bereitstehende Fass und wir wuchteten gemeinsam das letzte Möbelstück des ehemaligen Bewohners aus dem Fenster in den Container. Über den Sims gestoßen, schien der Tisch nur widerwillig zu kippen und entsetzlich langsam zu fallen. Unten angekommen, krachte er mit übermäßiger Gewalt auf die darin befindlichen Schränkchen und zerbrach sie unter seinem Gewicht. Es war, als ob sich das Leben dieses Ebeling in dem Moment wie im Zeitraffer verdichtete.

Meine Frau Liane, der ich abends von meinen Verrichtungen erzählte, arbeitete auf dem Finanzamt und, neugierig geworden, bekam sie am nächsten Tag anhand Ebelings letzter Steuererklärung heraus, dass er am 6. Februar 1963 geboren, ledig und kinderlos war, und zuletzt den Beruf eines Pflegers ausübte. Das klang alles ziemlich uninteressant, doch ich erinnerte mich an den kleinen Papierstapel, den ich in seiner Wohnung gefunden hatte. Da ich selbst gern und viel las, beschloss ich, mir die Blätter zu holen.

Ich hatte Zugang zu den eingelagerten Gegenständen und kramte, als sich eine Gelegenheit bot, die Seiten aus dem Fass. Offenbar handelte es sich um die Kopien eines Manuskripts, das Ebeling selbst verfasst hatte. Das Original war vermutlich in seinem Besitz.

Am einem Samstagabend begann ich im ehemaligen Zimmer meines Sohnes, der schon ausgezogen war, von einer leisen Ehrfurcht gepackt, mit der Lektüre, die keinen Titel trug:

„Mein Name ist Gernot Ebeling. Was habe ich denn schon groß zuwege gebracht?

Ich habe mich in die aufgegebene Wohnung eines alten Freundes geflüchtet und schreibe diese Zeilen.

Oft denke ich an meine Kindheit zurück. Sie war unbeschwert und wies den Weg in eine Zukunft voller Hoffnung. Ich sehne mich nicht danach, ich vergesse sie nur nicht.

Die hellen flachen Steine, prall von der Sonne beschienen, sind mir in Erinnerung geblieben, diese unförmigen Rhomben und Trapeze, eingelassen in den Boden, auf denen ich Tag für Tag in den Hinterhof eilte, in meine Welt der Riten und vertrauten Dinge. Zwei riesige Pappeln thronten rechter Hand. In der Nacht begannen sie eine uralte Geschichte zu flüstern. Der Strauch, unter dessen Zweigen wir die sterblichen Überreste einer Katze entdeckten, bescherte uns ungerührt Haselnüsse. Den Ahorn, eines starken Astes beraubt, weil seine Arme ins Nachbargelände ragten, bestiegen wir unverdrossen bis in die Spitze. Wilder Holunder wuchs am Zaun, und auf den Dächern angrenzender Garagen schmolz die Teerpappe im Sommer. Der Geruch von nassem Laub wird mich mein Leben lang begleiten. Das Wasser der Pfützen spiegelte den Himmel. Die warmen Jahreszeiten hielten ein, was sie versprachen, und die Winter waren schneereich in der Weihnachtszeit.

An unsere saubere Hauswand hatte jemand mit Kreide gekritzelt: ,Mario ist doof’. Daneben stand: ,Ich liebe Gunda Zobel’. Ich hatte es selbst geschrieben. Ich sah sie ständig hinter dem Zaun und mochte sie sehr. Ihre Brüder waren meine Freunde. Doch sie, sie schien mir so fern wie Tom Sawyer seiner Becky Thatcher. Ihr gelber Bikini machte mich fast blind.

Es gab eine Bank in der Nebenstraße, umgeben von Linden, die ihren unbeschreiblichen Duft verströmten. Von dieser Bank aus beobachtete ich die Welt um mich herum. Wer wohl schon alles hier gesessen hatte? Verliebte Paare, zerstrittene Freunde.

Das geheime Reich, was den Zobel-Brüdern und mir gehörte, war die Wildnis am nahe gelegenen Fluss. Hier kannten wir jeden Strauch, jeden Winkel und alle Fluchtwege, falls Gefahr drohen sollte. Welche Mutproben wir auf uns nahmen, gehört schon fast ins Reich der Fabel. Ich war fasziniert von der Gelassenheit, wenn es galt, Bäume zu erklimmen und die zwei Brüder den Stamm und die Äste begutachteten.

Der Fluss lag im Tal; zu ihm führten mehrere steile abschüssige Trampelpfade. Ein zwanzig Meter hoher Aussichtsturm erlaubte den Blick über einen Teil der Innenstadt. Es reichte nicht, dass wir ihn hinabkletterten; wir wollten danach wieder hinauf. Das Gefühl war einfach anders. Die Angst war schon da, aber wenn man jung ist, gibt man nicht Acht… Die Angst und der Leichtsinn. Ich möchte nicht länger darüber schreiben.

(Es ist spät. Ich werde schlafen gehen. Unten im Hof lärmen junge Leute fröhlich beim Grillen. Geruch verbrannten Holzes dringt hoch. Morgen ist Dienstag. Ich werde nicht mehr in das Heim gehen. Als ich so alt war wie diese Tagediebe da unten, hab ich mächtig wackeln müssen, in Schichten. Was es aber auch ständig zu lachen gibt, will nicht in meinen Kopf. Machen die sich über jemanden lustig, oder gibt es so viele Witze? Warum haben die keine Pflichten?) –

Unweit von meiner elterlichen Wohnung befand sich eine stillgelegte Station der Reichsbahn. Ich stahl mich manchmal dahin; ohne meine Kumpels, ich wollte dort allein sein. Meistens wählte ich die Zeit nach dem Mittag aus, wenn die Hitze waberte. Ich setzte mich auf die Bahnsteigkante und starrte auf den Schienenstrang. Zwischen den Schwellen der Gleise wucherten Beifuß und Löwenzahn. Und immer stellte ich mir vor, wie das wäre, wenn hier die Räder rattern, sich Reisende aufgeregt miteinander unterhalten, andere mit Taschen noch eilig dazu stoßen, die Zeit nicht zu verpassen, eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönt, unnachgiebig, endgültig, den Abschied festsetzend. Ein schriller Pfiff, lautes Türenschließen, Winken.

Doch hier würde kein Zug mehr vorbeikommen, und das machte mich traurig. Aber ich mochte es. Die Natur holte sich diese abgesonderte Zelle zurück. Der Warteraum träumte verwaist; selbst die Bahnhofsuhr war stehen geblieben. Die Zeit war eingefroren. Hier konnte man nachdenken, und doch war dieses Grübeln oft quälend…

(Kürzlich bin ich abends zurück an diesen ehemaligen Steingarten gegangen, den mein Stiefvater vor über dreißig Jahren angelegt hatte. Längst war er verwildert und überwuchert von Schösslingen. Es gab hier immer noch die alten Gaslaternen, mit still glimmender Flamme oben im Gehäuse. Hier wuchs der Ahorn, dessen Wurzeln den Bordstein aus dem Boden gehoben hatten, eine stumme Kraft, die Jahrzehnte währte…)

Die Erinnerung ist Segen und Fluch zugleich. Als ich zwölf war, habe ich mich wohl zum ersten Mal verliebt. Es schien mir wie ein Urknall. Mein Leben geriet aus den Fugen; ich vergaß alles um mich herum. Sie hieß, glaube ich, Ulrike und war mit ihren Eltern in diese Gegend gezogen. Da sie noch niemanden kannte, trieb es sie auch in unsere Straße, um Kontakte zu knüpfen. In den langen Sommerferien verdrängte man die Schule völlig. Ulrike war anders, frech, wild und jungenhaft. Sie hatte dunkles Haar; es floss durch meine Hände wie Sand. Im Schein der Abendsonne sehnte ich den nächsten Tag herbei, bis Ulrike mir irgendwann aus unerklärlichen Gründen fernblieb. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist…“ –

Ich legte das Manuskript kurz weg. Gut, Ebelings Kindheit mochte wunderbar gewesen sein, aber ich hatte ein komisches Gefühl, als ich diese Seiten las. Irgendwie drängte sich mir der Eindruck auf, dass er mit einer merkwürdigen Wehmut davon berichtete; er schien mir etwas depressiv zu sein. Waren das seine Memoiren? Ich verbot mir, weiter hinten einmal nachzuschlagen, um die Chronologie nicht zu unterbrechen.

„So gut ich mich mit den Nachbarsjungen verstand, so fand ich doch relativ wenig Zugang zu meinen Kameraden in der Schule. Ich war von der Ersten bis zur Zehnten in einer Klasse, was mich später mit ein bisschen Stolz erfüllte, denn nur wenige können das vorweisen. Wobei, es ist unerheblich.

Ich sah viele Schüler kommen und gehen; einige waren nur kurz da, andere länger, und manche blieben. Wenn ich mich schon anfreundete, dann mit einem dieser Neuen, weil sie frischen Wind, andere Ideen und Interessen mitbrachten, doch von den meisten mit Misstrauen bedacht wurden. Ich erinnere mich: Ein gewisser Wenske, ein wenig introvertiert und immer ernsthaft, begeisterte mich damals derart für die Länder der Erde, dass ich letztlich die Flächen, Einwohnerzahlen und Hauptstädte auswendig kannte. Und Schönberger, ein lockerer Typ, der auch nicht lange bei uns weilte und dem ich Nachhilfe in Russisch geben sollte, was kaum fruchtete, weil wir nur herumalberten, lud mich in die Wohnung seiner Mutter ein. Sie war geschieden, schon seit mehreren Jahren. Tagsüber arbeitete sie in einem Milchladen, und nach der Schule beschlagnahmten Schönberger, dem das lange Haar wirr in die Stirn hing, und ich die Räume, tranken ihren Rotwein und machten uns über die russische Sprache lustig. Bei ihm begann mich die seltsame Einrichtung zu interessieren; es war eine andere Welt, seine Mutter hatte Möbel aus den Zwanzigern, alles atmete den Hauch der Vergangenheit…

Die alteingesessenen Mitschüler fand ich langweilig; ich kannte all ihre Marotten. Auch die Mädchen erwiesen sich als ziemlich zickig, nun, jedenfalls hingen sie in Grüppchen zusammen und lachten über uns…

(Jetzt, fällt mir ein, haben sich die Zeiten geändert. Die jungen Mädels halten das Zepter hoch und bestimmen über Wohl und Wehe der männlichen Zeitgenossen ihres Alters. Sie sind mächtig geworden und ihr Körper ist ihr Kapital.)

Ich glaube, dass in der vierten Klasse Scholl zu uns stieß, ein schlanker dunkelhaariger Junge, der womöglich unbeabsichtigt den Notendurchschnitt der Klasse um ein Grad anhob. Er trug stets ein kleines Heftchen mit sich herum, in das er seine Zensuren eintrug und wurde mein Banknachbar. Er wollte genau wissen, wie es in den betreffenden Fächern um ihn stand. Ich tat es ihm nach, und schließlich, als es ruchbar wurde, dass er sich verbesserte, auch der Rest der Klasse. Es war eine Zeit, in der alle emsig übten und sich befleißigten. Aber auch das fand ein Ende. Wir wurden älter und flegelhaft.

Im Rückblick wird mir jetzt bewusst, wie oft die Sitzordnung verändert wurde, die damit ihren Sinn verlor. Ich musste ständig den Platz wechseln und hockte neben immer anderen Mitschülern.

Erst wenn man Stunde um Stunde vielleicht dreißig Zentimeter voneinander entfernt war, bemerkte man erst, wie der Nachbar oder die Nachbarin tickte. Auch der Einfluss wurde spürbar; ich war leicht zu manipulieren. Häufig ahmte ich die Schrift nach; das ist mindestens viermal passiert. Schriften haben eine Aussage; das ist nicht von der Hand zu weisen. Sie waren entweder schwungvoll mit großen Anfangsbuchstaben oder auch sehr klein und diszipliniert. Was ich zu Papier brachte, fand ich krakelig und unvollkommen. Ich hatte meinen Weg noch nicht gefunden.

Was niemals zu unterbinden war: die Gruppenbildungen innerhalb einer Klasse. Um einen großmäuligen, oftmals etwas kräftiger gebauten Wortführer scharten sich die meisten Jungen und redeten ihm nach dem Munde, damit er Notiz von ihnen nahm. Und beim weiblichen Geschlecht war es ähnlich: Mit den größten Brüsten galt ein Mädchen unweigerlich als Häuptling; man hörte auf sie, immerhin trug sie ihre Vorteile unmittelbar vor sich her, das bekannte Holz vor der Hütte, und physischen Eigenschaften zollte man von jeher Anerkennung.

(Mittlerweile hatten wir zwei Klassentreffen, und ich musste konstatieren, dass man inzwischen auch ehemalige Außenseiter achtete. Die Kameraden von einst, auch die Mädchen, deren feine Fältchen verrieten, dass sie längst wussten, wo der Hammer hängt, waren allesamt ruhiger geworden, fast konsterniert vor Trauer über die Jahre, die auf unerklärliche Weise verloren gegangen waren. Man hörte ernsthaft zu, wenn einer was zu sagen hatte.

Die Songs der Stones waren verklungen; man drehte wie in Panik das Autoradio lauter, wenn Sympathy for the devil ertönte. Mit einer gewissen Wehmut wurden bereits die Enkel betrachtet, die manche schon vorweisen konnten.

Die Lehrer beklagten früher unsere Zettelwirtschaft; jetzt hefteten wir die Ereignisse unseres Lebens, vorwiegend unangenehme, in preiswerte Ordner von Pennypiper ab, erhältlich zu 0,99 Euro.)

Die Lehrer waren so verschieden wie wir: Uhlenbrock warf damals mit seinem Schlüsselbund nach Schülern, welche einzupennen drohten. Eine Kollegin von ihm gestaltete den Unterricht so, dass sie dem Schlaf noch Vorschub leistete. Wallroth jedoch reinigten wir in vorauseilendem Gehorsam die Tafel, da seine Stunden unser Interesse weckten und er eine Stimmungskanone war… -

Doch ich möchte noch weiter zurückschreiten: Als ich acht Jahre alt war, ließen sich meine Eltern scheiden. Ich bekam nicht allzu viel mit; sie machten das unter sich aus. Fakt war, das stellte selbst ich fest, dass mein Vater, ein drahtiger hektischer Mensch, ständig in seinen Boxclub ging. Das Hobby beherrschte ihn völlig. Er vernachlässigte nicht nur mich und meine ältere Schwester Petra, sondern auch meine Mutter. Ihr kamen Zweifel, sie stellte ihn zur Rede, doch er blieb stur und faselte von Verpflichtungen und Meisterschaften. Das ließ sie nicht auf sich sitzen und zog die Konsequenzen. Ich weiß noch, dass er mich ständig zum Boxen animieren wollte. Er hatte eine hohe Erwartungshaltung an mich. Ich verabscheute das.

Vater musste uns verlassen; fortan lebten wir zu dritt. Es lief ganz gut. Meine Schwester pflegte ihre Freundschaften und wir weilten oft bei unserer Großmutter, die immer schon alles geahnt hatte. Sie war weise und gütig.

Noch Ende des Jahres färbte sich meine Mutter das Haar blond und begann auffällige Kleidung zu tragen. Sie hatte einen neuen Mann kennen gelernt. Außerdem wurde sie schwanger und heiratete erneut. Danach setzte sie ihre Tätigkeit im örtlichen Fundbüro fort.

Mein Stiefvater, ein rothaariger kräftiger Mann mit Prinzipien, hatte auch ein Faible: das unermüdliche Heimwerkern. Beruflich war er Disponent. Mich betrachtete er von Anbeginn mit etwas Argwohn und Distanz. Petra, meine dünne dunkelblonde Schwester, war schon vierzehn, doch bei ihr reagierte er nicht anders.

Schließlich bekamen wir einen Halbbruder, Ralf, einen kleinen zu fütternden, zu wickelnden und zu badenden Säugling, dem von nun an alle Aufmerksamkeit galt. Und die Jahre vergingen. –

Ich war zwölf, als sich meine schriftstellerischen Ambitionen einstellten, denn ich las schon von jeher viel, verschlang die Bücher regelrecht. Ich war Mitglied in der Stadtbibliothek und lieh mir monatlich mindestens vier Exemplare aus. An manchen Tagen schaffte ich fünfundsiebzig Seiten. Und eine phantastische Welt tat sich vor mir auf: ,Unter Korsaren verschollen’, ,Das Tal des zornigen Baches’, ,Gefangene der Pantherschlucht’.